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Dezembergedanken

 

Es war ein kalter Dezembertag, die Temperaturen stiegen schon seit Wochen nicht mehr über den Nullpunkt, doch Schnee lag keiner. Stattdessen war die Welt in ein tristes Grau getaucht worden und die Bäume hatten schon lang alle Blätter verloren. Nur ihre dunklen Äste reckten sich noch in den wolkenverhangenen Winterhimmel. Ein paar Krähen saßen im Geäst und stießen hungrige Schreie aus, doch die meisten anderen Vögel waren schon lang gen Süden geflogen.

Kaya hatte sich die Mütze tief ins Gesicht und den Schal bis über die Nase gezogen, sodass nur ihre Augen zwischen dem Stoff hervorlugten. Ihre Hände hatte sie in den Jackentaschen vergraben unter ihrem rechten Arm klemmte ein kleines, in helles Glitzerpapier eingepacktes Päckchen.

Das Mädchen trat in eine Pfütze und das kalte Wasser schwappte in ihren Schuh. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie begann zu zittern. Fast wäre ihr ein leiser Fluch über die Lippen gekommen, doch sie verbiss ihn sich. Immerhin war Weihnachtszeit, da fluchte sie nicht. Stattdessen zog sie die Finger aus den Jackentaschen, nahm das kleine Päckchen in die Hände und begann zu rennen. Der Schal rutschte ihr vom Gesicht und die Kälte kroch durch den Kragen in ihre Kleidung, doch sie ignorierte es. Sie wollte nur noch nach Hause, raus aus der Kälte. In die Wärme.

Die Straßen waren geschmückt, helle Lichterketten hingen in den Bäumen und in jedem Vorgarten zierten weitere bunte Lichterketten die kahlen Büsche. Kaya mochte die Lichter zwar, doch die Kälte war ihr zuwider, ebenso wie die Dunkelheit, obwohl es erst später Nachmittag war.

Sie lief die weihnachtlich geschmückten Straßen entlang und blieb dann vor einem Mehrfamilienhaus stehen. Auch hier im Vorgarten waren alle Büsche und Bäume mit Lichterketten geschmückt worden. Kaya sprang schnell die kleine Steintreppe vor dem Haus hoch, kramte mit ihren vor Kälte steifen Fingern in der Hosentasche und zog den Hausschlüssel hervor. Als sie im Hausflur stand, nahm sie die Mütze ab und rannte dann die Treppe hoch.

Im Hausflur kam ihr die Nachbarin von gegenüber entgegen, der sie ein freundliches „Frohe Weihnachten!“ zurief, dann stand sie auch schon im dritten Stock vor einer Tür. Ein aus Holz geschnitzter Weihnachtsmann hing davor und ein Stern aus glitzerndem Papier, den Kayas Schwester Zoey letztes Jahr in der Schule gebastelt hatte.

Sie schloss die Wohnungstür auf und schlüpfte schnell hinein. Das Päckchen warf sie unachtsam auf das Sideboard im Flur, wickelte ihren Schal von ihrem Hals und schmiss die Mütze zu dem Päckchen.

„Hallo!“, rief sie in die Wohnung. „Ich bin zu Hause!“ Sie bekam keine Antwort. „Mum?“, rief sie und schlüpfte aus ihrem Mantel. Sie hängte den Mantel an die Garderobe und ging in die Küche. Ihre Mutter schien nicht da zu sein, auf dem Herd stand ein Topf. Kaya hob den Deckel an. Nudelsuppe, doch sie war schon kalt. Hatte ihre Mutter die für Zoey zu Mittag gemacht? Wie lange war Zoey jetzt wohl allein, oder hatte ihre Mutter sie mitgenommen? „Zoey?“ Noch immer keine Antwort. Sie konnte unmöglich allein sein. Zoey war krank, sie hatte Fieber und sollte zu Hause bleiben. Aber wo steckte sie nur?

Kaya griff das Päckchen vom Sideboard und schlich in ihr Zimmer. Dort drehte sie die Heizung auf und versteckte das kleine Päckchen in ihrem Kleiderschrank, hinter den Pullis, dort, wo sie selbst nie hin griff, damit ihre Schwester es nicht finden konnte. Danach machte sie sich auf die Suche nach der selbigen. „Zoey?“ Sie klopfte an die Zimmertür ihrer Schwester, doch von drinnen kam keine Antwort. Schlief Zoey?

Kaya zögerte, bevor sie eintrat. Ihre Schwester lag im Bett, die Decke bis an die Nase gezogen, doch das Gesicht von ihr abgewandt. Ihre hellen Haare fielen auf das Bett und sie hatte sich an ihren Teddy gekuschelt. Als Kaya sich über sie beugte und ihr über das Haar strich, wachte Zoey auf. „Kaya?“, fragte das kleine Mädchen. „Wo warst du?“, fragte sie, als sie ihre Schwester erkannte.

„Auf dem Weihnachtsmarkt“, sagte Kaya. Ihre Finger gewöhnten sich langsam an die Temperaturen hier im Haus und sie rieb noch einmal ihre Hände aneinander. „Ist es sehr kalt draußen?“, fragte Zoey und nahm die Hände ihrer Schwester. Sie hustete. „Deine Hände sind ganz kalt!“

„Es ist etwas eisig draußen“, meinte Kaya. „Nicht besonders angenehm.“ Zoey hustete wieder und schnäuzte sich dann die Nase. „Hast du noch Fieber?“, fragte Kaya und legte ihre Hand auf Zoeys Stirn. Zoey nickte. „Ein bisschen vielleicht.“

„Ich mach dir einen Tee“, sagte Kaya und verschwand aus dem Zimmer ihrer jüngeren Schwester. In der Küche kochte sie Tee für sie beide und ging wieder zu ihrer Schwester. Sie reichte ihr den Tee und Zoey setzte sich auf. „Was hast du auf dem Weihnachtsmarkt gemacht?“, fragte Zoey Kaya. „Ich hab dein Weihnachtsgeschenk besorgt“, sagte Kaya und nahm einen Schluck Tee. „Was ist es?“, wollte ihre kleine Schwester wissen. Kaya lachte. „Das wirst du schon bald genug erfahren.“

Zoey stellten den Tee auf ihrem Nachttisch ab und kroch auf Kaya zu. „Oh, bitte, Kaya, sag es mir!“, bat sie und schlang die Arme um ihre Schwester. „Bitte, bitte, bitte!“ Kaya lachte erneut. „Wenn ich es dir sagen würde, wäre es ja keine Überraschung mehr“, meinte sie und schob die Arme ihrer Schwester von sich, die sich um ihre Schultern geschlungen hatten. „Jetzt schlaf dich gesund“, sagte Kaya und griff ihre Teetasse. „Damit du bald wieder in die Schule kannst.“

Zoey zog eine Grimasse und streckte Kaya die Zunge raus. Kaya tat, als wäre sie empört. „So kommt der Weihnachtsmann aber nicht zu dir!“, behauptete sie und stemmte die Hände in die Hüften. „Dann sage ich dem Weihnachtsmann, dass du mich geärgert hast, und dann bekomme ich all deine Geschenke!“

Zoey grinste und piekte Kaya in die Hüfte. „Gar nicht wahr“, sagte sie und kuschelte sich wieder unter die Decke. Kaya deckte sie zu. „Schlaf“, sagte sie wieder und küsste ihre Schwester auf die Stirn. Dann griff sie in die Tasche ihres Pullis und tat ganz erstaunt, als sie eine kleine Tüte daraus hervorzog. „Oh, schau mal, was irgendwie in meine Tasche gewandert sein muss!“, sagte sie und hielt Zoey die Tüte hin. „Was ist das?“, fragte Zoey und nahm die Tüte entgegen, die Kaya ihr hingehalten hatte. Sie öffnete sie und sah hinein. Zoeys Augen begannen zu strahlen. „Du hast mir gebrannte Mandeln mitgebracht?“, fragte sie ihre ältere Schwester. Kaya nickte.

„Vielleicht helfen sie dir ja, noch schneller gesund zu werden“, meinte sie. Sie drückte Zoey, die bereits ein paar Mandeln aus der Tüte geholt und sich in den Mund gestopft hatte, wieder zurück ins Bett. „Jetzt tu mir einen Gefallen und schlaf!“, sagte Kaya mit Nachdruck. „Sonst wirst du das Weihnachtsfest im Bett verbringen müssen.“

Zoey nickte, den Mund bereits voller gebrannter Mandeln und hielt ihrer Schwester dann die Tüte hin. Kaya griff hinein und steckte sich ebenfalls ein paar der Süßigkeiten in den Mund. „Gute Nacht“, sagte sie dann zu ihrer Schwester.

Sie nahm ihren Tee, schaltete das Licht aus und wollte gerade verschwinden, als sie Zoey ihren Namen flüstern hörte. „Kaya!“ Kaya drehte sich um und sah, wie ihre Schwester schelmisch unter der Decke hervorlugte und sie angrinste. „Was?“, flüsterte Kaya zurück. Zoeys Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren Grinsen. „Ich hab dich lieb!“, flüsterte sie. Kaya begann nun, ebenfalls zu Lächeln. „Ich dich auch, kleine Schwester.“

Ein Tag auf dem Weihnachtsmarkt

 Ein kalter Wind war aufgekommen, doch geschneit hatte es diesen Winter noch nicht, obwohl es schon Dezember war. Die Bäume waren laublos, hatten ihre Blätter abfallen lassen, doch jetzt waren sie geschmückt mit Lichterketten und auf dem Weihnachtsmarkt duftete es nach gebrannten Mandeln, Lebkuchen und frisch gebackenen Zimtsternen.

Jara stand zwischen den Ständen in der Kälte, die Hände in den Jackentaschen vergraben und zitterte. „Wo bleibt er denn nur?“, fragte sie sich und sah sich um.

Ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft, die über den Weihnachtsmarkt schwebten. Nervtötendes Geklingel von Glöckchen und andere Musik, die sich unter das Klingeln mischte, vermengten sich zu einer nicht identifizierbaren Geräuschkulisse. Jara hörte in der Ferne ein Kind weinen, einer alten Dame fiel etwas zu Boden und zerbrach, ein Hund kläfft und knurrte Jara an.  Sie zog den Kopf ein und ging ein paar Schritte zur Seite, damit sich der kleine Kläffer nicht provoziert fühlte, doch er hörte einfach nicht auf, zu kläffen, bis eine dickliche Frau mit großen Einkaufstüten unsanft an der Leine zu sich zog, woraufhin dem Kläffer ein klägliches Fiepen entfuhr.

Sie reckte den Kopf und machte Joshua endlich in der Menge aus, der sich mit zwei dampfenden Tassen auf den Weg zu ihr machte. Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen kämpfte Jara sich zu ihm und nahm ihm dann eine der heißen Tassen ab, die er ihr hinhielt. Es war eine extrem kitschige Tasse, dunkelblau, mit einem viel zu fetten, kugelrunden Weihnachtsmann in rot-weiß, Rentieren und Weihnachtsbäumen darauf.

„Danke“, sagte sie leise und nahm einen Schluck Glühwein ohne Joshua anzusehen. „Willst du vielleicht was essen?“, fragte Joshua Jara. Sie verbrühte sich die Lippen an dem Glühwein und stellte die Tasse auf einen Stehtisch neben ihnen, bevor sie wortlos nickte.

Joshua kramte in seiner Hosentasche nach seinem Geldbeutel und zog ihn heraus. „Ich bring dir was mit“, sagte er. Dann verschwand er wieder in der Menge und ließ Jara allein zurück.

Sie wärmte ihre Hände an der heißen Tasche, doch alles, was sie erreichte, war, dass sie sich die Handflächen verbrannte, während ihre Finger noch immer eiskalt waren. Jetzt bereute sie, dass sie keine Handschuhe angezogen hatte. Sie sah auf die Uhr. Noch nicht sehr spät. Sie konnte sich jetzt unmöglich schon verabschieden, auch wenn Joshua und der Weihnachtsmarkt sie mehr als langweilten.

Es war so kalt und sie war dieses Jahr schon zweimal auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, einmal mit Freunden und danach mit ihrer Familie. Jetzt war sie das dritte Mal da und sehr groß war der Weihnachtsmarkt nicht gerade. Sie hatten sich schon längst an allen Ständen vorbeigekämpft. Weihnachtsgeschenke hatte Jara jetzt schon längst alle besorgt, deswegen konnte sie nicht einmal etwas für ihre Freunde und Familie kaufen. Außerdem war sie um die Weihnachtszeit immer pleite. Joshua war auch eher schüchtern und Jara hatte längst aufgegeben, ein Gespräch mit ihm anzufangen, dabei war er es gewesen, der unbedingt mit ihr auf den Weihnachtsmarkt hatte gehen wollen. Sie langweilte sich und sie hatte das Gefühl, dass es Joshua genauso ging.

Erneut nippte sie an ihrem Glühwein. Sie überlegte sich, ob sie einfach verschwinden sollte, doch das wollte sie nicht. Das war Joshua gegenüber nicht fair. „Hey Jara!“ Jemand stellte einen Teller neben sie auf den Tisch. „Bist du auch hier?“ Sie drehte sich um und erkannte Linus,  der erst vor einem Jahr in ihre Nachbarschaft gezogen war.

Sie lächelte ihn an und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Hey“, sagte sie ebenfalls. Linus schien allein zu sein, denn er sah sie jetzt an und fragte: „Ist hier noch Platz?“ Jara nickte stumm. „Bist du alleine hier?“, fragte Jara. Linus schüttelte den Kopf. „Mein Bruder ist hier noch mit ein paar Freunden unterwegs“, sagte er. „Ich bin nur der Fahrer. Dabei sind die Jungs nun wirklich alt genug, um mit dem Bus zu fahren.“ Er wirkte genervt.

In dem Moment tauchte Joshua wieder auf. Er schien etwas verwirrt, als er Linus sah und stellte wortlos den Teller ab. „Dein Freund?“, fragte Linus und Jara merkte, wie die Stimmung kippte, als Joshua nach einem kurzen Moment eiskalten Schweigens sagte: „Willst du uns einander nicht vorstellen?“

Jara zögerte einen Moment. „Joshua, das ist Linus. Mein Nachbar. Linus – Joshua. Ein…. Klassenkamerad.“ Sie wartete, wie die Jungen reagieren würden, doch die sahen sich nur kurz an, in diesem kurzen Blick jedoch konnte Jara die Spannung zwischen den beiden Jungen spüren. Um die Situation zu entspannen trank Jara einen Schluck von ihrem Glühwein und nahm einen Bissen von ihrem Crêpe. Das lange Schweigen war ihr unangenehm.

Als sie aufgegessen hatte, brachte Linus ihre Teller und Tassen zurück. Sie blieb bei Linus und redete mit ihm. Als Joshua zurückkam, sagte er: „Also Jara, gehen wir?“

Jara war kurz überrascht, dann sagte sie schnell: „Das ist lieb, aber Linus bringt mich nach Hause. Er muss eh in dieselbe Richtung.“

Joshua sah aus, wie vor den Kopf geschlagen, Linus sagte nichts.

„Na bitte….“ Er streckte die Hände in die Hosentaschen. Jara glaubte, zu bemerken, dass er etwas beleidigt war. Natürlich. Besonders nett war das wirklich nicht von ihr, doch sie war viel lieber mit Linus zusammen, als sich noch ein paar Stunden mit Joshua zu langweilen. „Wir sehen uns“, sagte sie abwimmelnd. „Oder nicht“, dachte sie für sich. Joshua zuckte nur mit den Schultern. Seine Miene war unergründlich, doch Jara konnte wetten, dass er sauer auf sie war. „Meld dich“, war alles, was er sagte. Dann war er verschwunden.

Jara blieb mit Linus allein zurück. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragte Linus. „Oder wollen wir noch etwas herumlaufen?“ Jara zuckte unentschlossen mit den Schultern. Linus legte daraufhin seinen Arm um ihre Hüfte und sie gingen nebeneinander her. Sie nahmen einen Umweg über den Markt und Linus führte sie zu seinem Auto. Er hielt ihr die Tür auf, doch Jara zögerte, „Dein Bruder?“ Linus zuckte die Schultern. „Wird Zeit, dass er erwachsen wird und den Bus nimmt.“ Jara ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Linus startete den Motor und fuhr los. Sie redeten den ganzen Weg über. Jara bemerkte, wie witzig Linus war, wenn er auftaute. Bis jetzt waren sie sich nicht unbedingt näher gekommen, denn Linus war zurückhaltend und schüchtern. Doch jetzt legte er sogar einmal seine Hand auf ihr Knie.

Als das Auto vor Jaras Haus anhielt, stieg er mit ihr aus. „Also dann..“ Unentschlossen blieb er vor Jara stehen. Diese machte kurzentschlossen einen Schritt vor und umarmte ihn. Linus zog sie zu sich, doch viel zu schnell ließ er sie wieder los. „Wir sehen uns!“, sagte er noch, bevor er ihr ein Lächeln zuwarf und ging. Jara wusste nicht, was sie davon halten sollte und blieb allein zurück.

Während sie ihm nachsah, bemerkte sie, dass es langsam und in dicken Flocken zu schneien begann….

Der Junge und der Julbock

Die Sonne kroch über die schneebedeckten Baumwipfel in die Höhe, warf ein grell-gelbes Licht auf die zentimeterdicke Schneedecke und tauchte die weite, schneebedeckte Fläche, die zwischen zwei Waldstücken lag, in einen goldenen, zauberhaften Glanz. Es war der erste Tag seit langem, an dem es aufgehört hatte, zu schneien. Alle Tiere hatten sich in ihre Unterschlüpfe verkrochen und durch den vielen Neuschnee fanden sich kaum Fußabdrücke im Wald. Nur zwei kleine Reihen frischer Fußabdrücke direkt nebeneinander zeigten, dass der Wald nicht ganz so verlassen war, wie er schien.

Ein kleiner Junge, die Mütze tief ins Gesicht und den Schal bis übers Kinn gezogen, sodass nur seine hellen Augen und die rote Nasenspitze hervorlugten, stapfte mit seinen schweren Winterstiefeln durch den Schnee. Er mochte etwa sieben Jahre alt sein und es war seltsam, dass er sich so weit vom nächsten Dorf entfernt hatte, war es doch kalt und nur ein Tag vor Weihnachten. Der kleine Junge jedoch dachte sich nichts dabei. Die kleinen Hände steckten in dicken Fäustlingen, die er sich selbst angezogen haben musste, denn an beiden Handgelenken, war die Jacke so weit hochgeschoben, dass seine Unterarme im Freien waren und er frieren musste. Aus seinen klobigen Stiefeln ragten zwei verschiedene Strümpfe heraus, geringelte Wollsocken, der linke in Gelb-, der rechte in Rottönen.

Mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen stapfte er durch den hohen Schnee, der ihn zeitweise bis zu den Knien einsinken ließ. Angestrengt musste er sich dann mit großen Schritten aus dem Tiefschnee befreien, ließ sich jedoch nicht davon abhalten, seinen Weg weiter fortzusetzen.

Auf einem schneebedeckten Baumstumpf ließ er sich ächzend nieder und schob mit seinen behandschuhten Händen die Bommelmütze von seinem Kopf. Das Lied ließ er dennoch nicht verstummen, seine helle Kinderstimme ging in ein leises Pfeifen über. Mit müdem Blick sah er sich um.

In einiger Entfernung entdeckte der Kleine eine Höhle, die einem Fuchs oder einem Kaninchen als Bau dienen musste. Interessiert kam der Junge näher, seine blonden Locken wippten auf und ab, als er auf die Knie ging und hineinsah. „Hallohoo!“, rief er und fast kam es ihm so vor, als höre er das Echo seiner eigenen Stimme aus dem Loch zurückschallen.

„Was brüllst du denn so laut?“, fragte eine Stimme neben ihm. „Du weckst ja ganz Schweden auf.“

Erschrocken wandte sich der Junge um, so schnell, dass er das Gleichgewicht verlor und sich auf seinem Hosenboden wiederfand. Ihm bot sich ein erstaunliches Bild. Ein Steinbock von der Größe eines Hasen, mit viel zu langen Hörnern und einem langen Ziegenbart hatte unter einer Tanne Platz genommen, die Vorderläufe unter den Bauch gelegt und starrte den Störenfried an, der seinerseits zurückstarrte.

„Wer bist du?“, fragte der überraschte Junge den Bock und stand wieder auf. Er klopfte sich den Schnee von der Hose, sehr zum Ärger des kleinen Bocks, der jetzt aufstand und um ihn herumtänzelte.

„Ich finde, diese Frage solltest du mir beantworten“, meinte er, als er eine Runde um den Jungen gedreht hatte. „Du bist kein Hase und auch kein Fuchs. Du musst ein kleiner Mensch sein. Aber was machst du um diese Jahreszeit so weit von der nächsten Siedlung entfernt im Wald?“

„Ich bin immer hier draußen“, entgegnete der Junge. „Mein Name ist Nilas und ich wohne in einem Dorf in diese Richtung.“ Der Bursche zeigte mit seinem Fäustling Richtung Westen. „Warum bist du nicht bei deiner Familie?“, wollte der Bock wissen und setzte sich wieder.

Der Kleine zuckte mit den Schultern. „Meine Mama kocht und mein Papa muss arbeiten. Ich bin im Weg, also bin ich spazieren gegangen.“

Der Bock musterte jetzt seine verschiedenfarbigen Socken und die Ärmel seiner Jacke, die fast an den Ellenbogen hingen. „Hat deine Mutter dich denn nicht anständig anziehen können?“, wollte der Bock wissen. Nilas zuckte erneut mit den Schultern. „Ich habe mich allein angezogen und bin losgegangen“, erklärte er.

„Und da hast du zwei unterschiedliche Socken gebraucht?“, erkundigte sich der Bock. Wieder bekam er ein Schulterzucken zur Antwort, bevor der Junge sagte: „Die Roten habe ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen und die Gelben im Jahr davor. Ich habe zu Hause ganz viele davon. Noch zwei Paar in Blau, einmal hell und einmal dunkel und noch in Pink. Aber die Pinken trage ich nicht, die sind nur für Mädchen.“

Der Bock stand wieder auf. Er stolzierte erneut um den Jungen herum und zog mit seinen großen Zähnen an einer der Socken.

Dann schüttelte er den Kopf und legte sich wieder unter die Tanne. „Und dieses Jahr bekommst du wieder welche, nicht wahr?“, fragte er.

„Vielleicht in Grün“, meinte der kleine Nilas. „Aber ich habe sie noch nie gemocht. Sie kratzen.“

Mit schiefgelegtem Kopf fragte das Tier: „Was hättest du stattdessen lieber?“

Nilas musste darüber nicht lang nachdenken. „Ein Rennauto“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. „Mit Fernbedienung und Licht, das man an und aus schalten kann. In Rot und mit Blitzen auf der Seite, weil es so schnell ist. Weißt du, wie ich meine?“

Der Tier nickte, sodass sein weißer Ziegenbart auf und ab wippte. „Nicht schlecht“, stimmte es zu.

Auch Nilas nickte. „Nicht wahr?“, meinte er, dann jedoch wirkte er wieder niedergeschlagen. „Aber wahrscheinlich bekomme ich morgen doch wieder nur ein Paar Socken. In Grün. Oder noch schlimmer, Lila.“

Der Steinbock seufzte laut auf und legte den Kopf auf den Boden. „Du bekommst wenigstens überhaupt etwas geschenkt“, meinte er leidend und kullerte mit den großen Augen, was ihn noch trauriger wirken ließ. Nilas setzte sich neben ihn in den Schnee.

„Bekommt du denn keine Geschenke?“, fragte er überrascht. Der Bock hob den Kopf wieder von der Schneedecke, wo sein Kinn eine kleine Kule hinterlassen hatte.

„Von wem denn?“, wollte er wissen. Wieder entkam seinen Lippen ein Seufzen. Der kleine Junge schwieg und eine Weile lang saßen die beiden nur nebeneinander und sahen auf die weite Fläche hinaus und wie die Sonnenstrahlen die Schneedecke zum Glitzern brachten.

„Vielleicht solltest du wieder nach Hause gehen, und dich auf deine Geschenke morgen freuen“, gab der Bock zu bedenken. „Es wird kalt.“

Der kleine Junge nickte und stand auf. „Frohe Weihnachten“, sagte er höflich, als der traurige Steinbock seinen Kopf wieder auf die Schneedecke legte. Der Bock nickte nur, erwiderte den Gruß jedoch nicht, also machte der kleine Nilas sich auf den Weg nach Hause.

 

Die Sonne begann schon, unterzugehen, als am nächsten Abend erneut ein kleiner Junge in Ringelsocken, die über seine Stiefel hinausragten, über die schneebedeckte Lichtung stiefelte. In seiner rechten Hand trug er ein kleines Päckchen, das in rot-glänzendes Geschenkpapier eingepackt worden war.

Unter einer Tanne blieb er stehen und ging in die Knie, um in eine kleine Höhle hineinsehen zu können. „Hallohoo“, rief Nilas leise und klopfte auf die Schneedecke, doch nichts tat sich.

„Ich hab dir ein Geschenk mitgebracht“, erklärte der Junge und legte das Päckchen auf die Schneedecke oberhalb der Höhlenöffnung. „Du hast  gesagt, dass du nie Geschenke bekommst, also habe ich dir meins abgegeben. Ich brauche es nicht.“ Er schüttelte das Paket leicht. Es war ganz weich und leicht, als er auf das Papier drückte.

„Es sind wieder Socken. Diesmal sind sie grün. Du hattest recht. Vielleicht gefallen sie dir ja, zumindest frierst du dann nicht.“ Wieder platzierte er das Geschenk neben der Höhle und klopfte noch einmal auf die Schneedecke.

„Ich muss jetzt wieder nach Hause“, erklärte der Junge. „Mama und Papa warten schon auf mich.“

Er winkte noch einmal, obwohl er wusste, dass der Bock ihn nicht sah.

Dann drehte er sich um und ging.

 

Am nächsten Morgen hatte Nilas sich noch einmal aufgemacht, um nachzusehen, ob der Bock sein Geschenk bekommen hatte. Als er wieder vor der Tanne auf der Lichtung stand, fiel ihm etwas ins Auge. Es war wieder ein Päckchen, auch dieses war in rot-glänzendem Geschenkpapier eingewickelt, sodass Nilas erst glaubte, es wäre seines und der Bock hätte es nie bekommen, dann jedoch bemerkte er, dass das Paket größer war, als es die Socken gewesen waren.

Er ging hin und ging neben dem Paket in die Hocke, um es sich genauer anzusehen. Es waren nicht die Socken, darin war er sich sicher. Der Bock musste das Geschenk bekommen haben und hier war jetzt das seine.

Nilas hob es hoch und schüttelte es sanft. Es war schwerer als die Socken, noch dazu größer und Nilas öffnete es aufgeregt. Hervor kam ein ferngesteuertes, rotes Rennauto, mit gelben Blitzen, die die Seiten zierten, genau so, wie Nilas sich eines gewünscht hatte. Er nahm es aus dem Karton und begutachtete die Fernbedienung. Mit einem Knopf konnte man die Lichter vorne an und aus schalten, mit zwei weiteren Schalten konnte man vorwärts und rückwärts fahren und lenken.

„Danke“, sagte Nilas mit einem breiten Grinsen im Gesicht und kniete sich auf den Boden, um noch ein letztes Mal in die Höhle hineinzusehen. „Vielen Dank für dein Geschenk. Ich werde es nicht vergessen.“

Damit machte er sich auf den Weg nach Hause.

Nilas versuchte auch die darauffolgenden Tage noch einige Male, den Bau des Bockes zu finden, doch er war verschwunden. Dort, wo noch zuvor das Loch in der Schneedecke gewesen war, war jetzt eine durchgängige Schneedecke, als wäre nie eine Höhle vorhanden gewesen.

Das ferngesteuerte Rennauto jedoch blieb und es war das einzige, was Nilas noch Jahre später an sein Treffen mit dem Julbock, einem Bock, der in Schweden lange Zeit die Geschenke brachte, bevor er vom Weihnachtsmann abgelöst wurde – denn das war der Bock gewesen, wie Nilas später herausfand – erinnerte …

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vielen Dank für das Cover! Es ist ganz wundervoll geworden und wurde von Wolf erstellt!

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