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Bodenlos

Bevor der Mann vor mir merkt, was passiert ist, bin ich schon wieder weg. Meine Finger gleiten nur ganz kurz in seine Manteltasche hinein, greifen nach dem prall gefüllten Geldbeutel und schon bin ich weg. Wie erstarrt bleibe ich stehen, ungläubig darüber, dass es geklappt hat. Der Mann dreht sich nicht zu mir um, greift nicht einmal an seine Jackentasche. Er hat tatsächlich nichts mitbekommen.

Der Geldbeutel liegt schwer in meiner Hand. Ich hoffe, dass sich nicht nur Kleingeld darin befindet. Ein paar Scheine wären mir viel lieber. Ich schaue mich kurz unauffällig um. Nur schnell weg jetzt.

Ich drehe mich um und gehe betont langsam und lässig in die andere Richtung, doch meine Beine wollen nicht gehorchen. Ich zittere ohnehin schon den ganzen Tag wie Espenlaub und dann noch die Aufregung …

Nachdem ich mich noch einmal umgedreht und mich versichert habe, dass ich unentdeckt geblieben bin, renne ich los. Die Brieftasche habe ich in meine Jackentasche gesteckt, doch meine linke Hand klammert sich darum, als wäre sie ein Holzfloß und ich ein Ertrinkender im offenen Meer. Ich lächle in mich hinein beim Gedanken an diese Metapher und renne weiter. In einer kleinen Seitengasse werde ich langsamer und bleibe schließlich stehen, als ich sicher bin, dass mich niemand beobachtet.

Ich ziehe den Geldbeutel heraus und öffne ihn. Es steckt ein Zwanziger darin, nicht besonders viel. Meine Enttäuschung ist groß. Ich suche in dem kleinen Beutel für das Kleingeld, als könnte ich dort drin doch noch einen kleinen Schatz entdecken – doch nichts. Stattdessen starrt mir unendliche Leere entgegen, die mich mit großer Macht anzieht. Irgendetwas muss dort doch noch sein! Mit einem gedämpften Wutschrei wühle ich weiter in dem ledernen Geldbeutel herum, als könnte ich noch irgendetwas finden.

Auf meiner Suche lasse ich eine Menge Zeug unbeachtet zu Boden fallen: Eine EC-Karte, deren PIN-Nummer ich nirgendwo in dem Portemonnaie finden kann, einen kleinen Notizzettel mit einer Telefonnummer, einen Gutschein für ein Lokal hier in der Nähe und eine Mitgliedskarte. Ich nehme mir keine Zeit, herauszufinden, um was für eine Mitgliedschaft es sich handelt.

Das war‘s dann auch schon. Ich finde nichts mehr. Nichts, außer einem Ausweis. Ich schaue ihn mir genauer an. So sieht der Kerl also von vorne aus? Ich verziehe das Gesicht. Ich hab ihn immer nur von hinten gesehen, und dann auch noch mit dieser hässlichen Wollmütze auf dem Kopf, aber wenn ich mir das Passbild ansehe, ist das auch gar nicht weiter schlimm. Mäßig interessiert lese ich, was sonst noch auf dem Ausweis steht. Der Name sagt mir nichts, aber schließlich muss ich nicht alle Leute in diesem Kaff kennen. Und da mir der Kerl eh nur sein Kleingeld überlassen hat, gibt es keinen Grund, mich länger mit ihm zu beschäftigen.

Den Zwanziger ziehe ich sofort aus dem Portemonnaie und stecke ihn in meinen eigenen Geldbeutel, nach kurzer Überlegung folgt ihm auch das Kleingeld – man ist ja nicht wählerisch.

Erst bin ich versucht, den leeren Geldbeutel einfach in eine Ecke zu schleudern, dann jedoch stecke ich ihn ein. Mir fällt bestimmt irgendeine Verwendung für das hässliche Ding ein.

Es hat jetzt zu regnen begonnen und ist kalt geworden, doch ich kann und will noch nicht nach Hause. Stattdessen stülpe ich mir die Kapuze über den Kopf und renne durch den Regen.

Ich finde Zeke da, wo ich ihn immer finde. Er hockt neben seinen Kollegen auf einer Hundedecke am Bahnhof und kifft. Als er mich kommen hört, sieht er auf. Seine kleinen, kalten Augen starren mich an und mustern jede meiner Bewegungen, als ich näherkomme.

Als ich vor ihm stehenbleibe, grinst er kurz und entblößt seine verfaulten Zähne. Ich ziehe den Zwanziger aus meiner Tasche und halte ihn ihm wortlos hin. Er weiß, was ich will.

Zeke rümpft die Nase und starrt mir weiter tief in die Augen. Den Schein ignoriert er. Ist er schon wieder besoffen? Der Flachmann und die leere Wodkaflasche neben ihm sind ein eindeutiges Indiz dafür. Als Zeke nicht auf den Schein reagiert, wedle ich ihm damit direkt vor den Augen herum.

„Mach schon“, sage ich ungeduldig und trete ihn in die Rippen. „Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“ Zeke zieht den Kopf ein, fletscht wie ein Hund die Zähne und zeigt dabei erneut seine kaputten Zähne und das nicht minder verfaulte Zahnfleisch, bevor er mir den Zwanziger entreißt. Er befühlt ihn, als müsse er prüfen, ob er echt ist, dann blinzelt er müde wieder zu mir hoch.

„Gut siehst du aus.“ Ich denke, er verspottet mich, doch er ist dabei todernst. Er lacht nicht, seinen Augen blitzen und zwinkern nicht. Er starrt mich nur müde an und erhebt sich schließlich mühsam. Zeke ist so dünn, dass ich selbst durch den abgewetzten Mantel seine Rippen zählen kann, sein Gesicht ist eingefallen und blass.

Ich zittere schon wieder am ganzen Körper, was sicher an der Kälte liegt. Zeke hustet, als er mir ein Päckchen mit getrockneten Pflanzen unter die Nase hält und ich rieche den Alkohol in seinem Atem, begleitet vom unverkennbaren Gestank der Verwesung. Ich greife nach dem Päckchen und bedanke mich kurz. Zeke gluckst nur. „Jetzt verschwinde“, lallt er dann und stößt mich unsanft zurück, bevor er es sich wieder auf seiner Hundedecke bequem macht.

Ich stolpere, ignoriere ihn jedoch und packe die kleine Tüte in meine Tasche. Ich beeile mich, aus Zekes Sichtfeld zu verschwinden, bevor ich in meiner anderen Jackentasche nach dem Zigarettenpapier krame. Ich ziehe einen Streifen heraus, verteile die getrockneten Pflanzenreste darauf und rolle es zusammen. Keine Ahnung, was Zeke mir da gegeben hat. Dasselbe wie immer, hoffe ich. Kann aber auch etwas völlig anderes sein. Letzten Endes ist es mir auch egal, solange es nur wirkt.

Ich lecke mit der Zunge über das Papier und drehe den Joint fertig. Mit der freien Hand suche ich nach meinem Feuerzeug. Wo hab ich es wieder hingemacht? Es ist doch immer dasselbe. Ich vergesse ständig, in welche Tasche ich mein Feuerzeug gemacht habe. Dabei ist es doch immer in derselben Tasche. Linke Manteltasche, oder?

Falsch. Verdammt, wo ist es dann? Rechts? Auch nicht. Auch meine Hosentaschen sind leer, in der Hinteren finde ich ein Zehn-Cent-Stück, das ich vorsorglich und vorausdenkend in meinem Geldbeutel verschwinden lasse.

Scheiße, meine Hosentaschen sind alle leer. Hab ich es verloren? Wo kann ich es verloren haben? Unruhig laufe ich auf und ab. Wo ist es? Ich will es wiederhaben! Ich fühle mich verloren ohne es, als wäre ein wichtiges Stück meines Lebens verloren gegangen – als würde mir der Boden unter den Füßen wegbrechen. Es ist alles, was ich habe.

Ich stoße einen deprimierten Schrei aus und trete gegen eine Mülltonne. Wütend und verzweifelt lehne ich mich gegen eine Hauswand und sinke daran hinunter auf den Boden. Das Zittern wird immer unerträglicher. Nicht mehr lange, und ich werde wahrscheinlich Halluzinationen bekommen, obwohl ich ja natürlich noch gar nicht abhängig von dem Zeug bin … Ich will jetzt nur unbedingt mein Feuerzeug wiederhaben, damit ich rauchen kann. Sonst habe ich den blöden Joint ja umsonst zusammengebastelt. Das wäre scheiße, das Material ist schließlich nicht gerade billig. Und in erster Linie will ich jetzt unbedingt eine rauchen.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und lehne den Kopf an die nasse und kalte Wand hinter mir, als ich etwas Hartes in meiner Brusttasche spüre. Schnell greife ich hinein und da ist es: Mein Feuerzeug.

Ich verschwende keine Sekunde mehr sondern zünde die Kippe an. Ich beobachte fasziniert wie das helle Zigarettenpapier zu glühen beginnt und nehme einen Zug. Schon besser. Nach dem dritten Zug habe ich das Zittern schon wieder halbwegs unter Kontrolle und lache über meinen kleinen Ausbruch von vorhin. Ich habe das Feuerzeug doch immer in meiner Brusttasche, damit ich es sofort finde. Wie dumm von mir.

Ich grinse in mich hinein und lasse das Feuerzeug wieder dorthinein verschwinden, wohin es gehört: In meine Brusttasche.

Jetzt, da ich mich etwas beruhigt habe, merke ich, wie unangenehm es im Regen ist. Die Kälte habe ich vorher kaum bemerkt, oder ich habe sie ignoriert und erst jetzt fällt mir auf, dass es schon dunkel geworden ist. Egal. Ich bleib jetzt erstmal hier. Ist doch gar nicht so schlecht hier.

Ich seufze zufrieden auf und lehne den Kopf wieder an die Wand, diesmal jedoch voller Entspannung. Eigentlich ist der Regen gar nicht mal so schlimm. Gefällt mir viel besser als die Hitze, die im Sommer herrscht.

Als ich merke, dass meine Kippe langsam zum Ende kommt, nehme ich noch einen letzten Zug und schmeiße sie dann von mir, gerade noch rechtzeitig, kurz bevor ich mir die Pfoten verbrannt hätte.

Ich beobachte, wie das glimmende Ende innerhalb von wenigen Augenblicken auf dem nassen Boden erlischt und mich in der Dunkelheit zurücklässt. Dann lege ich den Kopf an die Wand und starre auf die triste, langweilige Wand mir gegenüber, bis ich wegdämmere.

In meinem Traum ist es gar nicht mehr dunkel im Gegenteil, alles um mich herum ist bunt und grell. Ich schwitze, der Schweiß läuft mir über die Stirn und ich wische ihn weg, bis ich dann urplötzlich wieder zittere. Ich greife in meine Tasche und suche mein Feuerzeug, mein Feuerzeug

Wo ist es?

Als ich mein Feuerzeug endlich gefunden habe, fällt mir auf, dass ich kein Zigarettenpapier mehr habe und als ich dieses endlich finde, ist mein Feuerzeug wieder verschwunden. Ich schreie vor Wut wühle weiter verzweifelt in meinen Taschen, doch es hört einfach nicht auf. Immer wieder verschwindet eines der beiden Dinge spurlos.

Als ich schließlich beides in Händen halte und meine Finger so fest darum schließe, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten, um es ja nicht mehr zu verlieren, bemerke ich plötzlich, wo ich bin. Die grellen Farben sind verschwunden, plötzlich ist es tiefste Nacht geworden. Ich bin … nirgendwo. Hier ist nichts. Absolut nichts. Keine Dunkelheit, aber auch kein Licht.

Ich schüttle den Kopf und lache über meine Dummheit. Unmöglich, irgendetwas muss hier doch sein. Es gibt kein Nichts.

Ich schaue nach unten, um zu sehen, worauf ich stehe, doch da ist nichts. Kein Gras, keine Erde, kein Beton …

Kein Boden.

Ich will schreien, doch der Schrei bleibt in meiner Kehle stecken. Mein Blick fällt auf das Feuerzeug in meiner Hand. Es ist noch da und es grinst mich widerlich an, mit kaputten Zähnen und verfaultem Zahnfleisch, in seinem Atem rieche ich Alkohol, als es mir mit Zekes Stimme zu wispert: „Gut siehst du aus.“

Plötzlich ist das Feuerzeug glühend heiß, ich lasse es mit einem Aufschrei los und es lacht mich aus, als ich in die bodenlose Tiefe stürze …

Mit einem Aufschrei schrecke ich hoch. Ich spüre das Feuerzeug in meiner Tasche, doch es ist ganz kalt und natürlich lacht es mich auch nicht aus. Natürlich bin ich auch nicht nirgendwo und natürlich ist der Boden genau dort, wo er hingehört, nämlich unter mir.

Mit einem erleichterten Seufzer lasse ich mich wieder gegen die Wand fallen, bis ich merke, dass ich lange geschlafen haben muss. Der Regen hat aufgehört und sogar die Wolken haben sich etwas verzogen. Ein einzelner Stern blinkt mir hoch oben am Himmel entgegen und ich blinzle zurück.

Wie es sich wohl anfühlt, dort oben zu sein und auf uns herunterzusehen? In die Tiefe?

Schließlich raffe ich mich auf und trete den Heimweg an. Ich bin nass, doch das stört mich nicht. Wie spät es wohl ist? Hab ich einen Schlüssel? Ich krame wieder einmal in meinen Taschen. Vielleicht hab ich ihn auf meiner panischen Suche nach dem Feuerzeug ausversehen weggeworfen … Ich erinnere mich nicht, daran doch es wäre gut möglich.

Ich finde ihn schließlich doch und schließe auf, dann taumle ich durch die Dunkelheit die Treppe hoch, ohne Licht einzuschalten und laufe mit einem lauten Rumms gegen die Tür meines Zimmers.

Schnell gehe ich in mein Zimmer, schmeiße erst meinen nassen Mantel auf den Boden und stelle die Schuhe daneben, dann lasse ich mich mit der nassen Kleidung ins Bett fallen und ziehe mir die Decke über den Kopf. Perfekt, denke ich, als ich die Augen schließe, so bin ich morgen schon angezogen.

Ich muss schnell eingeschlafen sein, denn ich erinnere mich an nichts mehr als an irgendwelche wirren Träume. Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist es schon hell. Die Jalousien habe ich nicht heruntergelassen und scheinbar auch sonst niemand, daher erwache ich als die Sonnenstrahlen mein Zimmer erhellen. Ich stehe auf und mache mir nicht die Mühe, mir andere Klamotten anzuziehen, obwohl meine Jeans und mein Pulli noch immer dreckig und klamm sind.

Ich gehe in die Küche, greife nur nach einem Glas und fülle es an der Spüle mit kaltem Wasser. Ich schütte es hinunter und frage mich, wann ich das letzte Mal etwas getrunken habe, als ich mich gegen die Küchenanrichte lehne und das Glas dann wieder auf das Abtropfbrett neben der Spüle stelle.

Kleine Wassertropfen rinnen in  den Abfluss der Spüle und ich kann nicht anders, als ihnen hinterher zu sehen. Ich frage mich, wie lange es wohl dauert, bis durch die Abflussrohre in die Kanalisation gelangen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich mir vorstelle, dass direkt unter mir der Boden aus Rohren und Leitungen besteht, ein Netz aus Abwasserrohren, das sich durch die ganze Stadt spannt, in scheinbar unendlicher Tiefe, die sie von dem Leben über dem Erdboden abgrenzt und doch so essentiell für unser alltägliches Leben ist. Aber was, wenn eines Tages der Boden einfach aufreißt und uns alle verschluckt? Uns alle in die endlose Tiefe zerrt?

Ich erschrecke selbst über die Gedankengänge, die ich schon wieder habe und verlasse schnell die Küche. Ich ziehe die Haustür hinter mir ins Schloss und renne die Auffahrt herunter.

Aus den Augenwinkeln bemerke ich meinen Vater, der das Auto vor der Garage parkt und aussteigt. „Hey Dad“, sage ich und gehe zu ihm. Er schaut kurz auf und begrüßt mich. „Auf dem Weg in die Schule?“, fragt er mich müde. Ich unterdrücke ein Lachen. Es ist sicher schon nach zehn Uhr, viel zu spät für die Schule. Doch mein Vater wartet gar nicht wirklich auf eine Antwort. „Ich hab dich gesehen und wollte dich was fragen“, lüge ich. „Schieß los“, sagt mein Vater und holt sein Zeug aus dem Kofferraum. Er hatte wieder Spätschicht und ist sicher nicht gerade gut gelaunt, trotzdem frage ich: „Kannst du mir zehn Euro leihen?“

Mein Vater sieht überrascht auf und kratzt sich an der Stirn. Einen Moment bleibt er sogar stehen. „Wofür denn jetzt schon wieder?“, will er wissen. Ich denke schnell nach. „Für ein neues Federmäppchen“, sage ich. „Du hast dir doch erst eins gekauft“, entgegnet mein Vater. Ich schüttle den Kopf. „Das ist kaputt gegangen.“

Mein Vater scheint nicht ganz überzeugt, zieht dann aber einen Zehn-Euro-Schein aus seinem Geldbeutel und gibt ihn mir. Ich stecke ihn schnell ein und will mich bedanken, doch mein Vater ist schon auf dem Weg ins Haus. Ist ihm wohl mal wieder egal, was ich mache. Mit Sicherheit wird er nicht mitbekommen, dass ich nicht in die Schule gehe sondern mich jetzt stattdessen ohne mein Schulzeug auf den Weg zur Bushaltestelle mache.

Ich drehe mir einen weiteren Joint, als ich an der Bushaltestelle stehe. Das Feuerzeug finde ich diesmal auf Anhieb. Mit dem Zehner und einem guten Gefühl tauche ich wieder bei Zeke auf, doch er ist verschwunden. „Wo ist Zeke?“, frage ich einen seiner Freunde. Dieser zuckt nur mit den Schultern. Seine grün gefärbten Haare hängen ihm ins Gesicht und verdecken es zum Glück größtenteils. Der Kerl ist fast so hässlich, wie Zeke.

„Keine Ahnung, den hab ich schon seit gestern Abend nich mehr gesehen“, erklärt er mir. „Was willste denn? Vielleicht kann ich dir helfen.“

Eigentlich hätte ich abgelehnt, doch ich weiß, dass mir das Zeug, was Zeke mir gibt, schon lange nicht mehr reicht, und wenn er jetzt unauffindbar ist … Ich kann nicht warten, also nicke ich dem Typen zu. Ich zeige ihm mein Geld und nach einigem hin und her reicht er mir ein Tütchen mit Tabletten. „Nich zu viele auf einmal“, ruft er mir noch hinterher. Irgendwie gluckst auch er vor sich hin und hat damit einige Ähnlichkeit mit Zeke. Vielleicht freut er sich aber auch nur über seinen erfolgreichen Deal.

Ich laufe weiter, bis mich der Junkie und seine Freunde nicht mehr sehen können, dann schlucke ich trocken eine der kleinen, rosafarbenen Pillen. Während ich auf die Wirkung warte laufe ich ziellos durch die Straßen. Wie spät es wohl ist? Bestimmt schon nach Mittag, so viele Leute wie hier unterwegs sind. Mir egal. Ich hab schon lang aufgehört, mich zu verstecken.

Anfangs hab ich auch immer, wenn ich die Schule geschwänzt hab, eine Entschuldigung von meinen Eltern gefälscht, aber das mach ich schon lang nicht mehr. Da ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr in der Schule war, ist auch niemand da, der Entschuldigungen verlangen kann.

Ich frage mich zwar immer wieder, wie lang es dauert, bis irgendjemand bei mir zu Hause anruft und sich nach meinen vielen unentschuldigten Fehlzeiten erkundigt, doch so wie ich meine Schule kenne, wird das nicht passieren. Da bin ich ja auch nur einer von vielen. Die sind froh, wenn sie sich nicht mit meinen Problemen beschäftigen müssen.

Eigentlich bin ich ganz froh darüber. Wer bin ich schon, wer interessiert sich für mich? Ich bin unauffällig und wenn mich irgendjemand hier auf der Straße anspricht, dann doch auch nur, um nach der Uhrzeit zu fragen. Hier hängt jeder seinen eigenen Gedanken und Problemen nach und jetzt, da es wieder zu regnen beginnt, wollen alle nur so schnell wie möglich nach Hause. Keine Zeit, auf die Leute um sich herum zu achten. Kann ich auch verstehen. Ich interessiere mich ja auch nicht für die Fremden um mich herum.

Ich rette mich in eine Seitengasse und stelle mich unter ein kleines Dach, als es jetzt wie aus Kübeln zu schütten beginnt. Ein leiser Fluch kommt über meine Lippen, doch ich bleibe regungslos stehen. Ich hab ja die kleinen Pillen, mein Feuerzeug und die Tüte mit dem Gras. Meinetwegen kann es ein langer, verregneter Tag werden.

Die Hauswand in meinem Rücken ist zwar dreckig und schlecht verputzt, doch ich bin schon so schmutzig, dass mich das nicht mehr kümmert. Ich lehne mich dagegen und begutachte den Vorrat meiner Taschen. Ich mache mein Sturmfeuerzeug an und versuche, die Flamme auszublasen, was natürlich bei einem Sturmfeuerzeug schwierig ist, doch womit soll ich mir sonst die Zeit vertreiben?

Es wir wieder kalt, vielleicht liegt es auch an der Nässe. Ich drehe erneut einen Joint und rauche ihn, dann einen weiteren, bis mir einfällt, dass ich im Moment etwas knapp bei Kasse bin und es mir nicht leisten kann, meinen Stoff aus Langeweile wegzupaffen. Wehmütig packe ich die kleine Tüte wieder in meine Jacke und schlinge die Arme um mich, um mich warm zu halten.

Im Schein des Feuerzeugs sehe ich mich in der Gasse um. Gegenüber von mir steht ein großer Müllcontainer. Vielleicht gibt es da drin ja was Spannendes? Ich stehe auf und schaue in den Container. Alles Müllbeutel, und es stinkt bestialisch. Ich finde einen Stock und stochere darin herum. Einer der Müllbeutel platzt auf und eine widerliche Masse quillt mir entgegen. Fast muss ich kotzen, doch ich unterdrücke den Würgreiz und trete ein paar Schritte zurück, damit mir der Gestank nicht mehr in die Nase steigt.

Ich setze mich wieder an die Wand und spiele erneut mit meinem Feuerzeug, als mir etwas auffällt. Da liegt eine Decke. Ich friere noch immer, daher fasse ich schnell den Entschluss, aufzustehen und sie mir zu holen, doch als ich danach greife, merke ich, dass das, was im Schein der Flamme ausgesehen hat, wie eine Decke, in Wirklichkeit eine Jacke ist. Ich kenne diese Jacke auch.

Ich zucke zurück, als ich erkenne, was genau da vor mir liegt. Aus dem Jackenärmel ragt eine Hand mit dreckigen, ungepflegten Fingernägeln, der andere Ärmel ist bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Ich drehe den leblosen Körper mit meinem Fuß um. Es ist Zeke, auch wenn ich ihn kaum noch erkennen kann. Seine Haare sind noch widerwärtiger als sonst, die Haut in seinem Gesicht beginnt sich abzulösen und seine Arme sehen noch schlimmer aus. Ich stoße leicht mit meiner Fußspitze gegen ihn, doch er bewegt sich nicht. Seine Augen sind geöffnet, tot und leer starren sie an mir vorbei in den Himmel, während ich zurückstarre. Irgendetwas in seinem leeren Blick zieht mich an, zieht mich tiefer in das Grau seiner Augen, die nie zu enden scheinen. Und ich weiß, dass es nichts Gutes ist.

Der Gestank ist bestialisch und ich spüre, wie in mir Übelkeit aufkeimt, als ich meinen Blick von ihm löse. Ich kann mich gerade noch an dem Container abstützen, bevor ich mich direkt neben Zekes Leiche übergebe.

Dann keimt Panik in mir auf. Den Regen und die Menschen um mich herum, die mich etwas verwirrt ansehen ignorierend renne ich, was das Zeug hält. Ich muss an mich halten, um mich nicht erneut zu Übergeben, dann springe ich in einen Bus und setze mich ganz nach hinten auf einen der freien Sitzplätze. Die Kapuze ziehe ich mir wieder tief ins Gesicht, sodass niemand mein Gesicht erkennen kann.

Wieder kommen in mir die Bilder hoch, wie Zeke ausgesehen hat. Obwohl ich ihn nie besonders gemocht habe, tut es mir schon leid, dass es so für ihn enden musste.

Eigentlich bin ich mir sicher, dass es von dem Zeug kommt, das er mehrmals täglich eingeworfen hat, doch ich will es mir nicht eingestehen. Und ich weiß, dass ich auf demselben Weg wie er bin. Mein Feuerzeug halte ich noch immer fest umklammert, als wäre es das einzige, was mir Halt gibt. Das erscheint mir etwas paradox, als ich mich an den Traum erinnere, in dem es ausgerechnet mein Feuerzeug war, das mich ausgelacht und in die Tiefe hat stürzen lassen.

Draußen ist es dunkel, obwohl es noch nicht sehr spät ist. Die Regenwolken machen es den Sonnenstrahlen unmöglich, durch sie hindurch zu dringen und so erscheint alles trist und grau.

Als ich irgendwann mitten in der Pampa aus dem Bus steige, höre ich in der Nähe einen Fluss rauschen. Ich folge dem Geräusch und merke, wie der Boden langsam matschiger wird. Der Fluss hat Hochwasser, als ich endlich ankomme. Ich stehe auf einer kleinen Aussichtsplattform, es sind einige Meter bis zum Wasser unter mir.

Ich ziehe die kleine Tüte mit den Pillen aus meiner Jackentasche und halte sie vor mich. Ich habe zehn Euro dafür gezahlt und es sind nur noch vier Pillen drin. Fünf mit der, die ich bereits eingeworfen habe. Ich kann mit meinem Geld etwas besseres anfangen, sage ich mir. Ich muss nicht davon abhängig werden. Noch bin ich es nicht. Ich sollte mich besser jetzt sofort davon trennen. Schnell öffne ich die Tüte, fische die Pillen heraus und werfe sie in den Fluss. Ich folge ihnen mit den Augen, doch ich verliere sie sofort in dem dunklen, Wasser, dessen Tiefe ich nicht abschätzen kann. Wie viele Meter es hier wohl herunter geht bis zur Wasseroberfläche?

Ich schüttle den Gedanken ab und werfe ich das Tütchen hinterher. Es schwimmt. Vielleicht hätte ich es mit Steinen füllen sollen. Es treibt eine Weile an der Oberfläche, fast scheint es, als kämpfe es gegen das Wasser an, obwohl es ihm doch nicht entkommen kann. Schließlich füllt sich die kleine Tüte mit Wasser und beginnt zu sinken, langsam, ganz langsam, doch unaufhaltsam der scheinbar endlosen Tiefe entgegen. Ich frage mich, ob das Tütchen jemals auf dem Boden ankommen wird. Wahrscheinlich nicht, denke ich mir. Es ist zu leicht dafür. Ein Mensch wäre nicht zu leicht dafür.

Ich wäre nicht zu leicht dafür.

Ohne nachzudenken schwinge ich mich auf das Geländer der Aussichtsplattform und lasse die Beine auf die andere Seite baumeln. Vier Meter bis ins Wasser, vielleicht auch fünf. Im Schwimmbad bin ich sogar schon vom Zehn-Meter-Brett gesprungen, ich hatte nie Höhenangst, doch hier fühlt es sich ganz anders an. Vielleicht, weil ich weiß, wie kalt das Wasser sein wird. Vielleicht, weil ich den Boden nicht sehen kann. Wenn ich springe, springe ich ins Bodenlose. Der Regen peitscht mir noch immer ins Gesicht, reißt an mir und meiner Kleidung und ich senke den Blick.

Das Wasser ist unruhig, aufgewühlt vom Wind und vom Regen, so wie ich. Es übt eine enorme Anziehungskraft auf mich aus, ich merke, wie die Schwerkraft mich nach unten zieht, nur meine Hände, mit denen ich mich an das rutschige und eiskalte Gitter klammere, halten mich davon ab, ins Nichts zu fallen.

Wie kalt das Wasser wohl ist? Wie tief ist so ein Fluss? Vier Meter? Zehn? Hundert? Ich weiß, dass er einen Boden haben muss, alles hat einen Boden, nicht so wie in meinem Traum. Ich frage mich, ob die kleine Tüte den Boden schon erreicht hat, ob sie ihn jemals erreichen wird oder schwerelos durchs Nichts treibt. Sind die kleinen Pillen schon unten angekommen? Sie müssen immer weiter sinken. Sie werden den Boden erreichen, das müssen sie. Irgendwann. Doch wie lange würde es dauern, bis ein Mensch bis auf den Boden sinkt? Ich bin kurz davor, es auszuprobieren. Ganz kurz davor dem Tütchen und den Pillen einfach hinterher zu springen, in der bodenlosen Tiefe unterzugehen, weil ich es einfach wissen will. Weil ich die Endlosigkeit spüren will, die es nirgendwo sonst gibt. Oder weil ich den Boden finden möchte, den ich schon vor so langer Zeit verloren zu haben scheine.

Weshalb ich es dann doch nicht mache, weiß ich nicht. Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich schließlich die Beine wieder über das Geländer hebe und auf den Boden zurück springe. Vielleicht, weil der Tod etwas so Endgültiges hat und weil ich weiß, dass es keine Bodenlosigkeit geben kann. Ich werde sie hier nicht finden.

Als ich mich auf den Rückweg mache, vergrabe ich die Hände in den Jackentaschen und ziehe den Kopf ein, um mich wenigstens etwas vor der Nässe zu schützen. Ich bin zwar schon durch und durch nass, doch wenn ich zu Hause, bin habe ich vor, mir zuerst einmal trockene Klamotten anzuziehen. Normalerweise habe ich kein Problem damit, nass zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass ich heute schon so viel geraucht habe. Dass ich nicht mehr high, jedoch auch keine Entzugserscheinungen habe. Dass ich endlich einmal wieder klar denken kann. Vielleicht jedoch liegt es auch daran, dass ich nicht so enden will wie Zeke. Kalt, nass und verfault. In irgendeiner Ecke neben einem Müllcontainer. Oder in einem Fluss.

Also erst einmal aus den nassen Klamotten raus. Dann wird’s mir vielleicht schon besser gehen. Meine Finger spielen mit dem letzten kleinen Tütchen, das in meiner Jackentasche zurückgeblieben ist. Ich hole es heraus, drehe mir eine Kippe und zünde sie an. Ich ziehe genüsslich den Rauch in meine Lunge und merke, wie die Kälte und der Regen plötzlich nicht mehr so unangenehm erscheinen.

„Wird ganz schön kalt“, sage ich zu mir selbst und nehme wieder einen Zug. Jetzt ist es wärmer. Einer noch, dann werf ich sie weg. Oder auch zwei, wäre doch schade drum. Immerhin hab ich Geld dafür bezahlt.

Ich rauche den Joint also zu Ende, bevor ich mir ernsthaft Gedanken über den Heimweg mache. Es ist kalt und ich habe wirklich das Bedürfnis, mich zu trocknen, also mache ich mich tatsächlich auf den Weg nach Hause.

Der Weg kommt mir seltsam lang vor, während ich stumpfsinnig vor mich hin laufe und an nichts denke. Immer einen Fuß vor den anderen. Nur nicht stehen bleiben, sonst wird es wieder kalt. Aber zur Not hab ich ja noch mein Sturmfeuerzeug, mein Zigarettenpapier und mein Gras. Ich muss mir also gar keine Sorgen darum machen, dass es mir kalt werden könnte.

Ich frage mich, was mit Zeke passiert ist. Ob er erfroren ist, eine Pille zu viel eingeworfen hat, oder sich einfach den goldenen Schuss gegeben hat. Sein Jackenärmel war ja hochgekrempelt, doch sonst habe ich nichts gesehen, was darauf hingewiesen hätte. In meinem Zustand hab ich da aber natürlich auch nicht drauf geachtet. Schließlich hatte ich ganz andere Sorgen.

Obwohl es nicht so kalt ist, dass ich hier draußen erfrieren könnte, bleibe ich in Bewegung und kuschle mich in meinen nassen Wintermantel. Die Hände wärmen sich in den Jackentaschen zwar nicht auf, doch sie sind vor dem eisigen Wind geschützt, der hier draußen weht, meine Nase und Ohren erfriert und mich immer wieder die tränenden Augen schließen lässt.

Der Wind ist so beißend, deswegen tränen mir die Augen. Aus keinem anderen Grund. Nicht wegen Zeke, nicht wegen dem, was passieren wird, wenn ich so weitermache, wie bisher.

Ich habe den Weg übers Feld genommen. Der Weg ist zwar kürzer, ich bin jedoch auch dreckiger davon. Als ich die Tür aufschließe, steht mein Bruder im Flur am Telefon. Er sieht mich eintreten und mustert mich mit kritischer Miene. Ich laufe an ihm vorbei und er verzieht das Gesicht. „Du stinkst“, sagt er. „Geh duschen!“

Ich gehe mit den dreckigen Schuhen in die Küche und hinterlasse eine Schneise der Unordnung. Ich fülle ein Glas kaltes Wasser und kippe es hinunter. Immerhin habe ich den gesamten Tag noch nichts getrunken.

Der Blick in den Kühlschrank ist ernüchternd, doch ich habe ohnehin keinen Hunger. Mein ältester Bruder kommt in die Küche, begleitet von dem Stänker, der sein Telefonat wohl gerade beendet hat. „Raus aus der Küche, Stinktier“, wettert er. „Du machst alles dreckig.“

Ich schnappe mir einen Joghurt und einen Löffel aus der Schublade, schlüpfe aus meinen Schuhen und lasse sie provozierend in der Ecke stehen. Meine Brüder sagen nichts dazu, weder der eine, noch der andere. Ich bin ihnen egal.

Ich verschwinde in meinem Zimmer, die Dusche ist vergessen. Jetzt habe ich Besseres zu tun. Ich schäle mich aus den nassen Klamotten und schlüpfe in Jogginghose und Kapuzenpulli. Es ist bequemer so, obwohl ich bis auf die Haut durchnässt bin und meine Haare hinten in meinen Pulli hängen. In wenigen Minuten wird alles nass sein, doch ich lasse mich mit meinem Joghurt aufs Bett fallen und ziehe die Beine an. Zufrieden löffle ich den Becher leer und stelle ihn dann auf den Boden. Irgendetwas in mir ist unruhig, macht es mir völlig unmöglich, hier sitzen zu bleiben. Irgendetwas zieht mich mit aller Macht an, es ist ein so starkes Gefühl von Anziehung, wie ich es noch nie erlebt habe.

Ich stehe auf und gehe ans Fenster, das ich aufreiße. Kalter Wind peitscht mir entgegen, als ich hinausschaue, nicht in die Ferne, sondern nach unten. Es ist bereits so dunkel, dass ich den Boden nicht sehen kann, obwohl ich mich im zweiten Stock befinde und weiß, dass es einen Boden gibt.

Es gibt keine Bodenlosigkeit, sage mich mir wieder, obwohl es eine fast tröstende Vorstellung ist. Für immer schwerelos – aber auch für immer fallen. Unvermittelt setze ich mich auf das Fensterbrett. Das habe ich eigentlich noch nie gemacht, aber es ist einladend, mit den Füßen zu schlenkern und irgendetwas in mir hat sich ohnehin verändert. Hier ist es auch nicht so kalt, wie am Fluss. Hier macht es Spaß, keinen Boden unter den Füßen zu haben, ins Nichts zu blicken, die unendliche Tiefe unter mir zu sehen, die in der Dunkelheit endet. Ich weiß aber auch, dass ich hier nicht so sanft landen würde, wie im Wasser, doch ich habe keine Angst vor dem Fallen.

Es gibt keinen Grund, sich vor dem Fallen zu fürchten, denke ich. Das Fallen ist nicht schlimm. Das Aufkommen tut weh. Aber darum muss ich mir hier, im Nirgendwo, in der Bodenlosigkeit keine Sorgen machen. Hier werde nicht niemals aufkommen.

Der kalte Wind umspielt meine Füße, die in den durchnässten Socken stecken und ich überlege mir, was passieren würde, wenn ich springe.

Es klopft.

Ich antworte nicht, doch mein Bruder wartet nicht auf mein Kommando. Er öffnet die Tür und tritt ein. „Was willst du?“, frage ich ungehalten und schwinge mich wieder ins Zimmer. Mit einem Sprung lande ich auf dem Parkettboden meines Zimmers. Zurück in der Wirklichkeit. Die Freiheit, mit den Beinen zu schlenkern und ins Nichts zu starren vermisse ich jetzt schon.

Mein Bruder baut sich vor mir auf und ich seufze müde, denn ich weiß, was jetzt kommt. „Räum deine Schuhe auf, geh duschen und putz dir die Zähne“, sagt er mit einem Hauch Autorität in der Stimme. „Du riechst wie aus einer Mülltonne gekrochen.“

Ich kichere und werfe mich wieder aufs Bett. „Vielleicht hab ich da ja die letzten Nächte verbracht“, gebe ich provozierend zurück. „Du kannst es sicher nicht nachprüfen.“ Mein Bruder antwortet nicht und verschwindet wieder. Ich denke gar nicht daran, seinen Aufforderungen nachzukommen. Stattdessen räkele ich mich zufrieden auf meinem Bett, schließe die Augen und lasse mich in die Dunkelheit fallen.

Ich muss eingenickt sein, denn als ich sie wieder öffne, steht mein Bruder wieder vor mir. „Was?“, fragte ich genervt. „Ich hab gesagt, du sollst deine Schuhe aufräumen, duschen und Zähne putzen!“, wiederholt er ärgerlich. Ich seufze ohne ihn wirklich ernst zu nehmen. „Hab ich mitbekommen.“

„Steh jetzt auf!“ Er packt mich wütend am Arm. „Das ganze Haus stinkt nach dir. Wo warst du überhaupt?“ Ich reiße mich los.

„Geht dich nichts an.“

Mein Bruder erwidert nichts darauf. Er will verschwinden, da fällt sein Blick auf den Geldbeutel, den ich geklaut habe. Mir wird etwas mulmig zu Mute, als er den Blick nicht abwendet. „Ist dahin das Geld geflossen, das du dir von Dad geliehen hast?“, fragt er mich und hebt den Geldbeutel hoch. Er betrachtet ihn kurz und lacht dann abschätzig. „ Du hättest dir ruhig einen Schöneren kaufen können, nicht so ein hässliches Teil.“

Er öffnet ihn. Verdammt, gleich wird er den Ausweis finden und wissen, dass das nicht mein Geldbeutel ist. „Lass ihn liegen!“, sage ich schnell und mache einen Schritt auf ihn zu.

Zu spät. Er hat den Ausweis gefunden und bereits unter die Lupe genommen. Jetzt dreht er sich wütend zu mir um. „Willst du mich verarschen?“, fragte er, sein Gesicht vor Wut verzerrt. „Wo hast du den her?“

„Gefunden“, lüge ich kleinlaut.

„Gefunden?“, fragt er laut und kommt näher. „Lüg mich nicht an. Hast du den geklaut?“

Ich antworte nicht. Er kommt an mein Bett und verpasst mir eine Ohrfeige. „Aua, spinnst du?“, frage ich und springe auf. „Das fragst du mich?“, will er wissen. Er ist jetzt richtig wütend.

„Hast du dich eigentlich mal angeguckt? Merkst du nicht, wie du rumrennst und was die Nachbarn über dich erzählen? Siehst du nicht, wie übel du aussiehst? Und jetzt, wo du deine Sucht nicht mehr finanzieren kannst, fängst du an zu klauen? Ich wette, so lässt sich auch das Rätsel um die vielen Federmäppchen, Hefte und Pullis lösen, die du dir in der letzten Zeit gekauft hast, was?“ Er packt mich am Kragen und schüttelt mich.

„Jetzt zeig mir mal dein neues Federmäppchen!“, schreit er mich an und ich hebe die Arme, um mich vor einem erneuten Schlag zu schützen, doch es kommt keiner. Stattdessen beginnt mein Bruder, meine Taschen zu durchwühlen. „Pfoten weg“, drohe ich, doch meine Stimme zittert.

Er findet natürlich das Päckchen mit dem Gras und auch noch einen bereits gedrehten Joint. „Na, das scheinst du ja zur Perfektion gebracht zu haben“, lacht er abwertend, als er das kleine Ding zwischen den Fingern dreht und betrachtet. Ich antworte nichts.

Das Päckchen mit dem Gras steckt er ein, den Joint steckt er mir in den Mund und dreht mich zum Spiegel. „Gefällst du dir so?“, fragt er mich. Ich starre kurz in die Augen, die mich aus dem Spiegel anstarren. Ich sehe schrecklich aus. Es fehlt wirklich nicht mehr viel, bis ich so aussehe, wie Zeke. Und bis ich so enden werde. Dass ich nicht antworte, nimmt mein Bruder als Anlass, sich umzudrehen.

„Du bist so erbärmlich“, sagt er, bevor er mein Zimmer verlässt. Er lässt mich einfach stehen. Ich fische die Kippe aus meinem Mund, werfe einen kurzen Blick in den Spiegel und wende mich dann schnell ab.

Ich starre den Joint an, als könnte er mich jeden Moment auslachen, wie das Feuerzeug in meinem Traum. Doch das tut er nicht. Auch mein Feuerzeug, das auf dem Boden liegt, bleibt still, und ich stürze in keinen Abgrund. In mir tief drinnen dagegen tobt ein Kampf. Dort sieht es ganz anders aus.

Der Boden, der letzte, brüchige Rest Halt, den es in meinem Leben gegeben hat, verschwindet und ich falle, falle immer weiter, ohne jemals aufzukommen. Alles um mich herum lässt mich allein. Mein Feuerzeug und mein Joint starren mich wie aus weiter Ferne an, alles, was mir jemals wichtig war, ist verschwunden, verlässt mich. Ich falle. Und ich falle allein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum "Landeswettbewerb Deutsche Sprache und Literatur Baden-Württemberg 2015" Thema 5: Bodenlos - gestalten Sie eine Situation Vielen Dank für das Cover! Es ist wunderschön geworden und wurde von Wolf erstellt!

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