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Mission completed

 

 

Ich sah Tims nächsten Schlag schon kommen und parierte ihn mühelos. Wir umkreisten uns wie zwei wütende Hunde, während auch um uns herum die Stöcke durch die Lüfte zischten. Meinen nächsten Schlag wehrte er ab und schlug zweimal heftig zurück. Beide Schläge trafen mich. Der Schmerz durchzuckte meine Ellenbogen an den Stellen, wo mich der Stock getroffen hatte. „War das schon alles?“, fragte ich und kniff mein schmerzverzerrtes Gesicht zusammen. Schon zischte Tims Stock wieder auf mich herab. Ich riss meinen Stock hoch und schlug den Stock zurück. Bevor ich ausholen konnte, versetzte Tim mir den nächsten Schlag. „Beweg deine Füße schneller!“, befahl er mir und die nächsten Beiden Schläge trafen meine Schienbeine.

Der hatte leicht reden. Er war zwei Jahre älter und fast zwei Köpfe größer als ich! Diesmal traf mich der Schlag am Kopf. „Sei doch mal sozial!“, rief ich ihm zu. „Wenn du auf eine Mission geschickt wirst, geht es dort auch nicht sozial zu! Dort musst du vielleicht mit Leuten zurecht kommen, die noch größer sind, als ich!“

„Ja, aber dort sind wir dann auch mindestens zu fünft!“, sagte ich und duckte mich unter Tims Stock weg. „Was helfen dir vier Komplizen gegen zehn hundert Kilo Männer mit Schwert?“, erwiderte Tim und schlug so fest gegen mein Handgelenk, dass ich den Stock fallen ließ. Das ist das Problem mit ihm. Er schlägt zu wie ein Irrer, trifft immer die Stellen, an denen es am meisten weh tut und hat außerdem immer Recht. „Ach, weil du das schon so genau weißt, hab ich recht?“, fragte ich und schlug zurück. „Hab ich nicht gesagt!“ Tim war fünfzehn, fast sechzehn und ich vierzehn, aber keiner von uns war schon einmal auf einer Mission gewesen.

Es wäre sonst auch nicht so wahrscheinlich gewesen, dass wir dann wieder hier stehen würden. Entweder waren die Kinder dann alt genug und mussten nicht mehr auf Missionen, lebten dann bei einer anderen Familie, die gern ein Kind aufnahm, dass gezeigt hatte, wie toll es war, oder sie überlebten es nicht. Daher war es nicht verwunderlich, dass keiner von uns besonders scharf darauf war, ausgewählt zu werden.

Das mit den Missionen war so eine Sache. Mit spätestens vierzehn Jahren mussten alle Kinder eine Ausbildung in einer der sechsundsiebzig Kampfschulen machen, die über das ganze Land verteilt waren. Doch fast alle Kinder kamen schon früher her – entweder freiwillig, oder aufgrund ihres Talents. Viele Kinder wurden auch hierher geschickt, wenn ihre Eltern starben oder sich nicht mehr um sie kümmern konnten. Oder wollten. Damit waren diese Kampfschulen Ausbildungsplatz, Schule und Kinderheim in einem. Ich konnte nicht sagen, dass es mir hier schlecht ging – doch lustig war es hier sicher auch nicht.

Ich hob meinen Stock auf. „Gegen dich komm ich sowieso nicht an. Und wenn ich kämpfen müsste, dann würde ich einen Bogen wählen!“, sagte ich. „Ich treffe aus dreißig Schritt Entfernung ein bewegliches Ziel!“, prahlte ich. „Ja, ja, ich weiß, du bist die Beste von uns. Zufrieden?“, schleimte er, nur um weiter gegen mich gewinnen zu können. „Ja.“, sagte ich und lächelte. Doch schon sauste Tims Stock auf mich herab. Ich wehrte gerade noch rechtzeitig ab und schlug zurück. Tim wich aus. „Pass auf!“; rief er und ließ den Stock auf meinen Kopf herabschnellen. Schnell trat ich einen Schritt zurück, und hielt mit meinem Stock dagegen.

„Beweg dich, Mädchen!“, sagte er und ließ seinen Stock durch die Luft wirbeln. Das tat er immer, wenn er zeigen wollte, wie toll er war. Es wunderte mich, dass er nicht schon längst ausgewählt wurde. Er ist einfach klasse. Jeder hat etwas, was ihm besonders liegt. Ich kann Bogenschießen, die Anderen können zum Beispiel kämpfen, rennen, schwimmen, und klettern. Oft werden auch Kinder ausgewählt, die tolle Turner sind, einfach weil sie gelenkig sind und schnell im Dickicht verschwinden können. Doch Tim kann einfach alles! Er schlägt mich im Laufen, Kämpfen und allem anderen. Nur im Bogenschießen bin ich ihm noch voraus.

Als Tim mich zwei weitere Male mit voller Wucht getroffen hatte – einmal am Arm und ein weiteres Mal am Kopf – schmiss ich meine Stock weg. „Ich hab keine Lust mehr!“, schimpfte ich. „Ich gehe jetzt Bogenschießen!“ „So wirst du aber nicht ausgewählt!“, rief Tim mir hinterher. Wenn es nach mir ginge, könnte es auch dabei bleiben. Ich brauchte nicht diesen ewigen Ruhm, nur weil ich es geschafft hatte, einen Gegenstand von A nach B zu bringen, oder jemandem etwas auszurichten, dass ich das konnte, wusste ich auch so.

Ich antwortete nicht und drehte mich auch nicht um, ich ging zu den Zielscheiben und zog meinen Bogen aus der Halterung, in der feinsäuberlich mein Name eingeritzt war. Ich spannte die Sehne und legte einen Pfeil ein. „Kira!“ Ich drehte mich nicht um, sondern zielte und schoss. „Kira!“, rief Tim noch einmal, doch ich bleib uninteressiert. Erst, als er mir von hinten die Augen zuhielt drehte ich mich zu ihm um. „Ich hab keine Lust mehr!“, keifte ich ihn an.

Er will immer gewinnen. Und er tut es auch. Und da er sich nicht damit abfinden konnte, dass ich mich jetzt weigerte, ihn weiter gewinnen zu lassen, entriss er mir den Bogen und hob mich hoch. Ich zappelte und versuchte mich zu befreien, doch er trug mich ungerührt zurück zum Kampfplatz und drückte mir den Stock in die Hand. „Hier!“ Dann hagelten seine Schläge weiter auf mich herab. Ich parierte sie eine Zeit lang mühelos, doch dann wurde ich langsamer. „Du verlierst die Konzentration!“, meckerte er. „Ja und, dann verlier ich sie halt“, maulte ich. „In einem Kampf kann dich das das Leben kosten. „Und, sind wir in einem Kampf?“, fragte ich. Tim drücke mir den Stock in den Bauch und ich fiel ins Gras. „Es ist hoffnungslos mit dir. Ich sag Cray, er soll mir eine andere Trainingspartnerin zuteilen!“ Ich sah ihm traurig hinterher, aber ich war nun mal ein paar Level zu klein für ihn. Das musste er doch irgendwann einsehen.

Ich ging wieder zum Schießplatz und hob meinen Bogen auf. Neben mir schoss ein Junge ununterbrochen auf eine Zielscheibe in hundert Schritt Entfernung, und erzielte ununterbrochen eine Bestleistung nach der Anderen. Ja, das waren die Champs, wie sie auf Missionen geschickt wurden. Nicht kleine Mädchen, wie ich. Es waren die unauffälligen, die die Besten waren. Ich sah mir den Jungen genauer an. Er hatte hellbraune Locken, war ungefähr zehn oder elf und trug ein braunes, altes T-Shirt. Ich hatte ihn schon oft beobachtet. Er war ein Naturtalent. Selbst ich kam mir neben ihm klein vor.

Frustriert stellte ich den Bogen zurück und begab mich zum Reiten. Da momentan andere Leute unterricht hatten stellte ich mich nur dazu und beobachtete sie. Ich war noch nie eine gute Reiterin gewesen, weshalb ich das blonde Mädchen bewunderte, das mit Leichtigkeit ein Hindernis nach dem andern nahm und dann sein Pferd in einem rasanten Renngalopp über den Platz jagte.

Nach ein paar Minuten wanderte ich weiter. Ich blieb an einigen Stationen stehen, und sah zu. Den Kindern beim Schwimmen, auf der Rennbahn und an der Kletterwand. Auch beim Messerkampf verweilte ich. Dort viel mir ein Mädchen auf, das etwas jünger war als ich, doch sie stach mit so genauer Präzision und einer unglaublichen Schnelligkeit auf eine Strohpuppe ein, dass ich mir, wie so oft, fehl am Platz vorkam.

Ich wusste nicht, warum meine Eltern mich hierhin geschickt hatten: Auf eine Kampfschule für Hochbegabte. Manchmal zweifelte ich an ihrem Verstand. Doch noch mehr zweifelte ich an dem Verstand jener Prüfer, die mich wegen meinen Schießkünsten aufgenommen hatten, als ich elf war.

Während ich weiter in Selbstmitleid versank kam ich zur Station, an der die Kinder das Knoten mach übten. Das war etwas, was immer hilfreich war, also versuchte ich mein Glück. Ein Trainer erklärte mir, wie ich eine gute Schlinge knüpfte, mit der man Hasen und andere Nagetiere fangen konnte. Ich versuchte es ein paar Mal, dann hatte ich den Dreh raus. Ich knüpfte noch ein paar weitere Male die Schlinge, nur damit ich sicher sein konnte, dass ich wusste, wie es funktionierte, dann ging ich weiter. Ich wusste nicht, wo Tim war, doch ich hätte mich gern bei ihm entschuldigt. Ich wusste nicht, für was, aber in den ganzen drei Jahren, die ich jetzt schon hier war, war er der einzige Freund, den ich gefunden hatte.

Ich dachte nach. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, mal ausgewählt zu werden, man lernt Leute kennen und kämpft an ihrer Seite. Das verbindet. Jedenfalls hatte ich diese Erfahrung bei Tim und mir gemacht. Ich war unbewusst wieder zu meiner Lieblingsstation zurückgegangen. Mein Bogen hatte immer diese seltsame Anziehungskraft auf mich. Ich nahm ihn in die Hand. Der Wildledergriff war noch warm und ich holte mir meine zehn Pfeile. Dann stellte ich mich neben dem Jungen auf, dem ich insgeheim den Namen Naturtalent gegeben hatte. Nachdem ich zweimal geschossen hatte, ließ ich den Bogen sinken und sah mir vier Schüsse von Naturtalent an. Er traf zwei Mal ins Schwarze und zwei Mal den zweiten Ring. Dann sah er auf. „Beobachtest du mich?“, fragte er.

„Eigentlich nicht. Ich… Ich versuche nur, herauszufinden, warum du so gut schießen kannst.“ Zum Teufel mit meiner verdammten Ehrlichkeit. Wie kam das denn an: Ein vierzehnjähriges Mädchen himmelte einen zehnjährigen Jungen wegen seiner Schießkünste an! Doch der Junge lachte. „Ich hab dir auch schon zugesehen! Vielleicht würdest du besser treffen, wenn du es mal mit anderen Pfeilen versuchen würdest!“ Der Junge drückte mir einen seiner Pfeile in die Hand. „Das liegt nur an den Pfeilen?“, fragte ich. Naturtalent nickte. Ich legte den Pfeil ein und schoss. Der Pfeil flog fiel besser, meine begannen nach wenigen Metern immer zu wackeln, doch dieser flog – nun ja, pfeilgerade.

Er bohrte sich in den zweiten Ring von außen. „Du hast Talent!“, nickte der Junge anerkennend. „Hier, nimm die vier auch noch, du kannst sie behalten. Vielleicht besorgst du dir auch so welche!“, sagte er. Er streckte mir vier weitere Pfeile entgegen und ich nahm sie dankbar lächelnd an. Meine nächsten Schüsse waren so gut wie lange nicht mehr, und Naturtalent erklärte mir noch, dass ich die Sehne mehr spannen musste. Nun flogen meine Pfeile schneller und schlugen mit mehr Kraft und Treffsicherheit ins Ziel. Außerdem erfuhr ich, dass der Junge Jannis hieß und schon seit zwei Jahren hier war.

Auch er wurde wegen seiner Schießkünste aufgenommen. „Wow, du musst ja damals schon ziemlich gut gewesen sein!“, meinte ich. „War ich auch“, gab Jannis zu. „Ich schieße schon seit drei Jahren. Mein Vater hat es mir beigebracht, bevor er gestorben ist und dann musste ich für meine Mutter und meine zwei kleinen Schwestern jagen gehen.“

Ich stellte mir vor, ich müsste mit acht Jahren die Verantwortung für meine ganze Familie übernehmen. Ich fragte mich, ob jeder hier so eine Geschichte zu erzählen hatte. Mit Tim hatte ich nie viel über unsere Vergangenheit gesprochen. Ich wusste, dass er einen jüngeren Bruder hatte, mehr nicht. Es war mir auch recht gewesen, dass er nicht viel erzählt hatte. Sonst hätte ich mich gezwungen gefühlt, auch etwas über mich Preis zu geben. Und am liebsten hätte ich meine ganze Kindheit so schnell wie möglich vergessen.

Meine Eltern waren geschieden, seit ich zwei war. Kurz darauf war mein Vater verschwunden und meine Mutter nahm mich wieder bei sich auf. Meine Mutter wurde damals für nicht fähig erklärt, mich bei sich aufzuziehen, weshalb ich zu meinem Vater gekommen war.

Sie hatte lange Zeit getrunken. Als ich sieben war, tauchte überraschend mein Vater wieder auf und wollte mich zurück haben. Das Gericht ließ sich Zeit, und als ich neun war wurde beschlossen, dass ich wieder zu meinem Vater müsste. Kurz darauf lief ich davon, da ich die ewigen Streitereien nicht mehr aushielt. Meine Mutter konnte sich nicht damit zufrieden geben, dass ich bei meinem Dad wohnen sollte und wollte mich wieder zurück. Ich lebte fast eine Woche im Wald von Beeren und nachts ging ich in die Stadt und ernährte mich von Resten aus Mülleimern, dann begann ich, das Jagen zu lernen.

Einige Zeit später fand mich die Polizei aufgrund der Spuren, die ich und das frische Wild, das ich fast täglich erlegte, hinterließen, und brachte mich zurück. Da ich mein Hobby nicht aufgeben wollte, schlich ich mich des Nachts heimlich raus und ging schießen. Irgendwann sagte ich meinen Eltern, ich wollte einen Bogen, Pfeile und eine Zielscheibe. Die staunten nicht schlecht, obwohl sie ja wussten, dass ich mich fast einen Monat so ernährt hatte. Als sie mein „Talent“ erkannten, schickten sie mich hierher. Wahrscheinlich waren sie froh, ihr Sorgenkind endlich losgeworden zu sein. Außerdem bekam ich hier kostenlose Verpflegung.

Und jetzt war ihr Sorgenkind hier und hatte die ganzen Sorgen allein an der Backe. Ich hatte außer Tim keine Freunde und immer das Gefühl, anders zu sein, sei es auch nur aufgrund fehlenden Talents.

Ich schoss den ganzen Nachmittag, dann verließen ich und Jannis gemeinsam den Platz. Wir gingen gemeinsam zum Essen, wo ich auf Tim traf. Er quetschte sich demonstrativ zwischen uns und nahm mich, seine Übungspuppe, gleich wieder in Beschlag. „Hey, ich bin ja grad mal drei Stunden weg und du hast schon wieder Freundschaften geschlossen! Dein Talent möchte ich haben!“, lachte er.

„Ich schenk es dir, wenn ich deins haben kann! Sehr viel ist es nicht wert, wenn ich außer dir und Jannis innerhalb von drei Jahren keine Freunde gefunden hab! Außerdem wird mir das bei Missionen nicht zum überleben verhelfen!“ Tims Lächeln verschwand. „Jetzt sei doch nicht so sauertöpfisch! Ich wollte dich doch nur aufheitern!“ Unaufgeheitert stach ich meine Gabel in eine Kartoffel und schob sie mir in den Mund.

„Und was machst du morgen?“, fragte Tim mich. „Das übliche. Mich von dir verprügeln lassen und dann frustriert Bogenschießen gehen.“ „Och, Kiralein…“, sagte er mit der üblichen Stimme, wenn er unbedingt wollte, dass ich am nächsten Tag länger blieb, um gegen ihn zu verlieren und massierte mir den Nacken. Ich zog den Kopf ein. „Nimm Massageunterricht, wenn du dich unbedingt bei mir einschleimen willst!“, sagte ich und stieß ihn weg. „Außerdem bin ich mit Jannis verabredet!“, fügte ich hinzu und sah schnell zu Jannis. Dem schien das nichts auszumachen. Tim wich zurück als wäre er geschlagen worden. „Aber ich dachte… Du…“, stammelte er. „Tut mir leid, Tim, aber ich möchte das eine Talent, das ich habe auch mal etwas weiter ausbauen! Und Jannis ist ein super Lehrer.“ Tim sah mich traurig an. „Hast du denn niemand anderen, mit dem du trainieren kannst?“, fragte ich. „Wolltest du nicht, dass Cray dir jemand anderen zuteilt?“ „Aber das war doch nur ein Scherz!“, rief Tim. „Ich jedenfalls gehe Morgen früh Bogenschießen. Vielleicht schau ich am Nachmittag mal bei dir vorbei!“, sagte ich und stand auf, um meinen Teller abzuwaschen. Tim blieb wie erstarrt sitzen. „Meint die das ernst?“; fragte er Jannis. Der zuckte die Schultern. „Ja, das tue ich!“, rief ich über die Schulter.

Am Abend fiel ich völlig erschöpft auf meine Matratze. Ich hörte, wie die Anderen am Lagerfeuer sangen und Gitarre spielten, doch ich war zu Müde, um mich noch zu bewegen. Ich rollte mich auf die Seite, doch ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Ellenbogen und ich drehte mich wieder auf den Rücken.

Ich schlief relativ gut, ich wachte nur einmal auf, als das Mädchen, das neben mir lag, im Schlaf seinen Ellenbogen in meine Rippen bohrte. Ich hatte sie beim Reiten gesehen. Dort lernt man doch eigentlich, dass man die Ellenbogen immer am Körper halten soll. Warum konnte sie das nicht auch während dem Schlafen machen?

 

 

Am nächsten Morgen wachte ich schon früh davon auf, dass ein Junge aus versehen auf meine Beine trat. Das ist der Nachteil daran, wenn alle auf einer Lichtung eng aneinander gedrängt schlafen.

Ich stand auf und ging mich waschen. Wir hatten ein relativ großes Bad, was allerdings alles andere als sauber war. Zwar wurde es jeden Tag geputzt, doch wenn es jeden Tag von hundert Kindern benutzt wurde, blieb das nicht lange so. Ich ging an eines der zwanzig Waschbecken und schüttete mir kaltes Wasser ins Gesicht. Auf der anderen Seite des Bades gab es noch mal zwanzig Waschbecken und neben dran waren die Duschen und Toiletten. Eigentlich war es hier ganz nett, wenn ich länger darüber nachdachte und mal einen guten Tag hatte.

Als ich fertig war trocknete ich mein Gesicht ab und ging zum Frühstück. Es gab wie jeden Tag Brot mit Wurst und Käse. Ich verdrückte zwei Scheiben Brot und ging dann zur Schießstation. Außer mir war nur noch ein dunkelhaariger Junge da, doch die Anderen ließen nicht lange auf sich warten. Ich hatte gerade mal vier der fünf Pfeile abgeschossen, als Jannis erschien. „Wollen wir um die Wette schießen?“, fragte er. Ich nickte und holte meine Pfeile wieder. Dann schossen wir Abwechselnd jeder fünf Pfeile ab. Zum Schluss stand es dreizehn zu zehn für Jannis. „Noch mal?“, fragte ich. Wieder schossen wir um die Wette, und danach noch einmal, und noch einmal.

Es machte uns beiden so viel Spaß, dass ich die Zeit vergaß.

„Oh, verdammt, ich wollte mich doch mit Tim treffen!“, rief ich. Schnell stellte ich den Bogen zurück und sprintete zum Übungsplatz für das Stockkämpfen.

Tim kämpfte mit einem knapp sechs jährigen blonden Mädchen und schien ihr gerade ein paar neue Schläge beizubringen. Doch er sah mich, flüsterte der Kleinen etwas zu und bevor ich überhaupt daran dachte, mir einen Stock auszusuchen, griff er an. Ich duckte mich und rollte mich zu den Stöcken hinüber. Schnell griff ich mir den erstbesten und schlug zurück. „Gut!“, bekam ich schon das erste Lob von Tim. Manchmal hab ich das Gefühl er sei der Lehrer und ich die Schülerin. Dabei hatten wir dafür Trainer. Auch wenn die sich eher selten um erfahrene Kämpfer wie Tim und mich kümmerten. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass jeder einen Partner hat und nicht schon am ersten Tag grün und blau geschlagen wurde. Den Rest überließen sie uns.

Ich ging jetzt zum Angriff über. Heute Abend wollte ich auf der Seite schlafen können, ohne Schmerzen zu haben. Ich traf Tim am Oberschenkel und schlug dann heftig gegen seine Rippen. Er riss den Stock hoch und wehrte den nächsten Angriff ab. Wir kämpften so intensiv wie schon lange nicht mehr. Doch schon bald waren wir völlig außer Atem. Ich beobachtete Tim, wie er um mich herumschlich, auf eine Gelegenheit wartend, mich zu treffen. Doch als er den ersten Hieb gegen meinen Schwertarm führte, schlug ich zurück und ich traf Tim so stark an der Hüfte, dass er in die Knie ging. „Na, wer ist hier der bessere?“, fragte ich ihn. Tim antwortete nicht. Seine Antwort war der Schlag, der mich hart am linken Oberarm traf. Als nächstes griff ich wieder an.

Wir schlugen auf uns ein, als gäbe es kein Morgen, verteilten Stöße und Schläge ohne Ende und steckte genauso viele ein.

Als Tim ausholte, um mir einen Schlag auf den Kopf zu versetzten, schlug ich mit voller Wucht auf sein Handgelenk. Tim schrie auf und ließ den Stock fallen. „Alles okay?“, fragte ich ihn erschrocken. Ich rannte zu ihm. Er hielt sein Handgelenk fest umklammert. „Zeig mal!“, sagte ich und schob seine Hand weg. Innerhalb weniger Sekunden merkte ich, wie das Handgelenk anschwoll. „Vielleicht solltest du Cray mal danach sehen lassen!“, schlug ich vor. „Keine schlechte Idee“, murmelte er und ging davon. Ich hob seinen Stock auf und stellte beide Stöcke zurück. Dann ging ich wieder zum Bogenschießen, doch Jannis war weg. Ich zog meinen Bogen aus der Halterung und legte einen von Jannis’ Pfeilen ein. Ich zielte und der Pfeil traf in die Mitte. Dann nahm ich einen meiner Pfeile und schoss. Der Pfeil wackelte und flog einen halben Meter an der Zielscheibe vorbei. „Das gibt’s doch gar nicht…“, murmelte ich und wog meine Pfeile abschätzig in der Hand. Ich bemerkte, dass Jannis Pfeile schwerer, aber ausgeglichener waren. Meine Pfeile waren sehr leicht, und vorne und hinten durch das zusätzliche Gewicht der Spitze und der Federn schwerer, als in der Mitte. „Das gibt’s doch gar nicht…“, wiederholte ich. Ich würde versuchen, so schnell wie möglich an neue Pfeile zu kommen.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Der Pflichtunterricht war jetzt vorbei. Also zog ich von dannen.

Bei uns gab es Pflichtunterricht. Morgens mussten sich alle Kinder von neun bis zwölf Uhr auf dem Trainingsplatz befinden. Dann hatten sie bis zum Mittagessen um eins frei, oder konnten noch weiter trainieren. Frühstück war freiwillig, da konnte jeder hin, wann er wollte, nur beim Mittagessen und Abendessen mussten wir alle erscheinen. Nach dem Mittagessen hatten wir wieder hatten wir Freizeit bis um halb drei. Unsere wenige Freizeit nutzten die ganz Dummen von uns – das waren dann die, die es gar nicht erwarten konnten, auf eine Mission geschickt zu werden – um weiter zu trainieren. Spätestens um zehn Uhr abends mussten wir uns dann entweder beim Gemeinschaftszelt, in dem auch gegessen wird, oder bei unserem Schlafplatz befinden. Meistens wurden im Gemeinschaftszelt dann noch Lieder gesungen, oder Spiele gespielt. Um halb zwölf mussten dann alle schlafen.

Ich wanderte geradewegs zu Delej, dem zuständigen Trainer für Bogenschießen. „Hey, Delej, wo bekomm ich den solche Pfeile?“, fragte ich und hielt ihm Jannis’ Pfeile entgegen. Er runzelte die Stirn und betrachtete sie genau. „Die kannst du bei mir kaufen. Allerdings kosten sie dich eine Kleinigkeit“, sagte er und lächelte überheblich. Deswegen versuchte ich, den Kontakt mit ihm zu vermeiden. Es gab Trainer wir Cray, die echt nett waren, aber die meisten waren so wie Delej: Gemein und widerwärtig.

„Wie viel?“, fragte ich. „Wie viel hast du?“, fragte er zurück. Das macht er immer so. Wenn jemand etwas kaufen will, fragt er, wie viel Geld er hat, und manchmal sagt er dann, es sei gerade genug, oder eben nicht.

Ich zog ein paar Münzen aus der Tasche und hielt sie ihm hin. Ich wusste, dass das eigentlich eine Menge war, aber er rümpfte nur die Nase. „Vergiss es, Kleine!“, sagte er. „Spar mal schön und komm wieder, wenn du doppelt so viel hast!“ Wütend ließ ich die Münzen in meine Hosentasche fallen und machte auf dem Absatz kehrt.

Sowohl Delej als auch ich wussten, dass es eine ganze Menge Geld für ein paar Pfeile war, aber was sollte ich machen? Er war der Einzige hier, bei dem man Pfeile kaufen konnte und ohne Genehmigung durften wir das Schulgelände nicht verlassen. Wann auch? Wir hatten ja nie genug Zeit.

Bogenschießen war schon ein teurer Sport, aber auch mein Lieblingssport. Bei allen anderen Aktivitäten hier gab es keine eigenen Waffen oder so, die wurden alle geliehen und jeden Tag bekam ein Anderer das Messer oder das Pferd, oder was auch immer, das man am Vortag hatte. Was aber auch nicht immer von Vorteil war, gerade bei den Pferden.

Ich bemerkte erst jetzt, dass ich vor dem Stall stand. Eigentlich hatte ich Angst vor großen Pferden, doch ich betrat den Stall und ging zielstrebig auf eine Box ziemlich weit hinten zu. Ich legte meinen Arm auf die Boxentür und sah hinein. Die kleine, braune Haflingerstute darin hatte den Kopf gesenkt und schien vor sich hinzudösen. Ich kraulte ihre Ohren und redete leise mit ihr. „Na, meine Hübsche, was machst du?“

Sie war schon etwas älter und wurde nicht mehr oft geritten, aber für mich war sie perfekt. Also holte ich aus der Sattelkammer ein Halfter, band die Stute an und begann sie zu putzen. Danach sattelte ich sie und saß auf. Ich ließ sie gemächlich aus dem Stall laufen und schlug dann den Weg über die Felder ein. Er war der einzige, den ich reiten durfte.

Bei uns gab es verschiedene Klassen beim Reiten, wie in der Schule. Je höher die Klasse, umso mehr Möglichkeiten hatte man. Es gab sechs Gruppen und drei Reitwege. Gruppe F durfte nur in der Halle reiten, Gruppe E den Feldweg und die Halle benutzen, Gruppe D hatte auch noch die Möglichkeit, den Weg zum See zu reiten, wenn man in Gruppe C war, durfte man auch allein in den Wald reiten und ab Gruppe B den Springplatz benutzen. Ab Gruppe A stand dir alles, was der Wald zu bieten hatte, frei, du durftest reiten, wohin du wolltest und zudem noch den Crossparcours benutzen. Ich war in der Gruppe E, also ließ ich mein Pferd auf dem Feldweg langsam antraben. Ich sah mich um, während die Stute unter mir langsam dahintrabte. Eine halbe Stunde später kam ich an einen Trampelpfad, von dem ich wusste, dass er jetzt ein einem großen Bogen zurück zum Stall führte. Ich tätschelte der Haflingerstute sanft den Hals, der noch kein bisschen verschwitzt war, im Gegensatz zu mir. Trotzdem legte ich die Beine an die Flanken der Stute und ließ sie angaloppieren. Der langsame Galopp gefiel mir und ich trieb sie weiter. Vor mir tauchte ein Ast auf, der über dem Boden lag, doch ich ließ mich davon nicht stören. Ich war in der Halle zwar erst einmal gesprungen, doch das hatte super funktioniert, außerdem vertraute ich der Stute. Daher hielt ich mich, als sie absprang in der Mähne fest und lehnte mich leicht nach vorne. Die Stute setzte sanft wieder auf und ich klopfte ihr den Hals, was sie gleich zum Anlass nahm, eine Vollbremsung einzulegen. Ich lachte und hielt mich an der Mähne fest, um nicht aus dem Sattel zu fallen.

Den Weg nach Hause ließ ich ihr die Zügel lang und ließ sie das Tempo entscheiden. Im Stall angekommen sattelte ich sie ab, brachte sie in die Box und fütterte sie mit einer Karotte aus der Sattelkammer. „Auf wiedersehen, mein kleine Maus!“, flüsterte ich und gab ihr einen Kuss auf die Nase. Dann verließ ich den Stall und ging Richtung Gemeinschaftszelt. Als ich merkte, dass es schon sehr spät war, begann ich zu rennen.

Gerade noch rechtzeitig kam ich an meinen Schlafplatz, wo mein Geschirr lag, schnappte es und sprintete zurück. Ich setzte mich neben Janis, da ich Tim nirgends entdecken konnte. „Na, bist du gerannt?“, fragte er mich. „Ne, ich bin hier ganz gemütlich hergelaufen!“, schnaufte ich und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Nach dem Mittagessen war wieder Unterricht dran. Ich ging mit Jannis Bogenschießen und erzählte ihm, dass ich Tim wahrscheinlich heute Vormittag das Handgelenk gebrochen hatte. Dann erzählte ich, dass ich bei Delej keine Pfeile kaufen konnte. „Stimmt, die Dinger haben mich ein Vermögen gekostet“, sagte er. „Das sagst du mir ja früh!“ Jannis schwieg eine Weile. „Hast du keine Andere Chance, an Pfeile zu kommen?“, fragte er. „Nein, Delej ist der Einzige, der Pfeile verkauft. Ich müsste das Schulgelände verlassen, und dafür brauch ich eine Erlaubnis, aber die bekomme ich nie im Leben. Außerdem will ich die Pfeile jetzt, und nicht in eineinhalb Jahren, wenn die sich dazu entschieden haben, sich mal darum zu kümmern, dass ich gern die Erlaubnis hätte, das Gelände zu verlassen!“ Jannis senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Und wenn du heimlich gehen würdest?“, fragte er. „Wie bitte? Wann soll ich das denn machen! Das ist ja nicht in einer Stunde erledigt! Und nachts haben die Läden zu!“, platzte ich heraus, doch auch ich senkte meine Stimme sofort. „Außerdem kann ich dafür von der Schule fliegen!“ „Weiß ich doch! Ich doch auch!“, wisperte Jannis. „Deshalb will ich dir ja helfen. Wenn du geschnappt wirst, werden sie auch herausfinden, dass ich dir geholfen habe. Gehen wir kämpfen?“, fragte er dann plötzlich. „Ähm… Wieso?“, fragte ich misstrauisch. „Weil wir da besser reden können.“ Ich nickte. „Okay.“

Jannis und ich räumten unsere Teller auf, dann gingen wir zu Kampfstation. Jannis packte einen Stock und begann auf mich einzuprügeln, doch ich wehrte die Schläge mühelos ab, ich versetzte ihm einen Hieb auf den linken Arm. „Au!“, schrie er. Dann packte er mich und warf mich zu Boden. Er setzte sich auf meinen Bauch und ich versuchte, ihn loszuwerden. „Also, wenn du dich verletzen würdest, und aus irgendeinem Grund nicht mehr am Training teilnehmen könntest… Dann könntest du dich wegschleichen, ohne dass es jemand merkt!“, flüsterte er, während er mich wütend ansah und darum rang, mich zu Boden zu drücken. „Gute Idee“, flüsterte ich zurück, während ich versuchte, ihn zu Boden zu werfen. Von weitem sah es jetzt so aus, als würden wir uns irgendwelche Beleidigungen an den Kopf werfen. Hoffte ich jedenfalls.

„Jetzt muss ich mich nur noch verletzen!“, sagte ich. „Kein Problem!“ Jannis tat, als hätte ich ihn nun endgültig von mir geschubst und fiel ins Gras. Ich sprang auf und stürzte mich auf ihn. Er wich aus, packte seinen Stock und schlug nach mir, beim ersten Schlag wich ich aus, den zweiten ließ ich auf meinen linken Oberarm herabsausen. „Au!“, schrie ich auf. Einige Kinder um uns herum drehten sich zu mir um. Jannis kam zu mir. „Hey, alles okay mit dir?“, fragte er. „Verdammt. Du kannst ganz schön hart zuschlagen!“, knurrte ich, während ich mir den Oberarm hielt. Es tat wirklich ziemlich weh. „Vielleicht solltest du mal jemandem nach deinem Arm gucken lassen!“, schlug Jannis vor und lächelte leicht. „Nicht, dass der noch gebrochen ist!“ Ich nickte, Jannis räumte die Stöcke weg und ich ging derweil zu Cray. „Cray! Cray, ich glaub, Jannis hat mir den Arm gebrochen!“, sagte ich mit einer leicht weinerlichen Stimme. Cray sah sich meinen Arm an. „Gebrochen scheint da nichts zu sein, aber du solltest trotzdem eine Pause machen“, meinte er. „Du und dein Freund, ihr seit ja heute echt vom Pech verfolgt!“, sagte er. Ich nickte. Nur dass Tims Handgelenk wirklich gebrochen war, und ich nur so tat.

Cray bandagierte mir den Arm und schickte mich dann zum Gemeinschaftszelt. Ich setzte mich kurz hin, doch es war niemand zu sehen. Also rannte ich zu meiner Matratze, kramte meinen Rucksack hervor und nahm alles Geld, was ich darin finden konnte, mit. Ich rannte so schnell ich konnte los, bis zum Bad. Dahinter war ein Zaun, der unsere Kampfschule von der restlichen Welt abschnitt. Ich kletterte daran hoch, was mir keine Probleme bereitete. Ich war eigentlich auch im Klettern ziemlich gut. Ich sprang auf der anderen Seite herab und rannte los. „Wow, so schnell kann man also Regeln brechen!“, dachte ich. Ich rannte in die Stadt und ging in den erstbesten Sportladen. Ich sah mich um und fragte einen Verkäufer, ob sie Pfeile hätten. Er zeigte mir ein paar, doch die von Jannis waren nicht dabei. Ich beschrieb ihm die Pfeile und er sagte, es gäbe noch einen Sportladen, am andern Ende der Stadt, und dass ich mein Glück dort versuchen solle.

Ich joggte durch die Stadt, um bis zum Abendessen zurück zu sein und hoffte inständig, dass Cray nicht meinte, nach mir schauen zu müssen. Es dauerte recht lange, bis ich die Stadt durchquert hatte und den Laden fand. Es war bereits halb sechs. Ich sprintete in den Laden und fragte wieder nach Pfeilen. Sie hatten eine ganze Menge, doch Jannis’ Pfeile waren wieder nicht dabei. „Haben Sie keine Anderen?“, fragte ich den Verkäufer. Er dachte nach. „Doch, hier wären noch welche.“ Er zog eine Schachtel aus dem Regal und ich sah hinein. Die Pfeile sahen auf den ersten Blick aus, wie die, die Jannis mir geschenkt hatte, doch bei genauerem hinsehen sah ich, dass die Pfeile dicker waren und ich wusste nicht, ob ich damit schießen könnte. „Tut mir leid, dass sind nicht die, die ich suche…“, murmelte ich niedergeschlagen. „Andere haben wir leider nicht“, erwiderte der Verkäufer. Ich nickte. „Okay, trotzdem vielen Dank.“ Ich verließ den Laden und nahm mir für die Heimfahrt den nächsten Bus, der in die Richtung fuhr.

Ich kletterte über den Zaun wieder aufs Schulgelände. Ich war kaum zwei Schritte weit gegangen, als mich jemand von hinten packte und mir den Mund zuhielt. Ich schrie auf, doch mein Schrei wurde von der Bandage um die Hand erstickt. „Wo wollen wir denn hin, kleines Fräulein?“, fragte Tim mit verstellter Stimme. „Tim!“, nuschelte ich und Tim ließ mich los. „Du hast mir einen unglaublichen Schrecken eingejagt!“

„Und du mir erst!“, fuhr Tim mich an. „Glaubst du, ich will, dass du von der Schule fliegst?“ „Natürlich nicht!“, sagte ich und senkte den Blick.

„Wo warst du, verdammt!? Cray hat nach dir gesucht!“, sagte Tim, inzwischen mit gedämpfter Stimme. „Was?“, fragte ich entsetzt. „Er hat mir gesagt, dass du dich verletzt hast, und da ich geahnt habe, dass du mal wieder Mist gebaut hast, hab ich gesagt, dein Arm hätte dir so weh getan, dass du ins Bad gegangen bist, um ihn zu kühlen. Daraufhin ist Cray zurückgegangen.“ „Oh, Tim, du bist der Größte!“, rief ich und fiel ihm um den Hals. Er befreite sich von mir.

„Dafür musst du mir jetzt sagen, wo du warst“, verlangte er. Ich erzählte ihm, dass Jannis gesagt hatte, ich bräuchte neue Pfeile, aber dass sie bei Delej zu viel gekostet hätten. Also hätten Jannis und ich einen Plan ausgeheckt, damit ich unbemerkt verschwinden konnte, „Und, hast du die Pfeile jetzt?“, fragte Tim. Ich schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Es gab sie nicht. Ich werde wohl doch warten müssen, bis ich genug Geld habe, um sie mir zu kaufen.“ Tim antwortete nicht. Dann sah ich auf meine Uhr. „Oh Mann, es gibt ja gleich Essen!“ Tim und ich sprinteten los und setzten uns an den Tisch. Ich lud mir den ganzen Teller mit Kartoffeln und Soße voll, dann setzte ich mich wieder an meinen Platz und stopfte mich damit voll. Ich hatte schrecklichen Hunger.

Kurz darauf tauchte eine Gestalt vor mir auf. Es war Cray. „Na, Kira, wie geht es deinem Arm?“, fragte er mich. Ich musste erst schlucken, bevor ich ihm antworten konnte. Und selbst dann brachte ich die Worte nur mühsam heraus, als hätte ich noch den ganzen Mund voll. „Na ja…“ Das war’s auch schon. Zu mehr Wörtern konnte ich meine Zunge nicht überreden. Da kam mir Tim zu Hilfe. „Jannis hat ganz schön fest zugeschlagen, was?“, fragte er. Ich nickte. „Tut immer noch verdammt weh…“, murmelte ich und fixierte schwer beschäftigt meine Kartoffeln. „Du solltest den Arm öfter kühlen!“, empfahl mir Cray. Dann verschwand er. Tim sah ihm nach. Dann vergrub er seine Gabel in den Kartoffeln. „Das nächste Mal weihst du mich in so was bitte ein!“, sagte er und stopfte sich die Gabel in den Mund. „Du hättest mich davon doch nur abgehalten!“, sagte ich. Tim nickt.

„Und ich hätte recht gehabt!“, fügte er hinzu, nachdem er geschluckt hatte. „Ja, wahrscheinlich hättest du das. Aber jetzt hab ich es gemacht, und es ist nichts passiert.“ „Was hast du gemacht?“, fragte Cray, der sich neben uns setzte.

„Ihren Arm gekühlt. Ich hab gemeint, sie soll das mit kühlem, aber nicht eiskaltem Wasser machen, da sie sich sonst noch Erfrierungen holt, wenn sie den Arm Stunden lang unter das Wasser hält!“, log Tim, ohne rot zu werden.

„Vielleicht solltest du das wirklich nicht machen“, meinte Cray und sah mich an. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und senkte den Kopf. „Was ist denn heute los mit dir?“, fragte Cray mich. „Nichts.“

Ich sah Cray immer noch nicht an, dafür legte jetzt Tim richtig los. „Jannis hat sie auch etwas am Kopf getroffen! Wahrscheinlich ist sie jetzt etwas benebelt. Sie war ja schon immer eine gute Kämpferin, aber der Kleine ist echt klasse! Sogar ich hab gegen ihn verloren! Er hat mir richtig übel eins aufs Dach gehauen. Ich hab schon überall blaue Flecken!“ Tim zog den Ärmel hoch und zeigte Cray einen blau-grünen Fleck auf seinem Oberarm, den ich ihm vor drei Tagen zugefügt hatte.

„Es ist echt unglaublich, dass der kleine drei Köpfe kleiner ist als ich und mich so zurichten kann!“

Während ich stumm meine Kartoffeln in der Soße ertränkte und dann versuchte, sie zu essen, obwohl ich mich wegen der Lüge richtig mies fühlte, log Tim für mich das Blaue vom Himmel herunter. Blabla hier, blabla dort, bis ich ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte. Doch irgendwann fragte er Cray dann, ob er Jannis schon mal hätte schießen sehen.

„Nein, wie kommst du darauf?“, fragte Cray. „Ich weiß nicht, aber der Kleine ist super! Er trifft auf hundert Schritt Entfernung von zehn Pfeilen neun Mal ins Schwarze!“, behauptete Tim.

„Da kann ich nicht mithalten! Nur unsere liebe Kira kann das, aber die ist ja sowieso ein unglaublich guter Schütze! Wenn sie nur die richtigen Pfeile hätte, würde sie sogar Jannis platt machen! Nicht wahr, Kira?“, fragte Tim und als ich nicht antwortete, gab er mir unterm Tisch einen Stoß. „Nicht wahr, Kira?“ „Ähm… Vielleicht?“, sagte ich. Ich wusste, dass Tim damit nicht einverstanden war. „Sei doch nicht so bescheiden!“, sagte er und legte mir den Arm um die Schulter. „Wenn du Pfeile hättest, die richtig fliegen, wärst du besser als Robin Hood!“ „Jetzt übertreibst du aber!“, sagte ich und stieß ihn weg.

Tim lachte und stand auf. „Ich geh jetzt abspülen!“, verkündete er. „Wollen wir nachher Karten spielen?“, fragte er mich. „Von mir aus.“ „Du scheinst ja sehr begeistert.“ Ich ignorierte ihn einfach und stopfte schnell die restlichen Kartoffeln in meinen Mund, da ich Angst hatte, mich in Crays Gegenwart zu verplappern.

Dann sprang ich auf und stürmte Tim hinterher. Wir spielten den ganzen Abend Karten. Jannis gesellte sich auch noch zu uns und wir spielten zu dritt weiter.

Gegen elf kroch ich müde auf meine Matratze. Kurz bevor ich einschlief hörte ich noch Jannis’ Stimme dicht neben meinem Ohr. „Hast du die Pfeile bekommen?“ Traurig schüttelte ich den Kopf und ich merkte, wie Jannis kurz zögerte und dann wegging.

 

 

Am nächsten Morgen spielten Tim und ich weiter Karten, bis zum Mittagessen. Cray hatte uns beide beurlaubt. Mich bis Morgen, Tim noch zwei Wochen. Das Frühstück hatten wir ausfallen lassen, um auszuschlafen. Es war schwierig zu spielen, da Tim oft die Karten aus der Hand fielen. Schließlich konnte er sie mit seiner dick verbundenen Hand nicht richtig festhalten.

Am Mittagstisch bekamen wir eine große Ankündigung.

„Morgen wird es wieder eine Auswahl geben, wer zu einer Mission aufbrechen soll. Wir brauchen fünf Kinder. Morgen wird jeder das tun, was er am besten kann und dann werden drei Prüfer die fünf besten Kämpfer und Kämpferinnen auswählen und ihnen den Auftrag erklären!“, verkündete ein Trainier, dessen Namen ich nicht kannte. Ein paar Kinder brachen in Jubel aus, ein paar andere in ängstliches Gemurmel. Ich tat nichts von beidem. Ich sah Tim an und er mich. Ich lächelte bei seinem seltsamen Gesichtsausdruck. „Du wirst nicht ausgewählt!“, flüsterte ich. „Du kannst nicht kämpfen!“ Ich wies auf sein Handgelenk. Dann nickte er und lächelte auch.

Ich bezweifelte, dass mich jemand wegen meiner Schießkünste auswählen würde. Jannis dann schon eher. Und wegen ihm machte ich mir Sorgen.

Der Nachmittag verlief genau so wie der Vormittag. Tim und ich spielten Karten, bis es uns langweilte, dann sahen wir den Kindern beim trainieren zu. Wieder fiel mir das Mädchen beim Messerkampf auf. Sie war schnell und gefährlich. Auch ein Mädchen beim Reiten stach mir ins Auge. Sie hatte hellbraune Haare und vollführte die verrücktesten Kunststücke im Sattel. Doch keins der Kinder konnte mit Jannis mithalten. Er schoss und schoss, kein Pfeil verfehlte sein Ziel. Es musste schon ein Wunder geschehen, wenn er morgen nicht ausgewählt würde.

 

 

Der Abend verging und der nächste Tag kam. Cray hatte mir am Abend zuvor den Verband abgenommen. Wir mussten alle zum Frühstück erscheinen und uns wurde gesagt, dass die Auswahl genau um elf Uhr stattfinden würde. Wir sollten uns dann alle bei der Station zum Messerkampf versammeln. Nach dem Frühstück nahm ich meinen Bogen und schoss ein paar Pfeile ab. Ich konnte Jannis nirgends sehen.

Um kurz vor elf fand ich mich beim Messerwerfen ein. Ungefähr hundert Kinder standen dort schon, davon traten sechsundzwanzig an. Um Punkt elf erschienen die Prüfer und die Show begann.

Nacheinander zeigten alle Kinder, was sie drauf hatten. Mir fiel wieder das braunhaarige Mädchen auf, außerdem ein kleiner, blonder Junge und ein Mädchen mit feuerroten Haaren, das mindestens sechzehn sein musste.

Kurz darauf ging es weiter zum Schwimmen. Ich beobachtete die Kinder, die wie Delfine durchs Wasser schossen. Hier ging alles schneller, da immer fünf Kinder gleichzeitig schwammen und es nur neun Bewerber gab. Dann war das Klettern dran, danach das Reiten, und dann das Turnen. Ich sah ein kleines, braunhaariges Mädchen, das erst ein Rad schlug, dann einen Purzelbaum machte, auf den Füßen zu stehen kam, einen Handstand machte und in einer Brücke landete. Außerdem gab es ein Mädchen, das vollführte einen Flickflack und einen Rückwärtssalto und kam auf den Füßen auf, nur um kurz darauf ein Rad auf einer Hand zu machen. Ich staunte nicht schlecht. „Guck doch nicht so, wie ein Auto!“, flüsterte mir Jannis zu, der neben mir aufgetaucht war. Ich grinste.

Dann ging es weiter zum Rennen. „Wow. Ich glaub ich habe Kinder noch nie so schnell rennen sehen!“, wisperte Jannis mir zu. Das stimmte.

Die Kinder wurden in Altersklassen unterteilt. Die Kinder von sieben bis neun legten fünfzig Meter in durchschnittlich neun Sekunden zurück, die Kinder von zehn bis vierzehn brauchten für hundert Meter gerade mal zwölf Sekunden. Die Älteren rannten vierhundert Meter in vierzig bis fünfzig Sekunden. „Die sind unglaublich!“, flüsterte ich zurück.

Beim Stockkampf wurde ich nervös. Das Bogenschießen war aus irgendeinem Grund immer zu Letzt dran, das Stockkämpfen davor. Beim Stockkampf kämpften immer zwei Kinder gegeneinander. Ich bezweifelte nicht, dass Tim sie ohne große Mühe hätte schlagen können, doch vier Kinder stachen besonders aus der Masse heraus: Zwei Mädchen, vermutlich Zwillinge, denn sie hatten beide dasselbe schwarze Haar und waren fast gleichgroß, ein Junge, der seinen fast zwei Köpfe größeren Gegner besiegte, als hätte er Zeit seines Lebens nichts anderes gemacht. Und dann war da noch der muskelbepackte, dunkelhaarige Junge, der mindestens siebzehn war. Er ließ den Stock durch die Luft und auf die Knochen seines Gegners wirbeln, und schaffte es dennoch, jeden Gegenangriff abzublocken.

Dann waren wir dran. Erst wurde ein kleiner Junge aufgerufen, dann war Jannis dran. Er sagte nichts, er lächelte mich nur kurz an, dann nahm er seinen Bogen. Aus fünfundsiebzig Schritt Entfernung verfehlten zwei der fünf Pfeile die Zielscheibe, der dritte traf den zweiten Ring von außen, der vierte und fünfte nur noch den Äußeren Ring.

Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gesehen hatte. Doch ich hatte keine Zeit, Jannis darauf anzusprechen, denn ich war schon die Nächste. Wie jeder andere Teilnehmer schoss ich fünf Pfeile ab, von denen drei ins Zentrum trafen und die anderen Beiden den mittleren Ring.

„Was war denn bei dir los“, flüsterte ich Jannis zu, als alle geschossen hatten. „Ich hab mit Absicht daneben geschossen!“, flüsterte er zurück und grinste. „Warum bin ich darauf nie gekommen?“, fragte ich und schlug mir vor die Stirn. „Das mach ich das nächste Mal auch!“ „Ich weiß nicht ob es für dich ein nächstes Mal geben wird“, sagte Jannis und lächelte traurig. „Du warst ziemlich gut.“

Ich schluckte nervös, als die Gewinner bekannt gegeben wurden. Vom Messerkampf wurde Jasmyn Thoron, das braunhaarige Mädchen ausgewählt, die mir schon vorgestern aufgefallen war. Sie schien um die dreizehn Jahre alt zu sein. Sie lächelte, als sie vorgerufen wurde. Anscheinend war sie auch eine derjenigen, die es nicht erwarten konnten, mit Ruhm überhäuft zu werden.

Beim Rennen wurde ein kleiner, braunhaariger Junge namens Mikey Jovins ausgewählt. Auch er kam stolz lächelnd nach vorne, doch sein Lächeln verschwand, als als Nächstes ein Mädchen namens Eliza Jovins aufgerufen, seine Schwester, die beim Turnen das perfekte Rad gemacht hatte.

Sie schien nicht so glücklich darüber zu sein. Etwas verstört sah sie sich um und lief dann nach vorne. Sie stellte sich neben Jasmyn und sah mit großen Augen in die Runde. Sie schien höchstens neun zu sein, Mikey circa elf.

Beim Stockkampf wurde ein Junge ausgewählt, der fast vierzehn zu sein schien. Sein Name war Finn Bareen und ich erkannte in ihm den Kämpfer wieder, der seinen viel größeren Gegner besiegt hatte, als wäre es nichts Besonderes. Als es nun zum Bogenschießen kam, war ich noch nervöser, als jemals zuvor. Ich war sicher eine der Besten gewesen. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen und ich wusste es schon, noch bevor der Prüfer meinen Namen aufrief. „Kira Mathlock!“ Mein Name… Ich machte einen Schritt nach vorne und drehte mich zu Jannis um. Er sah mich traurig an. Als er den Kopf senkte, drehte ich mich um und ging nach vorne. Ich stellte mich zu den vier anderen Kindern. Von allen schien ich die Älteste zu sein.

Die anderen Kinder wurden zurückgeschickt und nur ganz kurz sah ich Tim, der mich traurig anstarrte. Ich sagte nichts, er auch nicht. Was hätte er schon sagen sollen? „Du hast die Chance auf ein gutes Leben, aber genauso gut könntest du sterben?“ Es kam nicht selten vor, dass Kinder bei Missionen ums Leben kamen. Sie verhungerten, weil sie sich nicht versorgen konnten, wurden von herab fallenden Steinen erschlagen oder stürzten einen Abhang hinab.

Ich senkte den Kopf und sah Tim nicht mehr an. Ich merkte, dass er fort ging und mein Blick wanderte zu meinen Leidensgenossen. Außer Jasmyn schien es auch Mikey nicht viel auszumachen, dass er ausgewählt wurde, nur schien es ihm ganz und gar nicht zu passen, dass seine Schwester auch in Gefahr gebracht werden sollte. Er hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt und sie klammerte sich an ihn.

 


Die Prüfer führten uns in ein Zelt und wir setzten uns. Sie sahen uns der Reihe nach an. „Ihr wisst, warum ihr ausgewählt wurdet?“, fragte einer. „Wegen unseren besonderen Fähigkeiten“, antwortete Finn. Die Prüfer nickten. „Aber auch, weil wir glauben, dass ihr als einzige diese Mission erfüllen könnt. Hier geht es nicht darum, ein hemmungsloser Killer zu sein!“, sagte einer der Prüfer. „Worum geht es dann?“, meldete Finn sich zu Wort. Die Prüfer starrten ihn an, doch er starrte zurück. „Das ist doch der Sinn jeder Mission. Was sollte es sonst geben? Die Kinder werden weggeschickt, um zu kämpfen, zu töten, oder getötet zu werden…“ Finn wollte noch etwas sagen, doch er hielt sich zurück. „Mein Sohn, ich glaube, du verstehst das falsch“, sagte einer der Prüfer freundlich. „Nennen Sie mich nicht so“, sagte Finn. Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Prüfers. Ich hatte noch nie einen Jungen getroffen, der sich so was getraut hätte. Finn war anders als alle Anderen. Er war rebellisch und ihm schien es auch nichts auszumachen, dass die Prüfer soeben denselben Gedanken hegten.

„Es ist wichtig, dass ihr zusammenhaltet. Ihr müsst unauffällig sein. Deswegen haben wir euch ausgewählt. Einen hundert Kilo Kerl, der mit seinem Schwert durch den Wald trampelt, hätten unsere Feinde sofort ausgemacht“, fuhr ein Prüfer fort. „Wir haben Feinde?“, fragte Jasmyn. „Ja. Ihr werdet schon bald sehen, wer das sein wird.“ „Es ist sehr wichtig, dass ihr euch über eins im Klaren seid“, setzte ein weiterer Prüfer an. „Ihr könnt nur dann den Sinn dieser Mission erfassen, wenn ihr wisst, was zu tun ist.“ „Hä?“, fragten Mikey und Finn wie aus einem Mund.

Die Prüfer breiteten eine Karte vor uns aus. „Hier müsst ihr hin.“ Einer von ihnen zeigte auf einen Punkt, ziemlich weit weg von hier. „Dort bekommt ihr genauere Anweisungen. Morgen geht ihr los.“ Sie rollten die Karte wieder ein.

Wir Kinder sahen uns an.

„Ihr dürft jetzt gehen.“

Wir standen auf und verließen das Zelt. Ab dem Tag, an dem Kinder ausgewählt werden, schlafen sie getrennt von den Anderen, bis sie zu ihrer Mission aufbrechen. Wir wurden von einem Trainer in ein Zelt geführt, in dem fünf Matratzen lagen. „Hier. Gute Nacht.“ Damit verschwand er. Dabei war es gerade erst Mittag. Wir durften nicht mehr trainieren gehen, doch es hatte niemand etwas dagegen, dass ich mich auf den Weg ins Bad machte.

Ich schüttete mir so viel kaltes Wasser ins Gesicht, wie ich konnte. Als ich das Gefühl hatte, dass mein Gesicht üble Erfrierungen bekommen würde, wenn ich so weiter machte, rubbelte ich mir das Gesicht mit meinem Hemd trocken. Ich starrte in den Spiegel. Meine braunen Haare waren verstrubbelt, mein Gesicht gerötet. Ich richtete mich auf und ging zurück zum Zelt. Die Kinder darin waren ganz still. Finn blickte kurz auf, als ich hereinkam. „Hat einer von euch eine Ahnung, was genau wir jetzt machen sollen?“, fragte ich. Alle schüttelten den Kopf.

 

 

Jasmyn sah zu Kira, die hereinkam. „Ich würde vorschlagen, wir versuchen einfach, das Ganze so schnell wie möglich zu erledigen“, meinte Finn. „Wir gehen dorthin, wo wir hinsollen, und dann schauen wir weiter.“ Kira nickte. „Dafür bin ich auch. Was denkt ihr?“ Sie sah Mikey, Eliza und Jasmyn an. Die kleinen Jovins-Geschwister nickten fast gleichzeitig.

„Ich glaube, das ist das Beste. Was anderes können wir ja jetzt noch nicht planen“, gab Mikey Finn Bareen Recht. „Was würdest du sagen, Jasmyn?“, fragte Bareen sie. Jasmyn nickte langsam. Eigentlich war es ihr vollkommen egal, was sie tun würden. Darauf kam es nicht an. Es kam darauf wann, wann der perfekte Zeitpunkt kommen würde, zu dem sie zuschlagen konnte. Und das wusste sie erst, wenn er da war. „Ich gebe Jovins auch Recht. Wir gehen, so weit wir kommen und dann werden wir schauen, was zu tun ist.“

Sollten die nur denken, was sie wollten.

Jasmyn hatte ihre eigenen Befehle und nur die würde sie befolgen.

Die kleinere der beiden Jovins’ hatte sich auf ihre Matratze gelegt und den Kopf unter dem Kissen versteckt. Jasmyn wusste nicht, ob das Mädchen weinte, aber sie war sich sicher, dass sie Angst hatte. Angst macht stark und das machte die Kleine gefährlich. Obwohl sie nur ein Kind war.

Jasmyn sah in die Runde. „Wollen wir was spielen?“, fragte Mathlock sie plötzlich. „Was denn?“, fragte Mikey Jovins. „Karten!“ Mathlock zückte ein Kartenspiel und teilte aus.

Jasmyn hob die Karten auf und sah sie sich an, in Wirklichkeit schielte sie jedoch über den Rand der Karten hinaus und beobachtete die anderen. Im Geiste trug sie alles zusammen, was sie über die anderen wusste:

Kira Mathlock war circa vierzehn Jahre alt, nur etwas größer als sie, nur auf große Distanz gefährlich. Finn Bareen dagegen war von ganz anderem Kaliber. Finn Bareen war ungefähr dreizehn, er hatte ihr alter, war jedoch etwas kleiner als sie. Außerdem hatte er Kraft und schien auch ziemlich schnell zu sein. Sie musste ihn auf Abstand halten, mit dem Schwert musste er näher an sie heran, wenn er das nicht konnte, war das kein Problem.

Die Jovins-Geschwister waren vollkommen ungefährlich. Eliza konnte turnen. Turnen! Fast musste Jasmyn lachen. War das ein Witz? Gelenkig war Jasmyn auch. Warum also dieses kleine Kind, diese kleine Zecke, die am Rockzipfel ihres Bruders hing, und allein wohl kaum überlebensfähig wäre?

Und Mikey Jovins? Der Kleine konnte Rennen, sehr schnell, aber was brachte ihm das schon? Sie würde ihn finden, wenn er floh. Wo auch immer er war. Er konnte sich nicht verstecken.

Die Jovins-Geschwister waren für Jasmyn nur Kinder. Sie würde mit ihnen ein leichtes Spiel haben. Sie könnte die beiden Kinder ohne große Mühe aus dem Weg räumen. Auch wenn sie zugeben musste, dass Mikey wirklich schnell war. „Na ja, solang er flieht hab ich kein Problem mit ihm, und was anderes kann er ja nicht machen“, dachte sie.

Nur auf Kira und Finn würde sie aufpassen müssen. Die Kinder spielten den ganzen Abend Karten, bis Kira aufstand. „Ich muss noch mal an die frische Luft. Spielt ruhig ohne mich weiter!“ Dann verließ sie das Zelt.

 

 

 

 

 

Kaum war ich draußen rannte ich los. Ich wusste nicht, wohin, außerdem war es schon dunkel. Ich blieb völlig außer Atem stehen, als mich jemand von hinten packte und eine verbundene Hand mir den Mund zuhielt. „Tim!“ Ich befreite mich. „Was machst du denn hier?“ „Ich musste dich unbedingt noch mal sehen!“, flüsterte er. Erst jetzt dachte ich daran, dass die Wahrscheinlichkeit, ihn jemals wiederzusehen, nicht sehr groß war. „Wie fühlst du dich?“, fragte er im Flüsterton. „Erstaunlich gut, wenn man die Tatsache bedenkt, dass ich wahrscheinlich nie wieder hierher zurückkommen werde.“ Wenn Kinder einmal die Schule verlassen hatten, um Missionen zu erfüllen, durften sie nicht mehr zurück. Mit dem Tag, an dem man ausgewählt wird, verändert sich dein Leben schlagartig. Man gehört nicht mehr dazu. Wenn man eine Mission erfüllt hat, ist das, als würde man zum Präsidenten gewählt. Man hat einen höheren Rang als die Anderen und muss nicht mehr in die Schule. Das was zählte, war, die Missionen zu überleben. Was danach kam… Darum musste man sich meistens keine Sorgen machen. Es gab schon Gruppen, von denen niemand je wieder etwas gehört hatte.

„Tim…“ Mir versagte die Stimme. Dann vergaß ich einfach, dass er Zeit meines Lebens nicht mehr als ein guter Freund gewesen war, und warf mich in seine Arme.

Tim hielt mich eine Zeit lang fest, dann ließ ich ihn los. „Ich hab dir was mitgebracht!“, sagte Tim. In der einen Hand hielt er ein Päckchen. „Cray, Jannis und ich haben zusammengelegt.“ Ich öffnete es und traute meinen Augen kaum.

„Wie… Woher hast du…?“, stammelte ich, als ich die rot-gelb gefiederten Pfeile entgegennahm. „Ich hab’s dir doch erzählt. Cray, Jannis und ich haben unsere ganzen Ersparnisse dafür aufgeopfert, aber kein Problem! Das haben wir gerne gemacht“, antwortete Tim mit einem Grinsen im Gesicht. „Ihr seid einfach klasse!“, rief ich und umarmte Tim noch einmal. Tim schlang die Arme um mich und drückte mich an sich. „Sag den Anderen, dass ich sie ganz arg lieb hab, und dass ich sie vermissen werde!“, sagte ich, als ich mich wieder von Tim lösen konnte. Tim nickte traurig und auch meine Stimmung fiel. Einen Moment lang sahen wir uns in die Augen, und ich wusste, dass es noch so viel zu bereden gab und so wenig Zeit. Viel zu wenig Zeit. Wieso fiel mir jetzt so viel ein? Früher war ich nicht unbedingt gesprächig gewesen.

Die meiste Zeit hatten Tim und ich schweigend trainiert, oder er hatte mir Tipps und Befehle gegeben. Ich erinnerte mich an unser erstes Treffen:

 

Ich war ein kleines, zwölfjähriges Mädchen gewesen, Tim war trotz seinen vierzehn Jahren damals schon fast ein junger Mann. Ich stand am Rand des Trainingsfeldes, allein mit einem Stock in der Hand und hatte keinen Trainingspartner. Cray hatte mich die ersten zwei Wochen beobachtet und beaufsichtigt. Er hatte mir vorgeschlagen, um Freunde zu finden, zum Stockkampf zu gehen, weil es eine der wenigen Disziplinen war, in der man einen Partner brauchte. Geschossen hatte ich immer schweigend und allein. Jetzt sollte ich hier Anschluss finden und stand allein am Rand, ohne zu wissen, wohin ich meinen Blick wenden sollte. Tim hatte mit einem großen Jungen gekämpft, der noch älter war als er, und hatte mich die ganze Zeit kein einziges Mal angeschaut. Doch ich hatte ihn beobachtet. Auch während dem Mittagessen ließ ich ihn nicht aus den Augen. Er zog meinen Blick magisch an. Hin und wieder streifte er meinen Blick, doch ich wich ihm sofort wieder aus und starrte konzentriert auf meine Nudeln.

Nach dem Essen sprach Tim mich an. „Hey, du!“, rief er mir zu. „Wer bist du?“ Ich wusste, dass er mich meinte, doch ich ignorierte ihn und stellte mich dumm. „Ich?“, fragte ich überrascht. „Klar. Du beobachtest mich die ganze Zeit, schon seit heute morgen!“, sagte Tim. „Lass das, okay? Das irritiert.“

Dann hatte ich mich an die andere Seite des Feldes gestellt, um ihn von dort aus weiter zu beobachten. Schließlich, als sein Partner für wenige Minuten verschwunden war, baute ich mich vor Tim auf. „Hast du Lust auf einen Kampf?“, fragte ich ihn. „Meinst du das ernst?“, fragte Tim mich etwas abschätzig.

Ich nickte herausfordernd und wir begannen zu kämpfen. Anfangs hatte Tim mich immer wieder geschlagen, doch ich forderte eine Revanche nach der anderen und schließlich begann er, mir Tipps zu geben. Mit der Zeit redeten wir mehr miteinander, doch nie genug, wie mir jetzt schmerzlich bewusst wurde…

 

„Also dann…“, sagte ich. „Mach’s gut“, murmelte Tim mit gesenktem Kopf. Ich drehte mich um und ging in Richtung Zelt. „Kira!“ Ich drehte mich zu Tim um. Tim schluckte. Er zögerte lange. „Pass auf dich auf, Kira!“, flüsterte er, sodass ich kaum etwas hörte.

 

 

 

„Wie lange will die denn noch wegbleiben?“, fragte Eliza. Es war der erste Satz, den Mikey von seiner Schwester gehört hatte, seit sie beide ausgewählt wurden. Mikey zuckte mit den Schultern und legte seine nächste Karte auf den Stapel. Jasmyn schmiss ihre Karten weg. „Ich hab gewonnen!“, jubelte sie. In dem Moment kam Kira rein. Sie hatte ein Päckchen unter dem Arm und legte es auf ihre Matratze. Mikey fixierte es, doch er konnte sich nicht vorstellen, was darin war.

Erst als es stockdunkel war, legten sie die Karten beiseite. Kira hatte nicht mehr mitgespielt, doch keiner traute sich, sie anzusprechen und zu fragen, was mit ihr los war.

Mikey kuschelte sich unter seine Decke, doch er konnte lange nicht schlafen. Eigentlich hatte er sich immer gewünscht, zu einer Mission ausgewählt zu werden, doch nun… Er hätte es nicht halb so schlimm gefunden, wenn nicht auch seine Schwester Eliza in Gefahr wäre.

Er beobachtete durch den Zelteingang, wie es langsam Nacht wurde und die Sterne zum Vorschein kamen. „Wenn ich jetzt einen Wunsch frei hätte…“, dachte er. „Dann würde ich mir wünschen, dass all das nie passiert wäre. Oder wenigstens, dass Eliza nicht mit muss. Sie ist doch erst acht!“

Er suchte den Himmel ab, Zentimeter um Zentimeter. Doch nirgends sah er eine Sternschnuppe. Er rollte sich auf die Seite und gähnte. Neben ihm rollte sich Finn unruhig hin und her. Mikey war sich sicher, dass nicht nur er heute Nacht unruhig sein würde.

Ein leichter Windhauch blies die Stoffplane am Eingang etwas auseinander und gab Mikey für eine halbe Sekunde den Blick auf einen wolkenlosen Sternenhimmel frei. Und in dem Moment, als Mikey gerade am Einschlafen war, sah er eine Sternschnuppe draußen aufblitzen. „Ich wünschte…“, dachte Mikey. Dann hielt er inne. „Ich wünsche mir, dass Eliza wieder nach Hause kommt. Dass sie es schafft, egal was sonst passiert.“

 

 

Mikey wurde davon geweckt, dass die Anderen durchs Zelt liefen und ihre Sachen packten.

Er setzte sich auf und rieb sich die Augen. „Wie spät ist es?“, fragte er. Es dauerte eine Weile, bis Finn ihm antwortete: „Fast halb acht.“

Mikey stand auf und nahm den Rucksack entgegen, den Jasmyn ihm entgegen streckte. „Die hier haben wir vorhin vor dem Zelt gefunden. Wahrscheinlich haben sie die Trainer dort hingelegt“, sagte Kira. Mikey durchsuchte seine Sachen. Ihr ganzes Hab und Gut war anscheinend schon heute Morgen sehr früh in das Zelt gebracht worden.

Er fand Sachen, die er nicht mehr gesehen hatte, seit er und seine Schwester vor drei Jahren hier angekommen waren. Eliza war damals gerade mal fünf gewesen und nur wegen ihm aufgenommen worden, da ihre Eltern beide tot waren.

Mikey kramte in seinem Koffer herum, der den Kindern im Camp als Schrank diente.

Er fand einige alte Klamotten, die ihm sicher nicht mehr passten, ein altes Buch, ein Federmäppchen mit vier Stiften, einem Blauen, einem Grünen und zwei Braunen. Außerdem fand er seine alten Laufschuhe. Er probierte sie an und sie passten ihm noch. Er packte noch sein neueres Paar in den Rucksack und ein Taschenmesser. Im Rucksack befanden sich bereits eine Decke, eine gefüllte Feldflasche und eine Tüte mit zwei Broten.

Mikeys beobachtete die Anderen aufmerksam. Eliza packte ihren Glücksbringer ein, einen alten Schlüsselanhänger in Form eines Hasen. Außerdem zwei Haargummis. Mehr nicht.

Finn band an seinen Rucksack einen harten Eichenstock und ließ eine Kappe und ein weiteres Paar Schuhe in seinem Rucksack verschwinden. Er verschwand kurz und kam mit einer Taschenlampe und zwei weiteren Batterien zurück.

Jasmyn packte gleich sechs verschieden lange und scharfe Messer ein, dazu passenden Schutzhüllen, außerdem ein Haarband und ein paar dünne Lederhandschuhe.

Kira zog sich alte, ausgelatschte Turnschuhe an, packte in ihren Rucksack einen Arm- und Fingerschutz, eine neue Bogensehen und das Päckchen, in dem zehn neue Pfeile waren.

Jeder mit seinem Gepäck bewaffnet, verließen sie das Zelt. Draußen war niemand außer ihnen. Auf dem Boden lag eine ausgerollte Karte, auf der ihr Weg eingezeichnet war. Zögernd hob Finn sie auf und rollte sie zusammen. „Soll ich sie nehmen?“, wandte er sich an die Anderen. Es schien allen recht gleichgültig zu sein, also packte er sie in seinen Rucksack. Außerdem lag neben der Karte ein nagelneues, glänzendes Schwert. „Das kann nur für dich sein“, meinte Mikey und stupste Finn an. Er hob es auf und befestigte es an seinem Gürtel.

„Wo lang jetzt?“, fragte Eliza.

„Wir verlassen erstmal das Gelände…“, schlug Jasmyn vor. Die anderen Kinder nickten zaghaft. „Bareen, du hast die Karte, du läufst vor!“ Finn drehte sich zu Jasmyn um. „Würdest du mich vielleicht beim Vornamen nennen, Thoron?“, fragte Finn abschätzig. „Ich heiße Finn.“ Jasmyn und er warfen sich einen Moment lang wütende Blicke zu. „Das kann ja heiter werden!“, dachte Mikey und seufzte. „Also, Finn Bareen… Oder nur Finn, wie du es wünschst!“, sagte Jasmyn gekünstelt. „Würdest du wohl so nett sein und vorangehen?“ Finn schnaubte, dann ging er ihnen voran. Sie durchquerten das Schulgelände und gingen durch das Tor, das es von der Außenwelt abgrenzte.

Finn sah sich um. „Ähm… Finn?“, begann Mikey. „Vielleicht holst du jetzt besser die Karte raus!“ Finn nickte schnell und zog die Karte aus seinem Rucksack. Er rollte sie auf und sah drauf. „Also… Ich glaube, wir müssen jetzt… Da lang!“ Finn zeigte auf den Weg, der nach rechts führte, erst über einige Felder, dann durch den Wald, und danach auf die Berge zu.

Finn besah sich die Karte genauer. „Ich würde sagen, wenn wir es bis dorthin schaffen, haben wir eine Chance!“, sagte er und zeigte auf einen Punkt hinter dem Wald. Er rollte die Karte wieder zusammen. „Also, los geht’s!“ Finn lief voran, da er die Karte hatte, hinter ihm kamen Kira und Eliza, dann Jasmyn und Mikey bildete das Schlusslicht.

Finn führte sie über die Felder auf den Wald zu.

Eliza wurde Müde und fiel zurück und Mikey bat die anderen ein paar Mal, auf sie zu warten. „Komm schon, wir werden die Zeit brauchen! Je schneller wir sind, umso schneller haben wir die Mission geschafft!“, sagte Jasmyn genervt. Schließlich beschlossen die drei größeren, abwechselnd zu tragen. Kira machte den Anfang.

 

 

 

 

 

Die kleine Jovins war sehr leicht und klein, dadurch hatte ich keine Schwierigkeiten, sie zu tragen. Die Kleine schien schon sehr müde zu sein und legte ihren Kopf auf meinen Rücken, während ich ihre Beine festhielt. Ich hatte ihr meinen Rucksack gegeben und sie hielt ihn brav fest.

Gegen Mittag hielten wir im Schatten eines großen Apfelbaumes an. „Mann, hab ich Hunger!“, sagte ich und setzte das Kind ab. Jasmyn Thoron kletterte geschickt an dem Baum hoch und warf ein paar Äpfel auf den Boden. „Bedient euch!“, sagte sie und sprang wieder ins Gras. „Bist du verrückt? Der Baum gehört uns nicht!“, fuhr Finn Bareen sie an.

Thoron warf ihm einen abschätzigen Blick zu. „Ist mir so was von egal!“, sagte sie giftig und biss in einen Apfel. Auch ich nahm mir einen und als auch die Jovins-Geschwister zugriffen, nahm auch Finn Bareen einen Apfel. Wir aßen jeder einen Apfel und Finn und ich aßen noch einen Weiteren. Jetzt war noch einer übrig. Jasmyn packte ihn ein. „Den können wir heute Abend essen. Mit unseren Broten müssen wir sparsam umgehen.“

Wir blieben eine halbe Stunde unter dem Baum sitzen, dann gingen wir weiter. Eliza lief wieder und ich nahm meinen Rucksack wieder an mich und zog ihn auf.

Die Umgebung, durch die wir liefen ließ zu wünschen übrig: Wenig Büsche und Bäume, also gab es keinerlei Versteckmöglichkeiten und die Sonne brannte ungehindert auf die Haut. Bareen zauberte seine Kappe aus seinem Rucksack. „Hat hier jemand zufällig an Sonnencreme gedacht?“, fragte ich in die Runde, da ich merkte, wie sich auf meiner Nase langsam ein Sonnenbrand ausbreitete.

Leider schüttelten alle den Kopf.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war zwanzig vor fünf und die kleine Jovins fiel schon wieder zurück. „Macht mal langsamer, Eliza kann nicht so schnell!“, hörte ich Mikey Jovins hinter mir rufen. Finn drehte sich wortlos um und nahm das Mädchen auf den Rücken. Sie klammerte sich mit beiden Armen an Finn fest und der versuchte, die Karte zu lesen.

Der Wald kam näher und noch bevor es dämmerte, hatten wir die ersten Bäume erreicht. „Ab hier wird’s richtig ernst“, meinte Finn.

Er blieb kurz stehen, um zu verschnaufen, dann liefen wir weiter. Nur Mikey blieb stehen. „Ich vertraue euch nicht.“ Wir drehten uns zu ihm um. Ein verächtliches Lächeln umspielte meine Mundwinkel.

„Es geht hier nicht um Vertrauen.“ Das Wort „Vertrauen“ spie ich gerade zu heraus. Als ob ich einem von denen vertrauen könnte.

Jasmyn machte mir Angst. Ihr wilder, entschlossener Blick und die Tatsache, dass sie auf die Strohpuppen einstach, als ginge es um ihr Leben waren nicht alles. Auch ihre schnellen, unvorhersehbaren Bewegungen stellten eine Gefahr führ mich da. Ich hatte noch nie auf bewegliche Ziele geschossen und einen Menschen hatte ich erstrecht noch nie getötet. Bei ihr hatte ich allerdings keine Zweifel, dass sie mich oder jemand anderen aus der Gruppe im Notfall ohne zu zögern umlegen könnte. Und sie würde es tun. Definitiv.

Die beiden Jovins’ waren naiv. Sie waren eben noch klein. Aber vertrauen würde ich ihnen nie. Sie hatten bewiesen, was sie konnten und waren nicht für ihre Schwäche ausgewählt worden.

Und was Bareen draufhatte, wusste ich. Er schien der Gefährlichste von uns zu sein. Er war stark und schnell. Direkt nach Thoron hielt ich ihn für den brutalsten Killer in unserer Gruppe. Aber vielleicht sahen mich die Anderen genauso. Alle schienen furchtlos und entschlossen, im Notfall würde sich jeder verteidigen können.

Trotzdem mochte ich keinen von ihnen. Ich beschloss, mich nicht zu viel mit ihnen zu unterhalten, um die nötige Distanz zu halten.

„Um was geht es dann?“, holte mich Mikey aus meinen Gedanken.

„Überleben“, lächelte Jasmyn. Ihr Lächeln gefiel mir nicht. Es war ein freudloses, gefährliches Lächeln.

Mikey stutzte, dann folgte er uns. Ich dachte über Jasmyns Worte nach. Ging es wirklich nur darum, die Mission zu erfüllen und lebend nach Hause zu kommen? Oder wollten uns die Prüfer auf eine härtere Probe stellen?

 

 

Als es dunkel wurde und wir nichts mehr sehen konnten holte Finn eine Taschenlampe heraus und wir machten uns auf die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz.

Wir fanden eine mit Moos bewachsene Stelle und räumten die Stöcke und Äste beiseite. Dann holten wir unsere Decken aus dem Rucksack. Mir fiel auf, dass ich heute fast noch nichts getrunken hatte. Ich holte meine Flasche raus und nahm ein paar kräftige Schlucke. „Gib mir deine Taschenlampe!“, forderte Jasmyn Finn auf. „Was willst du machen?“, fragte der. „Ich gehe jagen!“

Finn Bareen sah sie mit einer Miene an, in der sich Überraschung und Entsetzen spiegelten. „Jetzt noch? Es ist doch schon dunkel! Wir müssen morgen sehr früh aufbrechen! Außerdem ist Wildern verboten!“, fügte er hinzu und schaltete seine Taschenlampe aus.

Jasmyn entriss sie ihm und stand auf. „Du solltest endlich aufhören, wie ein Kind zu denken! Ihr alle solltet das! Es geht nicht darum, was verboten ist und was nicht, es geht hier auch nicht darum, dass wir die allerbesten Freunde werden, es geht hier nur um eines: Wieder lebend nach Hause zurückzukommen!“

Sie dämpfte ihre Stimme etwas.

„Die erste Nacht ist eine Prüfung. Wer sie überlebt, hat gute Chancen auch den Rest zu schaffen. Was allerdings nichts heißen muss. Es gab schon Leute, die nach sechs Wochen gestorben sind. Dabei hat jeder gedacht, sie würden es schaffen.“ Dann verschwand sie im Unterholz. Ich sah noch lange dem Schein ihrer Taschenlampe hinterher.

„Als ob sie mit der Taschenlampe in der Hand Tiere ausfindig machen wird!“ Ich schüttelte abschätzig den Kopf. „Na ja, was soll’s. Vielleicht findet sie was anderes.“ Ich wickelte mich in meine Decke. Eliza schlief schon und Mikey deckte sie zu. Ich schloss die Augen, doch es dauerte lange, bis ich endlich einschlief.

 

 

Ich erwachte aus einem traumlosen Schlaf, der nur wenige Stunden gedauert hatte. Ich war kein bisschen ausgeruhter als zuvor, eher noch erschöpfter, doch das war nicht schlimm. Ich war es gewohnt, müde zu sein und trotzdem weit zu laufen. Ab und zu waren Tim und ich die Strecken, die normalerweise zum Ausreiten gebraucht wurden, zu Fuß gelaufen, oder wenn die Haflingerstute gelahmt hatte, hatte ich sie den Weg zurück geführt.

Ich sah auf meine Uhr, doch der hellgraue Himmel sagte mir, dass es nicht spät sein konnte. Es war viertel nach sechs, doch um mich herum zwitscherten schon munter die Vögel, ein Eichhörnchen hüpfte über mir durch die Äste und eine Nuss viel direkt neben mir zu Boden. Offenbar hatte es seine Beute soeben an mich verloren.

Ich knackte die Nuss mit zwei Steinen, die ich zusammenschlug. Irgendwann traf ich die Nuss und die harte Schale sprang auf. Ich aß den Kern, der überraschend saftig und weich war, dann setzte mich dann gähnend auf.

Ich merkte, dass Mikey schon wach war, und auch Jasmyn saß putzmunter und ausgeschlafen im Schneidersitz auf ihrer Decke und stopfte Brombeeren in sich hinein. Ich ging zu ihr, nahm eine Hand voll von den Brombeeren, die neben ihr auf der Plastiktüte lagen, in denen unsere Brote waren, dann setzte ich mich auf meine Decke.

„Hast du die Brombeeren gestern Abend noch gefunden?“ fragte ich Jasmyn bemüht freundlich in einem hilflosen Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie nickte mit starrer Miene, beachtete mich sonst aber nicht.

Ich kaute auf einer Brombeere herum. Sie schmeckte gut. Sie erinnerte mich an die Brombeeren, die Tim und ich früher oft am Rand der Stockkampfstation gepflückt hatten.

„Die sind gut“, meinte ich und steckte eine weitere Beere in meinen Mund. Die dünne Haut der Beere platzte und der süß-saure Saft breitete sich in meinem Mund aus. Während ich den Rest der Frucht schluckte sah ich Finn zu, der sich direkt neben mir unruhig hin und her wälzte, doch dann schlug er mir die Hand ins Gesicht und wachte auf.

„Entschuldigung“, murmelte er und klaute mir eine Brombeere. Vielleicht war es wie gerade eben bei mir ein Versuch, ein Gespräch aufzubauen, doch ich ließ ihn auflaufen und gab ihm auch noch die restlichen Brombeeren.

Vielleicht war er gefährlich, vielleicht war auch Jasmyn gefährlich, aber es würde mir nicht schaden, wenn ich den beiden etwas freundlicher begegnen würde. Vielleicht konnten wir ja doch miteinander auskommen.

An dieser Stelle kommen viele „Vielleichts“ zusammen: Vielleicht hätte ich abhauen sollen, als ich es noch konnte, vielleicht hätte ich die Distanz wahren sollen, vielleicht hätte ich, wie Jannis, bei den Prüfungen daneben schießen sollen, vielleicht hätte ich nie geboren werden sollen, doch all das war passiert…

 

 

 

 

Jasmyn lief hinter Finn durch den Wald. Sie waren schon lange unterwegs, es war schon nach Mittag, doch Finn trieb sie weiter. „Hier muss irgendwo ein Fluss sein. Irgendwo…“ Jasmyn schlief fast auf ihren Füßen ein, so langweilig war ihr, Finn starrte in die Karte, Kira trug Eliza und Mikey war mit den Gedanken ganz wo anders. Daher bemerkten sie den Bach erst, als sie mitten darin standen. „Gefunden!“, schrie Eliza, die als einzige keine nassen Füße bekommen hatte. Sie liefen noch ein Stück neben dem Bach her, der kurz darauf in einen breiten Fluss mündete, der wenige Meter weiter hinten einen steilen Hang herabstürzte und tosend durch die Felsen sprudelte.

Kurz vor dem Wasserfall machten sie Rast und zogen ihre nassen Schuhe aus. Finn und Mikey zogen sich ihre neuen Schuhe an, Jasmyn und Kira ließen die Schuhe an der Sonne trocknen. „Du da heißt es immer, wir Mädchen haben so viele Schuhe!“, lachte Kira.

Eliza und Mikey teilten sich den letzten Apfel, dann aßen sie ein paar von den Brombeeren, die noch übrig waren und ein Brot aus ihrem Vorrat. Sie tranken ihre Flaschen aus und füllten sie am Fluss. Der Fluss war tief und reißend – es gab keine Chance, ihn schwimmend zu überqueren. „Wir müssen jetzt wieder ein Stück in den Wald rein… Da vorne macht der Fluss eine scharfe Kurve. Er fließt dann in einem tiefen Graben weiter. Den müssen wir irgendwie überqueren, aber über dem liegt ein Baumstamm, wenn ich das richtig verstehe…“, erklärte Finn ihnen. „Ach, wie aufregend!“, stöhnte Jasmyn. Sie hatte das von vornherein gewusst, aber es war besser, wenn sie den Anderen das nicht zeigte. Vielleicht bot sich hier ihre erste Gelegenheit, zuzuschlagen.

 

 

Nachdem sie sich satt gegessen hatten, brachen sie wieder auf. Finn, immer in die Karte vertieft, führte sie durch den Wald. Plötzlich blieb er stehen. Vor ihnen war das Gelände unzugänglich. Überall lagen umgestürzte Bäume, ihre Äste hatten sich ineinander verschlungen und bildeten eine dichte Mauer aus spitzen Spießen, denen man besser nicht aus der falschen Richtung zu nahe kam. „Na toll, hat die Karte auch was von diesem Tornado erzählt, der hier scheinbar gewütet hat?“, fragte Jasmyn. „Wir müssen hier durch!“, meinte Finn. „Vielleicht kann hier mein Schwert zum Einsatz kommen.“ Er packte den Metallgriff und schlug nach den Ästen. Das Schwert schnitt das Gestrüpp ohne Probleme. Finn kletterte über die ungefährlicheren Stellen und arbeitete sich an den spitzen Stöcken wieder mit seinem Schwert vor. Die anderen Kinder folgten ihm. Finn kletterte voraus, dann kam Kira, nach ihr Mikey und Eliza und Jasmyn ganz zum Schluss. Eliza rutschte einige Male aus, doch Mikey hielt sie fest und passte auf sie auf.

Als sie das Gestrüpp überwunden hatten, steckte Finn sein Schwert wieder zurück und holte die Karte hervor. Verwirrt sah er von der Karte auf und begutachtete die Umgebung. Dann sah er wieder auf die Karte. „Ich glaube, wir sind zu weit nach Norden gekommen… Wir müssen weiter nach dort!“, sagte er und zeigte nach rechts.

Also machten sie sich auf den Weg. Jasmyn trug Eliza, die schon wieder müde war und Mikey hatte dafür Jasmyns Rucksack übernommen.

Lange liefen sie durch den Wald, dann setzte Jasmyn Eliza ab. „Finn…“ Finn drehte sich zu ihr um. „Ähm… nur rein theoretisch… Könnte es vielleicht sein… Na ja, vielleicht… Dass wir uns verlaufen haben?!“ Sie war richtig wütend.

Finn durchstöberte die Karte. „Ähm.. Na ja…“ Jasmyn schüttelte den Kopf. „Okay. Gib mir die Karte, her damit!“ Damit riss sie ihm die Karte aus der Hand. Sie sah auf die Karte und sah sich dann um. „Wir sind viel zu weit nach Süden gekommen!“, erklärte sie wütend.

„Von wegen Norden! Du kannst ja nicht mal die Himmelsrichtungen unterscheiden, Bareen!“, fuhr sie Finn an. Sie war unglaublich genervt. „Kann ich wohl!“, sagte Finn im Brustton der Überzeugung und schenkte Jasmyn ein verächtliches Lächeln. Jasmyn verdrehte die Augen. Wie hatte man sie nur mit solchen Idioten auf eine Mission schicken können?

Dann nahm sie ihren Rucksack wieder an sich und Finn trug Eliza. Danach führte sie die Kinder durch den Wald, bis sie an einen Hang kamen. Unter ihnen floss der Fluss, und einige Meter weiter rechts lag ein Baumstamm über dem Fluss. „Also, hab ich’s nicht gesagt?“, fragte Jasmyn in die Runde. Bareen setzte Eliza ab und nahm Jasmyn die Karte weg.

„Gut gemacht, jetzt bin ich wieder dran!“ Jasmyn zuckte mit den Schultern. Ihr war es wirklich egal, wer die Karte las und wenn Bareen vor ihr war, konnte er ihr nicht in die Quere kommen. Daher beobachtete sie, wie er den Baum von allen Seiten ansah, einmal dagegen trat, um die Stabilität des Stammes zu prüfen, und als sich der Baum nicht bewegte, erklärte er, es wäre sicher, die Schlucht an dieser Stelle zu überqueren.

Er bestieg den Baum als Erster und kletterte vorsichtig darüber, was nicht so leicht war, da der Baum voller Äste war. Keiner der anderen am Ufer rührte sich. „Na kommt schon!“ Jasmyn stieß den kleinen Jovins an.

„Schlagt hier keine Wurzeln!“, sagte sie grob und schob Mikey vorwärts. Ihre Geduld für die kleinen Jovins-Geschwister war restlos aufgebraucht. „Na los!“, sagte Jasmyn wieder. Jovins kletterte hinter Bareen auf den Baumstamm.

„Mathlock, jetzt du, danach Jovins.“ Sie wies auf die Kleine, die mit großen, wachsamen Rehaugen zu ihr hochsah. Sie beobachtete Jasmyn, doch das ließ sie kalt. Kleine Kinder waren dumm. Eliza war nicht anders und Mikey mit Sicherheit auch nicht. Trotzdem lächelte Jasmyn Eliza gekünstelt an und die Kleine lächelte nach einer kurzen Pause unsicher zurück.

„Ich bilde das Schlusslicht. Dann klettert immer einer vor und einer hinter den Kleinen!“, schlug Jasmyn vor. Mathlock nickte. „Gute Idee.“ Dann kletterte sie Mikey hinter her. Eliza wartete lange, bis sie zögerlich auf den Stamm kletterte.

„Au! Passt auf die Äste auf, die sind gemein!“, rief Finn von vorne zu, während Jasmyn jetzt als Letzte auf den Baumstamm kletterte. Die kleine Jovis zwängte sich zwischen den Ästen hindurch. Jasmyn hielt sie immer mit einer Hand fest. Sie spürte den weichen Stoff zwischen den Fingern und lächelte das Kind an. Sie wusste, dass es so klappen würde.

Jetzt kamen sie an eine etwas kritischere Stelle: Der Baumstamm war hier schmaler und die trockenen Äste waren spitz abgebrochen und gefährlich. Wenn hier jemand unvorsichtig war, konnte er sich schwer verletzen.

Sie achtete darauf, den Ästen nicht zu nahe zu kommen, dann reichte sie der Kleinen die Hand und half ihr an den ersten Ästen vorbei.

„Hier! Stell dich hier drauf, dann kommst du da besser vorbei!“, riet sie ihr und zeigte auf einen Ast. Jovins trat zögernd auf den recht dünnen Ast, und als der den ersten Belastungen stand hielt, lehnte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht drauf und der Ast brach, wie Jasmyn vorhergesehen hatte.

Elizas Schrei hallte von den Felswänden wider, ihre Hände rutschten am Baumstamm entlang und sie fand Halt an einem Ast. Ihre Fingernägel gruben sich in die Rinde es Baumes. „Hilfe! Helft mir!“, schrie Eliza. „Eliza!“, schrien Mikey, Finn und Kira wie aus einem Mund. Jasmyn packte ihren Arm und hielt sie fest, während das Mädchen, das den Baum losgelassen hatte, in der Luft hing. Jetzt war der perfekte Moment gekommen. Jasmyn lächelte leicht. Dann lockerte sie ihren Griff um Elizas Arm. „Ich kann sie nicht halten!“, rief sie.

 

 

 

 

 

 

Mikey saß wie erstarrt auf dem Baumstamm. Plötzlich konnte er sich wieder rühren. Er packte Kira und schlug auf sie ein. „Mach doch was! Hilf ihr!“, schrie er ihr ins Ohr. Kira zuckte zusammen, dann kletterte sie, so schnell sie konnte zurück zu Eliza und als Jasmyns Hand sich gerade von Elizas löste, packte Kira Eliza an den Armen und zog sie hoch. Eliza weinte vor Schreck und Kira musste sie den restlichen Weg tragen.

Auf der anderen Seite angekommen, setzte Kira Eliza ab. Mikey rannte auf sie zu und umarmte sie. „Beruhig dich, Eliza, es ist alles okay!“ Er streichelte ihr übers Haar und Eliza klammerte sich an ihn.

Eliza zitterte. Mikey ließ sie los. „Komm, wir müssen weiter, Eliza! Wir haben noch einen langen Weg vor uns!“ Er nahm sie an der Hand und zog sie hinter sich her. „Wir müssen jetzt weiter dort hin! Auf den Berg zu!“, sagte Finn.

Eliza schluchzte und wischte sich die Tränen ab. „Na los!“, munterte Kira Eliza auf. Sie nahm sie auf den Arm und trug sie ein Stück. Eliza schluchzte noch immer und klammerte sich an Kira.

Finn lief mit der Karte in der Hand voran, und als es dämmrig wurde, schaltete Jasmyn ihre Taschenlampe ein und Finn trug Eliza. „Wie lange sollen wir noch weiterlaufen? Ich bin hundemüde!“, jammerte Mikey.

Finn drehte sich zu ihnen um, die Karte immer noch vor dem Gesicht. So sah er aus wie einer dieser verplanten Familienväter in diesen Talkshows, die Mikey so hasste. Seine Füße taten weh und die Schuhe, die er angezogen hatte, schienen ihm jetzt doch zu klein zu sein.

Finn ließ die Karte sinken. „Ich weiß nicht. Wenn ihr so müde seid, können wir hier anhalten. Was sagt ihr dazu?“ Mikey nickte. „Ich bin dafür.“ „Und was ist mit euch?“, fragte Finn Kira, Eliza und Jasmyn. „Also, ich finde, wir sollten weiter!“, meinte Jasmyn. „Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Finn setzte Eliza ab, die sich an ihm festgeklammert hatte, damit er die Karte halten konnte. Nun zeichnete sich auf Finns Hals ein rötlicher Striemen ab. „Ich bin müde. Ich möchte auch hier bleiben!“, sagte Eliza und setzte sich auf den Boden. Kira zuckte mit den Schultern. „Ich wäre auch dafür, dass wir weiter gehen, aber die Kleinen können ja nicht mehr laufen“, meinte Finn. „Nennt uns nicht immer „Die Kleinen“, okay?“, rief Mikey ärgerlich. „Eliza ist zwar erst acht, aber ich bin schon elf, und ich glaube nicht, dass ihr so viel älter seid!“ „Und ob!“, widersprach Jasmyn. „Ich bin dreizehn, das sind schon zwei Jahre Unterschied!“ „Das interessiert doch jetzt keinen!“, unterbrach Finn sie. „Ich schlage vor, wir ruhen uns hier aus und brechen morgen früh dafür noch vor Sonnenaufgang auf.“

Jasmyn gab murmelnd ihre Zustimmung und auch Kira erklärte sich schließlich einverstanden.

Sie breiteten ihre Decken aus und Eliza und Mikey schliefen sofort ein.

 

 

 

 

 

 

Ich lag noch lange wach da und starrte in die Sterne. Irgendwo, weit weg, lag Tim vielleicht gerade genauso da, und sah genau dieselben Sterne an. Und dort war auch Jannis. Und irgendwo war auch Cray. Meine drei besten Freunde, die mir dieses tolle Geschenk gemacht hatten.

Ohne es zu merken zog ich einen Pfeil aus dem Köcher und strich über ihn. Die mussten ein Vermögen gekostet haben! Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie lange sie dafür hatten sparen müssen. „Ich wünschte, ich könnte noch einmal mit euch reden…“, murmelte ich so leise, dass ich selbst es kaum hörte.

„Aber egal, was passiert, ich werde nie wieder zu euch zurückkommen. Wir werden uns nie wieder sehen.“ Ich merkte, dass mir warme Tränen über die Wangen liefen und als ich merkte, dass Bareen zu mir herüberschaute, wischte ich mir schnell die Tränen weg. „Wächst hier irgendwo Klee? Ich bin total allergisch gegen Klee!“, log ich. Nur dumm, dass Klee die erste Pflanze war, die mir eingefallen war. „Ich sehe hier keinen Klee…“, meinte Finn und sah sich um.

„Thoron, siehst du hier Klee?“ Irgendwie schien er es darauf anzulegen, mich davon zu überzeugen, dass ich unmöglich eine Allergie gegen Klee haben konnte. „Ich hasse diese Pflanze. Von den Blüten tränen mir immer die Augen!“, log ich weiter und versuchte, dabei so geschickt wie Tim vorzugehen. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass mir das absolut nicht gelang.

„Ist ja auch egal. Aber ich bin froh, wenn wir morgen von hier verschwinden!“, fügte ich schnell hinzu und kuschelte mich unter die Decke.

 

 

Am nächsten Morgen rüttelte die jüngere der Jovins-Geschwister mich wach. „Komm, wir müssen gleich gehen!“, sagte sie. Ich gähnte und stand widerstrebend auf. Auch Mikey schlief noch, doch ich sah Finn schon zielstrebig auf ihn zugehen. Ich packte meine Decke ein und kurz darauf stolperte ich über Jasmyns Rucksack. „Pass doch auf!“, fuhr sie mich an. „Tut mir Leid, ich bin nur noch so… müde!“, sagte ich und gähnte herzhaft. Das war nicht mal gelogen. Allerdings wurde Thoron mir von Tag zu Tag unsympathischer.

„Los, Jovins, wach auf!“, sagte Finn und rüttelte Mikey an der Schulter. Er drehte sich um, grunzte etwas und Finn rüttelte noch mal an seiner Schulter, woraufhin Mikey ihm ohne zu zögern eine schallende Ohrfeige verpasste. Finn schrie auf und wich zurück. „Dann schau doch, wie du mitkommst!“, schrie er den verschlafenen Mikey an und packte seine Sachen. Kurz darauf war allerdings auch Mikey wach.

Er knurrte etwas Unverständliches. Anscheinend war er normalerweise ein Langschläfer. Irgendwann begann er deutlicher zu sprechen, und ich bekam mit, dass er so ziemlich alle verfluchte, die ihn jemals früh geweckt hatten. Und dann tat er es noch mal, um sicher zu gehen, dass er niemanden ausgelassen hatte.

Ich kümmerte mich nicht weiter darum.

Irgendwann hatten alle ihre Sachen gepackt und nach einem ausgewogenen Frühstück, bei dem wir unsere Brote aßen, war auch der mürrische Mikey halbwegs zufrieden, also standen wir auf und marschierten los. Laut Bareen würden wir bald in einen Teil des Waldes kommen, in dem früher Menschen gewohnt hatten. „Jetzt scheint dort allerdings niemand mehr zu leben“, meinte er und betrachtete die Karte genauer.

Als Bareen zum zweiten Mal gegen einen Baum lief, nahm ich ihm die Karte weg. „Schau auf den Weg!“, befahl ich ihm unwirsch. Finn lächelte verlegen, doch dann lief er weiter.

Ich sah ab und zu in die Karte, nur um mich zu vergewissern, dass wir noch auf dem richtigen Weg waren. Um uns herum war nichts anderes zu sehen als Wald, irgendwo weit in der Ferne musste ein Berg sein, und dort mussten wir hin.

Während ich immer wieder auf die Karte sah, beobachtete ich die Anderen. Finn lief vor mir. Anscheinend kannte er den Weg ganz gut. Der Rest lief hinter mir, Eliza, die schon wieder recht müde schien, ganz hinten mit mehreren Metern abstand. Mikey blieb immer wieder stehen und wartete auf sie, während Jasmyn die beiden keines Blickes würdigte.

Ich hatte Jasmyn noch nie gemocht, doch seit sie beinahe Eliza hatte fallen lassen, war sie noch schlimmer.

Ich wartete auf die Jovins-Geschwister und nahm dann das Mädchen wieder hoch.

Ich wusste nicht, warum man sie ausgewählt hatte. Sie war zwar klein und schnell, doch auf lange Distanzen unbrauchbar. Vielleicht hatten die Prüfer nicht damit gerechnet, dass wir es so weit schaffen würden. Allerdings war bis jetzt ja noch nichts passiert. Bis auf den kleinen Zwischenfall auf dem Baumstamm.

„Ich hab Hunger…“, jammerte Eliza. Langsam begann sie mich zu nerven, obwohl ich auch einmal so gewesen war. Sie hielt uns nur auf. Und sie aß einfach viel zu viel. Trotzdem öffnete ich meine Tasche und gab ihr den Rest meines Vespers.

„Danke!“ Sie nahm mein Brot und biss hinein. Ich hielt in einer Hand die Karte und warf immer wieder einen Blick darauf, um mich zu vergewissern, dass wir noch immer auf dem richtigen Weg waren.

Wenig später trug ich Eliza wieder auf dem Rücken. Sie plapperte unentwegt und schien gar nicht mehr damit aufhören zu wollten. „Sag mal, machst du auch noch was anderes außer reden?“ fragte Finn sie. „Ich esse auch sehr gerne“, erklärte Eliza und stopfte sich das Brot in einem Bissen fast ganz in den in den Mund.

Schließlich kamen wir in ein verlassenes Dorf. Das Dorf schien schon an die zweihundert Jahre verlassen zu sein. Es musste zu einer Zeit gewesen sein, als der Kontinent Europa noch existierte, oder sogar noch etwas früher. „Das ist ja cool!“, wisperte Mikey und Eliza ließ vor Staunen fast das Brot fallen. Selbst Jasmyn zog überrascht die Augenbrauen hoch. Das Dorf bot einen mystischen Anblick.

Die alten Häuser waren von Pflanzen überwuchert und überall auf dem Boden hatten sich Blumen ausgebreitet. Die Natur hatte sich ihr Gebiet zurückgeholt und nichts, außer den alten Steinwänden erinnerte noch daran, dass hier einmal eine Siedlung gewesen war.

„Also, ich schlage vor, dass wir uns hier verstecken und uns ausruhen. Ich glaube, es könnte keinen besseren Platz geben“, sagte Jasmyn und ließ ihren Rucksack sinken. „Ich bin auch dafür. Was sagt ihr?“, fragte Finn. Ich schüttelte den Kopf, aus keinem besonderen Grund. Nur, weil ich generell gegen alles war, was Jasmyn vorschlug. „Warum nicht?“, fragte Finn mich. Ich zuckte die Schultern und wollte schon wieder das blaue vom Himmel herunter lügen, als Eliza anfing zu jammern. „Ich will aber hier bleiben! Es gefällt mir hier und ich bin müde!“ Mikey warf mir einen bösen Blick zu. „Von mir aus, bleiben wir halt hier!“, stimmte ich schließlich zu.

„Okay. Ich und Mikey verstauen unsere Sachen in dem alten Haus dort!“, sagte Finn und zeigte auf eines der Gebäude. „Dort sind wir vor dem Wetter geschützt und es scheint das stabilste der Häuser zu sein. Eliza, du kannst uns ja dabei helfen!“ „Und was sollen wir machen?“, fragte ich und meinte damit Jasmyn und mich. „Ihr könnt uns was zu Essen verschaffen. Unser Vorrat ist aufgebraucht.“ Ich zuckte die Schultern. „Von mir aus.“ „Los, lass uns gehen!“, rief Jasmyn und zog mich mit sich.

Ich hatte gerade noch Zeit, Mikey meinen Rucksack in die Hand zu drücken und meinen Bogen und fünf Pfeile zu schnappen.

Jasmyn und ich liefen tief in den Wald, wo wir ein paar Brombeersträucher entdeckten. Jasmyn zauberte ein Tuch hervor, in das sie vorher ihre Messer eingewickelt hatte. „Hier, leg sie hier rein!“ Wir pflückten eifrig die schwarzen Beeren von den Sträuchern, natürlich nicht, ohne zwischen durch Einige zu essen. Irgendwann band Jasmyn das Tuch zu. „Das reicht, mehr passen nicht rein. Wir sollten jetzt Jagen gehen!“, schlug sie vor. „Du weißt wie man jagt?“, fragte sie mich. „Ich weiß wie man schießt und so groß ist der Unterschied ja nicht“, sagte ich gleichgültig. Ich wusste, dass ich es nicht übers Herz bringen würde, auf ein Tier zu zielen. „Dann teilen wir uns auf. Ich kann die Brombeeren nehmen, wenn du möchtest!“, bot sie sich an.

Ich drückte ihr die Beeren in die Hand. „Gern. Ich werde zum Schießen beide Hände brauchen.“ Also teilten wir uns auf. Jasmyn lief in die Richtung, in der der Wald dichte wurde. Überall wuchsen Dornen und Büsche. Ich dagegen wandte mich in die andere Richtung. Sobald Jasmyn weg war, würde ich mich irgendwo ins Laub legen und mich ausruhen. Dann würde ich ihr später einfach sagen, dass ich kein Glück gehabt hätte.

Ich drehte mich immer wieder um, und als ich mir sicher war, dass Jasmyn mich weder hören noch sehen konnte, setzte ich mich hin und lehnte mich an einen Baum. Ich war so übermüdet, dass ich bald einschlief.

 

 

Ich erwachte von einem lauten Geräusch. Erst konnte ich es nicht einordnen, doch dann war ich schlagartig wach. Es war Jasmyn, die nach mir rief. Etwas stimmte nicht. „Kira!!!“ Ihre Stimme hallte schrill im Wald wider und sie klang so verängstigt und panisch, dass ich sofort aufsprang und einen Pfeil in meinen Bogen legte. Etwas musste passiert sein. Vielleicht viel es mir auch nur auf, weil sie mich beim Vornamen nannte. Die anderen Pfeile vergaß ich in meiner Hast und ließ sie am Baum zurück.

„Kira! Hilf mir! KIRA!“ Ich rannte in die Richtung, aus der ihre Stimme gekommen war. „Jasmyn! Jasmyn, wo bist du?“ Panisch rannte ich, so schnell ich konnte. „Kira, Hilfe!“ Jasmyns Stimme überschlug sich, doch ich kam ihr näher.

Ich war noch nie so schnell gerannt. „Jasmyn!“ Ich rannte jetzt bergauf, immer in die Richtung, in der ich sie vermutete. „Wo bist du?“ Ich kam auf dem Hügel an und sah mich um. „Jasmyn?“ Sie war nirgends. Ich wollte gerade weiter rennen, als mir von hinten jemand ein kaltes Messer an die Kehle drückte. „Bogen fallen lassen!“, zischte eine Stimme. Ich streckte beide Hände von mir weg, um meinem Angreifer zu zeigen, dass ich bis auf den Bogen keine Waffen bei mir hatte, dann warf ich auch diesen weg. „Schon besser!“ Mein Angreifer riss mich herum. „Jasmyn!“ Wütend schrie ich sie an. „Was fällt dir ein…!“ „Schön still sein“, unterbrach sie mich. „Du willst doch die Anderen nicht in Gefahr bringen, oder?“ Sie hielt mich gut fest, mein Handgelenk in der einen, das Messer in der andern Hand.

„Was soll das? Soll das ein Scherz sein?“, fragte ich sie. „Ein Scherz? Oh, nein, ich mache niemals Scherze, das hier ist bitterer Ernst und du wirst es gleich bereuen, dass du Eliza damals gerettet hast, sonst hätte ich jetzt nur noch drei von euch vor mir! Eigentlich sollte ja Finn zuerst dran glauben, da er der Gefährlichste von euch ist, aber dann hat mir der Zufall die kleine Eliza in die Hand gespielt und da du sie gerettet hast, habe ich gemerkt, dass ich zuerst dich aus dem Weg schaffen muss!“, knurrte sie. „Was hast du gesagt?!“ Ich konnte und wollte einfach nicht glauben, dass Jasmyn uns verraten hatte. „Du miese kleine Ratte, du…“ Den Rest meiner Beleidigungen sollte ich hier aus Jugendschutzgründen besser nicht aufzählen, jedenfalls redete ich mich so in Rage, dass ich Jasmyn, als ich fertig war, dass Messer aus der Hand trat.

Es flog in hohem Bogen gegen einen Stein und blieb dort liegen. Dann stieß ich Jasmyn von mir weg, doch bevor ich meinen Vorteil ausnutzen konnte, verdrehte Jasmyn mir das Handgelenk und zwang mich in die Knie. Ich sprang auf und riss mich los. Jasmyn und ich standen keuchen ein paar Meter von einander entfernt und rieben uns die Handgelenke.

Dann ballte ich meine Hand zur Faust und ging auf Jasmyn los. Jasmyn packte mich an den Schultern und stieß mir das Knie in den Bauch. Ich fiel hin und trat nach Jasmyn, die sich schon wieder auf mich stürzen wollte. Jasmyn wich einen Schritt zurück und hielt sich die Rippen, wo mein Fuß sie getroffen hatte. Doch ich hatte keine Zeit, mich in Sicherheit zu bringen, denn schon sprang sie wieder auf mich los. Ich wich zurück und meine Hand streifte etwas Kaltes. Den Griff von Jasmyns Messer. Ich sprang auf und riss das Messer hoch, bereit anzugreifen. Jasmyn hielt inne und sah das funkelnde Messer in meiner Hand an, dann sah sie in mein entschlossenes Gesicht. Ich bleib stehen und eine Sekunde starrten wir uns an, dann drehte Jasmyn sich um und rannte weg.

Ich steckte das Messer wieder in die Hülle, dann holte ich meinen Bogen aus dem Gebüsch. Der Pfeil lag daneben und ich legte ihn vorsichtshalber wieder in die Sehne, damit ich sofort schießen konnte, falls mich wieder etwas bedrohen sollte.

Ich fand auch die anderen Pfeile wieder, die ich am Baum vergessen hatte.

Sofort machte ich mich auf den Weg zurück ins Dorf.

Ich vergaß das Essen, das ich eigentlich hätte besorgen sollen. Ich wollte nur vor Jasmyn zu den Anderen ins Dorf kommen.

Ich rannte und ignorierte meine Lunge, die nach Luft schrie. Ich brach aus den Büschen und rannte in vollem Tempo zu dem verfallenen Haus, in dem wir uns versteckt hielten. „Los, wir müssen hier verschwinden!“, brüllte ich schon an der Tür. Ich sprintete herein und zog den verdutzten Finn auf die Beine. „Jasmyn hat uns verraten! Sie will uns umbringen! Das mit Eliza war geplant!“, keuchte ich, während ich mein Zeug zusammensuchte. Ich weiß nicht, ob Finn das verstanden hatte, doch er half sofort Eliza und Mikey auf die Beine und sammelte die Sachen auf.

„Kommt, kommt, schneller!“, trieb er Mikey und Eliza an. Die beiden suchten in Windeseile ihr Gepäck zusammen.

Wir schlichen aus dem Dorf, im Wissen, dass Jasmyn irgendwo auf uns wartete.

Wir verschwanden still im Wald, keiner sagte ein Wort, aber man merkte, dass die Stimmung bedrückt war.

Ich hatte meinen Bogen gespannt, immer in Erwartung eines Angriffs. Ich hörte in der Ferne Wölfe heulen. Es wurde dunkel und ich legte einen Pfeil in die Sehne meines Bogens, um uns verteidigen zu können. Wieder erklang das heulen, hungrig und erschreckend, doch diesmal näher.

„Hörst du das?“, fragte Finn mich. „Glaubst du, ich bin taub?“, fragte ich zurück. Finn hatte sein Schwert gezogen und Mikey hielt Eliza an der Hand.

„Sie kommen näher!“, flüsterte Mikey, als das Heulen ein drittes Mal erklang. „Wölfe würden niemals Menschen angreifen!“, beruhigte ich ihn, doch ich war mir da nicht so sicher. „Wissen das die Wölfe auch?“, fragte Finn.

Das Heulen erklang ein weiteres Mal, noch näher und ein weiterer Wolf setzte ein. Schließlich waren es mindestens zehn Wölfe, die gleichzeitig heulten. Jedes Heulen kam aus einer anderen Richtung, doch wir wussten, dass im Moment wir im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit standen. Und dass wir in ihrem Kreis gefangen waren.

„Sie würden uns niemals angreifen!“, wiederholte ich, eher um mich selbst, als die anderen Kinder neben mir zu beruhigen. „Trotzdem hören sie sich ziemlich hungrig an!“, sagte Finn. „Kommt! Wir müssen hier weg, bevor sie den Kreis um uns ganz schließen!“ Er rannte los und ich lief ihm hinterher. Nach kurzer Zeit überholte Mikey mich und schloss zu Finn auf. Eliza war die Langsamste von uns, doch während wir uns nun durch die dichtere Bewaldung kämpften, sprang sie mühelos durch die Äste und holte dadurch auf.

Völlig außer Atem blieben wir irgendwann auf einer Lichtung stehen. „Glaubst du, wir haben es geschafft?“, fragte Mikey Finn. „Das bezweifle ich!“, antwortete dieser und im selben Moment ertönte ein weiteres, langgezogenes Heulen. Es stimmten immer mehr Wölfe ein. Diesmal waren es noch mehr. „Wir sind gefangen!“, flüsterte Mikey.

In dem Moment tappte ein großer, grauer Wolf aus dem Dickicht. Er duckte sich und schnellte dann auf uns zu. Ich stolperte zurück und fiel über einen Wolf, der sich von hinten an uns herangeschlichen hatte.

„Finn!“, brüllte ich. Finn riss Eliza und Mikey auf die Seite und schlug einem der Wölfe mit dem Schwertknauf auf den Kopf. Ich schmiss meinen Rucksack von mir, der mich nur in meinen Bewegungen behinderte und riss den Bogen hoch. Ich spannte die Sehne bis zu meinem Ohr und ließ den Pfeil losschnellen. Ein Wolf fiel in den linken Hinterlauf getroffen zu Boden und hinkte davon, während der nächste Wolf auf mich zusprang. Kurz darauf bohrte sich einer meiner Pfeile in sein dunkelbraunes Fell.

„Eliza! Mikey! Hierher!“, befahl ich ihnen. Die beiden rannten auf mich zu und stellten sich hinter mich. Ich drückte Mikey das Messer in die Hand, das ich Jasmyn abgenommen hatte, dann spannte ich meinen Bogen ein weiteres Mal. Der Pfeil flog los und ein dritter Wolf fiel verletzt zu Boden.

Ein Wolf sprang mich von hinten an und ich fiel zu Boden. Ich hob den Bogen und spannte die Sehne mit aller Kraft – doch die Sehne zerriss. „Nein!“, flüsterte ich. Ich schlug dem Wolf mit dem Bogen gegen den Kopf und er wich benommen zurück. Mit einem Hechtsprung war ich bei meinem Rucksack. Ich zerrte an den Reisverschlüssen, um meine Ersatzsehne herauszubekommen.

Der Wolf, dem ich den Bogen um die Ohren geschlagen hatte, war inzwischen wieder zu sich gekommen und taumelte benommen auf mich zu. Ich riss hektisch die Reisverschlüsse auseinander und kramte in meinem Rucksack herum. Der Wolf sprang mit einem gewaltigen Satz auf mich los.

Ich wollte den Bogen herumreißen, und mich damit verteidigen, doch der Wolf fiel bereits von Mikeys Messer getroffen zu Boden. Ich zögerte keine Sekunde und spannte die neue Sehne, dann packte ich einen meiner Pfeile und schoss auf den nächsten Wolf, der gerade auf Finn losging.

„Mikey! Eliza!“ Ich winkte die Beiden zu mir und als sie angelaufen kamen, drückte ich Mikey meinen Bogen in die Hand.

„Ich brauch das Messer!“ Er gab es mir ohne zu zögern und ich rannte los, um meine Pfeile zurückzuholen. „Finn!“ Ich riss einen Pfeil aus dem Boden. Finn drehte sich zu mir um. „Finn, wir müssen von hier verschwinden!“ Finn nickte und versetzte einem kleineren Wolf einen Hieb, dann kam er zu mir gerannt. „Komm, beeil dich!“ Er half mir, die restlichen Pfeile einzusammeln, dann rannten wir zu Eliza und Mikey. „Los, wir hauen hier ab!“, sagte ich, während ich mit dem Messer nach einem der Wölfe stach.

Finn rannte vor, dann folgten ihm Mikey und Eliza und ich sorgte dafür, dass niemand verloren ging. Ich gab Mikey das Messer zurück und wenn die Wölfe zu nahe herankamen, schoss ich einen Pfeil ab.

Irgendwann traten die Wölfe den Rückzug an. „Wie viele Pfeile hast du noch?“, fragte Finn. Ich zählte nach. „Sechs.“ „Okay, du musst mit ihnen sparsam umgehen“, sagte Finn. „Was soll das heißen? Soll ich uns das nächste Mal lieber nicht das Leben retten?“, fragte ich ihn giftig. „Das hab ich doch nie gesagt!“, nahm Finn mir den Wind aus den Segeln. „Wir müssen nur vorsichtig damit umgehen! Wir werden sie sicher noch brauchen!“ Ich senkte den Kopf und nickte.

„Was haben wir an Verpflegung?“ fragte Finn in die Runde. Mike und Eliza öffneten ihr Ranzen und auch ich machte eine grobe Bestandsaufnahme. „Nichts“, sagte Eliza.

Auch Mikey schüttelte den Kopf. Finns Blick wanderte weiter zu mir. „Ich hab nur noch eine Feldflasche. Die letzten Brombeeren hat leider Jasmyn.“ „Okay, dann müssen wir uns als ersten nach Essen umsehen“, murmelte Finn. „Hast du die Karte noch?“, fragte er mich nach einer kurzen Pause. Wenigstens die hatte ich eingepackt.

„Gut. Lass uns noch ein bisschen weiter gehen und schauen, ob wir etwas finden. Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich die Karte wieder an mich“, wandte Finn sich mir zu. Ich nickte und überreichte ihm wortlos die Karte. „Solange du nicht wieder gegen Bäume läufst!“ Finn lachte und schüttelte dann den Kopf.

Er rollte die Karte auf und verglich die Umgebung um uns herum mit der auf der Karte. „Okay, wir müssen wieder mehr nach Osten!“, erklärte er uns. Dann ging er voraus und wir folgten ihm.

Irgendwann blieb Mikey stehen und hielt Eliza zurück. „Kommen wir noch mal zu meiner Frage zurück. Wie kann ich euch vertrauen? Woher soll ich wissen, dass nicht einer von euch der Nächste ist, der mir ein Messer an die Kehle hält?“

Finn und ich sahen uns ratlos an. „Wir müssen uns einfach vertrauen!“, sagte er. „Ach ja?“, rief Mikey wütend. Er war nicht unserer Meinung, das war klar. Er war misstrauisch und traute keinem von uns, wahrscheinlich hasste er uns alle. „Wir haben doch gemerkt, wozu das bei Jasmyn geführt hat!“, sagte Mikey und drehte sich von uns weg.

Doch wir fuhren alle gleichzeitig. herum, als wir ein Geräusch in den Büschen hörten. „Rücken an Rücken aufstellen!“, befahl Finn und zog sein Schwert. Ich postierte mich neben ihm, Mikey und Eliza stellten sich mit dem Rücken zu uns.

Ich legte einen glatten Pfeil in meinen Bogen ein und wartete. Einige Sekunden verstrichen und ich begann, die Konzentration zu verlieren. Mein Arm, der die Sehne spannte, begann vor Anstrengung zu zittern und ich ließ den Bogen kurz sinken, um meinen Arm zu entspannen.

Den Moment nutzte Jasmyn und irgendwo aus dem Dickicht kam ein Messer auf mich zugeflogen. Ich schrie auf und riss Eliza, die hinter mir stand, mit zu Boden, doch Finn wehrte das Messer mit seinem Schwert ab. „Aufteilen!“, schrie er und wir rannten in entgegen gesetzte Richtungen davon. Ich sah gerade noch, wie Jasmyn hinter uns aus dem Gebüsch sprang und ein weiteres Messer nach uns warf. Ich drehte mich schussbereit um und der Pfeil sauste auf Jasmyn los. Sie duckte sich jedoch rechtzeitig und der Pfeil flog an ihr vorbei.

Ich rannte weiter. Die anderen hatte ich schon längst aus dem Blick verloren.

 

 

 

 

 

 

Eliza rannte durch den Wald. Sie sprang durchs Dickicht, wie ein junges Reh. Das ist der Vorteil bei meiner Größe, dachte sie, während sie zwischen zwei Ästen hindurch sprang und sich auf dem Boden abrollte. Sofort war sie auf den Beinen und lief weiter. Mit einem Blick über die Schulter stellte sie fest, dass Jasmyn ihr nicht gefolgt war. Doch auch die Anderen waren nirgendwo.

„Mikey?“, rief sie, so laut sie konnte. „Mike!“

Sie hörte ein Geräusch hinter ihr. „Mike?“ Nein, das konnte er nicht sein. Die Gestalt war viel zu groß für ihren Bruder. Eliza drehte sich um, und rannte so schnell sie konnte davon. Das musste Jasmyn sein, die hinter ihr her war.

„Mikey!“

Sie lauschte einen Moment und blieb stehen, doch nichts geschah. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen, doch als sie Jasmyn hinter sich hörte, sah sie sich rasch in alle Richtungen um und rannte weiter. Sie hatte einen Weg gewählt, den Jasmyn aufgrund ihrer Größe fast nicht bewältigen könnte.

Eliza quetschte sich durch die Äste der Bäume. Unter ihr verlief ein kleiner Bach und sie trat einige Male hinein, bevor sie es schaffte, sich durch die umgefallenen Bäume zu kämpfen und sie wieder in begehbares Gebiet kam. Irgendwo hinter ihr musste immer noch Jasmyn sein, also rannte sie wieder los und versucht, so viel Abstand zwischen sich und ihre Verfolgerin zu legen, wie nur möglich.

Hungrig und müde blieb sie eine halbe Stunde später an einem Baum stehen. „Mike!“ Ihr Rufen war jetzt mehr ein Jammern. Ihr kamen die Tränen, als sie merkte, dass sie sich verirrt hatte und die Anderen ihre Spur verloren hatten. „Mikey!“, wimmerte sie. Erst jetzt fiel ihr ein, dass es noch andere in ihrer Gruppe gab. „Finn!“, schrie sie, so laut sie konnte, in der Hoffnung, dass sie jemand hören würde. „Kira!“

Sie lauschte, doch niemand antwortete. „Mike!“, schluchzte sich wieder. „Mikey!“ Sie sank an einem Baum zusammen und begann zu weinen. „Ich will nach Hause!” Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Jasmyn war scheinbar wieder direkt hinter ihr. Eliza sprang auf und wischte sich die Tränen ab. Dann begann sie zu laufen. Der Wald wurde lichter und sie blieb stehen. „Wo seid ihr, Mike?“, schrie sie, so laut sie konnte. Plötzlich wurde sie von hinten gepackt. Eine Hand legte sich über ihren Mund, doch sie konnte einen erstickten Schrei ausstoßen, bevor Jasmyn sie herumriss.

 

 

 

 

 

Ich fuhr herum, als ich Elizas Schrei hörte. „Eliza!“ Ohne zu zögern rannte ich los, in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Ich hatte meinen Bogen gespannt und lief, so schnell ich konnte. Urplötzlich warf mich jemand auf den Boden und hielt meine Hände fest. Ich lag auf dem Gesicht und konnte mich kaum rühren, doch ich zappelte so heftig ich konnte. „Jetzt… Hör endlich auf dich zu wehren! Wenn du dich bewegst, sind wir beide tot, Mathlock!“, zischte Finn mich an und ich hörte auf, mich zu wehren, als ich seine Stimme erkannte. Er ließ mich los und ich sprang auf. „Eliza! Wo bist du?“ Wir hörten Mikey, der verzweifelt durch den Wald schrie. „Jetzt muss ich dem auch noch das Leben retten!“, stöhnte Finn und rannte in Mikeys Richtung. Ich folgte ihm und sah durch die Bäume hindurch, wie Finn Mikey zu Boden warf und sich auf ihn setzte.

„Klappe zu, sonst tot!“, zischte er ihm zu. Mikey rührte sich nicht. Irgendwann ließ Finn auch ihn los und Mikey stand auf. „Wir müssen sie suchen!“, sagte ich sofort. Mikey schüttelte den Kopf, was mich ungemein überraschte. „Ihr gefährdet unsere Mission!“, sagte Mikey kalt. „Das würde sie nicht wollen! Außerdem glaube ich nicht, dass ihr etwas passieren wird, wenn Jasmyn denkt, sie kann uns mit ihr erpressen, oder sie als Köder verwenden. Wir könnten Hilfe holen, wenn wir erst mal unsere Mission…“ „Es geht schon lange nicht mehr um unsere Mission!“, fuhr ich ihn scharf an. Mikey senkte den Blick. „Sie ist deine Schwester, verdammt!“, giftete Finn Mikey an. Dieser biss sich auf die Unterlippe. „Okay, worauf warten wir noch?“, fragte er unsicher. Ich sah zu Finn.

„Also los. Hat irgendjemand eine Ahnung, in welche Richtung Jasmyn gegangen ist?“ „Elizas Schrei kam von dort!“, sagte Mikey. „Also gehen wir in die Richtung.“ Wir folgten Mikey, der nun vorausging. Irgendwann bückte er sich. „Das hier sind ihre Fußspuren! Und hier die von Eliza. Hier hören Elizas Spuren plötzlich auf!“ Mikey zeigte auf den Boden und setzte sich hin. Er dachte kurz nach, dann betrachtete er Jasmyns Fußspuren. „Eliza kann nicht wegfliegen, also muss Jasmyn sie getragen haben. Das würde auch erklären, warum ihre Abdrücke jetzt tiefer werden!“ Er sprang auf und rannte los.

„Mikey, warte!“, rief Finn ihm hinterher, doch der Junge drehte sich nicht mehr um und verschwand im Unterholz. „Mike!“, schrie ich und lief los. „Komm mit!“, schrie ich Finn an, der immer noch unschlüssig auf der Stelle stand, an der ich ihn zurückgelassen hatte. Jetzt kam auch in ihn Leben. Er zückte sein Schwert und folgte mir sofort.

Während wir Mikeys Spuren folgten, die er im weichen Boden hinterlassen hatte, preschte der ungehindert durch den Wald. „Weit kann sie nicht sein! Dafür ist Eliza zu schwer!“, hörten wir ihn vor uns schreien. Ich drehte mich zu Finn um, der keuchend hinter mir her rannte. „Der Kleine ist zu schnell für uns!“, japste er. „Mikey! Wo bist du? Bleib hier, du bist zu schnell!“, schrie er dann. Ich ignorierte den stechenden Schmerz in meinem Körper, der mich dazu bringen wollte, stehen zu bleiben, und zu verschnaufen. Meine Lunge brannte mit jedem Atemzug.

„Mike!“

Plötzlich konnte ich Mikeys Schritte nicht mehr hören. Ich bemerkte ihn erst wieder, als ich fast in ihn hineingerannt wäre. Er stand vor einem breiten Fluss. „Hier endet die Spur…“, murmelte er. „Wir können sie nicht weiter verfolgen.“ „Und ob wir das können!“, widersprach ich. „Ihr vielleicht, ich nicht!“, sagte Mike ohne weitere Erklärungen und verschränkte stur die Arme vor der Brust. Ich wunderte mich ein weiters Mal über Mikeys Sturheit. „Du Idiot! Nur weil du keine nassen Füße bekommen willst, lieferst du Eliza Jasmyn aus, oder wie ist das?“ Ich packte ihn wütend am Kragen und hob ihn ein Stück vom Boden hoch. „Das würde ich niemals tun!“, schrie er mich an.

„Dann bist du ein Feigling!“, sagte ich. „Bin ich nicht!“ „Und ob du das bist!“ „Nein!“, widersprach er mir scharf. „Dann beweis es mir doch!“ Mikey schwieg. „Feigling. Versager!“, zischte ich ihn an. Ich konnte nicht verstehen, warum Mikey seine Schwester so im Stich lassen konnte. Wenn ich Geschwister hätte, würde ich so etwas nie tun.

 

 

 

 

 

 

 

 

Mikey konnte Kiras Wut verstehen, trotzdem trafen ihn ihre Worte wie Messerstiche. Wie sollte er ihr erklären können, dass er nicht schwimmen konnte, wenn sie so von ihm dachte? Danach würde sie ihn sicher für einen noch größeren Versager halten. Daher wandte er sich von ihr ab. „Mach du es doch. Du kannst ihr ja helfen, wenn du willst!“ „Das werde ich auch! Und du wirst mitkommen, verstanden, Kleiner? Ich müsste mich ja sonst für dich schämen!“, erklärte Kira und schleifte ihn zum Wasser. „NEIN!“ Mikey schrie und trat um sich, er versuchte sich von Kira zu befreien. „Stell dich nicht so an wegen dem bisschen Wasser!“, schimpfte Kira.

Gerade, als sie ihn ins Wasser stoßen wollte, brüllte Mikey: „Ich bin kein Fisch, ich kann nicht schwimmen!“ Kira hielt inne. „Was hast du gesagt?“ Mikey keuchte erschrocken, als ihm bewusst wurde, was er gesagt hatte. „Ist das dein Ernst?“, fragte jetzt auch Finn ihn. Mikey schüttelte den Kopf, doch dann nickte er. „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“, fragte Kira ihn jetzt sanfter.

„I-Ich weiß nicht.“ Kira überlegte kurz. Plötzlich fuhren alle drei herum, als sie auf der anderen Seite des Flusses einen Schrei vernahmen.

„Okay, wir schaffen das schon irgendwie! Wir müssen Eliza retten!“, sagte Finn und packte Mikey. „Nein, ich will nicht ins Wasser!“, schrie der Junge, doch es war zu spät. Finn und Kira hatten ihn bereits in den Fluss gestoßen.

Mikey ging unter, er zappelte wild mit Armen und Beinen, doch er kam nicht mehr an die Oberfläche. In dem Moment packte ihn eine kräftige Hand und zog ihn hoch.

Abwechselnd zogen Finn und Kira ihn hinter sich her. Am anderen Ufer angekommen hatte Mikey so viel Wasser geschluckt, wie noch nie in seinem Leben.

„Du solltest dringend Schwimmen lernen!“, riet Bareen ihm, der nicht weniger Wasser geschluckt hatte. Die drei Kinder husteten und spuckten Wasser, aber schon bald zog Finn sie hoch. „Weiter geht’s! Ihr Vorsprung darf nicht zu groß werden!“ Mühsam rappelte Mikey sich auf und auch Kira war schon wieder auf den Beinen. Finn stürmte ihnen voraus, doch schon nach kurzer Zeit überholte Mikey ihn.

Während Mikey ungehindert durchs Dickicht preschte, hatten Kira und Finn um einiges mehr Probleme. „Ich weiß, wo sie sind! Ich weiß es!“, schrie Mike, ohne sich umzudrehen. Er blieb stehen und sah sich um. Jasmyn hatte eine deutliche Spur hinterlassen. Einen kurzen Moment überlegte Mikey, ob er irgendwie abkürzen könnte, doch er sah bald ein, dass dies unmöglich war. Jasmyn hatte den einzigen begehbaren Weg gewählt. Mikey folgte ihrer Spur.

„Eliza, wir kommen!“ Mikey blieb wie angewurzelt stehen, als er Jasmyns Stimme hörte. „Wir haben es geschafft!“, flüsterte er Finn und Kira zu, die aufgeholt hatten. Keuchend lehnte Mikey sich gegen einen Baum. „Wir haben sie gefunden!“ Er schob einzige Zweige auseinander und warf einen Blick auf Jasmyn und ihre gefangene. Jasmyn hatte Eliza mit irgendetwas die Hände gefesselt und setzte sie gerade auf den Boden – und das nicht gerade zu sanft. „Lass sie in R-…“ Urplötzlich legte sich Finns Hand über Mikes Mund und erstickte den Rest des Satzes. Jasmyn fuhr herum. Mikey wich zurück und stieß dabei an Finn. Kira riss den Bogen hoch und zielte. Sie schoss den Pfeil ab, doch Jasmyn schien das geahnt zu haben und duckte sich. Finn stieß Mikey fort und schnellte aus den Büschen. Er stellte sich in Angriffsposition vor Jasmyn. Kira zögerte nicht und rannte auf Eliza zu. „Mike, das Messer!“ Im selben Moment griff Finn Jasmyn an.

 

 

 

 

 

Jasmyn riss Finns Schwert mit dem Messer hoch und stach nach ihm. Finn wich mit einem Aufschrei zurück. Jasmyn zielte präzise auf die lebenswichtigen Stellen des Körpers: Herz, Lunge und Kopf waren am meisten gefährdet. Doch Finn erkannte sofort Lücken in ihrer Deckung. Als sie auf ihn losging schaffte er es, ihren linken Unterarm zu verletzen. Er sah, dass Kira Eliza inzwischen befreit hatte und sie auf die Beine zog. Dieser schnelle Seitenblick genügte Jasmyn und sie baute ihren Vorteil sofort aus. Sie griff Finn von oben an und dieser riss das Schwert in die Luft, um sich zu verteidigen. Bevor die beiden Waffen aufeinander prallten wirbelte Jasmyn herum und schlug mit dem Messer nach Finns Bein. Finn war nicht schnell genug, das Schwert war zu schwer und zu groß, er konnte den Schlag nicht abwehren und Jasmyn ritzte ihm den Oberschenkel auf.

Mit einem Aufschrei voll Schmerz und Wut täuschte Finn einen Schlag von oben an und durchbrach somit Jasmyns Deckung und als sie versuchte, den Schlag abzuwehren, schlug Finn mit aller Kraft nach ihrem rechten Bein.

 

 

 

 

 

 

Mikey stieß Eliza vorwärts. „Los jetzt!“ Sie folgten Kira, die bereits im Wald verschwunden war. Sie hörten Finn schreien, doch er ignorierte ihn. „Bleib nicht stehen!“, befahl er Eliza, die sich umdrehte. „Müssen wir ihm nicht helfen?“, fragte Eliza. „Mach, dass du verschwindest! Es hat alles keinen Sinn, wenn sie dich wieder schnappt!“, schrie Mikey. „Ich lass nicht zu, dass Jasmyn ihn tötet!“, schrie Eliza wütend und schlüpfte an Mikey vorbei.

„Du denkst immer nur an dich! Immer!“, schrie sie Mikey zu. Mike sah ihr kurz mit offenem Mund nach. Dann sprintete er los. Das Messer zwischen zwei Fingern rannte er auf Jasmyn zu. Wenige Schritte vor ihr bremste er ab und warf das Messer. „Eliza, duck dich!“ Das Mädchen ließ sich auf den Boden fallen und das Messer fügte Jasmyn eine tiefe Schnittwunde am Kopf zu. Finn konnte den Augenblick nutzen und wollte fliehen, doch aus der Wunde an seinem Bein quoll Blut heraus, er strauchelte und fiel hin. Kurz darauf war Mikey bei ihm und half ihm auf. „Wo ist Mathlock?“, fragte Finn. „Die ist weggelaufen!“, knurrte Mikey.

Finn erwiderte nichts. Er stolperte vorwärts und ließ sich von Mikey und Eliza stützen. Irgendwann setzten sie ihn ab. Der Platz war durch herabhängende Äste gut geschützt. Mikey sah sich die Wunde an. „Ich hab keine Ahnung, was wir machen sollen. Es blutet ganz schön stark, aber wir haben nichts zum verbinden!“ Die Rucksäcke hatten sie verloren. Nur Kira hatte ihren noch. „Wir müssen Kira finden!“, sagte Eliza bestimmt. „Vergiss es! Mathlock ist weggelaufen, als wir sie am dringendsten gebraucht haben! Da kannst du hundert Jahre warten, bis ich die suchen gehe!“ Eliza sah Mikey mit so viel Wut und Hass an, dass dieser stutzig wurde. „Du denkst immer nur an dich! Immer! Immer!“ Sie schlug mit den Fäusten auf ihn ein. „Finn ist verletzt und du bist zu stolz, Kira zu suchen, die wahrscheinlich die Einzige ist, die ihm helfen kann!“ Eliza ließ von ihm ab, wich ein paar Schritte zurück, dann setzte sie sich auf den Boden und vergrub störrisch das Gesicht in den Händen. Mikey verdrehte wütend die Augen. „Na gut, ich geh sie suchen. Aber du bleibst hier bei Finn!“, befahl er ihn. „Und wehe, du verschwindest heimlich irgendwo im Wald!“, drohte er ihr. Dann ging er in die Richtung, in der er Kira vermutete.

 

 

 

 

 

Ich war einfach gerannt. Immer weiter und weiter. Erst nach einigen Minuten hatte ich gemerkt, dass mir die anderen nicht gefolgt waren. Jetzt ließ ich mich völlig erschöpft auf den Boden fallen. Mein Rucksack war leicht gewesen, daher hatte es mir keine Schwierigkeiten bereitet, das Tempo durchzuhalten, doch jetzt war ich vollkommen am Ende. Ich öffnete den Rucksack und sah hinein.

Ich riss meine Feldflasche heraus, kaum dass ich sie entdeckte. Schnell riss ich den Deckel herunter. Ich setzte die Flasche an die Lippen und schüttete riesige Schlucke des kalten Wassers in mich hinein.

Kurz darauf war mir grauenhaft schlecht. Erst da erinnerte ich mich daran, was ich mal gehört hatte: Man sollte nach einem langen Lauf nicht zu viel kaltes Wasser auf einmal trinken. Doch diese Einsicht kam leider zu spät, denn kurz darauf machte ich noch einmal Bekanntschaft mit meinem Frühstück und übergab mich in den nächsten Gebüsch.

Als es mir schließlich besser ging trank ich ein paar kleine Schlucke Wasser und packte dann die Flasche weg.

Ich richtete mich auf und zog den Rucksack auf. Ich traute mich nicht, nach meinen Gefährten zu rufen, aus Angst, Jasmyn könnte mich finden.

Den Bogen schussbereit in der Hand machte ich mich dennoch auf die Suche nach ihnen. Es dauerte lange bis ich endlich die erste Spur von ihnen fand: Elizas Haarband hing an den Zweigen eines Busches.

Ich lief weiter und folgte den Fußspuren, die Bareen und die Jovins-Geschwister in dem feuchten Laub, das den Waldboden bedeckte, hinterlassen hatten.

Ich sah Eliza schon von Weiten neben Finn auf dem Boden knien.

„Eliza!“, rief ich ihr zu. Eliza fuhr herum, das Messer in der Hand. „Ich bin’s!“, schrie ich gerade noch rechtzeitig, bevor sie mir das Messer an den Kopf werfen konnte.

Das Mädchen ließ das Messer sinken und winkte mich zu sich. „Du musst mir helfen! Finn ist verletzt!“ „Bin ich nicht!“, widersprach Finn. Ich legte meinen Bogen neben ihn auf den Boden und untersuchte den tiefen Schnitt oberhalb seines Knies. „Was ist denn?“, fragte Eliza und sah mich an. „Ich glaube, die Wunde ist ziemlich tief!“ Ich hatte mal einen erste Hilfe Kurs gemacht, und da das Bogenschießen eine gefährliche Sportart war und sich nicht immer alle an die Regeln hielten, kamen Unfälle oft vor und mein Wissen wurde häufig gebraucht.

„Erstmal müssen wir die Wunde verbinden!“, sagte ich. Wir durchsuchten unsere Rucksäcke, doch außer unseren Jacken fanden wir nichts, was sich geeignet hätte und als wir es mit ihnen versuchten, war das Ergebnis nicht sehr zufriedenstellend.

„Es blutet immer noch!“; wies Finn uns mit schmerzverzerrtem Gesicht auf das rote Rinnsal hin, das von seinem Bein auf den Boden tropfte.

„Hm…“ Ich suchte fieberhaft nach einer Lösung. Schließlich hatten wir jedoch gar keine andere Wahl, als unsere Jacken auseinanderzuschneiden, was gar nicht so einfach war und damit Finns Bein zu versorgen.

Als wir fertig waren machte ich mich auf die Suche nach Kräutern, von denen ich mir sicher war, dass ich sie hier irgendwo gesehen hatte und ich wusste, dass sie Finn helfen würden. Es dauerte lange bis ich auf sie stieß: Die kleinen, hellblauen Blüten verrieten sie und erinnerten mich an ihren Namen: Himmelsglück. „Glück für die, die nicht so schnell in den Himmel wollen!“, dachte ich und lachte. Die Pflanze gab es erst seit wenigen Jahrhunderten. Zu der Zeit, als Europa noch existierte, hatte es sie noch nicht gegeben.

Ich riss die länglichen, dünnen Blätter ab und ging wieder zurück zu Finn und Eliza. „Wo ist eigentlich dein Bruder?“, wollte ich von der kleinen Jovins wissen. „Der ist auf der Suche nach dir!“, antwortete Eliza. „Der wird schon wiederkommen. Mach dir keine Gedanken!“, fügte sie hinzu.

Ich zerriss die Blätter, schnitt sie dann noch kleiner, damit der Saft besser austrat. Ich erkannte schnell, das ich so nur meine Zeit verschwendete: ich hatte kein Gefäß, mit dem ich den Sanft auffangen konnte. Also gab ich Finn die Blätter und befahl ihm, auf den Blättern herumzukauen.

Er verzog angeekelt das Gesicht, wehrte sich jedoch nicht. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der den Saft freiwillig getrunken hatte. Entweder war Finn nicht von der Sorte, die sich sträubte, oder seine Schmerzen mussten wirklich groß sein. Vielleicht auch beides.

Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf. Ich machte mir Sorgen um ihn. Nicht, weil ich ihn besonders mochte, für mich war er so, wie die Anderen auch, nur nicht ganz so lästig. Ich hatte eher Angst davor, dass er starb und mich mit den beiden Kleinen zurückließ.

Auch Eliza schlief schon bald tief und fest. Irgendwann gegen Mitternacht kam Mikey zurück. „Da bist du ja. Wie ich sehe, hast du dich schon um Finn gekümmert…“, murmelte er. Dann gähnte er herzhaft und ohne ein weiteres Wort zu sagen, legte er sich zu Eliza, kuschelte sich zu ihr unter die Decke und schlief ein.

Da sich die Beiden im Schlaf um die Decke zankten, holte ich irgendwann Mikeys Decke aus dem Rucksack und deckte Eliza damit zu,

Finn warf sich im Schlaf unruhig hin und her und ich hatte mehrere Male Angst, von einem seiner Ellenbogen getroffen zu werden. Auch vor seinen Händen und Füßen musste ich mich in Acht nehmen.

Irgendwann schlief auch ich ein und erwachte erst wieder davon, dass Finn im Schlaf irgendetwas schrie. Kurz darauf war er wieder still, doch ich kroch trotzdem zu ihm, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Sein Gesicht glühte und ich befürchtete, dass er Fieber hatte.

Doch im Moment konnte ich ihm sowieso nicht helfen. Am nächsten Morgen, so beschloss ich, würde ich mich auf die Suche nach weiteren nützlichen Kräutern machen. Irgendwo in einem Buch hatte ich einmal eine Pflanze gesehen, die das Fieber senken konnte, ich musste sie nur noch finden…

 

 

Es war schon sehr spät, als ich aufwachte. Eliza und Mikey schliefen noch, Finn dämmerte vor sich hin. Ich wollte mich auf die andere Seite rollen und weiterschlafen, doch ich wusste, dass ich jetzt andere Pflichten hatte.

Mit meinem Bogen und einem Messer bewaffnet schlich ich auf der Suche nach der Pflanze, deren Namen ich leider nicht mehr kannte, durchs Unterholz.

Ich fand sie nicht. Als ich nach einigen Stunden frustriert und traurig, weil ich Finn nicht helfen konnte, zurückkam, war der bereits wach und Mikey saß um ein kleines Feuer, das er aus nassen Zweigen gemacht hatte. Es rauchte unglaublich stark. „Ich rannte auf ihn zu und trat wütend das Feuer aus.

„Verdammt, kannst du nicht nachdenken, Jovins?“, schrie ich ihn an. „So wie das Feuer qualmt hätte Jasmyn uns innerhalb einer halben Stunde gefunden!“ Mikey zuckte zurück, als hätte ich ihn geschlagen, obwohl ich noch nicht mal die Hand gehoben hatte. Doch ich musste zugeben, dass ich das am liebsten getan hätte.

Von meinem Geschrei wachte Eliza auf und als sie Mikey sah, mit Tränen in den Augen und völlig verschreckt, begann auch sie zu weinen. Ich fühlte mich miserabel. Außerdem war ich unglaublich neidisch auf Mikey. Er hatte eine Schwester, die alles für ihn riskierte, und er tat dasselbe für sie. Eine Schwester, die weinte, wenn er weinte, noch bevor sie wusste, wieso. Am liebsten hätte ich selbst angefangen, zu heulen. „Kira!“ In Finns Stimme schwang Vorwurf mit. Zu viel Vorwurf. Ich fuhr herum. „Was?!“ Ich brüllte das Wort geradezu heraus. „Was ist?!“ Ich schrie so laut ich konnte, weil ich einfach nur noch schreien wollte. „Weißt du eigentlich, wie ich mich fühle?! Oder ist dir das egal, Bareen?“

Ich spürte, wie meine Beine nachgaben und ich auf den Boden fiel. Meine Tränen ließen nicht lange auf sich warten. „Tut mir Leid…“ Ich flüsterte nur, doch ich war mir sicher, dass Mikey es gehört hatte, oder es wenigstens erahnen konnte. „Tut mir Leid, okay?“ Ich stand auf und reichte ihm die Hand. Der Kleine nahm sie zögerlich. Eliza wischte sich die Tränen ab und kam zu mir. Sie drückte sich an Mikey, doch plötzlich fiel sie mir um den Hals. Ich umarmte sie zögerlich und strich ihr vorsichtig durchs Haar. „Können wir nicht alle Freunde sein?“, fragte sie mich.

Tja, wenn sie wüsste… Doch sie war noch zu klein, um die vielen verschiedenen Gefühle zu verstehen, mit denen man andere betrachten konnte. Sie war so unschuldig. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie so etwas wie Eifersucht kannte. Ganz zu schweigen von dem Hass, den ich empfand, wenn ich an Thoron dachte.

Doch trotzdem musste sie etwas haben, was wir alle anderen nicht hatten, sonst hätte sie es nicht auf diese Mission geschafft.

Ich ging zu Finn hinüber und gab ihm noch eine Decke. Er sah nicht sehr schwach aus, jedenfalls ließ er es sich nicht anmerken, doch er war blass und man merkte, dass er sich nur mit Mühe hinsetzen konnte. Plötzlich war ich wütend auf ihn. Wie konnte er mich in so einer Situation nur mit den beiden Kleinen allein lassen? Ich bräuchte jemanden, der mir hilft, mir zu Seite steht, jetzt wo die Chance, dass ich Tim jemals wiedersehen würde, gleich null war. Er war keinesfalls mit auf die Mission geschickt worden, um mich in einem Chaos der Gefühle allein zu lassen.

Ich hätte ihm das am liebsten an den Kopf geworfen, doch ich dachte daran, dass er nicht mein langjähriger Freund Tim war und das womöglich völlig falsch aufgefasst hätte.

Trotzdem verschleierten mir die Tränen die Sicht. Heute war einfach nicht mein Tag.

Bevor Finn etwas merken konnte, hielt ich ihm wortlos unsere letzte Wasserflasche hin und stolperte dann zu meinem Rucksack. Ich kramte wie wild darin herum, auf der Suche nach etwas nützlichem, was mir helfen konnte, oder mich einfach nur an Zuhause erinnerte.

Als ich wieder klar sehen konnte, sah ich, dass ich Jasmyns Messer in der Hand hatte. Das hatte nichts mit meinem Zuhause zu tun, und konnte mir auch eigentlich keine Hoffnung geben. Um mich zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass ich mir gerade sicherlich NICHT die Pulsadern aufschneiden wollte, begann ich, damit meine Fingernägel zu säubern.

 

 

 

 

 

Eliza beobachtete Kira aufmerksam. Kira war ein seltsames Mädchen. Vom einen auf den anderen Augenblick änderte sie ihre Meinung, ihre Stimmung, ihr gesamtes Wesen. Es war, als wäre Kira in viele verschiedene Teile gespalten, und Eliza hätte nur einen von vielen kennengelernt. Während Kira ihre Fingernägel säuberte wanderte Elizas Blick weiter zu ihrem Bruder. Er saß an einem neuen Feuer, das er diesmal mit trockenen Ästen in Gang gebracht hatte, immer darauf bedacht, dass es nicht zuviel rauchte.

Er stocherte mit einem Stock in der Glut, kleine Flammen züngelten empor und malten auf seinem Gesicht gespenstische Schatten. Einen Augenblick hatte Eliza das Gefühl, sie säßen im Camp, um das Lagerfeuer herum. Mike erzählte ihr Geschichten von ihren Eltern, von der grau getigerten Katze, die in ihrer Nachbarschaft gelebt hatte, von den bunten Blumen in ihrem Garten, oder von den gemütlichen Winterabenden, an denen sie im Wohnzimmer saßen, Mikey und Eliza mit ihren Bauklötzen in der Hand, am Kamin. Sie spielten und sahen nach draußen, wo es in Strömen regnete. Mikey konnte Sachen so farbenfroh und lebendig beschreiben, dass Eliza das Gefühl hatte, alles noch einmal zu erleben. Einen Augenblick war alles perfekt. Dann erloschen die Flammen und der Augenblick war vorbei.

„Mikey…“ Mikey drehte sich zu ihr um. „Erzählst du mir eine Geschichte? Von früher?“ Um sie herum war es plötzlich ganz still geworden. Kira hatte aufgehört ihre Nägel zu säubern, Finn schielte zu ihnen herüber.

„Was für eine möchtest du denn hören?“, wollte Mikey wissen. Er hatte Eliza oft Geschichten erzählt: Jeden Abend vor dem Schlafen gehen, wenn sie krank war kam er oft sogar früher von der Schule nach Hause, indem er vortäuschte, krank zu sein, um seiner Schwester Geschichten zu erzählen. Sie hatten dann im Bett ihrer Eltern gelegen, sie, Eliza, die wirklich Fieber hatte und krank war, und Mikey, der quietschfidel war, und oft hatten ihre Eltern heimlich an der Tür gelauscht, denn immer wieder hatte Eliza sie kichern hören und seinen Vater hatte ihn abends beim Essen leicht tadelnd gefragt, ob es ihm schon wieder besser ging und er am nächsten Tag in die Schule könne.

„Eine Neue. Irgendwas, das ich noch nicht kenne.“ Eliza sah ihn so bittend an, dass Mikey schließlich gar nicht anders konnte. Eliza sah, dass er lange überlegte, bevor er mit dem Erzählen begann. Auch Kira und Finn hörten zu, doch sie ließen es sich nicht anmerken.

„Kannst du dich an den kleinen Teich erinnern, den wir im Garten hatten?“ „Nein…“ „Er war nicht tief, doch eines Tages bist du einmal hineingefallen. Du hast dich nicht mehr in seine Nähe getraut, doch ich wollte unbedingt hin, also bist du hinter mir hergelaufen. Wir haben die schillernden Goldfische gejagt und du hast vor Freude gequietscht, wenn du einen mit den Fingern leicht erwischt hast.“ „Wie sahen die Goldfische aus?“ Eliza hatte es sich angewöhnt, bei den kleinsten Details Zwischenfragen zu stellen. Mikey dachte nicht lange nach.

„Sie schillerten im Wasser, als wären sie aus echtem Gold. Abends, wenn wir auf der Terrasse saßen, haben wir ihre Schuppen im Mondlicht gesehen, wenn sie an die Oberfläche geschwommen sind, um nach Insekten zu schnappen. Jedes Mal hast du dich gefreut.“

Eliza schwieg und versuchte, es sich wieder vorzustellen.

„An dem Tage saßen wir am Teich und haben hineingeschaut. Du hast wieder deine Finger hineingestreckt, um die Fische zu fangen, doch du hast keinen erwischt. Irgendwann ist direkt vor dir, auf der Hand, die du im Wasser hattest, ein großer, blauer Schmetterling gelandet. Und weißt du, was du gerufen hast?“ Eliza schüttelte den Kopf. „Fisch! Du hast laut „Fisch“ gesagt. Erst ein, zwei mal „Fiss“, beim dritten Mal hast du es dann geschafft. „Fisch“ war dein erstes Wort und du hast dich gefreut, wie ein Honigkuchenpferd.“

Eliza schloss die Augen und versuchte sich an den Tag zu erinnern. Undeutlich sah sie bunter Blumen vor sich.

„Die Blumen am Teich waren rot. Nicht wahr, Mike?“ Mikey nickte. „Ja, rot, und gelb, und orange. Wir hatten Tulpen im Garten, neben dem Teich wuchsen Rosen, und Sonnenblumen weiter hinten im Garten. Am Rand war ein alter, rostiger Zaun, der unser Grundstück eingrenzt hat und wir waren oft da, doch der Zaun hat dich nicht abgeschreckt. Du hast immer, wenn jemand vorbeikam, die Finger rausgestreckt, als würdest du versuchen, ihn festzuhalten. Und dann hast du gelacht, ganz laut.“

Eliza konnte sich wieder daran erinnern. Damals hatte sie noch geglaubt, nichts in der Welt konnte je passieren, was sie von diesem verzauberten Ort wegbringen konnte. Bis ihre Eltern starben.

 

 

 

 

 

Finn hatte Mikey die ganze Zeit stumm zugehört. Es erinnerte ihn an seine eigene Geschichte, doch er hätte nie gedacht, dass Mikey ihm einmal so ans Herz wachsen würde. Der Kleine konnte Geschichten mit so unglaublicher Fantasie erzählen. „Und was war dann?“, hörte Finn sich plötzlich sagen. Er zögerte, als sich alle zu ihm umdrehten. „Was habt ihr noch gemacht? War euer Garten sehr groß?“

Mikey schien einen Moment unsicher zu sein, dann murmelte er: „Ich kann mich nicht daran erinnern. Wir sind schon zu lange hier. Und ich war noch zu klein. Da war ein großer Kirschbaum und neben an hatte ein Mädchen namens Xenia-Eileen gewohnt. Sie hatte blonde, glänzende Haare, die sie immer zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Jedenfalls glaube ich das. Sie war ein Jahr älter als ich, aber sie trug immer eine blaue Latzhose und wir hatten alle viel Spaß miteinander.“

Einen Moment schwieg Mikey, dann wandte er sich an Eliza. „Kannst du dich noch an sie erinnern, Eliza?“ Eliza antwortete eine Zeit lang nicht. Dann begann sie zögernd: „Der Zaun war aus grünem Maschendraht und ihr habt immer versucht, mich in den Garten rüberzuheben, weil ich nicht wie du rüberklettern konnte. Und einmal habt ihr dabei meine Hose kaputt gemacht.“ „Die gelbe Leggins, mit den schwarzen Streifen.“ Mikey nickte. „Ich kann mich noch dran erinnern.“

Finn hatte ihnen regungslos zugehört und erst da fiel ihm ein, dass auch er sich kaum an zu Hause erinnern konnte. Er schielte zu Mathlock, doch sie verbarg ihre Erinnerungen hinter einer starren Maske. Er hätte gern etwas über sie erfahren, doch er wollte sie nicht darauf ansprechen. Die meisten im Camp hatten keine schöne Kindheit gehabt, auch wenn Kira relativ neu war, bezweifelte Finn nicht, dass auch sie nicht gern an die Vergangenheit dachte.

Vielleicht musste er erst etwas über sich erzählen, um sie aus der Reserve zu locken, doch er konnte sich nicht erinnern. Er war vor etwa drei Jahren hier gelandet, nicht weil er ein begabter Kämpfer war, sondern weil seine Eltern ihn und seine Geschwister sonst nicht mehr hätten ernähren können. Sie waren so oft umgezogen, dass Finn nicht wusste, welches Zuhause er beschreiben sollte. Außerdem hatten sie keinen Garten gehabt, wie die anderen. Sie waren von einer Wohnung in die nächste gezogen, sie waren immer ärmer geworden und Finns Vater hatte keine neue Arbeit mehr gefunden.

Finn verbot sich, weiter zu denken. Es würde ihm nichts helfen, an sein altes zu Hause zu denken, an seine Familie. Schließlich würde er sie nie wieder sehen.

Er wollte es auch nicht. In der Kampfschule ging es ihm so viel besser. Früher hätte er nicht einmal gewagt, von so einer Ausbildung zu träumen. Doch je länger er darüber nachdachte, umso mehr erinnerte er sich an alles. Und irgendwie musste er Vertrauen zwischen ihnen schaffen. Eliza und Mikey hatten ihre Geschichte erzählt. Kira machte den Mund nicht auf. Jetzt war er an der Reihe.

 

 

 

 

 

Ich hatte nur mit einem halben Ohr zugehört. Ich versuchte, so zu tun, als wäre ich schwer beschäftigt. Ich hatte beobachtet, dass Bareen mich kurz angesehen hatte. Doch ich wollte nicht den Anschein erwecken, dass auch ich nach so kurzer Zeit, die wir zusammen verbracht hatten, aus dem Nähkästchen plaudern würde. Doch die Geschichten waren unglaublich spannend und ich lernte so einiges über meine Mitstreiter. Umso schwieriger wurde es, wegzuhören, als Finn seine Geschichte erzählte. Irgendwann gab ich auf. Ich musste einfach mehr über sie erfahren. Sie waren das einzige, was ich hatte.

Und so lernte ich Finn kennen, den ältesten von sieben Geschwistern, der sein Leben lang seine jüngeren Geschwister beschützt hatte, den Jüngeren seine Essensration abgegeben und so oft den Wohnort gewechselt hatte, dass er sich kaum noch an eine der vielen Wohnungen erinnern konnte.

„Meine Eltern wussten nicht, was sie tun sollten. Meine beiden jüngsten Schwestern waren Zwillinge. Sie hießen Marie und Jana. Sie müssen jetzt ungefähr fünf Jahre alt sein. Es ist nicht so einfach, so viele kleine Mäuler zu stopfen. Dann war da noch Luis. Der perfekte Name für ihn wäre eigentlich Dicki gewesen. Er war mit Abstand der Kräftigste von uns, verlangte immer nach mehr und aß mehr als wir alle zusammen. Doch was kannst du schon tun, als großer Bruder, als Vater oder Mutter?“ Finn sah uns alle der Reihe nach an. „Irgendwann aß ich nichts mehr zu Mittag, ich gab mein Essen gleich an Luis weiter. Doch ich hatte noch drei weitere Geschwister.“

Einen Moment lang schwieg Finn. „Über Jan kann ich euch nur wenig erzählen. Er ging in die erste Klasse und war nur am Lesen. Er redete nicht. Nur sehr selten. Er ging auch nicht raus. Eigentlich tat er jeden Tag dasselbe. Schule, Essen, Lesen, Schlafen.“ Finn machte wieder eine Pause, als ob er seine Worte auf uns wirken lassen wollte.

„Mona war mit Sicherheit eins von diesen Kindern, die aus der Schule nach Hause kommen, keine Hausaufgaben machten, etwas essen und dann rausgehen, um am Abend völlig verdreckt und noch hungriger nach Hause zu kommen. Doch das mit den Hausaufgaben war kein Problem. Für ihre damals sieben Jahre war sie unglaublich schlau. Sie war schon in der dritten Klasse, hatte eine übersprungen.“ Finn schluckte kurz. Dann nahm er einen Schluck Wasser aus der Flasche. Jetzt schien ihm das Reden schwerer zu fallen. Ich wusste nicht, ob das am Fieber lag oder an schlimmen Erinnerungen, die hochkamen.

„Thomas war das genaue Gegenteil von ihr.“ Finn schwieg und starrte auf einen Mistkäfer, der langsam seiner Wege kroch. „Thomas war in der vierten Klasse. Er war nur ein Jahr jünger, als ich. Ich kann mich an diesen einen Tag genau erinnern, deshalb werde ich es jetzt so machen, wie Mikey. Ich werde euch von diesem einen Tag alles erzählen, an das ich mich erinnern kann. Ich glaube, dass dieser Tag sehr viel über mich aussagt. Ich glaube, dass ich guten Gewissens behaupten kann, dass er mein ganzes Leben veränderte…“ Wieso hatte ich das Gefühl, dass ich nichts von diesem einen Tag wissen wollte? Ich wurde unruhig. Finn konnte die Geschichten lange nicht so gut erzählen, wie Mikey, doch mit Sicherheit war seine Kindheit eine der Schlimmsten gewesen.

Nervös riss ich einzelne Grashalme aus dem Boden und wartete darauf, dass Finn weiter sprach.

„Eigentlich beginnt die Geschichte schon einige Tage vorher. Am Abend war Thomas in mein Zimmer geschlichen gekommen und hatte mir erzählt, dass sie am nächsten Tag ein Diktat schreiben würden. Ich hatte ihm angeboten, mit ihm zu üben und er hatte das Angebot dankbar angenommen. Ich hatte ihm viele Sätze diktiert, doch er konnte sich nicht merken, dass man „gibt“ nicht mit ie schreibt, „Vater“ ohne H nach dem A und Groß- und Kleinschreibung beherrschte er auch nicht. Er konnte sich auch die Kommaregeln nicht merken. Als ich das Übungsdiktat korrigierte, hatte er sich kein bisschen verbessert. Zehn Fehler. Trotzdem entließ ich ihn am Abend und wünschte ihm für den nächsten Tag viel Glück.

Als er von der Schule kam und ich ihn fragte, wie es gelaufen sein, meinte er nur Schulter zuckend: „Ganz gut.“ Ich weiß nicht, warum er damals nicht ehrlich zu mir war.“ Finn wartete wieder kurz. Wenn ich nicht dass Gefühl gehabt hätte, dass es Finn zutiefst verletzen würde, wäre ich aufgesprungen und davongerannt. Ich wollte diese ganzen Kindheitserinnerungen nicht hören, nicht, wenn sie, wie Finn gemeint hatte, das ganze Leben veränderten. Ich kannte solche Erinnerungen zu gut. Man denkt, alles wäre in Ordnung, und von einem auf den nächsten Tag war die Welt zerstört.

„Vier Tage später kam Thomas nicht von der Schule nach Hause.“ Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und ich konnte mir vorstellen, was passiert war. Hatte ich nicht auch immer schlechte Noten geschrieben? Ich kannte das Gefühl genau. Wie damals, als mir nach der vierten Klase gesagt wurde, dass meine Leistungen nicht einmal für die Realschule reichen würden. Ich war, kurz gesagt, zu schlecht. Nicht gut genug. Und dann kamen noch die Probleme mit meinen Eltern hinzu. Ich war weggelaufen, da ich den Druck nicht mehr aushalten konnte. Doch was tun Kinder, die nicht weglaufen könne? Die dem Druck nicht standhalten, aber im Wald nicht überleben können?

„Wir suchten ihn den ganzen Tag. Irgendwann rief ich bei seinen Klassenkameraden an. Er war bei keinem zu finden. Ich hatte auch nicht damit gerechnet. Thomas hatte nie viele Freunde gehabt. Irgendwann fragte ich also das, was ich eigentlich wissen wollte: „Habt ihr das Diktat zurückbekommen?“

Ich kann mich genau an den Satz erinnern, und wie der kleine Junge am anderen Ende der Leitung mit „Ja“ antwortete.

Genauso gut kann ich mich daran erinnern, dass meine Eltern in der Schule waren, als Thomas am Abend nicht aufgetaucht war. „Er hat wieder eine sechs geschrieben.“ Ich weiß noch, dass mein Vater mich dabei traurig angesehen hatte. „Also wird er dieses Jahr nicht versetzt.“ Das hatte ich mir damals gedacht, doch das war nicht wichtig.“

Finn schwieg und an seiner Nase lief eine Träne entlang. „Am Abend riefen wir die Polizei.“

Ich sah zu Eliza und Mikey und fragte mich, ob es wirklich gut war, wenn sie diese Geschichte hörten.

„Sie fragten uns so viel unwichtiges Zeug!“ Finn schien aufgebracht zu sein. „Wie alt genau er war, ob er Freunde hätte, seine Hobbys, seine Lieblingsplätze. Ich weiß noch, dass ich ausgerastet bin vor Wut, als die Polizisten zwei Stunden später immer noch nicht mit der Suche begonnen hatten. Meine Mutter hat mich in mein Zimmer gesperrt und ich habe geweint, bis ich eingeschlafen bin. Am nächsten Morgen bin ich nicht aufgestanden. Ich bin nicht zur Schule gegangen. So war ich dabei, als die Polizei gegen halb elf Morgens kam.“ Finn schluchzte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er wischte sich schnell die Tränen weg. „Sie sagten uns, dass er tot war. Schon seit zwei Tagen. Scheinbar war es ein Unfall gewesen. Er war von der Brücke „gefallen“.“ Finn schnaubte wütend. „Aber das ist nicht wahr. Thomas war immer sehr geschickt gewesen. Außerdem war er klein gewesen. Er war keine zehn Jahre alte gewesen, nicht einmal 1,40 Meter. Und das Geländer der Brücke war 1,10 hoch.“

Finn tat mir in dem Augenblick so Leid, dass ich, zeitgleich mit Mikey und Eliza aufsprang und ihn umarmte.

„Erst seine Freude darüber, dass ich mich ihm lernen wollte. Dann dennoch die sechs im Diktat. Dann kam er nicht nach Hause. Das kann doch kein Zufall gewesen sein!“, Finn schluchzte. „Es hilft mir nichts, daran zu denken, dass er es selbst so gewollt hat. Er war erst zehn. Er wusste doch gar nicht, was er tat!

Er wollte sowieso Gärtner werden, dafür braucht man doch kein Mathe, kein Deutsch und auch erst recht kein Englisch!“

Eine Weile lang saßen wir nur neben ihm und hielten ihn fest. Und das erste Mal hatte ich das Gefühl, dass wir einander brauchten. Ich hatte nie mit jemandem über mein Leben geredet. Und ich hatte das Gefühl, dass es Finn genauso ging.

Ich wusste nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür war, doch jetzt war auch bei mir das Eis geschmolzen und ich erzählte ihnen einfach alles: Wie sich meine Eltern getrennt hatten, die Streitereien um mich, mein Ausreißen. Anfangs nur stockend und unsicher, doch bald merkte ich, dass sie mir zuhörten und die Geschichte wirklich hören wollten.

„Was werden wir jetzt tun?“, fragte Mike plötzlich. „Wir werden unsere Mission erledigen?“ Es klang eher nach einer Frage, als nach einem Beschluss, obwohl ich meine Stimme nicht dazu aufgefordert hatte. Ich sah dass als Zeichen, dass ich das eigentlich nicht wollte. „Wieso sollten wir das? Was ist mit Jasmyn?“ Finn schien etwas wütend zu sein. Er schluchzte noch immer etwas, doch jetzt wischte er sich trotzig die Nase mit dem Ärmel ab.

„Die müssen doch gewusst haben, dass mit der etwas nicht stimmt. Wer weiß, vielleicht hatte sie ihre Befehle sogar von ihnen!“ Das erschien mir gar nicht so unwahrscheinlich. Ich bezweifelte aus irgendeinem Grund, dass Jasmyn von allein auf die Idee gekommen wäre, uns umbringen zu wollen. Außerdem kam es öfter vor, dass ein Kind in einer Gruppe dazu aufgefordert wurde, die Mission der anderen zu erschweren, oder zu verhindern. Das brachte den Überlebenden mehr Ruhm und machte die ganze Sache interessanter.

Jedenfalls sahen das die Prüfer so. Manche Kinder wurden sogar nur aus Langeweile auf Missionen geschickt. Und irgendwo saßen die Leute zu Hause auf ihrer Couch und schlossen Wetten ab, wer zurückkommen würde und wer nicht, ob sie die Mission erfüllen könnten, und so weiter

„Was sonst?“, fragte Mikey zögerlich. In mir keimte eine Idee auf. „Was haben wir dort, was wir nicht auch hier haben?“ fragte ich. Die Blicke der Anderen schossen zu mir herum. „Wie meinst du das?“ „Wir könnten hier im Wald leben. Das würde niemanden kümmern.“ Jetzt schien auch Finn meine Idee begriffen zu haben. „In drei Wochen wird kein Hahn mehr nach uns krähen!“, sagte er aufgeregt. „Sie werden uns vergessen, unsere Aufgabe auch. Der Weg bis zu dem Punkt, an dem wir angeblich „weitere Anweisungen“ bekommen sollen, ist nicht so weit gewesen, in spätestens zwei Tagen wären wir am Ziel! Doch wenn wir uns dann nicht dort befinden…“ „...dann muss uns unterwegs wohl etwas passiert sein!“, rief Mikey. „Vielleicht hat Jasmyn es geschafft uns umzubringen…“ „Und was, wenn sie dort aufkreuzt und sagt, dass sie uns nicht getötet hat?“, fragte Eliza. „Dann wurden wir von Wölfen gefressen, sind erfroren oder ertrunken, oder haben uns das Genick gebrochen, weil wir zu blöd waren, von steilen Hängen oder morschen Ästen wegzubleiben!“, meinte Finn. Mikey lachte.

„Das war eine tolle Idee, Kira!“ Er drehte sich zu mir um. „Kira?“ Ich blieb still. Erst jetzt hatte ich nämlich den Haken meiner Geschichte begriffen. „Wir werden unsere Freunde nie wieder sehen.“ Die anderen drei Kinder verstummten. „Keinen von ihnen. Was soll dann aus ihnen werden? Sie werden traurig sein, wenn sie denken, wir wären tot!“ Meine Stimme klang verzweifelt. Was sollte aus Tim werden? Er würde nicht begreifen, wie ich ihn zurücklassen konnte. Ich würde es an seiner Stelle selbst nicht begreifen. Ich hatte ihm versprochen, zurückzukommen. Und Jannis? Würde er für die nächste Mission ausgewählt werden? Würden sie seinen Trick durchschauen oder würde es ihm wieder gelingen, sie zu täuschen? Und auch Cray zählte ich inzwischen zu meinen Freunden.

Nein, ich konnte sie nicht mit dem Gedanken zurücklassen, dass ich irgendwo tot tief unten auf dem Grund eines Flusses lag, oder in den Tiefen eines Abgrundes verschollen war.

„Wir gehen zurück. Und verabschieden uns von ihnen.“ Mikey sagte das so leise, dass ich es kaum mitbekam. Neben mir schnaubte Finn verächtlich. Ich fragte mich einen Moment lang, ob wir uns eigentlich alle hassten, doch ich fand keine Antwort auf meine Frage. Wirklich nicht.

„Was, wenn sie uns kriegen? Oder, wenn unsere Freunde keine Freunde sind und uns verraten? Sie müssten es nicht einmal mit Absicht tun, sich nur einmal versprechen, versuchen, jemanden zu trösten, der auch traurig über unser Verschwinden ist. Wir können uns ihnen nicht zeigen.“ Finn verschränkte die Arme vor der Brust. Ich schloss einen Moment lang die Augen. „Finn hat Recht. Aber ich finde, wir sollte es trotzdem wagen, wenigstens zurückzugehen. Ich kenne einen Ort, an der Seite des Zauns, die zum Dorf führt, an der uns niemand sehen wird! Aber trotzdem werden wir unsere Freunde sehen, weil wir den Weg, der zum Bad führt im Blick haben. So können wir sie wenigstens noch einmal sehen!“, schlug ich vor.

Die anderen Kinder überlegten eine Weile.

„Wovon sollen wir leben?“, fragte Eliza. Ich empfand das beinahe als Beleidigung. Schließlich war ich auch noch da. Doch ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Nicht jetzt, wo wir alle so aufeinander angewiesen waren. Ich hatte das Gefühl, dass wir noch lernen mussten, miteinander auszukommen.

Und es würde gar nicht so einfach werden. Doch jetzt musste ich erst einmal Eliza beruhigen, der nicht ganz wohl bei dem Gedanken zu sein schien, zu verhungern. Mir auch nicht, aber ich konnte ja jetzt nicht die Flinte ins Korn werfen und aufgeben. Ich musste jetzt Selbstbewusst sein und ihnen weismachen, dass mein Plan funktionieren würde.

Empört zwickte ich sie in den Bauch: „Wir haben bis jetzt auch durchgehalten. Ich werde schon für uns sorgen.“

„Und was ist mit Finn? Er braucht einen Arzt!“, widersprach Mikey und sah mich an. „Ich finde Kiras Idee super“, sprang Finn mir da unerwartet zur Seite. „Wir müssen uns ihnen nicht zeigen, aber ich möchte sie wenigstens noch mal sehen. Und es geht mir schon viel besser. Bald kann ich laufen!“ Finn sah uns fest überzeugt an, doch ich lachte und boxte ihn in die Schulter. „Mach mal halblang, ein bisschen musst du dich schon noch schonen!“ Trotzdem packte ich die Karte aus und begann mit Mikeys Hilfe unseren Rückweg zu planen.

Kaum dass Finn wenige Tage später ein paar Schritte laufen konnte, packten wir alles, was wir noch hatten, zusammen und brachen auf. Nach ungefähr zehn Minuten begann Finn zu humpeln, später hüpfte er auf einem Bein und wenige Schritte später machten wir Pause. „Es ist nicht wirklich schlau, wenn du dich überanstrengst!“, sagte ich streng und machte ihm einen neuen Verband um das Bein.

„So schlimm ist das nicht!“, sagte Finn und winkte ab. Ich zog eine Augenbraue hoch, dann schnürte ich meine Jacke mit einem Ruck enger um sein Bein. „Au!“ Es war einfach amüsant, wie schnell Finn sich selbst widersprechen konnte. Vielleicht war es auch einfach nur lustig, wie er gequietscht hatte, denn Eliza und Mikey fielen vor lachen fast um. Auch ich musste grinsen, während Finn versuchte, eine verächtliche Miene zu bewahren, doch das hielt er nicht lange durch. Unser Lachen war so ansteckend, dass wir bald alle lachend auf dem Boden lagen.

Ich genoss es, einmal so ausgelassen zu sein. In der letzten Zeit gab es in meinem Leben so wenig Platz für Spaß, dass ich jetzt gar nicht mehr aufhören wollte, zu lachen.

Doch irgendwann wurde es dunkel und ich wusste, dass wir morgen früh aufbrechen mussten.

Daher gab ich Mikey und Eliza die Anweisung, ins Bett zu gehen und gab Finn eine Flasche, damit er trinken konnte, falls er nachts wach werden würde.

 

 

Am folgenden Morgen standen wir auf und liefen wieder los. Bald fing Finn wieder an zu humpeln und wir mussten rasten. Ich sammelte Äpfel und andere Früchte, außerdem fand ich einige Bucheckern und andere Nüsse.

Als es Finn etwas besser ging, gingen wir wieder los, immer in dieselbe Richtung, bis Finn nicht mehr konnte.

So ging das den gesamten Tag. Und den Tag darauf. Dann beschlossen wir, einen Tag Pause zu machen und starteten zwei Tage später erneuet.

Seit wir zu unserer Mission aufgebrochen waren, war erst eine Woche vergangen. Ich wunderte mich, warum mir die Zeit so kurz vorkam. Wir hielten wieder an und da wir seltsamer Weise alle hundemüde waren, gingen wir am nächsten Tag erst gegen Nachmittag los. Als es dunkel war, rasteten wir wieder, doch ich konnte nicht schlafen. „Bald bin ich wieder bei meinen Freunden!“, dachte ich. „Auch wenn ich nicht mit ihnen reden kann.“ Allerdings war mir das egal. Sie wiederzusehen war mehr, als ich mir jemals erhofft hatte.

 

 

Gegen Mittag packten wir unsere Sachen und krochen weiter durchs Unterholz. Jetzt kamen wir nur noch langsam voran, vor allem, als wir an den Fluss kamen und sich herausstellte, dass auch Eliza nicht schwimmen konnte. Erst halfen Finn und ich Mikey auf die andere Seite des Flusses, wobei ich mich mehr um Finn kümmern musste, als um Mikey, Eliza brachte ich dann allein ans sichere Ufer.

Wir legten uns ins Gras, ich ging jagen und kam ohne Fleisch, jedoch mit einer Menge wilder Erdbeeren zurück. Wir aßen noch einen Hasen, den ich einige Tage zuvor geschossen hatte.

Finn schien die Bewegung gut zu tun, er konnte immer länger laufen und die Wunde blutete schon lange nicht mehr. Bald konnten wir auch über unwegsames Gelände klettern und irgendwann begann auch er, Eliza zu tragen, wenn sie nicht mehr konnte.

Ich zählte die Tage, die wir unterwegs waren, an den Fingern ab. Irgendwann reichten meine Hände nicht mehr. Tag Nummer elf und wir waren noch viele Kilometer vom Camp entfernt.

„Bei diesem Schneckentempo kommen wir nie an!“, meckerte ich. „Und wenn, dann sind wir so alt, dass uns unsere Freunde sowieso nicht mehr erkennen!“

Mikey warf mir einen bösen Blick zu und als Eliza das sah, tat sie es ihrem großen Bruder gleich.

 

Es war immer das gleiche Spiel. Wir liefen durch den Wald und abends, wenn die anderen am Feuer saßen und sich ausruhten, ging ich noch jagen.

Bald darauf begannen wir zu joggen, um den Weg schneller hinter uns zu bringen. Wegen Eliza konnten wir nicht so schnell laufen, doch auch sie hatte beachtlich an Kondition gewonnen.

Tag Nummer vierzehn. „Wenn wir heute nicht ankommen, erklären sie uns für vermisst“, murmelte Mikey. „Das werden sie sowieso irgendwann“, sagte Finn.

Ich fühlte mich abscheulich bei dem Gedanken, dass meine Freunde um mich weinten, weil sie dachten, ich wäre tot, obwohl ich putzmunter durch den Wald spazierte.

 

Ich hatte beschlossen, auch meine Zehen zum zählen zu benutzen, was nicht so einfach war, da ich auch von ihnen – wie jeder normale Mensch – nur zehn hatte. Zehn Finger und Zehn Zehen ergeben, wie jeder weiß, zwanzig. Doch hier bot sich mir ein Problem: Es war bereits Tag Nummer einundzwanzig!

 

Wir waren aus dem Wald draußen und sahen vor uns das Camp liegen. Tag Nummer zweiundzwanzig. Seit acht Tagen waren wir vermisst, seit gestern waren wir nach den Regeln tot. „Es fühlt sich seltsam an, tot zu sein“, sagte ich leise.

Ich zeigte Mikey, Eliza und Finn, die inzwischen meine Familie geworden waren, den Platz, an dem ich damals über den Zaun geklettert war, um mir Pfeile zu besorgen.

Hier legten wir uns auf die Lauer und warteten. Viele Kinder zogen vorbei. Plötzlich schrie Eliza leise auf. Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund, dann klammerte sie sich an den Zaun und zeigte auf ein kleines, blondes Mädchen. Es schien ein oder zwei Jahre jünger als sie zu sein.

„Das ist Josephine!“, flüsterte sie aufgeregt. Das Mädchen ging zum Wasserhahn – sie konnte kaum in den Spiegel sehen, so klein war sie noch – dann trank sie ein paar Schlucke Wasser und ging wieder. „Auf Wiedersehen, Josephine!“, murmelte Eliza leise. Sie sah dem Kind lange nach, dann lehnte sie sich zurück und die Büsche verdeckten sie wieder vor den Augen der Schüler, die vorbeikamen.

Es dauerte sehr lange bis ein Bekannter von Mikey vorbeikam. „Liam!“, flüsterte er. „Eliza, schau mal! Da ist Liam!“ Der braunhaarige Junge war älter als Mikey und war in etwa so groß wie Finn. Mikey beobachtete jede seiner Bewegungen, wie er langsam in Richtung Trainingsfeld lief. „Wahrscheinlich geht er joggen, oder Messerwerfen…“

Der nächste Junge war in meinem Alter, hatte dunkelbraune, kinnlange Locken und hieß Jordan. Jedenfalls rief Mikey den Namen halblaut und fixierte den Jungen durch den Zaun hindurch.

Viele Kinder kamen an uns vorbei, die meisten waren bekannte von Finn und Mikey. Die beiden Jungen schienen sehr viele Freunde zu haben, auch wenn ich bei Finn das Gefühl hatte, dass es ihm nicht besonders Leid tat, sie hinter sich zu lassen. Als ich ihn darauf ansprach, meinte er nur: „Man muss manchmal etwas hinter sich lassen, auch wenn es einem wichtig war.“ Ich fragte nicht weiter nach, und als er leise murmelte: „Viele möchte ich gar nicht mehr wiedersehen“, fragte ich nicht weiter nach.

Es liefen viele Kinder, die ich schon mal gesehen hatte, an uns vorbei, niemand sah uns, und keiner schien überhaupt daran zu denken, dass wir hier sein könnten. Keiner hinterließ auch irgendeinen Eindruck bei mir, ich würde mich vermutlich nicht einmal mehr an ihre Gesichter erinnern können, wenn mir jemand erzählen würde, dass ich sie hier gesehen hatte, denn meine Konzentration und Hoffnung war ganz darauf gelenkt, endlich jemanden zu sehen, den ICH kannte.

Ein Mädchen, das um die fünfzehn Jahre alt zu sein schien, lief an uns vorbei. Sie hatte blonde, lange Locken. Ich glaubte, sie einmal beim Reiten gesehen zu haben, doch ihren Namen hatte ich bis jetzt noch nicht gekannt. „Seht ihr das Mädchen?“, fragte Finn uns aufgeregt und drückte sich gegen den Maschendrahtzaun.

Die Frage war unnötig, denn es war weit und breit niemand außer ihr zu sehen. „Das ist eine Freundin von meinem besten Freund Henry. Sie heißt Wendy. Irgendwo muss auch Henry sein, und Oliver und Connor! Connor hat dunkelbraune Haare, Henry, blonde, ganz kurze, und Oliver hellbraune. Er ist der kleinste von ihnen. Könnt ihr mir sagen, wenn ihr drei Jungs seht, die ungefähr in meinem Alter sind?“ Nein, das konnte ich nicht, denn der nächste Junge, der kam, forderte meine ganze Aufmerksamkeit. Dunkelblonde, kurze Haare, groß gewachsen, normalerweise ein verwegenes Lächeln im Gesicht. Tim hatte sich kaum verändert. Vielleicht waren seine Haare etwas dunkler geworden, denn jetzt waren sie eigentlich eher braun als blond. Trotzdem hätte ich ihn überall wiedererkannt. Ich klammerte mich so fest an den Zaun, dass meine Finger anfingen zu bluten. „Tim…“ Ich wusste nicht, ob ich es laut gesagt hatte, doch es musste wohl so gewesen sein. In letzter Zeit war auf meine Stimme kein Verlass.

Tim fuhr herum und suchte das Gebüsch ab.

Ich wich erschrocken zurück, doch hier konnte er uns unmöglich entdecken. Vielleicht war das auch nicht der Grund für mein Zurückweichen. Ich glaube, der eigentliche Grund war, dass seine Augen rot gerändert und geschwollen waren. Tim hatte unübersehbar geweint. Und das nicht nur kurz. Das machte mir Angst. Ich wusste, dass mein Verschwinden nicht unbemerkt bleiben würde, doch ich wollte nicht, dass meine Freunde wegen mir weinten. Nein. Das hatte ich auf keinen Fall gewollt.

Kurz darauf erschien Jannis. „Was ist?“, fragte er Tim. „Ich dachte, ich hätte… Ach vergiss es.“ Tim senkte den Kopf. Ich sah, dass auch Jannis geweint hatte. Vielleicht hatten alle anderen auch geweint, doch es war mir bei ihnen nicht aufgefallen. Vielleicht auch, weil ich mich nicht groß für sie interessiert hatte.

Auch bekam Linda, ein rothaarige Mädchen, das scheinbar auch eine von Finns Freundinnen war, keinerlei Aufmerksamkeit von mir, als sie an uns vorbeilief. Nur Finn klebte plötzlich neben mir am Zaun und ließ sie nicht aus den Augen.

Doch ich war viel zu sehr mit meinen beiden Freunden beschäftigt, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie jemals so traurig erleben würde. Genaugenommen tat ich das auch nicht. Genaugenommen war ich ja tot. Jedenfalls dachten sie das und ich fühlte mich schrecklich bei dem Gedanken.

Ich spürte die Tränen in meinen Augen und einen Moment lang wollte ich aufspringen, über den Zaun klettern, beide umarmen und brüllen, dass ich am Leben war und dass es mir gut ging. „Sie kommt nicht zurück“, hörte ich Jannis murmeln und ich wäre aufgesprungen und hätte meinen Plan durchgeführt, wenn meine Beine mir gehorcht hätten. Ich ignorierte den Schmerz in meinen Fingern und krallte mich wieder in die Drahtmaschen des Zaunes.

Irgendwann gingen die Jungen weiter. Plötzlich blieb Tim stehen und sah noch einmal zurück. Genau auf die Stelle im Gebüsch, wo wir uns versteckt hatten. Wir hielten den Atem an und drückten uns aneinander, um nicht von ihm gesehen zu werden, daher konnte ich Tims nächste Worte nur schwer hören.

„Ich weiß, dass sie nicht tot ist! Sie hat mir versprochen, zurückzukommen!“ Ich hörte, dass seine Stimme schwach war und zitterte. Dann rannte er am Zaun vorbei. Jannis folgte ihm und die beiden ließen mich mit meinen Schuldgefühlen zurück. Und ich fühlte mich so elend wie nie zuvor.

„Können wir gehen, bitte?“, fragte Eliza lautlos und ich sah, dass auch sie geweint hatte. Ja, wir mussten wieder zurück in den Wald. Das war unser Plan gewesen.

Doch als ich in die Runde sah, kam mir unsere Idee plötzlich verrückt vor: Wir waren vier Kinder, die nichts zu verlieren hatten und waren drauf und dran, den Rest unseres Lebens in der Wildnis zu verbringen und alles, was uns vielleicht noch wichtig war, hinter uns zu lassen! Doch das war so verrückt, dass es fast funktionieren könnte.

„Worauf warten wir noch? Wir fangen noch mal ganz von vorne an!“ Ich sagte es und war mir mit einem Mal sicher, dass ich auch genau das meinte.

 

 

ENDE DES ERSTEN BANDES

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MISSION

COMPLETED 2

 

Ich schreckte aus dem Schlaf. War da etwas gewesen? Mein Atem wanderte in weißen Wölkchen durch den Wald, während ich zwischen den Bäumen nach einer Bewegung suchte. In weiter Ferne erhaschte ich einen kurzen Blick auf einen Hasen, der durchs Unterholz sprang. Sofort war ich auf den Beinen, hatte einen glatten Pfeil aus dem Köcher gezogen und ihn in den Bogen eingelegt. Ich rannte durchs Dickicht, den Hasen vor mir herscheuchend, doch ich kam nicht auf Schussweite an ihn heran. Nach kurzer Zeit ließ meine Kraft nach und ich musste stehenbleiben, um zu verschnaufen. Der kahle Wald bot keinerlei Schutz vor Raubtieren oder ähnlichen Feinden.

„Das war’s dann. Unser Leben ist im Eimer!“, dachte ich, während ich an eine Kiefer ging und ein großzügiges Stück der Rinde abschnitt. Ich teilte es durch vier, nun war es nicht mehr ganz so groß, und steckte eines davon in den Mund.

Es hatte lange gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte, nach all den Jahren leckeren Essens im Camp, oder zu Hause. Doch als ehemalige Ausreißerin hatte ich schon einige Male Kiefer gegessen und würde mich sicher wieder daran gewöhnen.

Als ich vor knapp einem viertel Jahr zu Eliza gesagt hatte, ich würde schon für uns sorgen, hatte ich ihr verschwiegen, dass das nicht so einfach werden würde. Wir hatten uns fast drei Monate von Beeren, Rinde, Pilzen und Wurzeln ernährt. Ich hatte mehrmals versucht, ein Tier zu schießen, doch es war nicht mehr so einfach wie früher. Irgendetwas hatte sich verändert, und wenn es nur die Tatsache war, dass ich älter geworden war. Ich hatte schon lange kein Tier mehr geschossen.

„Doch. Ein paar Wölfe habe ich geschossen!“, dachte ich, als die Erinnerung wieder hochkamen. Aber damals hatten uns die Tiere angegriffen und mir blieb keine andere Wahl, um zu überleben.

Jedes Mal, wenn vor mir ein kleiner, unschuldiger Hase saß oder ein junger Fuchs, dacht ich mir, dass wir es sicher auch nicht mehr lang durchhalten würden, wenn ich nicht endlich damit anfing, Essen auf den Tisch zu bringen. Doch trotzdem hatte ich noch nie einem Hasen oder einem anderen Tier etwas zuleide getan.

Im weitergehen kaute ich auf der Rinde herum. Ich wollte nicht zurück, doch ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Wenigstens die Kiefernrinde hatte ich, doch das war nicht viel.

Um diese Zeit gab es nichts Essbares mehr. Vor wenigen Tagen war bereits der erste Schnee gefallen, der inzwischen jedoch wieder verschwunden war. Die leckeren Beeren waren verschwunden, die Pilze waren nur noch in geringen Mengen zu finden, falls man überhaupt das Glück hatte, welche zu entdecken.

Ein kalter Wind kam auf und ich wickelte meine dünne Jacke enger um mich. Als wir zu unserer Mission aufgebrochen waren, war es Sommer gewesen. Ich hatte das Glück, dass ich damals eine lange Hose angehabt hatte, doch Finn lief noch immer in seiner knielangen Hose herum. Nur deshalb lag er die ganze Zeit unter einer Decke am warmen Feuer. Ich schluckte die Rinde herunter und steckte den Rest in meine Jackentasche. Der Boden war gefroren, hin und wieder löste sich mit einem leisen Knacken ein gefrorener Erdklumpen unter meinen Schuhen und zerfiel. An vereinzelten stellen waren die Ränder der verdorrten Blätter am Boden mit Reif bedeckt. Über mir flog ein Vogel auf, doch ich schoss nicht. Ich hätte nicht getroffen. Mir war so kalt, und ich war so hungrig.

Ich lief eine gute viertel Stunde durch den Wald, dann sah ich den Schein des Feuers. Als mich die drei Kinder entdeckten, sahen sie hoffnungsvoll zu mir hoch. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab einen Hase gesehen, hab ihn aber nicht erwischt!“, sagte ich niedergeschlagen. Eliza kuschelte sich zu ihrem Bruder Mikey unter die Decke und ich warf den beiden je ein Stück Rinde zu. Das letzte Stück landete kurz darauf in Finns Schoß.

Eine Zeit lang kauten sie auf der Rinde herum, dann schluckte Finn sie herunter. Ich stocherte gerade in dem kleinen Lagerfeuer herum, deshalb traf mich Finns Frage völlig unvorbereitet. „Kira, leihst du mir deine Hose?“ „Spinnst du?!“ Ich wollte nicht so gemein sein, aber es war mir einfach herausgerutscht. „Ich dachte nur, du könntest mal hier bleiben und ich geh los, jagen oder so. Wir brauchen Brennholz, und vor allem brauche ich Bewegung!“, sagte Finn. Da viel mir ein, dass sich der arme Kerl seit einer Woche fast ausschließlich unter der Decke befand.

Ich zögerte kurz, dann kramte ich meine Decke heraus. „Aber wehe, du machst sie kaputt!“, drohte ich Finn. Dann schlüpfte ich unter die Decke, zog die Hose aus und warf sie in Finns Richtung. Er fing sie auf und kurz darauf flog seine Hose auf mich zu. Ich schlüpfte hinein und kuschelte mich unter die Decke.

Finn stand auf. Meine Hose war ihm ein bisschen zu groß, vor allem um die Hüften herum. „Na, Kira, wie findest du mich?“, fragte er mit Verführerstimme und zwinkerte mir zu. „Ich kann gar nicht hinsehen!“, sagte ich und verschwand unter der Decke.

„Ich geh jetzt Holz holen“, hörte ich Finn durch die Decke hindurch sagen. „Okay, aber lass dir nicht zu viel Zeit!“ Er verschwand und ich lugte unter der Decke hervor. „Eliza, wirf mir mal Finns Decke rüber, mir ist kalt!“, sagte ich zu ihr, dann wandte ich mich an Mikey. „Sind unsere Wasserflaschen noch voll?“ Mikey sammelte alle Wasserflaschen ein und warf sie mir zu. Eine war leer, eine andere nur noch halb voll. Ich trank sie aus und Mikey verstaute alle vier wieder.

Im Wald wurde es zu dieser Jahreszeit nie richtig hell, deshalb durften die Kleinen auch nicht alleine losziehen um etwas zu Essen zu besorgen. Doch jetzt machte ich eine Ausnahme und schickte Mikey mit den leeren Flaschen zum Bach, Wasser holen. Er kannte den Weg und weit war es nicht.

Eliza und ich warfen uns in der Zwischenzeit Mikeys Laufschuh hin und her. Eliza war die Kleinste von uns und ihr hatte das wenige Essen am meisten zugesetzt: Ihre Rippen standen hervor und sie wog nur noch halb so viel, wie zu beginn der Mission, obwohl sie schon da sehr dünn gewesen war.

Kurz darauf kam Mikey wieder und wir tranken etwas Wasser. Es war so kalt, dass ich beinahe einen Kälteschock bekam, daher beschlossen wir, die Flaschen vorsichtig etwas übers Feuer zu halten.

Das Wasser wärmte sich nur langsam an und eigentlich war es auch egal, wie warm es war, daher legte einfach beide Flaschen zu mir unter die Decke.

Eliza und Mikey holten ihre Decken und kuschelten sich zu mir.

Wir warteten mit knurrenden Mägen darauf, dass Finn wiederkam.

Mit einem morschen Stöckchen grub ich im weichen Erdboden neben mir. „Wir könnten ja Regenwürmer essen!“, schlug Mikey vor, als ich einen ausgrub. Eliza zuckte zusammen und begann zu weinen. „ Ich will keine Würmer essen!!!“, brüllte sie. Mikey und ich versuchten, sie zu beruhigen.

Irgendwann kam Finn und legte etwas trockenes Brennholz ab. Ich legte ein paar Äste nach, Finn machte sich auf die Suche nach Essen und lieh sich dafür auch noch meinen Bogen. „Mach den auch nicht kaputt, verstanden?“, fragte ich ihn und er lachte.

Ich sah ihm lange hinterher. Wenn er nichts zu Essen mitbrachte, würden wir das nicht lange durchhalten. „Kira, schau mal, was ich gefunden hab!“ Eliza hielt eine Blechdose hoch. „Wo hast du die her?“ „Die lag hier zwischen den Ästen.“ Sie wies auf einen am Boden festgewachsenen Ast. „Gib sie mir mal!“ Ich untersuchte sie lange, dann wusch ich sie mit etwas Wasser aus unseren Flaschen ab und versuchte, sie mir meinem Messer in zwei Hälften zu zerteilen. Das Ergebnis war nur leicht zufriedenstellend. Die Ränder der Dose waren scharf gezackt, daher verbot ich den Kleinen auch, sie unbeaufsichtigt anzufassen. „Füll die Dose bitte mit Wasser, Mikey!“ Mikey kippte die Dose bis fast zum Rand voll und stellte sie dann in die Flammen. Ich befahl den Kindern, Tannennadeln zu suchen. Ich behielt beide im Blick, während sie von den umliegenden Bäumen die kleinen Nadeln abrissen.

Dann schmissen wir eine Hand voll Nadeln ins Wasser und warteten. Wir tranken eine Falsche leer und dann warfen wir uns wieder Mikeys Schuh hin und her.

Als das Wasser kochte, gab ich Mikey meine Jacke und er wickelte sie sich um die Finger. Dann holte er die Blechdosenhälfte aus dem Feuer. Dabei verbrannte ein Stück der Jacke und ich beschloss, mir bei Gelegenheit eine bessere Lösung zu überlegen. Vorsichtig schüttete ich dann das heiße Gebräu in die leere Flasche.

Wir ließen es kurz abkühlen, dann ließ ich Eliza den ersten Schluck trinken. Danach war Mikey dran und dann ich.

Der improvisierte Tee schmeckte nicht schlecht, aber das wichtigste war, dass er warm war. Wir setzten gleich noch einmal Wasser auf und dann erschien Finn. Er hatte in der einen Hand ein paar Esskastanien und in der anderen noch mehr Rinde.

Wir tranken zu viert den Tee aus. Dann kippten wir den Tee aus der anderen Hälfte der Dose in die Flasche und stellten sie neben das Feuer, damit sie angewärmt blieb. Dann legten wir in die beiden Dosenhälften die Esskastanien und aßen die Kiefernrinde, während die Kastanien brieten.

Es war nicht viel, aber da wir in den letzten zwei Wochen seit Wintereinbruch nichts außer Kiefernrinde und ein paar späten Äpfeln und Pilzen gegessen hatten, schmeckten uns die Kastanien nun umso besser. Zwar war die Hälfte von ihnen bereits schlecht, doch wir teilten den Rest gleichmäßig unter uns auf, sodass jeder etwas von ihnen hatte.

Dann warfen wir uns wieder Mikeys Schuh zu. Als das Spiel langweilig zu werden drohte und ich Angst hatte, Eliza oder Mikey könnten vor lauter Langeweile hungrig werden, nahmen wir den anderen Schuh auch noch dazu. Nun standen wir im Viereck und warfen uns zwei Schuhe zu. Nur ich saß.

Irgendwann setzten sich auch Mikey und Finn hin und kuschelten sich unter ihre Decken und auch Eliza schien es zu kalt zu werden. Doch ich merkte schon bald, dass bei Finn nicht die Kälte der Grund dafür war, dass er sich hingesetzt hatte, denn kurz darauf landete meine Hose in meinem Gesicht. „Schön warm!“, grinste ich und zog mich um.

Ich stand auf, nahm meinen Bogen und den Köcher und ging wieder auf die Jagd. Ich fand kein Tier. Aber einen Rucksack. Er hing im Bach, verfangen in ein paar Steinen und Ästen. Ich zögerte nicht lange und fischte ihn heraus. Dabei rutschte ich von einem leicht vereisten Stein ab und landete im Wasser.

Tropfnass watete ich ans Ufer. Meine Füße froren und ich beschloss, wieder zu den anderen zurückzugehen. Dort angekommen ließ ich den Rucksack ans Feuer fallen und kuschelte mich unter meine Decke. Dann erklärte ich den anderen Kids, wie ich an den Rucksack gekommen war. Wir waren uns darin einig, dass sein Besitzer nicht gut genug auf ihn aufgepasst hatte, und er nun uns gehörte.

Finn öffnete ihn und leerte ihn aus. Darin befanden sich zwei Flaschen, eine lange Jungenhose, eine leere Brotdose, ein kurzer Dolch mit einem weichen Griff, der vermutlich aus dem Geweih eines Hirschen gefertigt war und vier dünne, rot-gelb gefiederte Pfeile. Wir freuten uns über die Beute, denn es war klar, wer was bekommen würde: Die Flaschen würde Mikey verstauen, da er meistens Wasser holen ging, die Brotdose landete bei uns im Rucksack, die Hose würde Finn anziehen, Mikey bekam den Dolch, da er gut im Messerwerfen war und ich die Pfeile. Doch während ich mir die Pfeile genauer ansah entdeckte ich, dass sie sich von meinen nicht im kleinsten Detail unterschieden, bis auf die Tatsache, dass meine dreckiger waren.

Außerdem kamen mir sowohl die Pfeile als auch die Hose seltsam bekannt vor.

 

 

 

 

 

 

Die Hose schien ihrem Träger zu groß gewesen zu sein, denn als Finn sie angezogen hatte, bemerkte er, dass der untere Saum dreckig und zerrissen war, was darauf hindeutete, dass sie zuvor schlampig umgeschlagen war und durch Äste und Steine auf dem Boden zerrissen worden war.

„Wie sehe ich aus?“, fragte er in die Runde. Mikey verkniff sich ein Grinsen. Eliza lachte lauthals los und Kira stand auf und drückte ihm den Bogen in die Hand. „Jetzt kannst du gern noch mal losgehen, vielleicht findest du ja noch einen Rucksack, oder den dazugehörenden Träger.“

Finn widersprach nicht. Er hob den Köcher auf, und obwohl Kira ihm nur eine kurze Unterrichtsstunde im Bogenschießen gegeben hatte und er bezweifelte, ein Tier aus mehr als fünf Metern Entfernung überhaupt zu treffen, zog der den Köcher über den Kopf und seinen linken Arm.

Mit gespanntem Bogen, jeden Muskel angespannt und lauschend, so wie er Kira oft gesehen hatte, schlich er durch den Wald. Nirgendwo konnte er ein Geräusch außer seinen eigenen Fußstapfen hören. Einen Pfeil in der Sehne, die restlichen noch immer im Köcher verstaut, begann er durch den Wald zu joggen, um eventuell versteckte Tiere aufzuscheuchen.

Gerade, als er umkehren wollte, sprang vor ihm ein Vogel hoch und flog direkt auf ihn zu. Erschrocken riss er den Bogen hoch, um sich zu schützen, kniff die Augen zu und ließ die Sehne los.

Mit einem dumpfen Aufschlag, landete der Vogel auf dem Boden. Finn untersuchte ihn und stellte fest, dass sich der Vogel scheinbar einen Flügel gebrochen hatte. „Wahrscheinlich konnte er deshalb nicht schnell genug wegfliegen.“

Finn hob ihn auf, zog den Pfeil heraus und rannte los.

„Ich hab was geschossen!“, rief er den anderen zu. Alle drei Köpfe schnellten herum. „Zeig her!“, schrie Kira. Er legte den Vogel auf den Boden. Gemeinsam versuchten Kira und Finn den Vogel zu rupfen und auszunehmen. „Das ist ein ekelhaftes Gefühl!“, sagte Kira und verzog das Gesicht.

Dann vergruben die Kinder die Innereien und stecken den Vogel auf einen Spieß. Sie versuchten, den Stock in die weiche Erde zu stecken, doch der Vogel war ziemlich schwer, daher musste immer einer den Stock übers Feuer halten.

Er war nicht groß, nur ein wenig größer als eine Amsel, doch er schmeckte fantastisch, nachdem sie so lange nichts außer Rinde gegessen hatten.

„Was ist, wenn der, dem der Rucksack gehört hat, auf der Suche nach uns war?“, fragte Eliza vorsichtig. Alle fuhren herum. „Ich bitte dich, mach dich nicht lächerlich!“, prustete Kira los. „Die haben uns doch alle schon längst vergessen!“

Der Vogel wurde völlig aufgegessen. Nur die Knochen blieben übrig und landeten mitsamt den Innereien in einem Erdloch. „Ein paar Knochen sollten wir vielleicht behalten, um Nadeln oder so was daraus zu machen!“, schlug Mikey vor. „Sind wir Neandertaler?“, fragte Finn ihn lachend. Mikey zuckte die Schultern. „Man kann ja nie wissen.“ Letzten Endes landeten doch alle Knochen im Loch. „Du kannst sie ja wieder ausgraben, wenn du das dringende Bedürfnis hast, irgendetwas zu nähen!“, lachte Kira.

Mit endlich wieder halbwegs gefüllten Mägen legten sie sich schlafen.

 

 

Am nächsten Morgen zogen Kira und Finn los, um sich nach etwas zu Essen umzusehen. Mikey und Eliza hatten versprochen, keinen Unsinn zu machen, also hatten Finn und Kira ihnen erlaubt, allein da zu bleiben, nachdem sie ihnen das Versprechen abgenommen hatten, sich vom Lagerfeuer, den Messern, Finns Schwert und der scharf gezackten Dose fern zu halten.

Finn hatte eines der Messer dabei, Kiras Waffen waren wie immer Pfeil und Bogen. „Hast du das gehört?“, fragte Kira. Finn lauschte. „Nein. Was denn?“ „Da war etwas. Da hat etwas im Gebüsch geraschelt!“ „Dann schieß!“, rief Finn. „Ich weiß doch gar nicht, was es ist!“ „Wenn es raschelt, lebt es, wenn es lebt, kann man es essen, aber nur, wenn es tot ist, also schieß endlich!“ Skeptisch legte Kira einen Pfeil ein. Sie zielte. „Ich weiß gar nicht, worauf ich zielen soll.“ Finn beobachtete das Gebüsch. „Ich kann nichts sehen, komm wir schauen uns es mal von Nahem an!“, schlug er vor.

Finn hob sein Messer, schlich auf den Busch zu und Kira folgte ihm. Kurz bevor sie am Busch angekommen waren, sprang ein paar Meter neben ihnen ein Kaninchen über einen Ast. Der Blick der beiden Kinder schoss herum und das Kaninchen floh. Es kam nicht weit. Finn hatte sein Messer geworfen und Kira einen Pfeil abgeschossen. Das Messer traf das Kaninchen am Vorderlauf, es stolperte, sprang jedoch weiter. Kurz darauf bohrte sich der Pfeil in sein Fell.

Finn und Kira kamen gleichzeitig bei dem Tier an. Finn hob es auf und sie brachten es zurück zu Mikey und Eliza.

Dort nahm Kira es aus und Finn schnitzte einen besseren Spieß. Kurz darauf brutzelte das Fleisch über dem Feuer.

„Sollen wir da Fell behalten? Wir könnten versuchen, irgendetwas daraus herzustellen…“ Kira drehte und wendete das Fell in den Händen. Sie hatte es geschafft, es fast als Ganzes von dem Hasen zu nehmen. „Na ja, ich weiß nicht. Gerben können wir es nicht, aber wir könnten die ganzen Fleischreste ja mal runterkratzen!“, schlug Mikey vor. Finn hielt den Hasen übers Feuer und Eliza und Mikey kratzten vorsichtig das Restfleisch von dem Hasenfell, während Kira über dem Feuer etwas Wasser heiß machte und ein Stück Kiefernrinde dazugab.

Auch ein paar Tannennadeln landeten Kurz darauf im Wasser. „Was machst du?“, fragte Eliza und schielte in die Dose. „Ich hoffe, dass das eine Suppe oder ein Eintopf werden kann…“ Kira roch an der Flüssigkeit, die in der Dose vor sich hinkochte. „So schlecht sieht’s gar nicht aus!“, meinte Mikey, der die Fleischfetzen in die Brühe warf.

Nach einiger Zeit fischte Kira die Rinde heraus und gab sie Eliza, da die schon seit einiger Zeit jammerte. „Aufessen!“, befahl sie.

Während Eliza auf der Rinde herumkaute, holten Kira und Mikey mithilfe eines Stockes den Eintopf aus den Flammen. Auch der Rest des Kaninchens schien durch zu sein.

Kira zerteilte es in vier gleich große Stücke und gab jedem eins. Dann füllte sie den Eintopf in die leeren Brotboxen.

„Den Eintopf müsst ihr trinken“, sagte sie. Dann nagten sie die Kaninchenknochen ab und tranken den Eintopf. Schon bald war nichts mehr übrig. Dann überlegten sie, was sie mit dem Fell tun könnten. Der Hase war schon recht groß gewesen, also hatten sie ein gutes Stück Fell zur Verfügung. Sie überlegten eine Weile hin und her, dann sagte Finn: „Ach, was soll’s, der Tag ist noch lang, uns fällt sicher noch was ein!“

 

 

 

 

 

Mikey legte das Fell auf die Seite und Eliza kam zu ihm gekrochen. „Mir ist kalt!“, jammerte sie. Mikey wickelte sie in seine Decke ein und gab ihr den Rest des Eintopfs. Es war wirklich kälter geworden, dabei war noch nicht einmal Mittag. Finn sah hoch zum Himmel, durch die laublosen Bäume in die Wolken. „Sieht nach Regen aus, wenn nicht sogar Schnee fällt!“, sagte er. „Wir sollten uns irgendwo ein wetterfestes Versteck suchen. Kennt jemand von euch so eine Stelle?“ Finns Blick blieb kurz an Mikey hängen. „Guck mich nicht an, ich war nur zum Wasserholen weg!“, sagte Mikey. „Eliza?“ „Ich war immer hier. Ich weiß nicht, wo wir uns verstecken könnten!“ Mikey spürte, wie Eliza sich an ihn kuschelte. „Kira, was ist mit dir? Kennst du irgendeinen wettergeschützten Ort?“ Kira schüttelte den Kopf. „Wir müssten aufs Geradewohl loslaufen“, sagte sie.

Finn sah noch mal kurz zum Himmel. „Dann schlage ich vor, wir packen unsere Sachen und laufen los.“

„Aber ich will nicht laufen. Mir ist kalt“, jammerte Eliza wieder. „Jemand wird dich tragen“, sagte Finn. Er packte seinen Rucksack. Mikey half Kira, die Flaschen einzusammeln und verpackte dann vorsichtig die beiden Hälften der Dose.

Als alle ihre Sachen gepackt hatten, hob Kira Eliza hoch und Finn lief voraus. Eliza kuschelte sich eng an Kira und Mikey hatte ihren Rucksack an sich genommen.

Sie waren noch unterwegs, als die erste Schneeflocke langsam zu Boden schwebte. „Hoffen wir mal, dass es bei der einen Schneeflocke bleibt!“, dachte Mikey. Doch kurz darauf fielen die Schneeflocken immer dichter. Bald war der ganze Boden von einer dünnen Schneeschicht bedeckt.

„Mir ist immer noch kalt!“, meckerte Eliza wieder. Keiner sagte ein Wort, doch Mikey sah, dass die beiden größeren Kinder sich einen gemeinen Spruch verkneifen mussten. Er konnte sie irgendwie verstehen: Bis jetzt hatte Eliza ihnen allen nur Ärger gemacht. Es wurde Zeit, dass sie mal etwas Nützliches tat.

Inzwischen war das Schneegestöber so dicht geworden, dass man kaum noch weiter als einige Meter sehen konnte. „Mikey!“, rief Finn ihm zu. „Lauf vor, und sieh dich um! Wir folgen dir dann mit Eliza!“ Mikey nickte. „Mach ich!“ Dann lief er los. Der Boden unter seinen Füßen gab mit jedem Schritt nach und federte seine Sprünge ab, dadurch verbrauchte er mehr Kraft und war bald außer Puste. Seine Finger froren und er steckte sie in seine Jackentasche.

Er stolperte über einen verschneiten Ast und fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Er rappelte sich schnell wieder hoch und wischte sich das Gesicht ab, doch ein bisschen Schnee war ihm in den Kragen gefallen.

Er zog den Kopf ein und hoffte, dass seine Körperwärme den Schnee bald schmelzen würde.

Er hatte schon fast aufgegeben, als er einen umgefallenen Baum erreichte. Die Wurzeln bildeten ein kleines, aber sicheres Versteck und wenn man noch etwas Äste über sie legen würde und die Löcher mit Laub stopfen würde, war er sich sicher, dass es ein ganz gemütliches Heim werden könnte. Er drehte sich um und suchte den Wald nach Finn und Kira ab. Er rechnete nicht damit, sie zu sehen, immerhin war er ein gutes Stück gerannt, daher beschloss er, einfach seinen Fußspuren zu folgen. Er lief ein Stück zurück, neben seinen Fußabdrücken her, die im Schnee gut erkennbar waren. Plötzlich zuckte er zusammen. Da waren noch andere Fußspuren. Es hätten die von Eliza, Kira und Finn sein können, denn es waren mit Sicherheit ein Paar Jungenstiefel, dann war da noch ein paar kleinerer Schuhe, und ein weiteres Paar, das gut von Kiras Schuhen stammen könnte, doch Mikey war sehr gut im Spurenlesen und erkannte sofort, dass der Junge zwar in etwas so groß oder so schwer sein musste wie Finn, die anderen beiden Schuhpaare jedoch unmöglich Kira und Eliza gehören konnten. Kiras Schuhe waren gut zwei Nummern kleiner als die Fußabdrücke im Schnee, außerdem trug sie sicher immer noch Eliza und dadurch wären die Schuhe sicher um einiges tiefer im Schnee eingesunken. Daher ergab auch das zweite Paar Schuhe keinen Sinn, und selbst wenn Eliza inzwischen wieder lief, waren diese Schuhe viel kleiner als ihre Füße. Das Kind, das hier entlanggelaufen war, war mindestens drei Jahre jünger als sie.

Erst jetzt bemerkte Mikey auch das vierte Paar Schuhe. Die Spuren waren etwas weiter von den anderen entfernt, was darauf schließen ließ, dass sie entweder nicht gleichzeitig hier vorbeigekommen waren, oder dass sich die vierte Person etwas abseits von ihnen aufgehalten hatte.

Mikey untersuchte auch diese Schuhe genauer, es waren diesmal ganz eindeutig Mädchenschuhe. Sie hatten einen leichten Absatz und liefen an ihrer Spitze dünn zu. Der hintere Teil der Schuhe war etwas tiefer in den Schnee gedrückt, was darauf schließen ließ, dass die Schuhe hinten entweder etwas schwerer waren, was bei Stiefeln mit Absätzen so gewesen wäre, oder dass das Mädchen mit den Fersen etwas stärker auftrat als mit dem Rest des Fußes. Sofort fiel Mikey ein, dass er vor nicht allzu langer Zeit schon einmal diesen Spuren gefolgt war. Damals, vor drei Monaten, hatten er, Kira und Finn versucht, seine Schwester Eliza aus Jasmyns Klauen zu befreien.

Er war ein Stück weiter voraus gerannt, wie er es auch heute getan hatte und hatte genau diese Spuren verfolgt. Für ihn bestand kein Zweifel: Diese Schuhe gehörten Jasmyn und sie war vor kurzer Zeit hier gewesen. Mikey folgte ihren Spuren ein Stück in die Richtung, in die sie gegangen sein musste, denn er wollte unbedingt dahinterkommen, wer ihre Begleiter waren, oder ob sie ihnen durch den Wald gefolgt war.

Kurz darauf fand er seine Antwort. Die Jungenstiefel waren stehengeblieben und ihr Träger schien sich umgedreht zu haben. Er konnte es fast vor sich sehen: Wie ein Kind, das auf jeden Fall etwas größer als der Junge war, durch den Wald schlich, das kleinere Kind neben ihr. Es war unverkennbar, dass sich der oder die Kleinste immer an den oder die Größte der Gruppe gehalten hatte. Vielleicht waren auch die beiden Geschwister. Allerdings wusste Mikey ja nicht, wie lange sie schon unterwegs waren.

Jedenfalls waren kurz darauf Jasmyns Schuhe direkt neben denen des Jungen stehengeblieben und nun konnte Mikey erkennen, dass die Schuhspitzen sich gegenüber standen. Wahrscheinlich hatten Jasmyn und der unbekannte Junge miteinander geredet. Daher war Mikey sich sicher, dass Jasmyn zu den anderen drei gehörte.

Mikey rannte zurück, seinen Fußspuren nach. Er konnte sie nur noch mit Mühe erkennen. Als er bei dem umgestürzten Baum ankam, waren sie verschwunden, von einer dicken Schneeschicht bedeckt. „Kein Problem…“, murmelte Mikey. „Ich bin aus der Richtung gekommen!“ Er drehte sich in die Richtung, doch plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob er wirklich von dort gekommen war. „Verdammt, warum sieht bei Schnee auch alles anders aus!“, fluchte er. Kurz entschlossen stapfte er dennoch in die Richtung, aber nur ein kleines Stück. „Ach, das hat doch keinen Sinn. Ich sollte hierbleiben!“, sagte er zu sich. Die Tatsache, dass Jasmyn irgendwo in der Nähe war, beunruhigte ihn zwar, doch er hatte ein gutes Messer und war auch inzwischen ziemlich gut im Messerwerfen. Er inspizierte beide Rucksäcke. Er fand zwei Decken, zwei Flaschen, das Messer, seine Laufschuhe, Elizas Glücksbringer und ihr Haarband.

Wenigstens die Flaschen und die Decken würden ihm helfen und seine Laufschuhe konnte er sicher auch mal gebrauchen. Ein Glück, dass Eliza ihm ihren Rucksack gegeben hatte. Na ja, Glück für ihn, aber für Eliza, Finn und Kira würde es eine kalte Nacht werden, da sie nun eine Decke zu wenig hatten. Mikey wickelte sich gut in beide decken ein und drängte sich dicht an die feuchte Erde, die in den Wurzeln des Baums hing.

In dem Moment hörte er Stimmen, doch es waren nicht Kira, Finn und Eliza. So viele Leute liefen nicht durch den Wald, daher musste es die Gruppe sein, von denen er gerade eben noch die Fußspuren gesehen hatte. Kurz entschlossen packte Mikey das Zeug wieder in die Rucksäcke. Er stand auf und schlich sich näher an die Gruppe heran. Ein leichter Nebel war aufgekommen, der ihm etwas Schutz bot. Er sah einen Jungen mit hellbraunen Locken, der einen Bogen in der Hand hatte und einer schwarzen Lederjacke, die er offen trug.

Kälte schien er nicht zu kennen. Ein blondes Mädchen, das gut eineinhalb Köpfe größer war, als der Junge. Das Mädchen sah aus wie sechzehn, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass man eine sechzehnjährige mit so kleinen Kindern in eine Gruppe steckte, denn er war sich ganz sicher, dass auch sie auf irgendeiner Mission waren, denn neben ihnen lief Jasmyn. Er kannte auch das kleine, blonde Mädchen, das neben ihnen lief. Sie war oft bei ihnen gewesen, und er glaubte, sich an ihren Namen zu erinnern. Sie hieß Josephine und war eine gute Freundin von Eliza, doch während dem Training hatten sie sich nur selten gesehen.

Das Talent der Kleinen war schon immer das Turnen gewesen, und obwohl sie sehr gut im Laufen war, hatte sie das nur selten trainiert.

Mikey beobachtete die vier vorsichtig, dann lief er in die entgegen gesetzte Richtung davon.

Er hatte bald den Baum erreicht. Dann rief er so laut er es sich traute Elizas Namen. „Wo seid ihr?“ Er suchte zwischen den Bäumen nach seinen Freunden, doch der Nebel erschwerte die Sicht. Er lauschte, doch nur der Wind heulte durch die Bäume. Er überlegte einen Moment und suchte nach einer möglichen Lösung.

Er konnte hier bleiben und hoffen, dass Kira, Finn und Eliza ihn fanden. Allerdings konnte er auch von Jasmyn und ihren Begleitern gefunden werden. Sie waren hier ganz in der Nähe. Einen allein hätte er noch besiegen können. Jasmyn zum Beispiel, könnte er aus größerer Entfernung töten, auch die beiden anderen Mädchen. Doch der Junge hatte einen Bogen bei sich und konnte Mikey wahrscheinlich in der Zeit töten, die dieser brauchen würde, um zu zielen. Auch hatte er nur ein Messer, aber in dem Köcher des Jungen hatte er mindestens zehn Pfeile entdecken können. Vor allem aber wollte er nicht für den Tod von Elizas Freundin Josephine verantwortlich sein.

Und auch den Jungen und das andere Mädchen kannte er nicht einmal. Die Einzige, die er ohne mit der Wimper zu zucken umlegen könnte, wäre Jasmyn. Schließlich hatte sie mehr als einmal versucht, ihn oder die anderen drei zu töten.

Er konnte loslaufen und nach seinen Freunden suchen. Irgendwo mussten sie schließlich sein. Allerdings konnte er auch Jasmyn und ihren Begleitern in die Arme laufen und dann wäre er wahrscheinlicht auch binnen weniger Sekunden mausetot.

Er entschied sich schließlich dazu, sich in seine Decke einzuhüllen, sich mit etwas Laub und Schnee zu tarnen und zu warten.

Die Zeit verging und er war kurz davor, einzuschlafen, als er wieder Stimmen hörte. Doch diesmal schienen es ganz eindeutig die von Kira und Finn zu sein. Er wickelte sich aus der Decke und sprang auf. „Da seit ihr ja!“, rief er. Finn drehte sich zu ihm um. „Mike! Wir haben dich schon überall gesucht!“ „Tut mir Leid, ich hatte mich verlaufen! Aber jetzt kommt mit, ich hab einen Ort gefunden, wo wir etwas geschützter sind!“, sagte er und wies auf den Baum. „Du bist lustig, es schneit fast nicht mehr!“, sagte Kira. Trotzdem wickelten sie sich in ihre Decken und zwängten sich unter den kleinen Vorsprung aus Erde und Wurzeln. Eliza schlief schon und Mikey kuschelte sich sofort an sie. Dann schliefen sie bis zum nächsten Morgen.

 

 

 

 

 

Als Finn auf wachte, schliefen die Anderen noch. Er wickelte ich vorsichtig aus der Decke aus und stieg über Mikey, der fest schlafend auf dem Boden lag. Er steckte ein Messer ein und machte sich in der Umgebung auf die Suche nach Wild und trockenem Brennholz.

Nach langer Zeit hatte er ein paar trockene Zweige gefunden und stapelte sie zu einem kleinen Lagerfeuer auf. Jetzt fehlten ihm nur noch Feuersteine, doch er konnte nicht darauf hoffen, unter der dicken Schneeschicht welche zu finden.

Daher setzte er sich auf den schneebedeckten Boden und rieb die trockenen Äste aneinander. Nach etwa einer halben Stunde gesellte Kira sich zu ihm. „Mensch, ich hab geschlafen, wie ein Murmeltier!“, sagte sie. Dann beobachtete sie eine Zeit lang bei seinem verzweifelten Versuch, Feuer zu machen. „Im Übrigen hab ich noch Streichhölzer!“, sagte sie irgendwann. Finn sah sie fassungslos an. „Und das sagst du mir erst jetzt?“ Er schubste sie spielerisch in den Schnee. Kira griff in den Schnee und kurz darauf flog ein Schneeball in Finns Gesicht. „Au! Das hat weh getan!“, protestierte er. „Entschuldigung!“, sagte Kira und biss sich auf die Lippe, in dem Versuch, ein Lachen zu unterdrücken.

Finn sprang auf die Füße und das Lächeln auf Kiras Gesicht erstarb, als sie merkte, was er vorhatte. Sie war genauso schnell auf den Füßen wie er, und rannte los, doch nach zwei Schritten hatte Finn sie eingeholt. Er packte sie von hinten und ließ sich in den Schnee fallen. Kira versuchte, das Gleichgewicht zu halten, doch Finn war zu schwer und riss sie mit sich in den Schnee. Sie rangelten kurz, dann rollte Finn Kira auf den Rücken und drückte ihr lachend mit einer Hand Schnee ins Gesicht. Kira schrie und lachte auch, irgendwann ließ Finn sie los und Kira kam auf die Beine. „Das gibt Rache!“, schwor sie, und als Eliza und Mikey aufwachten, waren die beiden bereits in eine heftige Schneeballschlacht vertieft. Kurz darauf warfen auch Mikey und Eliza Schneebälle durch die Luft.

„Jungs gegen Mädchen!“, schrie Finn und ging hinter den Wurzeln des umgefallenen Baums in Deckung. Ein gut gezielter Schneeball traf ihn an der Schulter, bevor er sich ganz ducken konnte und er formte so schnell er konnte einen weitern Ball. Er schielte über die mit Dreck bedeckten Wurzeln und sah, dass Mikey von den Mädchen im Schwitzkasten gehalten war und sie ihn lachend mit Schnee einrieben.

Mit einem Kampfschrei sprang Finn nach vorne über den Baum und sein Schneeball traf Kira im Nacken. Sie schrie erschrocken und ließ Mike los, der in den Schneematsch zu ihren Füßen fiel.

Finn sah, dass er ihre Beine umklammert hielt und sie zu sich in den Schnee ziehen wollte, doch Eliza schmiss eifrig Schneebälle nach ihm. Finn stürzte sich kurz darauf auf das kleine Mädchen und zwang sie zu Boden, doch bevor er sie festhalten konnte, hatte sie sich befreit und schlüpfte unter seinen Armen hindurch.

Bevor er sich umdrehen konnte, saß sie auf seinem Rücken und versuchte, ihn mit ihrem Gewicht zu Boden zu reißen, doch Finn war zu stark.

Eine Zeit lang hallte das Lachen der Kinder durch den Wald, bis sich ihr hungriger Magen meldete und sie beschlossen, sich auf die Suche nach Wild oder anderem Essen zu begeben.

Der Schnee war Stellenweise schon geschmolzen, die Sonne war hervorgekommen und der kleine Rest des Schnees war ein Gemisch aus dunkelbrauner Erde und verwelkten Blättern, die nur noch durch ein paar gefrorene Wassermolekühle zusammengehalten wurden.

Finn hatte Kira und die beiden Kleinen allein losziehen lassen, da er etwas Ruhe brauchte und – obwohl er es nicht zugeben wollte – sein Bein nach der Anstrengung der letzten Zeit wieder etwas weh tat.

Die Stelle, wo vor fast genau drei Monaten Jasmyns Messer ihn am Bein getroffen hatte, war zwar verheilt und es war nur eine kleine, helle Narbe zurückgeblieben, doch ab und zu tat es dennoch weh – beim Rennen, beim starken Belasten, beim Klettern.

Also beschloss Finn, es heute etwas ruhiger angehen zu lassen. Eine Zeit lang versuchte er, ein anständiges Feuer zu entfachen, doch auch mit den Streichhölzern war das so gut wie unmöglich. Die Äste waren zu nass, die Rinde oft schon mit Moos überdeckt. Keine guten Vorraussetzungen für ein ordentliches Lagerfeuer.

Doch Finn gab nicht auf. Er machte sich in der Umgebung auf die Suche nach trockenen Ästen. Der restliche Schnee war inzwischen in der Mittagssonne, die senkrecht am Himmel stand, geschmolzen.

 

 

 

 

 

Hinter mir trampelten Mikey und Eliza durch den Wald. Es war eine schlechte Idee gewesen, sie mit auf die Jagd zu nehmen. „Eine sehr schlechte Idee…“, knurrte ich, während ich die Umgebung nach einem Tier absuchte, das eventuell taub war und sie nicht hörte, oder blöd genug, sich nichts dabei zu denken. Allerdings hatten solche Tiere immer eine sehr geringe Überlebenschance und wurden meistens in den ersten Monaten nach ihrer Geburt schon Opfer von Raubtieren und die Paarungszeit war schon längst vorbei. Der Boden war von einer dichten Laubschicht überzogen, und jetzt, da der Schnee geschmolzen war, konnte man keine Spuren auf dem Boden mehr erkennen. „Trödelt nicht!“, rief ich. Leichtfüßig sprang ich über einen Ast und lief ein paar Schritte voraus. „Wo bleibt ihr denn?“, rief ich über die Schulter zurück zu Mikey und Eliza. Sie beeilten sich, mich einzuholen, dann drängten sie sich hinter mir durch ein paar engstehende Bäume, die uns zwar etwas Schutz boten, aber kaum Bewegungsfreiheit oder im Notfall eine schnelle Flucht erlaubt hätten.

Ich sah mich um, als ich plötzlich eine Bewegung bemerkte. Ich blieb so abrupt stehen, dass Mikey und Eliza in mich hineinliefen. „Ich will keinen Mucks von euch hören!“, sagte ich leise, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Dann hörte ich Stimmen und ließ den Bogen, den ich in Erwartung von Beute gehoben hatte, sinken.

Wir hatten keine Zeit zu reagieren, denn schon standen wie aus dem Boden gewachsen vier Kinder vor uns. Ich musterte sie mit meinem Blick, der es mir erlaubte, innerhalb weniger Sekunden die Gefahren, die von jedem Einzelnen ausgingen, zu analysieren. Vor mir stand ein groß gewachsenes Mädchen, das man schon fast als junge Frau bezeichnen könnte, das jedoch kaum älter zu sein schien, als ich selbst, das sah man an ihrem Gesicht.

Daneben ein kleines Mädchen, das nicht einmal halb so alt war, wie das Mädchen neben ihr. Sie hatte kurze, blonde Haare und bot scheinbar keinerlei Gefahr, im Gegensatz zu dem dritten Mädchen im Bunde, denn das war eindeutig Jasmyn. Sie hatte ein langes Messer in der Hand, genauso wie das andere, ältere Mädchen, was mir aber erst auffiel, als ich beim zweiten Mal hinsah.

Ich verschwendete nicht viel Zeit für die Mädchen, nicht mal für Jasmyn. Ich wusste, dass diese Kinder auf eine Mission geschickt waren – und da Jasmyn dabei war, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass es irgendetwas mit uns zu tun hatte.

Keine halbe Sekunde brauchte ich, um den Jungen zu erkennen, der ganz links von den Mädchen stand. Es war Jannis.

Mir stockte für eine Sekunde der Atem, dann wanderte mein Blick zurück zu Jasmyn und blieb an ihr hängen. „Da haben wir unsere Vögelchen ja!“, säuselte diese. „Genau, wie kleine Vögelchen in der Falle!“, lachte das Mädchen neben ihr. Obwohl sie mindestens ein oder zwei Jahre älter als Jasmyn war, schien Jasmyn das Kommando zu haben. Das kleine Mädchen lachte. „Wie kleine Vögel!“, wiederholte sie. An ihrer Stimme merkte ich sofort, dass sie unmöglich älter als sechs Jahre sein konnte.

Außerdem hatte ich auch dieses Kind schon einmal gesehen. „Josephine!“, rief Eliza hinter mir. Das Kind fuhr erschrocken zusammen. „Eliza!“ Ich beobachtete jedoch den Rest der Gruppe. Die großen Mädchen hatten je ein Messer in der Hand. Jannis hatte einen Bogen, der meinem Bogen zum Verwechseln ähnlich sah und dazu einen Köcher, in dem an die fünfzehn Pfeile steckten.

Ich sagte nichts, sondern wartete darauf, dass einer der Gegenüberstehenden etwas tat, oder sagte. Die rechte Hand angespannt, bereit, bei der kleinsten, verdächtigen Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen und zu schießen, die linke Hand lag auf dem Griff des kleinen Dolches, den wir in dem Rucksack gefunden hatten, der im Fluss lag. Es schien Jannis’ Rucksack gewesen zu sein, denn als Einziger hatte er keinen mehr auf. Jetzt wusste ich auch, warum mir die Pfeile und die Hose so bekannt vorgekommen waren.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Jannis, der scheinbar genau wusste, was er zu tun hatte, dem dieser Gedanke aber überhaupt nicht behagte. Er hatte denselben gequälten Gesichtsausdruck, wie Mikey, als Eliza ausgewählt wurde.

„Wie geht’s denn so?“, fragte ich frech und lächelte. Jasmyn schien überrascht, denn anstatt der üblichen Arroganz machte sich Verwirrung auf ihrem Gesicht breit.

„Ganz nett… Und was ist mit euch, Mathlock?“, fragte sie. „Etwas kalt in der letzten Zeit!“, meinte ich. Die Kleinste von ihnen verzog das Gesicht zu einem Grinsen, doch es verschwand sofort wieder, als Jasmyn sie mit einem bösen Blick musterte.

„Nun, nach unserer letzten Mission sind wir ja nicht gerade in Frieden auseinandergegangen, aber vielleicht könnten wir das ja auf sich beruhen lassen, ihr erfüllt eure Mission, wir leben weiter einsam, aber glücklich im Wald und so…“ Ich merkte, wie verzweifelt ich mich anhörte, aber unsere Lage war auch mehr als schlecht. Die andere Gruppe hatten drei gute Kämpfer, selbst wenn man die kleine Josephine außer Acht ließ, obwohl ich noch nicht wusste, was sie konnte.

Ich war allein, und selbst, wenn Mikey es schaffen würde, mit seinem Messer jemanden zu treffen, musste er es danach erst wiederfinden und Eliza war unseren Gegnern schutzlos ausgeliefert und ich konnte nicht überall zugleich sein. Außerdem hatte auch Jannis einen guten Bogen, mit dem er aus großer Entfernung töten konnte. Also musste ich irgendwie Zeit schinden. Ich wusste zwar nicht, was ihre Mission war, aber Jasmyn hatte einen unglaublichen Hass auf uns und würde uns bestimmt nicht mehr ungestraft davonkommen lassen, zumal wir ihre schöne Chance auf Ruhm und Ehre vereitelt hatten, indem wir uns dazu entschlossen hatten, die Mission nicht auszuführen.

Also waren wir ganz eindeutig in Gefahr.

„Tut mir ja sehr Leid, meine liebe Kira, aber ich werde diesmal meine Mission erfüllen!“, lächelte Jasmyn. „Ach ja?“ Ich versuchte, verächtlich zu klingen. „Und was ist eure Mission? Eichhörnchen von den Bäumen schießen?“ „Nein, Kira.“ Jannis verriet nun zum ersten Mal, dass wir uns schon früher gesehen hatten. „Wir sollen euch töten.“

Einen Moment lang, versuchte ich, Beiwese dafür zu finden, dass er log, doch ich sah die entschlossenen Gesichter, und als das blonde Mädchen das Messer hob, drehte ich mich um, stieß Eliza und Mikey einen Schritt nach vorne und begann zu rennen. Ich trieb die beiden vor mit her, brüllte sie wie wahnsinnig an, schneller zu rennen, doch plötzlich zischte ein Pfeil an meinem Ohr vorbei. Er hätte mich beinahe getroffen, ich hatte das kitzeln der Federn an meinem Ohr gespürt, doch ich hatte keine Zeit, darüber entsetzt zu sein, dass einer meiner besten Freunde auf mich geschossen hatte, denn der Pfeil konnte nur von Jannis stammen.

Ich stieß Eliza und Mikey grob an, ließ ihnen keine Sekunde zum verschnaufen, denn ich wusste, dass die andere Gruppe hinter uns her war. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich vielleicht gewagt, stehen zu bleiben und zu kämpfen, doch ich wusste, dass Jannis mich mit einem einzigen Pfeil töten konnte, außerdem hatte ich die Verantwortung für Eliza und Mike. Ich wusste nicht, wie gut das fremde Mädchen im Umgang mit Messern war, doch ich wusste, dass Jasmyn ihre Ziele immer traf. Auch war die kleine Josephine mit ihnen unterwegs, und obwohl ich nicht wusste, was sie konnte, wusste ich, dass sie ihre Fertigkeit dann sicherlich perfekt beherrschte. Ob nun auch sie mit einem Messer nach mir werfen würde, ob sie zu verschreckt wäre, einen Menschen zu töten, oder ob ihr Talent einzig und allein darin lag, zu rennen oder zu Turnen, wusste ich nicht, doch sie war nicht umsonst auf dieser Mission. Das war etwas, was ich mir auch immer wieder bei Eliza einredete, obwohl sie uns noch nicht sehr geholfen hatte.

Ich sah die Bäume an uns vorbeirasen, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Wieso sollten sie uns töten? Es würde niemandem schaden, wenn wir einfach ungestört im Wald leben würden. Wahrscheinlich hatte Jasmyn uns beobachtet und dann verraten, dass wir noch immer am Leben waren. Aber warum sollten sie uns töten?!

Ich riss die beiden Kinder zur Seite und stieß sie in einen Graben, der vielleicht tief genug war, um uns zu verstecken, aber nur, wenn unsere Verfolger nicht zu lange hier verweilten.

Kurz darauf hörte ich Schritte und über uns rannten die Kinder vorbei.

Ich wartete kurz, dann zog ich Eliza und Mikey auf die Füße und wir rannten auf dem schnellsten Weg zurück zu Finn.

 

 

 

 

 

Sie mussten Finn nicht lange erklären, was passiert war. Er hatte es sofort verstanden, ein paar knappe Fragen gestellt, dann hatten sie sich zusammengesetzt und versucht, einen Plan auszuarbeiten. „Also, wer hat einen Plan?“, fragte Mikey. Als keiner antwortete, meinte Kira: „Wir haben nicht viele Möglichkeiten. Wir bleiben hier und hoffen, dass sie uns nicht entdecken, oder wir brechen auf und hoffen, dass sie uns nicht entdecken, oder wir kämpfen, das bedeutet trotzdem, dass wir sie entweder suchen müssten, oder hier bleiben müssten um darauf zu warten, dass sie uns finden.“

Eliza hob zögerlich die Hand. „Ja, was ist?“, fragte Kira sie. „Kann ich den Teil ab… „nicht so viele Möglichkeiten“ noch mal hören?“ Damit erntete sie die Lacher von Mikey und Finn, denn scheinbar hatten die beiden es auch nicht richtig verstanden. „Vielleicht schreibst du es auf!“, schlug Finn vor. Kira verpasste ihm dafür eine Kopfnuss. „Du bist doof!“, sagte sie beleidigt, doch schon bald musste sie grinsen.

„Sagen wir es mal so: Wollen wir sie angreifen, jetzt da wir wissen, was sie vor haben, oder sollen wir uns verstecken?“, fragte Kira in die Runde. Darüber gingen die Meinungen auseinander. Finn schien wohl das Gefühl zu haben, dass es seinen Stolz zu sehr verletzen würde, wie ein Reh zu fliehen. „Wir können doch nicht einfach abhauen! Ich meine, drei von denen sind jünger als ich, mindestens!“, sagte er. „Vielleicht ist sogar das andere Mädchen noch jünger als ich!“ „Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“, lachte Mikey. „Sie sah vom Gesicht her ziemlich jung aus!“, warf Kira ein.

Während sich Mikey, Kira und Finn um das Alter der anderen Gruppenmitglieder stritten, wog Eliza die Vor- und Nachteile ab. „Ich finde nicht, dass wir hierbleiben sollten!“, rief sie in die Streitereien hinein. Die Kinder brachen ab und sahen sie an. „Ich meine, ob wir jetzt fliehen, was Finn ja nicht passen würde, oder ob wir sie jagen, bleibt uns überlassen, finde ich. Und wenn Finn nicht abhauen will, müssen wir Jasmyn und die anderen eben… ich weiß nicht, aber ihr wisst schon, was ich meine.“ Jedenfalls hoffte Eliza das. Sie hatte nämlich nicht vor, jemanden zu töten, schon gar nicht Josephine, die ihre beste Freundin war. Und da sich auch Kira und der Junge zu kennen schienen, schätzte sie die Chancen, dass sie ihn umbringen würde, auch recht schlecht ein.

„Vielleicht hat sie recht!“, meinte Finn.

„Einen Versuch ist es wert!“, stimmte auch Kira zu, während Mikey nickte. „Dann sollten wir jetzt besser aufbrechen, oder?“, fragte Mikey. „Erst mal müssen wir schauen, was wir an Waffen haben. Keiner sollte ohne Waffen aufbrechen!“, sagte Finn. Sie entleerten ihre Rucksäcke und dazu den von Jannis, den Kira gefunden hatte.

Sie hatten Finns Schwert, Kiras Bogen und dazu knapp ein Dutzend Pfeile. Dann das dünne Fischermesser, das Kira Jasmyn bei ihrem Kampf abgenommen hatte, und dazu den kurzen Dolch mit einem Griff aus Hirschgeweih, der in dem Rucksack im Fluss gewesen war.

„Ich würde vorschlagen, dass Mikey und Eliza je ein Messer bekommen!“, sagte Finn. „Und wir beide nehmen unsere eigenen Waffen“, sagte er und sah Kira an. Kira schüttelte den Kopf und verzog die Stirn. „Ich bin dagegen. Mikey ist gut im Messerwerfen, er sollte beide bekommen. Außerdem bezweifle ich, dass Eliza jemanden abstechen könnte!“, fügte sie hinzu und zog eine Augenbraue hoch. „Oder glaubst du das etwa, Finn?“ Einen kurzen Moment war Eliza beleidigt, dann aber merkte sie, dass Kira recht hatte. „Was soll sie dann machen?“, fragte Mike. „Mit dem Fischermesser kann man sich kaum verteidigen, die Klinge ist zu dünn!“ Kira nahm es in die Hand und bog es ein Stück. „Sie braucht etwas, mit dem sie sich verteidigen kann und das man nicht nur zum Angreifen gebrauchen kann.“ „Und wenn ich einfach immer bei Mikey bleibe?“, fragte sie. „Das hat das letzte Mal ja auch so gut geklappt!“, sagte Finn ironisch.

„Wie wäre es, wenn wir sie an die Leine nehmen?“, fragte Kira und lachte. „Jetzt bleib mal ernst!“, sagte Mike und boxte Kira freundschaftlich in die Schulter.

„Was, wenn ich für Eliza einen Bogen machen würde?“ „Aber deine Pfeile sind doch viel zu lang für mich und du kannst sicher keine gefährlichen Pfeile aus Stöcken machen!“, warf Eliza ein. „Außerdem kann sie sich damit immer noch nicht verteidigen, sondern nur angreifen. Sie muss sich ganz besonders verteidigen können. Wir anderen sind größer und wirken dadurch eher abschreckend.“ Finn schielte zu Mikey, der etwas kleiner als Eliza war. „Na ja, jedenfalls sind wir älter!“ Dafür erntete er einen bösen Seitenblick von Mikey.

„Wie wäre es, wenn wir diesmal einfach auf sie aufpassen?“, fragte Mikey. „Oder sie bekommt für den Notfall einen meiner Pfeile. Die sind spitz und sie kann mit ihnen trotzdem jemanden zu Seite stoßen, oder so…“, schlug Kira vor. Erst jetzt fiel ihnen auf, wie hilflos sie waren: Sie waren zu viert zwar nicht in der Unterzahl, doch sie hatten zwei Kinder, die sich nicht verteidigen konnten. Mikey konnte immerhin noch weglaufen, doch Eliza besaß trotz des harten Waldlebens immer noch keine gute Ausdauer.

Finn musste zum kämpfen nah an seine Feinde ran, sonst konnte er nichts machen, Kira hingegen war völlig hilflos, sollten ihre Feinde näher als zwei Meter an sie herankommen.

Die andere Gruppe war besser aufgebaut. Zwar hatten sie die kleine Josephine, doch sie schien eine sehr gute Läuferin zu sein, was sowohl bedeutete, dass sie fliehen, aber auch andere Leute einholen konnte. Außerdem schien das Kind sehr entschlossen zu sein und hatte sicher kein Problem damit, jemanden wie Eliza oder Mikey zu Boden zu werfen. Eliza befürchtete, dass sogar Kira oder Finn, je nachdem wie Josephine auf sie sprang, von ihr zu Fall gebracht werden würden.

Dann hatten sie zwei Mädchen, die wahrscheinlich mit einer ganzen Sammlung Jagdmesser durch den Wald rannten und nur darauf warteten, dass sich ihnen jemand in den Weg stellte, doch sie konnten sich trotzdem auch auf nähere Distanzen verteidigen.

Und dann war da noch Jannis, der Junge, von dem Kira ihnen erzählt hatte, dass er seine Ziele nie verfehlte. Wenn man ihn in die Enge treiben würde und es schaffen würde, nah an ihn heranzukommen, könnte ihn vielleicht jemand außer Gefecht setzen, doch dazu musste man nun mal an ihn herankommen. Und im Gegensatz zu Kira, die auch mit einem Bogen kämpfte, hatte er niemanden, den er verteidigen musste, außer sich selbst, was ihm den Vorteil bescherte, dass er seine Augen nicht überall haben musste.

„Also gehen wir sie suchen?“, fragte Mikey. „Irgendwas müssen wir doch tun!“, sagte Finn leicht genervt. „Also, aufstehen!“ Gehorsam erhoben sich alle. „Und was sollen wir jetzt tun, Herr Hauptmann?“, fragte Kira mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Wir werden uns auf die Lauer legen, Soldat Mathlock!“, befahl Finn. Kira salutierte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Zu Befehl, Sir!“

Sie gingen in dem kleinen Graben in Deckung, den Kira, Mikey und Eliza bereits benutzt hatten, als sie verfolgt wurden. „Sie werden nicht abhauen!“, sagte Finn. „Sie werden irgendwo hier in der Nähe sein, und uns suchen!“ Sie drängten sich so dicht sie konnten an die feuchte Erde auf dem Boden. Sie blieben lange auf ein und demselben Fleck liegen, und gerade, als Mikey sich bewegen wollte, hörten sie von weit weg Stimmen. „Müssen wir sie wirklich alle frontal angreifen?“, fragte Mikey. „Nur ein Idiot würde das tun!“, widersprach Finn. „Soldat Mathlock wird sie ablenken!“ „Kannst du mal aufhören, mich „Soldat“ zu nennen?“, fuhr Kira ihn leise an. „Ich bin mindestens genauso viel Hauptmann wie du!“ „Das lässt sich leicht feststellen! Na los, lenk sie ab!“, sagte Finn und grinste. Kira starrte ihn kurz böse an, dann packte sie ihren Bogen und rannte geduckt durch den Graben.

„Sobald sie an uns vorbei sind, springen wir auf, und greifen sie von hinten an, verstanden?“, fragte Finn. Eliza und Mikey nickten.

Finn lugte über den Rand des Grabens. Eliza sah ihn fragend an, als er zurückzuckte. „Da sind sie! Ich sehe sie!“, flüsterte er ihnen zu. „Haben sie irgendwelche Waffen?“, fragte Mikey. „Der Junge hat seinen Bogen in der Hand und mehr als fünfzehn Pfeile in seinem Köcher. Wenn wir uns bewegen, sind wir durchlöchert wie ein Schweizer Käse!“, sagte Finn. „Jasmyn hat ein Messer in der Hand und ihre Jacke sieht so aus, als hätte sie noch mehr darunter. Ich kann nicht erkennen, ob die anderen beiden bewaffnet sind, aber es sieht fast so aus, als hätte jede von denen auch noch ein Messer in der Hand!“

„Aber Josephine ist nicht gut im Messerwerfen! Sie ist gut im Rennen! Sehr gut sogar!“, fügte Eliza hinzu als Finn sie fragend ansah.

Jetzt liefen sie an ihnen vorbei. Eliza konnte ihre Schritte hören, direkt über ihnen hörte sie Josephines Lachen, die Stimmen der anderen drei Kinder und neben ihr kullerte ein kleiner Stein in den Graben, in dem sie sich versteckten. Eliza betete, dass sie nicht auf die Idee kamen, in den Graben zu sehen, sondern in ihr Gespräch vertieft waren. Sie waren erst wenige Schritte von ihnen entfernt, als ein Pfeil mit unglaublicher Geschwindigkeit an Jasmyns Ohr vorbeisauste. Sie brüllte den anderen aus ihrer Gruppe etwas zu, dann warfen sich alle auf den Boden, als kurz darauf noch ein Pfeil an ihnen vorbeizischte.

„Los, das ist Kira! Auf sie!!!“, brüllte Finn und sprang aus dem Graben. Eliza und Mikey folgten ihm mit einem Kampfgeheul, das im ganzen Wald zu hören war. Sofort waren Jasmyn und der Rest ihrer Gruppe wieder auf den Beinen. Jannis riss seinen Bogen hoch und schoss einen Pfeil auf Mikey ab, der in letzter Sekunde darunter durchtauchen konnte.

„Jasmyn, Lia, haltet sie auf Abstand!“, schrie er den Mädchen zu. Josephine stand geschützt hinter Jasmyn und Lia, dem großen blonden Mädchen.

Kira kam nun von der anderen Seite und zielte auf Jasmyn. Mit einer Geschwindigkeit, die Eliza Jasmyn niemals zugetraut hätte, drehte sie sich um und kurz darauf steckte ihr Messer keine drei Zentimeter neben Kira in einem Baum. „Kreist sie ein!“, brüllte Finn ihnen zu.

 

 

 

 

Ich legte einen Pfeil nach dem Anderen in die Sehne meines Bogens und schoss. Bei Jannis, Lia und Josephine zielte ich noch daneben, weil sie noch nie versucht hatten, einen von uns umzubringen – wenn man von dem Pfeil einmal absah, den Jannis mir hinterhergeschickt hatte.

Ich behielt meine Feinde für gewöhnlich immer im Auge, doch plötzlich fiel mir auf, dass die kleine Josephin weg war. Auch Lia schien der Gedanke zu kommen. „Josy!“, rief sie durch den Wald, auf der Suche nach dem kleinen Mädchen. Im selben Moment spürte ich einen kräftigen Schlag in den Rücken, der mich aus dem Gleichgewicht brachte. Ich hatte gerade noch Zeit, die Sehne loszulassen und der Pfeil schwirrte ungezielt los irgendwo in die Richtung, in der die Anderen standen und ich hoffte, dass sie sich in Sicherheit bringen konnten und niemand getroffen werden würde. Mit Ausnahme von Jasmyn, ich hätte kein Problem damit, eine Gefahr weniger zu haben.

Ich landete auf dem Boden, von dem Aufprall blieb mir die Luft weg. Jemand drückte mich mit seinem ganzen Körper auf den Boden, und ich glaubte, dass es Josephine war. Wenn sie es war, dann hatte sie unglaublich viele Muskeln und ich war kurz davor zu glauben, dass sie weitaus älter als sechs Jahre war, doch dafür war sie zu klein.

Sie drückte mich zu Boden und ich versuchte, mich umzudrehen, doch ich war wie festgenagelt. „Lass mich los! Hör auf damit!“, brüllte ich das Mädchen an, in der Hoffnung, ihr Angst zu machen, doch die Kleine dachte gar nicht daran, sich vor mir zu fürchten. Stattdessen rammte sie mir ihr Knie in die Rippen. Als ich es endlich schaffte, mich umzudrehen, saß sie gleich wieder auf meinem Bauch, ein Messer gezückt, das ich vorher noch nicht bemerkt hatte. Ich fand es mehr als peinlich, wahrscheinlich jeden Moment von einem sechsjährigen Mädchen umgebracht zu werden, doch ich konnte nichts dagegen tun außer zu hoffen, dass sie nicht so verrückt und skrupellos war wie Jasmyn und dass sie davor Angst hatte, einen Menschen zu töten.

„Josephine, hör auf damit!“, schrie ich sie an, während ich versuchte, meinen Bogen unter meinem Rücken hervorzuziehen. Ich versuchte, meine Beine unter ihren Bauch zu bekommen, doch sie hielt mich so fest, dass ich mich kaum bewegen konnte. „Ich hab eine!“, brüllte sie. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Mit einem Ruck riss ich meinen Kopf hoch und schlug ihn ihr gegen die Stirn. Mit einem Aufschrei ließ sie sich von mir fallen, in ihren Augen sah ich die Tränen schimmern, während ich meine Nase betastete. „Ich hab dich ja gewarnt!“, sagte ich mehr zu mir, als zu Josephine, um mein Gewissen zu beruhigen.

Dann packte ich meinen Bogen. Mikey hatte es inzwischen geschafft, Jannis zu entwaffnen und rangelte auf dem Boden mit ihm, während Eliza sich an Jasmyns Bein klammerte und versuchte, sie zu Fall zu bringen. Finn wehrte mit dem Schwert Lias Messer ab und schlug dann so stark nach ihr, dass sie das Messer mit einem Aufschrei fallen ließ. Ich ließ Josephine neben mir auf dem Boden liegen und zog einen Pfeil aus meinem Köcher. Ich zielte auf Jasmyns Hinterkopf, doch bevor ich irgendetwas tun konnte, biss Josephine mir ins Bein. Ich fuhr herum und packte sie an den Haaren, doch sie trat nach meinem Schienbein und ich musste sie loslassen, um mich vor ihren wilden, aggressiven Tritten in Sicherheit zu bringen. Ich versetzte ihr einen Stoß mit meinem Bogen und sie ging zu Boden, doch da blieb sie nicht lange.

Die Kleine stand auf und stürzte sich auf mich. Ich musste zurückweichen und stieß plötzlich gegen Jasmyns Rücken. Bevor die sich umdrehen konnte, stieß ich ihr meinen Ellenbogen in die Rippen.

Plötzlich stand nicht mehr Josy, sondern Lia vor mir. Genauso grinsend packte sie ihr Messer fester, und obwohl es nicht so aussah, als würde ich hier lebend rauskommen, schoss mir plötzlich nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: „Die beiden müssen Geschwister sein!“ Als Lia ihr Messer auf mich herabsausen ließ, landete meine Faust in ihrem Gesicht. Aus ihrer Nase tropfte Blut auf den Boden und kurz darauf hing Josephine wieder an meinem Bein. Ich trat sie weg, rammte Lia auf die Seite und versuchte, mich aus ihrem Kreis zu befreien, doch Lia packte mich und schubst mich zurück. Wieder prallte ich gegen einen Rücken, aber diesmal war es Finn. „Lange nicht gesehen!“, sagte er und drängte sich, so dicht er konnte, an meinen Rücken. Wir waren umzingelt. Mikey hatte den Kampf gegen Jannis verloren und der stieß ihn nun zu uns in die Mitte. Links neben mir stand auch Eliza. Sie hatte keine Chance gegen Jasmyn gehabt. Zwar zielte ich mit meinem Bogen auf Josy, doch ich wusste, dass sie zu nah war und der Pfeil nicht einmal ansatzweise genug Kraft haben würde, sie auch nur zu verletzen. Jannis hatte einen einzelnen Pfeil aus seinem Köcher geholt und hielt ihn nun vor sich, um notfalls zustechen zu können, oder ein Messer abzuwehren. Wir waren gefangen und hatten keine Chance zu entkommen.

Ich sah mich nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit um, doch die vier Kinder hatten einen dichten Kreis um uns geschlossen. Mir blieb nur eine Möglichkeit. Auf sie konnte ich nicht schießen, dafür waren mir jetzt alle zu nah, aber ich konnte auf etwas anderes schießen und sie damit aus dem Konzept bringen. Vielleicht hätten wir dann Zeit genug, sie zu überrumpeln, und zu fliehen. Doch auf was sollte ich nur schießen? Etwas, was sie auch mit Sicherheit sofort bemerken würden, und sie möglicherweise noch etwas in ihrer Sichtweite behindern würde. So würden sie uns wenigstens nicht sofort verfolgen können…

Mein Blick schnellte nach oben und ich riss den Bogen hoch. Überrascht wichen Josy und Jasmyn, die mir am nächsten waren, ein Stück zurück und ich ließ den Pfeil losschnellen. Er flog durch die Bäume und ließ dabei einen Regen aus verdorrten Blättern und feuchten Ästen auf uns herabprasseln.

Jasmyn fluchte und hielt sich die Augen zu, denn sie war mit dem Blick meinem Pfeil gefolgt und hatte Rinde und Blattreste in die Augen bekommen. Mein Plan war besser geglückt als ich dachte. Ich nahm mir nicht die Zeit, die Reaktionen unserer restlichen Feinde zu begutachten, zögerte keine weitere Sekunde, packte Eliza am Arm und riss sie mit mir durch die Lücke, die sich in dem Kreis unsere Feinde aufgetan hatte.

Ich hörte, dass Finn und Mikey uns folgten, und rannte schneller. Eliza kam mit ihren kurzen Beinen kaum hinterher und ich fragte mich, wie die andere Gruppe das mit Josephine machte. Sie musste wirklich schnell rennen können, um mit den anderen Schritt zu halten.

Ich rannte mit Eliza jetzt bergab und es ging leichter. „Da lang!“, keuchte ich und riss sie nach links.

Ich knickte um, kam aber sofort wieder auf die Beine und rannte weiter. „Nicht stehen bleiben!“, befahl ich ihr, als sie langsamer wurde. Ich lauschte, hörte jedoch außer unseren Schritten nichts. Jasmyn und die anderen drei verfolgten uns nicht. Wir waren allein. Völlig allein, denn nicht nur Jasmyns Schritte und die ihrer Komplizen fehlten, sämtliche Schritt, Stimmen und andere menschliche Geräusche waren verstummt. Als wir stehen blieben, waren Mikey und Finn nirgends mehr zu sehen.

 

 

 

 

 

 

Mikey rannte immer weiter. Sein Herz pochte und seine Lunge schrie nach Luft, doch er ignorierte sie. Immer weiter… Immer weiter… Er keuchte, doch er blieb nicht stehen. Irgendwo hinter ihm hörte er Finn keuchen und war froh darüber, dass er noch da war. Nur wenige hielten sein Tempo durch und er hoffte, dass Lia, Jasmyn, Jannis und Josy zu denen gehörten, die es nicht schafften.

Jedenfalls bei Jasmyn war er sich sicher, dass sie es nicht schaffen würde. Ihre Spezialität war nun mal das Messerwerfen und vielleicht hielt sie auf länge Distanzen länger durch, als er, doch Sprinten war sein Gebiet.

Mikey rannte und rannte, doch er hörte noch immer Schritte hinter sich. Ob das nun Finn war, oder nicht, konnte er nicht sagen, doch als er vor sich auf dem Boden einen dicken Stock sah, rannte er darauf zu und hob ihn auf, ohne stehen zu bleiben. Jetzt hatte er wenigstens eine Waffe, mit der er besser werfen konnte, als mit dem Messer, denn bei dem Stock war es egal, von welcher Seite seine Angreifer getroffen wurden und der Stock musste nicht schnurgerade fliegen. Er rannte weiter. Immer weiter…

Irgendwann war Mikeys Kraft am Ende. Er ließ sich, ohne abzubremsen, zu Boden fallen. Er konnte nicht mehr und hatte das Gefühl, zu ersticken. Sein Herz raste, seine Lunge schmerzte, doch Mikey versuchte all das zu vergessen. Einatmen, ausatmen. Das war alles, war zählte. Er hustete, sein Hals war staubtrocken, doch sie hatten ihre Vorräte nicht mitgenommen, da sie gedacht hatten, sie würden die Anderen besiegen, bevor sie hungrig oder durstig wurden. Erst jetzt wurde Mikey das Ausmaß ihrer Dummheit bewusst.

Er wusste nicht in welche Richtung er gehen musste, um zu einem Bach zu kommen, oder gar zurück zu ihrem Lager, aber er war sich sicher, dass er, wenn er nicht bald Wasser finden würde, verdursten würde. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen.

Als die Welt um ihn herum nicht mehr schwankte und er nicht mehr doppelt sah, setzte er sich vorsichtig auf. In dem Teil des Waldes war er noch nie gewesen, doch irgendwo, nicht weit von hier entfernt, musste Finn sein. Bis vor kurzem hatte er ihn noch hinter sich gehört. „Mike!“, hörte er ihn rufen, doch seine Stimme hallte durch die laublosen Äste der Bäume und da es Mikey immer noch schwindlig war und er das Gefühl hatte, jeden Moment umzufallen, wusste er nicht, aus welcher Richtung die Stimme kam. „Finn!“, wollte er rufen, doch aus seinem trockenen Mund kam nur ein Krächzen, dass Finn höchstwahrscheinlich nicht einmal gehört hätte, wenn er direkt hinter ihm gewesen wäre.

„Finn!“, rief Mikey diesmal etwas lauter. Seine Stimme hörte sich immer noch kratzig an, doch sie war etwas lauter. „Finn!“, schrie Mike. Es war ihm egal, ob ihn jemand hören würde. Er würde auch sterben, wenn ihn niemand finden würde, da er absolut nicht in der Verfassung war, sich nur noch einen Schritt weiter zu bewegen. Seine Füße taten so weh, wie schon lang nicht mehr. „Finn!“ Er brüllte so laut, dass er das Gefühl hatte, sein Kopf wurde platzen. Ihm wurde schlecht und er spürte, wie die Welt sich um ihn herum drehte. Dann wurde es schwarz um ihn herum.

 

 

 

 

 

Finn hörte Mikey rufen, doch er konnte ihn nicht sehen. „Mikey! Wo bist du?“, rief er und lief auf die Stimme zu, doch Mikey antwortete nicht mehr. „Mikey!“ Finn preschte durch die Bäume und ließ sich von nichts und niemandem aufhalten. „Mike!!!“ Er versuchte sich daran zu erinnern, von wo Mikeys Rufe gekommen waren. Er suchte den Boden nach Spuren ab, doch Mikey war zu klein und zu schlank um Äste von den Bäumen und Büschen zu brechen und der Boden war gefroren.

Finn blieb stehen und sah sich um. Er legte die Hände an den Mund und brüllte noch einmal so laut er konnte: „Mike!“ Nichts. Nur das Rascheln der wenigen verbliebenen Blätter in den Bäumen und das heulen des Windes, der aufgekommen war. Langsam lief Finn weiter, jeden Zentimeter des Waldes absuchend.

Er war so darin vertieft, dass er ihn erst bemerkte, als er mit der Spitze seines Schuhes gegen Mikeys Arm stieß. Er lag auch dem Boden, mit geschlossenen Augen, die Arme und Beine von sich gestreckt. „Mike!“ Finn warf sein Schwert auf die Seite und kniete sich neben Mike. “Mikey, wach auf! Mike, aufwachen!” Er packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Mikey!!!“, brüllte er ihn an. Er regte sich nicht. Irgendwann verpasste Finn ihm verzweifelt eine saftige Ohrfeige. Mikey zuckte zusammen und Finns Herz machte vor Freude einen Sprung.

Langsam öffnete Mikey die Augen. „Mikey! Wie geht’s dir? Ist alles in Ordnung?“ „Was ist?“, fragte Mikey Finn. „Du warst kurz bewusstlos, glaub ich. Ich hab dich gerufen, aber du scheinst mich nicht gehört zu haben“, erklärte Finn. „Doch, ich hab dich einmal gehört. Ich…“ Mikey verstummte und setzte sich auf. „Wo sind die Mädchen?“, fragte er schwach. „Ich weiß nicht. Sie… sie sind schneller gewesen als wir und wahrscheinlich haben sie sich jetzt irgendwo versteckt. Wir müssen aber auf jeden Fall zurück zu unseren Vorräten, bevor Jasmyn, Jannis, Lia und Josephine sie finden!“, sagte Finn und stand auf. „Kannst du laufen?“, fragte Finn ihn besorgt. Mikey nickte tapfer. „Ich glaube schon…“ Er versuchte aufzustehen, doch er fiel hin. Finn half ihm auf die Beine und stützte ihn, was gar nicht so einfach war, da Finn einen guten Kopf größer war, als Mikey.

 

 

Als sie bei dem Baum ankamen, dessen Wurzeln ihnen in der letzten Nacht als versteck gedient hatten, sahen sie, dass die Mädchen bereits da waren. „Da seid ihr ja!“, rief Finn. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. „Ihr wart plötzlich weg. Wo wart ihr?“, fragte Finn. Kira stand auf und gab den Blick auf ein kleines Lagerfeuer frei, das sie scheinbar entfacht hatten. „Dasselbe könnte ich euch fragen! Immerhin hab ich uns allen wahrscheinlich gerade das Leben gerettet!“ Kiras Blick blieb an Mikey hängen. „Was ist mit dem los?“, fragte sie. Finn ließ Mikey zu Boden gleiten, der kaum bei Bewusstsein war. „Keine Ahnung, ich glaub, er hat sich überanstrengt. Jedenfalls ist er nicht verletzt. Er hat nicht einmal einen blauen Fleck!“

„Eliza, hol mir mal eine Wasserflasche!“, befahl Kira und drehte Mikey, der auf der Seite lag, auf den Rücken. „Mike? Mikey?“, fragte sie ihn vorsichtig. Mikey stöhnte und hustete, dann brachte Eliza Kira die Wasserflasche. „Wach auf, Mikey!“, sagt Kira. „Mike, hörst du mich?“ Mikey nickte leicht, dann hustete er wieder. Kira setzte ihn auf, hielt ihm die Flasche an den Mund und er trank ein paar Schlucke, bevor er wieder hustete. „Finn, wärst du so nett, Mikey mal da rüber zu tragen?“, fragte Kira Finn. Er nickte und hob Mikey hoch. Er legte ihn neben das Feuer. „Wenn er aufwacht, gebt ihm noch mal was zu trinken!“, sagte sie. „Ich muss noch mal kurz weg.“

Dann nahm sie ihren Bogen und verschwand. Mikey stöhnte und rollte sich auf die Seite. Dann hustete er wieder. Finn fühlte sich vollkommen hilflos, also setzte er Mikey mit Elizas Hilfe noch mal auf und gab ihm zu trinken.

Als Kira kurz darauf zurückkam, hatte sie ein paar Stücke Kiefernrinde in der Hand. Sie gab eins Mikey, der es widerwillig in den Mund nahm und langsam darauf herumkaute, während er wieder klarer im Kopf zu werden schien.

Dann verteilte sie den Rest der Rinde. Während Finn träge auf seinem Stück herumkaute, setzte Mike sich auf. „Wie geht’s dir?“, fragte Kira ihn. Er zuckte mit den Schultern. „Kann mich nicht beklagen… Aber ich hab Durst!“ Kira gab ihm eine Flasche und der Junge trank sie leer.

Finn ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Als Mikey sich dann erschöpft wieder auf seine Decke sinken ließ, stand Finn auf und ging zu ihm. Er sah auf ihn herab und Mikey sah zu ihm hoch. „Ist was?“, fragte dieser dann plötzlich. „Was war los? Warum bist du umgekippt?“, fragte Finn ihn. „Ich musste dich fast den ganzen Weg hierher tragen, und dass ich dabei immer Angst haben musste, dass du dich verletzt oder schon verletzt bist und ich dir eventuell irreparable Schäden zufügen könnte, hat die Sache nicht gerade erleichtert!“

„Ich hab einfach keine Luft mehr bekommen. Ich bin immerhin mehrere Minuten gesprintet!“ In Mikeys Stimme schwang ein leichter Vorwurf mit, was Finn nicht entging. Da er nicht streiten wollte, stand er auf und setzte sich wieder auf seine Decke. „Wir müssen uns was Neues überlegen!“, sagte er und winkte Eliza und Kira zu sich. „Wir können sie nicht besiegen, wie wir gemerkt haben, erst recht nicht jetzt, wo Mikey sich in diesem Zustand befindet.“ Mike wollte protestieren. „Nein, Mike, Finn hat recht!“, unterbrach Kira ihn. Mike schloss den Mund wortlos wieder. „Also, was sollen wir tun?“, fragte Kira.

„Wir könnten es noch einmal riskieren, sie aus dem Hinterhalt anzugreifen, aber diesmal halten wir einen Plan B bereit. Falls es uns nicht gelingen sollte, sie innerhalb der ersten drei Minuten zu besiegen, locken wir sie an einen Ort, wo wir ihnen gegenüber im Vorteil sind.“ „Und wo wäre das?“, fragte Kira. Finn krabbelte auf Knien durchs Laub zu seinem Rucksack und zog die Karte heraus. „Hier!“ Er zeigte auf einen Punkt, der nah an einem Fluss zu liegen schien. „Und was ist da?“, fragte Mikey, der sich nun neugierig aufrichtete. „Da ist eine steile Felswand. Wenn wir es schaffen, nach oben zu klettern, stehen wir über ihnen. Ihre Messer können uns dort nichts mehr anhaben und wir sind in der besten Position, die wir haben können. Entweder, sie hauen gleich ab, oder sie bleiben unten, und versuchen, zu uns hochzuklettern, schön in Reichweite unserer Messer und Kiras Pfeile. Na, was sagte ihr?“, fragte er, als er geendet hatte.

Die anderen sahen ihn unentschlossen an, dann nickte Kira. „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Und wenn wir sie nicht besiegen können, können wir ja auf die Felswand fliehen.“

Auch Mikey und Eliza stimmten bald zu. „Glaubt mir, der Plan ist vollkommen sicher. Ich hab mir alles genauestens überlegt, es kann gar nichts schiefgehen!“, sagte Finn. „Und wann brechen wir auf?“, fragte Mikey. Kira drückte ihn wieder auf die Decke. „Wenn es dir besser geht.“ „Aber mir geht es gut!“, protestierte Mikey. „Ich war nur überanstrengt und hatte Durst, aber jetzt ist wieder alles okay!“, versicherte er ihnen. Als Kira Luft holte, um seine Worte zu widerlegen, redete Mikey schnell weiter. „Ich… Ich kann schon wieder laufen und rennen! Ich bin kein kleines Kind, um das man sich kümmern muss! Morgen können wir loslegen!“ Er machte nur eine kurze Pause, um Luft zu holen. „Je früher wir sie angreifen, umso geschwächter sind sie es auch noch und sie werden nicht erwarten, dass wir jetzt schon wieder auf sie losgehen! Wirklich mir geht’s gut!“, beteuerte er noch einmal.

Finn zuckte gleichgültig die Schultern. „Von mir aus. Wenn er sagt, es geht ihm gut.“ „Es geht ihm aber nicht gut!“, warf Kira ein. „Das kannst du doch gar nicht wissen!“, mischte Mikey sich ein. „Ich sehe es dir aber an!“, sagte Kira. „Aber ich will nicht hier liegen bleiben!“ „Ich finde, wir können darauf vertrauen, dass er weiß, was er tut!“, sagte Finn zu Kira gewandt. „Und er hat schließlich Recht. Jeder verlorene Tag, ist eine verlorene Chance!“ Schließlich gab Kira nach, aber nur unter der Bedingung, dass sich jetzt alle hinlegten und schliefen.

„Wir brechen morgen gegen Mittag auf, damit alle Zeit haben, etwas auszuschlafen“, meinte Kira.

 

Als Finn am nächsten Morgen erwachte, sprang Mikey sofort auf. „Also, worauf wartet ihr noch? Und du hast behauptet, es würde mir heute nicht gut genug gehen, um zu kämpfen!“, sagte er zu Kira. „Ich glaube, du wolltest nur noch einen Tag länger schlafen!“ Dann lachte Mikey. „Es wäre auch besser für uns gewesen, uns noch etwas auszuruhen!“, knurrte Kira und drehte sich auf die andere Seite. „Steh auf!“ Mikey hatte sich über sie gebeugt und sprang gerade noch rechtzeitig zurück, um zu verhindern, dass sie ihm die Nase brach, denn Kira sprang wie von der Tarantel gestochen auf und warf ihre Decke nach Mikey. „Normalerweise bist du doch der Langschläfer!“ rief sie. „Heute nicht! Jeder Sekunde zählt!“ „Nun übertreib mal nicht so!“, sagte Finn, der gemächlich aufstand und seine Decke in den Rucksack packte.

„Kommt schon!“, rief Mikey wieder. Eliza versuchte scheinbar, von ihm übersehen zu werden, doch er zog sie auf die Beine. „Du auch, kleine Schwester!“, sagte er. Entweder war er ein guter Schauspieler geworden, oder es ging ihm wirklich wieder gut.

Finn hatte inzwischen seine Sachen in seinem Rucksack verstaut und half Eliza mit ihrer Decke. „Seid ihr bereit?“, fragte Mikey die anderen. „Warum denn auch nicht?“, fragte Kira gleichgütlich und zuckte mit den Schultern. Sie zog den Köcher auf und spannte ihren Bogen.

 

 

 

 

 

 

„Wo stecken die bloß? Die können doch nicht verschwunden sein!“, sagte Kira. Mikey rollte sich unruhig auf dem feuchten Erdboden hin und her. „Wir holen uns noch den Tod, wenn wir hier weiter rum liegen!“, jammerte Eliza. „Übertreib nicht!“, sagte Finn. Mikey spielte mit dem Messer in seiner Hand und ritzte Muster in den Erdboden. Dann schrieb er in dicken Druckbuchstaben „Mikey war hier“ in den Dreck. „Du könntest auch eine Flagge hier in den Boden stecken und deinen Namen draufschreiben!“, sagte Kira, als sie entdeckte, was Mikey gemacht hatte. „Ne, das wäre viel zu auffällig!“, sagte Mikey und verzog das Gesicht, als Kira versuchte, die Buchstaben mir einer handvoll Erde zu verdecken. „Da kommen sie!“, knurrte Finn plötzlich. Mikey packte sein Messer fester, spannte seine Muskeln an und machte sich zum Angriff bereit. „Auf drei!“, befahl Finn. „Eins…“ Jetzt hörte auch Mikey die Schritte. Sie schienen nicht mehr weit von ihnen entfernt zu sein. „Zwei…“ Mikey stieß seine Zehen in den Abhang, auf dem er lag, um sich schnell abstoßen zu können. „Drei!“ Mikey sprang auf und mit einem Kampfgeheul rannten sie auf die gegnerische Gruppe zu.

Mikey warf das dünne Messer nach Josy, die es mit einem blitzschnellen Drehen des Stockes, den sie in der Hand hatte, weg schlug. Das kleine Mädchen war unglaublich schnell, genauso wie ihre Reflexe.

Mit dem Dolch ging Mike nun auf Lia los, doch sie wehrte drei seiner Schläge ab und er musste zurückweichen. Lia drehte sich um und warf ein Messer auf Kira, das sie jedoch um einige Zentimeter verfehlte. Während sie sich wieder umdrehte zog sie ein weiteres Messer. Mikey nutzte den Moment, in dem sie sich wieder zu ihm drehte und riss ihr den linken Oberarm auf, jedoch nur leicht. Es sickerte kaum ein Blutstropfen aus dem Schnitt. Die Jacke hatte die Kraft des Stoßes abgehalten. Trotzdem griff Lia jetzt wütend mit ihrem Messer Mikey an.

Mikey duckte sich unter einem Messerstich hindurch und schlug nach Lias rechtem Bein. Eine Weile lang kämpften sie so verbissen miteinander, dann rief Finn urplötzlich: „Rückzug!“ Mikey drehte sich um und rannte davon, Lia war ihm auf den Fersen. Er folgte Finn, der zielstrebig vor ihnen her rannte.

Bald sah Mikey eine dunkle Felswand und er hatte das Gefühl, das Herz würde ihm stehen bleiben, als er merkte, dass die Wände vollkommen glatt waren. „Wie sollen wir den da hochkommen?“, schrie er Finn zu. Auch der hatte einen unglücklichen Gesichtsausdruck, doch er rannte weiter. „Kommt her! Hierher!“, rief er Kira, Eliza und Mike zu. Sie versammelten sich um ihn herum, den Rücken an die Wand gepresst. „Endstation, Leute!“, grinste Jasmyn. „Toller Plan B!“, schnaubte Kira. „Plan B, wie Bareens Dummheit, nicht wahr?“, fragte Kira. „Jetzt lass dir gefälligst was einfallen, Finn!“ Mikey sah Finn hoffnungsvoll an. Vielleicht würde ihm ja noch etwas einfallen. Plötzlich stieß Finn sich von der Wand ab und rannte los. „Kommt mit!“ Mikey, Kira und Eliza folgten ihm dicht auf den Fersen und rannten auf die menschliche Wand zu, die Josy, Jasmyn, Jannis und Lia vor ihnen gebildet hatten. Finn packte Josy, nahm sie unsanft auf den Arm und rannte mit ihr weiter.

Kurz darauf sprang er in einen Bach und watete ans andere Ufer. Er hielt Josy den Mund zu, versteckte sich mit ihr im Schilf und Mikey, Eliza und Kira folgten ihm. „Was war das denn?“, fragte Kira, als die Schritte von Jasmyn, Lia und Jannis verklungen waren. Finn sah sich hilfesuchend um. „Plan C?“

 

 

„Lass mich los! LASS MICH LOOOOOOS!“, brüllte Josy. „Es hilft nichts! Was sollen wir mit ihr machen? Ihre Gruppe wird sie sofort hören und sie werden uns finden!“, sagte Kira, die aufgeregt hin- und herlief. „Dann lass ich sie halt wieder laufen!“, meinte Finn. „Aber ich finde, jetzt wo wir sie haben, könnten wir das auch ausnutzen!“ „Ich bin dagegen!“, sagte Mike kalt. „Dann würden wir uns auf Jasmyns Niveau herabbegeben. Sie hat mit Eliza doch genau dasselbe gemacht!“, sagte Mikey. „Nur, dass wir nicht vorhaben, Josy umzubringen!“, sagte Finn. „Wer weiß? Sie wissen es jedenfalls nicht und das ist einfach nur gemein und… und noch mal gemein!“ Mikey spuckte voller Verachtung vor Finn aus, der versuchte, Josy festzuhalten. „Jetzt halt mal die Luft an!“, sagte Kira. „Aber er hat eigentlich Recht! Es stimmt was, er sagt!“, gab jetzt auch Finn zu. „Sollen wir sie etwa einfach laufen lassen?“, fragte Kira. „Ich weiß nicht. Das war eine Kurzschlussreaktion. Ich wollte uns nur einen Weg freimachen. Aber dann hatte ich sie schon mal und…“ Finn verstummte.

„Dann lassen wir sie also gehen?“, fragte Eliza.

„Okay, von mir aus, soll sie wegrennen und versuchen, ihre Gruppe wiederzufinden. Das verschafft uns Zeit, bevor sie wieder Jagd auf uns machen können!“, sagte Finn. „Einverstanden?“, wandte er sich an Kira. Kira nickte. „Gut, so machen wir es. Hast du gehört, Josy?“, fragte sie das Mädchen, dem Finn immer noch den Mund zuhielt. „Und du versprichst uns, nicht zu schreien, wenn wir dich laufen lassen?“, fragte Finn.

Sie nickte wieder, dann ließ Finn sie los. Josy sprang auf, sah sich gehetzt um und rannte dann mit lautem Geschrei davon. „Verdammt! Dem Biest darf man nicht trauen!“, sagte Finn und schlug wütend auf den Boden. „Ist doch egal, wir können es nicht mehr ändern, lasst uns lieber zusehen, dass wir Land gewinnen!“, sagte Mikey und stand auf. So schnell sie konnten verschwanden sie aus dem Schilf und rannten zurück zu ihren Rucksäcken.

 

 

„Ich hatte mir überlegt, dass wenn wir sie trennen würden, jeder auf einen Einzelnen losgehen könnte.“ Finn sah in die Runde, um zu sehen, was für Reaktionen seine neue Idee hervorrief. In Kiras und Elizas Gesichtern stieß er auf Missbilligung, Mikey schien die Idee jedoch zu gefallen. „Ich bin dafür!“, sagte er als Erster. „Ich persönlich finde meine Idee auch toll!“, meinte Finn. Er hoffte, dass Kira und Eliza sich nun nicht mehr trauen würden, dagegen zu stimmen, auch wenn das etwas gemein war. Sein Wunsch erfüllte sich. „Von mir aus…“, gab Eliza schließlich nach und auch Kira nickte. „Also, dann würde ich sagen, wir teilen die Leute so auf: Eliza muss sich auf jeden Fall Josephine vornehmen, weil sie gegen die Anderen keine Chance hat. Kira, dass du dich um Jannis kümmern musst, ist wohl auch klar, schließlich kommt sonst niemand an ihn heran. Jetzt bleiben noch wir beide übrig, Mike. Ich würde vorschlagen, dass du dir Jasmyn vorknöpfst, da Lia die stärkste von den Vier zu sein scheint. Wenn ich erst einmal nahe an sie herankomme, werde ich aber ein leichtes Spiel mit ihr haben.“ Finn zögerte kurz, unsicher, wie die anderen seinen Vorschlag nun aufnehmen würden.

„Ist das okay für euch?“ Mikey nickte sofort, Kira und Eliza zögerten wieder. „Kommt schon, ihr müsst sie ja nicht gerade umbringen!“, sagte Mikey und stieß Eliza an. „Von mir aus!“, murmelte Kira. „Von mir aus…“, schloss sich auch Eliza an.

„Aber wehe, der Plan geht genauso aus, wie dein Letzter!“, drohte Kira ihm.

 

 

 

 

 

 

Eliza passte es gar nicht, dass sie ausgerechnet gegen Josephine kämpfen musste, aber sie konnte sich schlecht jetzt noch gegen den Plan stellen. Außerdem, wie Mikey schon gesagt hatte, musste sie sie ja nicht töten.

„Ich finde das alles toll organisiert!“ Mikey war scheinbar Feuer und Flamme für die Idee. „Wann fangen wir an?“, wollte Mikey voller Tatendrang wissen. Scheinbar konnte Mikey es gar nicht erwarten, zu kämpfen. So kannte Eliza ihren Bruder. Er war voller Kampfgeist und immer zu Risiken und Gefahren bereit. Eliza hingegen war ganz anders. Sie mochte Gefahren nicht sonderlich und hielt sich am besten von allem, was gefährlich sein könnte, fern. Daher war sie nicht sonderlich erpicht darauf, gegen ihre Freundin zu kämpfen.

Doch genau genommen, ging es ihr nicht nur um ihre Freundschaft mit Josy – Eliza wollte einfach nicht kämpfen. Sie war kein Kämpfertyp. Sie hatte Angst und versteckte sich bei Gefahr am liebsten irgendwo, wo sie niemand sehen konnte, und wo sie wusste, dass sie dort sicher war. Deshalb wollte sie sich eigentlich auch gar nicht von den Anderen trennen. Sie hatte generell etwas gegen diesen ganzen Plan, ach was, gegen die ganze Situation!

„Wie wär’s mit morgen?“, fragte Finn. Eliza nickte. Sie fühlte sich noch immer unwohl bei dem Gedanken, gegen Josy zu kämpfen, doch ändern konnte sie es ja eh nicht.

 

 

Als alle am nächsten Morgen ihr Zeug gepackt hatten, machte sich Anspannung unter ihnen breit. „Wir müssen sie sofort auseinander treiben, dass sie uns nicht wieder umzingeln können!“, sagte Finn, dann legten sie sich vor dem Bach auf die Lauer, da sie wussten, dass die andere Gruppe nicht ohne Wasser leben konnte. Eine Stunde verging, ohne dass sich etwas tat, zwei Stunden vergingen, drei… Elizas Bein war eingeschlafen und sie drehte sich auf den Rücken. „Die kommen hier doch nie vorbei! Es gibt noch andere Wasserquellen!“ „Aber nicht in der Nähe! Schließlich wollen sie uns finden, da werden sie hier bleiben, wo sie uns auch vermuten!“, sagte Finn.

Eine weitere Stunde verging und als Eliza die anderen Kinder schon fragen wollte, ob sie ihren Angriff nicht doch auf einen andern Tag verschieben konnten, sahen sie auf der anderen Seite des Flusses eine Bewegung. Kurz darauf konnte man vier Gestalten erkennen. Finn gab ihnen das Zeichen, aufzustehen. Dann überquerten sie an einer nicht so breiten Stelle den Fluss und setzten ihren Weg am anderen Ufer weiter. Als sie ein Dickicht aus Büschen und Schilf erreichten, teilten sie sich auf. Die feindliche Gruppe kam näher und als sie am Fluss stand, brachen Kira, Eliza, Mikey und Finn aus den Büschen. Der Kampf begann.

 

 

 

 

 

Mit einem gut gezielten Pfeil zwang ich Jannis dazu, nach rechts auszuweichen. Ich stellte mich zwischen ihn und den Rest der Gruppe und sah aus den Augenwinkeln, dass auch die Anderen meiner Gruppe denjenigen, den sie außer Gefecht setzen sollten, von dem Rest seiner Gruppe abgeschnitten hatten. Kurz darauf jagte Eliza Josy vom Rest der Gruppe weg, tief in den Wald. Nun war sie auf sich allein gestellt. Mit einem weitern gut gezielten Pfeil, brachte ich Jannis dazu, etwas Abstand zwischen ihn und die Gruppe zu bringen. Als auch Jannis die Flucht ergriff, rannte ich ihm so schnell mich meine Beine trugen hinterher.

Ich konnte die andern nicht mehr hören, daher war ich mir sicher, genug Abstand zwischen uns gebracht zu haben. Jannis konnte nun nicht mehr schnell genug in den Schutz seiner Gruppe flüchten. In dem Moment stolperte er und fiel mit einem Aufschrei hin. Ich riss einen Pfeil aus meinem Köcher und als er aufstand und sich zu mir umdrehte, zielte ich direkt auf seinen Brustkörper.

„Das machst du nicht, Kira…“, sagte er, fast flehendlich. „Du bist keine Mörderin. Wir waren doch mal Freunde!“ „Und das sagt jemand, der vor nicht einmal drei Tagen selbst auf mich geschossen hat!“, sagte ich bitter. Jannis erstarrte. „Ich hab nicht auf dich geschossen! Ich hab an dir vorbeigeschossen!“

Einen Moment lang ließ ich meinen Bogen etwas sinken. „Wenn ich dich hätte treffen wollen, hätte ich dich getroffen!“, sagte er frech. Sofort war mein Bogen wieder oben und zielte wie zuvor auf sein Herz. „Das war doch nur Spaß, Kira! Ich würde dir nie etwas tun!“, schrie er.

„Und wie soll ich mir da sicher sein?“, fragte ich ihn. „Lia! Jasmyn! Jannis!“, hallte Josys Stimme in dem Moment durch den Wald. „Sei still, du kleiner Teufel!“, hörte ich Elizas Stimme. Mich wunderte, dass sie so mit ihrer Freundin umsprang. „Josy!“ Jannis wollte sich umdrehen, doch ich erinnerte ihn mit einem gut gezielten Pfeil neben sein Ohr wieder daran, warum er hier war. In einer Hand trug er zwar seinen Bogen, doch ich würde ihn erschießen können, bevor er einen Pfeil ergriff. Das hieß, falls ich es über mich bringen würde, die Sehne loszulassen.

Kurz darauf tauchte Josy neben Jannis auf und drängte sich dicht an ihn. „Mach was!“, schrie sie, als Eliza vor ihr auftauchte. „Ich dachte, wir wären Freunde!“ Josy weinte fast und Eliza stockte kurz, dann blieb sie unschlüssig stehen. „Eliza, komm hier her!“, befahl ich ihr. Wir standen nun beide nebeneinander, Jannis und Josy vor uns. Bei der geringsten Bewegung konnte ich schießen. Josy sah Eliza mit großen, verheulten Augen an und klammerte sich an Jannis’ Jackentasche, was vollkommen verrückt war. Wenn ich einen von ihnen töten wollte, konnte ich das innerhalb weniger Sekunden, egal, ob sie hinter Jannis stand oder direkt vor meiner Nase.

„Ich hab Angst!“, weinte Josy. „Als du vor ein paar Tagen versucht hast, mich abzustechen, hat man davon nichts gemerkt!“, sagte ich kalt zu ihr. Sie zitterte, doch sie hielt meinem Blick stand. „Warum tust du das, Kira?“, fragte Jannis. „Warum versucht ihr, uns umzubringen?“, fragte ich zurück. „Das ist unsere Mission!“, versuchte Jannis sich zu verteidigen.

„Wir haben unsere Mission auch nicht ausgeführt! Ihr könntet euch auch weigern, es zu tun!“ Ich lies zitternd den Bogen sinken. „Es muss niemand sterben! Weder jemand von euch, noch jemand von uns.“

Jannis und Josy sahen sich einen Moment an, dann bleib ihr Blick wieder an mir hängen. Kurz darauf tauchte Jasmyn auf. Sie stellte sich hinter Jannis und Josy. „Gut gemacht, Jannis!“, sagte sie. Jannis riss einen Pfeil aus dem Köcher, bevor ich reagieren konnte.

Nun zielten wir beide aufeinander. Dann erschien Mikey. Er hatte einen kleinen Schnitt am Arm, doch ansonsten schien er unverletzt. Als auch Finn kurz darauf auftauchte und verzweifelt versuchte, Lia von den Anderen fernzuhalten, schnaubte ich ihn nur wütend an. „Soviel zum Thema „Wir trennen sie einfach, dann kann nichts mehr passieren“!“, fuhr ich ihn an.

Jetzt standen wir wieder voreinander, hinter mir Eliza, Mikey und Finn neben mir, gegenüber von uns stand Jannis, dessen Pfeilspitze auf mich zielte. Lia stand mit einem wurfbereiten Messer neben ihm. Ihr Körper verdeckte die kleine, zitternde Josy. Rechst von Jannis stand Jasmyn, die mich schon wieder ansah, als wäre ich nur eine lästige kleine Fliege. Völlig unter ihrer Würde. Ein kleines, schmutziges Insekt. Ich überlegte kurz, ob ich auf sie zielen sollte, doch ich wusste, dass es nicht schlau wäre, Jannis aus den Augen zu lassen.

„Na los, Jannis!“, flüsterte Jasmyn böse. „Töte sie!“

Sie sah mich an, fixierte meine Pfeilspitze, die noch immer auf Jannis gerichtet war. Schätzte ab, wie schnell ich meinen Bogen erneut spannen könnte, nachdem ich geschossen hatte. Ich hatte das Gefühl, sie würde mich besser kennen, als ich mich selbst.

Als würde sie jede meiner Schwächen genau in diesem Moment abwägen und überlegen, wie sie sie am besten ausnutzen könnte. „Erschieß sie!“, flüsterte sie Jannis wieder ins Ohr, ihren Blick hielt sie auf mich gerichtet. „Mach schon! Sie ist gefährlich! Sie wollte dich umbringen. Dich und Josy!“

Sie streichelte Josy gekünstelt nett über den Kopf, die nun mit großen Augen zu ihr aufsah, als wäre sie sich nicht sicher, von wem die größte Gefahr ausging: Von mir, die ich mit einem Bogen auf sie zielte und eindeutig kurz davor war, sie alle zu töten, oder von diesem Mädchen, das ihr mit ihrem falschen, gespielten Lächeln fürsorglich durch die blonden Haare strich.

Josy richtete ihren Blick wieder auf mich, dann sah sie zu Lia, die kaum merklich mit den Schultern zuckte. „Jannis!“ Jasmyn war nun ungeduldig. „Erschieß sie! Erschieß Kira, oder sie wird dich töten!“ „Das würde sie nicht tun!“ Seine Aussage klang schwach, hohl, eher wie eine Frage. Unsicher starrte er mich an. „Und ob sie das tun wird!“, schmeichelte Jasmyns Stimme jetzt wieder. Jannis’ Gesichtszüge verhärteten sich und er spannte den Bogen weiter, im Begriff, den Pfeil jeden Moment loszulassen.

„Jannis, denk daran, was ich dir gesagt hab!“, versuchte ich, ihn wieder für mich zu gewinnen. „Und was du zu mir gesagt hast! Du würdest mir niemals etwas antun! Das hast du selbst gesagt! Josy! Würdest du Eliza töten? Eliza? Was ist mit dir? Würdest du Josy töten? Jannis! Ich tu dir nichts, wenn du uns laufen lässt!“ Meine Stimme nahm einen leicht flehendlichen Klang an, obwohl ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass ich gerade meinen besten Freund darum anflehte, mich am Leben zu lassen. „Bitte! Jannis, das muss nicht sein!“ Einen Moment lang herrschte Stille. Jannis ließ den Bogen sinken und steckte den Pfeil wieder weg und ich folgte seinem Beispiel.

Jannis und ich sahen uns kurz an, dann senkte er den Blick. Auch Lia und Josy schienen sich jetzt eher mit uns vertragen zu wollen, als gegen uns zu kämpfen. Nur eine nicht. Mit einem wütenden Aufschrei riss Jasmyn ihm den Bogen aus der Hand, stieß ihn auf die Seite.

„Ich werde sie erschießen!“, brüllte sie, packte einen Pfeil und legte ihn in die Sehne. Keine Sekunde später brüllte ich: „Runter!“ Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Finn Mikey mit sich auf den Boden riss, ich stieß Eliza weg. In dem Moment ließ Jasmyn die Sehne los. „Nein!“ Jannis entriss Jasmyn kaum eine Sekunde zu spät den Bogen. Ich wusste instinktiv, dass ich mich nicht mehr schnell genug zu Boden fallen lassen konnte.

„Kira!“, schrie Eliza, dann spürte ich einen brennenden Schmerz, als hätte ich ein glühendes Eisen angefasst. Ich ließ mich zu Boden fallen und landete auf der rechten Seite. Ich konnte mich kaum bewegen. Selbst das Atmen bereitete mir so unsagbare Schmerzen, dass ich schrie. Ich hörte, wie Jannis irgendjemanden, vermutlich Jasmyn, anschrie, als wäre er wahnsinnig geworden. Die Angst in seiner Stimme war unüberhörbar, doch ich verstand nicht ein einziges Wort.

Ich zwang mich dazu, völlig still zu liegen.

Weiterzuatmen, obwohl es unglaublich wehtat.

Alles in meiner Umgebung zu ignorieren, obwohl es gefährlich war, da Finn, Eliza und Mikey wahrscheinlich immer noch auf dem Boden lagen und Jasmyn noch irgendwo mit einem Bogen und einer Unmenge an Messern bewaffnet stand.

Jetzt hörte ich auch, wie ein Mädchen Jasmyn anschrie.

Lia vielleicht?

Kurz darauf hörte ich Schritte, die schnell verschwanden – Jasmyn, wie ich annahm, da sie sich jetzt, da sie so in der Unterzahl war, nicht mehr traute, gegen uns zu kämpfen, denn Lia, Josy und Jannis waren nun eindeutig nicht mehr ihrer Meinung. Ob sie uns nun helfen würden, oder uns unserem Schicksal überlassen würden, konnte ich nicht sagen. Ab Jannis würde das doch nie tun. Oder?

Ich hatte die ganze Zeit versucht, nicht zu atmen, doch jetzt musste ich Luft holen, da ich vor der Wahl stand, mich entweder dem Schmerz zu stellen, der mich bei meinem nächsten Atemzug unweigerlich empfangen würde, oder zu ersticken, also versuchte ich so leicht und flach wie möglich einzuatmen.

Dann hörte ich wieder Schritte und während mir die Tränen aus den Augenwinkeln liefen, bemerkte ich, wie jemand meine unverletzte, linke Schulter berührte und mich auf den Rücken drehte. „Kira!“ Aus irgendeinem Grund schrie Finn mich panisch an, doch ich konnte nichts verstehen. Ich konnte mich plötzlich nicht einmal mehr daran erinnern, wie ich hier auf den Waldboden gekommen war.

„Hau ab!“ Jemand stieß Finn auf die Seite, und dann tauchte ausgerechnet Lia vor mir auf. Sie war direkt nach Jasmyn diejenige, die ich jetzt am wenigsten sehen wollte. Schließlich hatte mich ihre kleine Schwester schon einmal beinahe getötet und auch sie hatte schon das ein oder andere Messer nach mir geworfen. Als sie plötzlich begann, beruhigend und vorsichtig mit mir zu reden, war ich mehr als überrascht. Ich zitterte und verstand kaum ein Wort. „Der Pfeil hat dich unterhalb der Schulter getroffen, aber er ist wohl an einer Rippe abgeprallt!“, sagte Lia. Plötzlich wusste ich, dass ich sie schon einmal gesehen hatte. Das Mädchen vor mir war Lia Sylvane. Sie hatte einmal einem Jungen das Leben gerettet, der sich beim Messerwerfen schwer verletzt hatte.

Trotzdem zitterte ich und drückte mich so dicht an den Erdboden, wie ich nur irgend konnte. Immerhin hatte Lia vor nicht allzu langer Zeit noch versucht, mich umzubringen.

Sie zögerte kurz, als sie meine Reaktion bemerkte. „Der Pfeil müsste rausgezogen werden… Ich weiß, wie man das macht und wenn du mir vertraust, könnte ich es versuchen…“ Ich ließ sie nicht zu Ende reden. Obwohl es mir noch mehr Schmerzen bereitete, zu Sprechen, als zu Atmen, fuhr ich sie wütend an: „Ich dir vertrauen?! Wenn ich mich recht erinnere, hast du vorhin noch versucht, mich umzubringen! Ich…“ Ich konnte nicht weiterreden. Meine Rippen taten so sehr weh, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie allesamt zermalmt wären und nur noch klitzekleine Splitter von ihnen übrig waren, was allerdings bei einem einzigen Pfeil nicht sehr wahrscheinlich war. Das wäre es nicht einmal, wenn zehn Pfeile in meiner Schulter stecken würden.

Lias Augen verengten sich zu schlitzen. „Wie du willst, dann bleibt der Pfeil eben drinnen und die Wunde entzündet sich!“, sagte sie schnippisch. „Oder du fragst einen deiner Freunde, ob sie schon einmal einen Pfeil aus einer Rippe gezogen und die Wunde, die dadurch entstanden ist, ausgebrannt haben. Ich bin mir sicher, das hat hier jeder schon einmal gemacht und hat jede Menge Erfahrung, nicht war?“ Ich sah in die hilflosen Gesichter von Finn, Jannis und Mikey.

Josy und Eliza konnte ich nicht sehen, doch die Chance, dass sie in solchen Sachen Erfahrung hatten, war gleich null, und wenn, dann würde ich mich nur genauso ungern in ihre Hände begeben, wie in Lias. Sie waren einfach zu jung. Ich musste auf sie aufpassen, nicht sie auf mich. Das wäre nicht richtig. Ich zitterte noch immer und da sich die Schmerzen eher verschlimmerten, als sich zum Besseren zu wenden, knurrte ich: „Na schön, mach es halt!“

Lia befahl den Anderen, Brennholz zu sammeln und ein Feuer zu machen. Alle standen auf, doch ich hielt Jannis, der links von mir saß, fest. „Bleib hier!“ Wenn ich außer Finn, Mikey und Eliza hier jemandem vertraute, dann ihm. Ich zitterte noch immer, doch ich merkte, dass Jannis sich neben mich ins Laub setzte und meinen Arm festhielt.

„Konzentrier dich auf deine Atmung und bleib ruhig!“, befahl Lia mir. Ich biss mir auf die Lippe, um mein Zittern zu kontrollieren, doch es half alles nichts. „Wie, bitte, soll ich ruhig bleiben?!“ Ich war fast etwas aggressiv, obwohl Lia wirklich nichts dafür konnte, dass ich jetzt hier lag. „Ich hab hier einen Pfeil in der Schulter stecken, nicht du!“

Lia ignorierte meine patzige Antwort. „Atme einfach langsam ein und aus. Du wirst sehen, das hilft!“, sagte sie. Ich versuchte, ihren Rat zu befolgen.

Ich lag steif und zitternd auf dem Boden und versuchte, ruhig zu atmen. Kurz darauf landete neben mir ein Haufen Brennholz und ich hörte, wie Finn es zu einem Lagerfeuer stapelte.

Dann wies Lia Eliza, Mikey, Jannis und Josephine an, meine Arme und Beine festzuhalten. Josephine drückte mit einer unglaublichen Kraft meinen rechten Arm zu Boden und Eliza half ihr dabei, was vollkommen unnötig war, da ich sowieso nicht vorhatte, mich zu bewegen. Mikey hielt fixierte mein rechtes Bein ausgestreckt auf dem Boden und als das Feuer brannte, drückte Finn mein linkes Bein zu Boden. Jannis saß links neben mir und hielt noch immer meinen Arm fest.

Lia beugte sich über mich, doch bevor sie etwas tun konnte, rief ich: „Warte!“ Lia zuckte zurück. „Kann ich irgendwas zum drauf beißen haben?“, fragte ich. Ich hatte schon genug Geschichten von irgendwelchen Leuten gehört, die sich bei solchen Aktionen die Zunge abgebissen hatten oder ähnliches, und außerdem wollte ich nicht unbedingt, dass mich jeder im Umkreis von fünf Kilometern schreien hörte.

Jannis ließ meinen Arm los und holte aus seiner Jackentasche ein Paar Handschuhe. Einen davon steckte er mir in den Mund und ich biss fest zu.

Bevor ich irgendetwas tun konnte packte Lia den Pfeil in meiner Schulter und riss ihn mit einem Ruck heraus. Der Handschuh dämpfte meinen Aufschrei, doch trotzdem war er laut. Ich zuckte zusammen und hätten meine Freunde – und Josy, bei der ich mir noch nicht sicher war, ob ich sie zu meinen Freunden zählte – meine Arme und Beine nicht festgehalten, hätte Lia jetzt wahrscheinlich ein paar gebrochene Rippen. Mikey keuchte auf, als der Ruck durch meinen Körper ging, und versuchte, mein Bein festzuhalten. „Hör auf!“, fuhr er mich an.

„Ich kann dir ja mal bei Gelegenheit auch mal einen Pfeil in die Rippen stechen und schauen, wie du reagierst!“, schnauzte ich zurück, während mir vor Schmerz heiße Tränen über die Wangen liefen, doch ich bezweifelte, dass Mike auch nur ein Wort verstanden hatte, da der Handschuh in meinem Mund meine Worte gedämpft hatte.

Ich wusste gar nicht, woher ich überhaupt die Kraft nahm, sie alle so anzuschnauzen, wahrscheinlich stand ich einfach unter Schock.

Der Schmerz ebbte langsam ab und danach ging es mir viel besser. Ich versuchte, das warme Blut zu ignorieren, das jetzt über meinen Oberkörper lief. Lia sagte etwas Unverständliches zu Eliza, die daraufhin meinen rechten Arm losließ und sich entfernte. Lia beugte sich wieder über mich und redete jetzt zu mir. Ihre rechte Hand war blutverschmiert. „Ich müsste dir jetzt das T-Shirt ausziehen…“, begann sie zögerlich und verstummte mit einem kurzen Seitenblick zu den Jungs. Mein Blick schoss zu Jannis, Mikey und Finn. „Wegschauen!“, knurrte ich durch den Handschuh hindurch.

Ich bezweifelte, dass sie verstanden hatten, was ich gesagt hatte, doch mein Blick sprach vermutlich Bände.

Als sie alle wegsahen, zog Lia mir mit Elizas Hilfe erst einmal die Jacke aus. Es war gut, dass ich noch immer den Handschuh im Mund hatte, denn das tat mindestens genauso weh, wie das Entfernen des Pfeils. Die Jungs sahen alle brav weg, während Lia und Eliza umständlich versuchten, mir das T-Shirt auszuziehen. Da ich keine besonders große Lust hatte, die Wunde, die der Pfeil in meinem Oberkörper hinterlassen hatte, zu sehen, schloss ich fest die Augen, als Lia es schaffte, mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Ich spürte die kalte Luft und zitterte wieder, diesmal nicht vor Angst oder vor Schmerzen, sondern vor Kälte.

Dann sagte Lia wieder etwas zu Eliza, und erst jetzt bemerkte ich, dass sie zu mir immer sehr deutlich gesprochen haben musste. Meine Sinne waren allesamt getrübt. Ich hörte kaum, was um mich vorging und alles, was ich sah, war verschwommen.

Eine kurze Zeit später spürte ich das brennend heiße Metall eines Messers, das Lia wohl ins Feuer geschoben hatte, um danach die Wunde auszubrennen. Ich kniff die Augen noch fester zusammen, um den Schmerz zu ignorieren, ihn irgendwie auszuschalten, doch es half nichts. Kurz darauf verlor ich das Bewusstsein.

 

 

 

 

 

Jannis spürte, wie der Druck auf seinen linken Arm verschwand. Er hoffte, dass Lia alles im Griff hatte und starrte weiter in den Wald. „Okay, ihr könnt sie loslassen!“, sagte Lia nach einiger Zeit. Dann zogen die und Eliza Kira das T-Shirt wieder an und Jannis und die anderen Jungs durften sich wieder umdrehen.

„Wer hat bei euch eigentlich das Kommando?“, fragte Lia. Finn und Mikey sahen sich ratlos an. „Was ist das?“, fragte Josephine. „Das ist der, der sagt, was zu tun ist und so…“, erklärte Lia. „Na ja, ich glaube, Kira hatte das Kommando…“ Finn kratzte sich ratlos am Kopf. „Ich weiß nicht, in der letzten Zeit, warst das eher du!“, meinte Mikey. „Ich glaube auch, dass Finn das Kommando hatte!“, meinte Eliza, stutze dann aber und sah ihn unsicher an. „Aber Kira war doch meistens jagen und hat gesagt, was wir tun sollen, oder?“

Es war eindeutig, dass die Führungsfrage nicht ganz geklärt war. „Wenn das so ist, was haltet ihr davon, wenn wir einen neuen Anführer wählen?“, fragte Mikey. „Aber bis jetzt haben wir das doch auch ohne einen Anführer geschafft!“, meinte Eliza. „Trotzdem“, stimmte auch Finn Mikeys Vorschlag zu. „Wir sind jetzt eine neue Gruppe und damit es nicht gleich Streit gibt, sollte jemand das Sagen haben!“, fügte er hinzu. „Also, stimmen wir ab?“, fragte Mikey. „Ich finde, wir sollten warte, bis Kira wieder wach ist!“, mischte Jannis sich ein. „Da hat er recht!“, sagte Lia. Sie beugte sich über Kira und rüttelte sie an der Schulter.

Kira zuckte zusammen, drehte sich ein bisschen von Lia weg, doch als Lia sie wieder an der Schulter rüttelte, schlug sie die Augen auf.

Lia erklärte ihr kurz, dass sie zu dem Entschluss gekommen waren, dass sie einen Anführer bräuchten. Dann fragte sie Kira, ob sie sich dazu in der Lage fühle, mit abzustimmen. Kira nickte. „Klar, mir geht’s… gut“, sagte sie verunsichert. Lia sah sie zweifelnd an. „Wenn du meinst. Also, wer schlägt jemanden vor?“ „Ich bin für Finn!“, sagte Mikey sofort. „Warum?“ fragte Lia. „Weil er Autoritiärigkeit hat!“, sagte Eliza. „Dass heißt, weil er Autorität hat!“, sagte Mikey. „Außerdem weißt du doch nicht mal, was das ist!“ „Aber es ist was Positives!“, sagte Eliza und streckte Mikey die Zunge raus. „Bähh!“ „Selber bähh!“ Mike dreht sich von ihr weg.

„Bist du damit einverstanden?“, fragte Lia. Finn nickte. „Hat sonst noch jemand einen Vorschlag?“ „Wie wär’s mit Kira?“, fragte Jannis. Kira lächelte, winkte aber ab. Sie zuckte zusammen, als der Schmerz durch ihren rechten Arm schoss. „Nicht in der nächsten Zeit. Ich muss mich erst wieder etwas erholen…“

„Ich finde, Lia könnte das!“, sagte Josy. „Ich bin für Jannis!“, sagte Kira. „Einspruch!“, sagte Finn und hob den Arm. „Du darfst gern auch ohne dich zu melden was sagen!“, sagte Jannis.

„Ich finde, er ist zu jung!“, sagte Finn. „Genauso würde ich Eliza, Josy und Mikey nicht vorschlagen. Nichts für ungut“, bemerkte er mich einem kurzen Blick auf die anderen drei, „aber ihr seit alle noch zu klein, vor allem Josy und Eliza.“ „Josy und Eliza sollten das wirklich nicht machen!“, stimmte auch Lia ihnen zu. „Aber mit Jannis oder Mikey hätte ich kein Problem.“ „Du kennst Jannis nicht!“, sagte Kira zum Finn gewandt. „Sonst würdest du das nicht sagen.“ „Ich möchte das sowieso nicht!“, sagte Jannis schnell. „Das ist mir viel zu viel Verantwortung. Schließlich streift Jasmyn irgendwo auf der Jagd nach uns herum! Vielleicht beobachtet sie uns jetzt gerade!“ Unwillkürlich überlief es Jannis eiskalt.

„Ich finde auch, dass Kira das machen sollte!“, sagte Eliza. „Du hast doch gehört, was sie gesagt hat!“, sagte Mikey. „Wir könnten dich ja einfach mal mit in die Abstimmung rein nehmen!“, schlug Jannis vor. „Vielleicht ist es besser, wenn wir zwei Anführer wählen!“, warf Josy ein. „Sie hat Recht. Dann ist das nicht zu viel Verantwortung und liegt auch nicht nur auf einem Einzigen“, sprang Finn ihr zur Seite.

„Okay, von mir aus, dann mach ich auch mit!“, sagte Kira. „Also, dann stehen jetzt Kira, Finn und ich zur Auswahl, oder?“, fragte Lia. „Und die anderen wollen nicht oder sind zu klein“, fasste Finn zusammen. „Also, wer ist für Finn?“, fragte Lia. Sie und Mikey streckten. „Zwei. Wer ist für Kira?“, fragte Lia dann. Jannis und Finn streckten. „Dann bin nur noch ich übrig. Wer ist für mich?“, fragte Lia. Zu Jannis’ Überraschung streckte Kira sofort. Auch Eliza und Josy streckten. „Wieso bist du für mich?“, fragte Lia Kira erstaunt. „Weil du mir gerade wahrscheinlich das Leben gerettet hast!“, sagte Kira. Jannis sah, dass Lia kurz zögerte.

„Dann hat Lia gewonnen!“, sagte Eliza. „Kira und Finn sind gleichauf“, sagte Jannis. „Dann stimmen wir doch grad noch mal zwischen uns beiden ab, oder?“, fragte Finn. Kira nickte. „Von mir aus!“ Diesmal streckten Jannis, Lia, Josy und Finn für Kira. Für Finn stimmten Eliza, Mikey und Kira. „Damit ist Kira die zweite Anführerin“, sagte Jannis. „Nehmt ihr die Wahl an?“, fragte Mikey dann die beiden. Beide nickten und die anderen brachen in Jubel aus. „Das bedeutet nicht, dass ich jetzt für euch durch die Gegend renne!“, sagte Mikey mit einem Grinsen im Gesicht. „Nur für Kira vielleicht. Sie ist immerhin verletzt!“, fügte er dann hinzu.

 

 

 

Lia half Kira auf und stützte sie. Zum Glück war es nicht weit bis zum Lager der anderen Gruppe, da sie beschlossen hatten, dort weiterhin zu bleiben und sich dort niederzulassen.

Als sie dort angekommen waren, versuchte Lia sich erst einmal einen Überblick über ihre Lage zu verschaffen. Sie begutachtete die frühere Unterkunft von Kira, Eliza, Mikey und Finn, ein einfacher, umgestürzter Baum, dessen Wurzeln ein kleines Dach über einer Mulde bildeten. Dann befahl sie allen, die Rucksäcke auszuleeren. Sie legte alle ihre Messer noch dazu und Kira und Jannis legten ihre Pfeile auf einen Haufen.

„Erst einmal schauen wir nach dem Wichtigsten: Wasser. Wie viele Flaschen haben wir?“ Sie zählten genau sechs. „Wir müssen dafür sorgen, dass immer mindestens drei gefüllt sind, ja? Wer ist dafür verantwortlich?“ „Bis jetzt war das immer ich“, sagte Mikey. „Hast du was dagegen, das auch weiterhin zu machen?“, fragte Lia den Jungen. Als der den Kopf schüttelte, drückte sie ihm zwei leere Wasserflaschen in die Hand. „Wenn wir hier fertig sind ist es am besten, du gehst die hier schon mal auffüllen. Jetzt brauchen wir noch Essen. Wovon habt ihr euch so lange ernährt?“, fragte Lia. Finn gestand ihr, dass sie in der letzten Zeit kaum etwas anderes gegessen hätten, als Kiefernrinde. Lia sammelte alle Vesperdosen ein. Es waren sieben. „Jannis, du kannst gut schießen. Kira auch. Ihr beide solltet jagen gehen, aber solang Kira noch nicht wieder auf den Beinen ist, muss das jemand anderes übernehmen. Wer kennt sich von euch sonst noch mit essbaren Pflanzen aus oder kann schießen? Es ist nicht so schlau, nur mit einem Messer bewaffnet, Wild zu jagen“, sagte sie, als Jannis sie ansah. „Finn könnte das. Er hat schon mal einen Vogel geschossen!“, sagte Kira. „Das war aber eher ein Schutzreflex…“, meinte Finn. „Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich das Viech treffe!“ „Ach, nach ein paar Unterrichtsstunden im Bogenschießen von Jannis schaffst du das locker!“, meinte Mikey.

„Dann wäre das auch geklärt. Wie viele Pfeile habt ihr denn noch?“, fragte Lia. Jannis zählte sie. „Es sind noch neunzehn. Aber es müssten hier im Wald noch mindestens fünf rum liegen!“, sagte er. „Wenn du Finn nachher zeigen würdest, wie man mit dem Bogen umgeht, könnt ihr euch ja auf die Suche nach ihnen machen“, meinte Lia, während sie die Messer nachzählte. „Ich hab hier noch so ein dünnes Messer und einen Dolch!“, sagte Mikey und legte die Waffen auf den Haufen. Lia sah sich die Messer genau an. Zwei ihrer Messer waren dünne Fischermesser, nur dazu geeignet, nach jemandem zu stechen, oder Tiere auszunehmen. Der Dolch kam ihr bekannt vor. Er war breit und hatte eine scharfe, einseitige Klinge. Sie selbst hatte noch zehn andere Messer, die sich sowohl zum Schneiden, als auch zum Kämpfen eigneten.

Eines von ihnen hatte am Griff eine geriffelte Klinge, die sich zum Sägen eignete. „Insgesamt haben wir jetzt vierzehn Messer“, klärte sie die anderen Kinder um sie herum auf. „Davon sind drei gewöhnliche Fischermesser, die man zum Kämpfen kaum benutzen kann. Eins meiner Messer kann man zum Sägen gebrauchen, mit dem Rest kann man so ziemlich alles anstellen. Tiere ausnehmen, Kämpfen, Messerwerfen, Schnitzen, Dinge schneiden und so weiter…“ Während sie redete, sortierte sie die Messer: Die Fischermesser auf einen Haufen, das Messer mit der geriffelten Klinge legte sie auf die Seite, dann unterteilte sie noch einseitig scharfe Messer und die, mit denen man auf beiden Seiten schneiden konnte.

„Jeder sollte mindestens ein Messer bekommen. Wer von euch weiß denn, wie man mit einem Messer umgeht?“, fragte sie. Mikey hob die Hand. „Ich kann sowohl mit Messern kämpfen, als auch Messerwerfen und die meisten meiner Messer treffen ihr Ziel“, verkündete er stolz. Eliza neben ihm nickte und auch Kira stimmte zu. „Wahrscheinlich wären wir ohne ihn tot!“, sagte Kira. „Vielleicht würde es uns dann aber auch um einiges besser gehen!“, lachte Finn. Lia sah den Rest an. „Gehe ich recht in der Annahme, dass von euch noch nie jemand mit einem Messer gekämpft hat, geschweige denn jemals ein Ziel mit einem Messer getroffen hat?“ Sie erntete zustimmendes Gemurmel.

„Dann werden Mikey und ich euch bei Gelegenheit einen kleinen… Crashkurs in Sachen Messerkampf und Messerwerfen geben.“

Sie verteilte jetzt die Messer. Jeder bekam einen einschneidigen, kurzen Dolch, weil Lia von denen am meisten hatte. Außerdem bekamen Jannis und Finn noch ein Messer zum jagen. Neun Messer waren nun verteilt. Finn würde seins an Kira abgeben, sobald die wieder jagen konnte. „Ich nehme noch das Messer mit der Klinge, mit der man sägen kann!“, meinte Lia. Sie steckte es in seine Schutzhülle und verpackte es in ihrer Jackentasche. „Dafür bekommst du jetzt noch drei Messer, Mike. Such dir welche aus!“ Mikey griff nach einem dünnen, einschneidigen Messer und nahm sich dann noch einen kurzen Dolch. Er zögerte kurz und betrachtete die letzten beiden Messer.

„Möchtest du noch ein bestimmtes Messer, Lia?“, fragte er. Lia schüttelte den Kopf. Mikey zuckte mit den Schultern und nahm sich ein langes Messer mit stumpfer Spitze, das sich jedoch sehr gut zum Schneiden eignete.

Lia griff nach dem verbliebenen Messer – einem dicken, zweischneidigen Dolch – und verteilte die passenden Schutzhüllen an die Träger der Messer. Als sie die Messer verpackt hatte, sah sie sich den Rest des Haufens an. Da lagen noch Finns Schwert, ein Stück Kiefernrinde und Kiras und Jannis’ Köcher, drei Paar Schuhe, von dem eins Mikey gehörte, eins Finn und eins Josephine. Außerdem ein Fingerschutz und ein Armschutz, die wohl Kira gehörten, und eine Ersatzsehne, die Jannis gehörte. „Hast du keine Ersatzsehne mitgenommen?“, fragte Jannis Kira überrascht.

„Doch, aber die hab ich leider bereits gebraucht. Die andere ist im Kampf mit ein paar Wölfen gerissen.“ Lia gab Jannis und Kira ihre Köcher zurück, Kira gab ihren gleich weiter an Finn. Finn und Jannis hatten in der Zwischenzeit bereits die Pfeile unter einander aufgeteilt. Finn hatte nun neun und Jannis zehn. „Hoffentlich finden wir die anderen Pfeile wieder!“, sagte Jannis, als er die Pfeile in den Köcher steckte. „Zehn Pfeile sind nicht gerade viel, wenn man sich verteidigen muss.“

Lia bat Kira, den Arm- und Fingerschutz an Jannis abzugeben, der damit umgehen zu können schien. Er probierte ihn an, verstellte an den Schnallen des Armschutzes etwas, dann passte er ihm. Nur der Fingerschutz war ihm zu groß. „Macht nichts, ich brauch den nicht. Meine Finger sind abgehärtet! Gib ihn lieber Finn!“ Jannis gab das Ding, das aussah wie ein Handschuh mit nur drei Fingern an Finn weiter, der damit wenig anzufangen wusste. Jannis half ihm beim Anlegen des seltsam aussehenden Handschuhs.

Die Schuhe gingen sofort an ihre ursprünglichen Besitzer zurück und auch Finns Schwert lag kurz darauf wieder neben ihm.

Dann beschlossen sie, dass Jannis und Josy jetzt von Mikey und Lia das Messerwerfen beigebracht bekommen sollten und Eliza gegen Finn das Stockkämpfen üben sollte. Kira sollte dabei zusehen und versuchen, sich ein paar Tricks zu merken.

 

 

 

 

Eliza und Finn sahen sich nach stabilen Stöcken um, während Josy zu Mikey ging und Jannis zu Lia. Jannis und Mikey warfen abwechseln Messer auf einen Baumstumpf in der Nähe.

Als Eliza und Finn beide stabile Stöcke gefunden hatten, zeigte Finn Kira und Eliza die Grundpositionen beim Stockkampf. Vieles schien Kira schon zu kennen, doch bei manchen Sachen stellte sie Fragen.

Dann kämpften Eliza und Finn gegeneinander. Erst langsam, dann schneller. „Vorsicht, ich greife von oben an!“, sagte Finn. Eliza riss ihren Stock hoch und wehrte Finns Schlag ab. „Sorgt dafür, dass die Stöcke immer ein Kreuz bilden! So könnt ihr den Druck am besten abfangen!“, sagte Finn, während er Elizas linke Seite angriff. Eliza wehrte auch hier ab, dann duckte sie sich unter Finns Schlag hinweg. „Und jetzt hochspringen!“, rief Finn. Eliza sprang in die Luft und Finns Stock zischte unter ihr hindurch.

„Gut gemacht! Und pass ein bisschen auf deine Beinarbeit auf, du bist immer schon etwas zu schnell und deine Beine kommen nicht mit! Du musst die Bewegung deines Gegners vorausahnen und sie spiegeln!“, sagte Finn, während er Eliza wieder angriff. Zwei Schläge wehrte Eliza ab, dann war sie zu langsam und Finns Stock traf sie an der Schulter. „Tot!“, sagte er. Eliza schüttelte den Stock ab und grinste.

„Mach dich auf dein Ende gefasst!“ Sie hob ihren Stock und ließ ihn auf Finn herabsausen, der wich aus und schlug zurück. Eliza fing seinen Schlag ab und Finn holte wieder aus. „Jetzt, ich bin schutzlos und steh ohne Deckung da, was musst du machen?“, fragte Finn und erstarrte in der Bewegung. Eliza dachte kurz nach, dann piekste sie ihn mit dem Stock in die Rippen. „Genau, gut gemacht.“ „Tot!“, sagte Eliza und grinste. Dann gingen sie wieder in Angriffsposition und fingen noch einmal von vorne an.

Kurz darauf ging Eliza zu Lia und Jannis kämpfte gegen Finn. Danach löste Josy Jannis bei Finn ab. Dann ging Finn bei Mikey Messerwerfen und anschließend zeigte er Lia und Mikey alles, was sie über das Stockkämpfen wissen mussten. Am späten Abend saßen sie alle um ein Lagerfeuer herum und kauten auf einem Stück Kiefernrinde, tranken Tee aus Tannennadeln und versuchten, ihre hungrigen Mägen damit zufrieden zu stellen. „Und davon habt ihr in den letzten Wochen gelebt?“, fragte Lia ungläubig. Kira nickte.

 

 

 

 

 

In der Nacht konnte ich nicht einschlafen. Meine Schulter tat zu sehr weh. Ich hatte mich auf die linke Seite gedreht, um meine rechte Schulter zu entlasten.

Ich lauschte dem gleichmäßigen Atmen meiner Freunde. Ich war mir inzwischen sicher, dass alle meine Freunde werden könnten – sogar die kleine Josy. Lia mochte ich immer mehr, nicht nur, weil sie mir das Leben gerettet hatte, sondern auch, weil sie im Großen und Ganzen eigentlich ganz nett zu sein schien. Daran, dass Jannis mein Freund war, hatte ich nur sehr, sehr kurz gezweifelt. Doch auch Josy war jetzt auf einmal völlig in Ordnung. Dicht neben mir – so dicht Lia es ihr aufgrund meiner Verletzung erlaubt hatte, da sie scheinbar Angst hatte, ihre Schwester könnte sich in der Nacht umdrehen und mich verletzen – lag sie nun, die blonden Haare ins Gesicht hängend. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund.

Hinter ihr lag Lia, die gleichmäßig atmete, einen Arm um ihre kleine Schwester geschlungen. Irgendwo dort musste auch Finn liegen. Wenn ich meinen Kopf etwas weiter drehte, konnte ich Jannis’ Bein sehen. Eliza und Mike lagen wie immer dicht nebeneinander hinter mir.

Ich spürte, wie sich Jannis’ Bein bewegte und er sich im Schlaf drehte. „Kannst du nicht schlafen?“, fragte er mich plötzlich. Dann tauchten seine hellbraunen Augen vor mir in der Dunkelheit auf. „Mir geht’s gut…“, log ich und gähnte. Jannis setzte sich enttäuscht auf. „Es hilft mir nichts, wenn du mich anlügst“, sagte er traurig. Vielleicht hatte er recht. „Meine Schulter tut ein bisschen weh.“ Ich vermied es, ihn dabei anzusehen, da ich Angst hatte, er würde Lia wecken, wenn er merkte, wie schlecht es mir wirklich ging. Ich wollte nicht, dass er die Anderen störte.

„Kann ich irgendwas für dich tun?“, fragte er mich. Ich rang mir ein Lächeln ab. „Nein, danke. Leg dich wieder hin und schlaf weiter!“, sagte ich. Er sah mich noch kurz besorgt an, doch dann setzte er sich tatsächlich auf, drehte sich um und legte sich wieder hin, was mich sehr überraschte. „Falls du doch noch etwas brauchst… oder wenn es dir schlechter geht, weck mich einfach auf, ja?“, flüsterte er mir zu. Ich nickte. „Versprich es mir!“ Ich zögerte. „Ja, ich verspreche es dir!“

 

 

Ich wachte am nächsten Tag erst sehr spät auf. Es war bereits Mittag. Lia war dabei, aus dem Kaninchenfell, dass sie wahrscheinlich irgendwo wiedergefunden hatte, einen Beutel zu nähen. „Woher hast du die Schnur?“, fragte ich. „Die hatte ich dabei. Wie geht’s dir?“, fragte sie mich dann. Ich zuckte mir den Schultern, bereute es jedoch sofort. Ein brennender Schmerz schoss durch meine Schulter und meinen rechten Arm. Ich wartete kurz, bis er abebbte, dann antwortete ich: „Wie soll’s mir schon gehen…“ Dabei versuchte ich kein zu selbstmitleidiges Gesicht zu machen. Trotzdem war das Mitleid in ihrer Stimme nicht zu überhören, als sie mir ein paar dunkelgrüne Blätter gab und mir befahl, sie zu schlucken. Ich nahm sie in den Mund, kaute darauf herum und schluckte sie. Die meisten Blätter solcher Art schmeckten scheußlich, sodass man meistens die Schmerzen lieber ertrug, anstatt die Kräuter zu essen, daher hatte ich Schlimmeres erwartet. Die Blätter schmeckten erstaunlich neutral.

Ich sah mich um und merkte, dass Jannis und Finn weg waren. Auch mein Bogen fehlte und bei genauerem hinsehen merkte ich, dass auch sowohl Jannis’ Bogen als auch unsere Köcher fehlten.

„Sind die Jungs jagen?“, fragte ich Lia. „Nein, ich bin hier!“, rief Mikey. „Ich meinte, die großen Jungs, Jannis und Finn!“, sagte ich lachend. „Nur, weil ich kleiner bin als sie! Ich bin älter als Jannis!“, sagte Mikey schmollend. „Vielleicht bist du auch einfach hilfloser!“, sagte Lia und bekam dafür einen spielerischen Faustschlag in die Rippen.

Vorsichtig setzte ich mich richtig auf. Ich war hungrig, doch ich wollte Lia nicht nach etwas zu Essen fragen, da ich wusste, wie wenig wir hatten. Trotzdem landete kurz darauf ein Stück Kiefernrinde auf meiner Decke. „Du hast das Frühstück verpasst!“, sagte Lia und gab mir eine Flasche mit einem etwas trüben Inhalt. Unser selbstgemachter Tee. „Trink die Flasche leer, wir haben noch mehr davon!“, sagte Lia.

„Was ist mit der Rinde? Was habt ihr anderen gegessen?“, fragte ich Lia. „Wir sind satt, iss du nur!“, wich sie meiner Frage aus. „Lia? Ich glaube, wir sollten uns alle darauf einigen, dass wir uns nicht anlügen. Ich hab das mit Jannis schon heute Nacht ausgemacht. Wir sitzen alle im selben Boot.“ Lia seufzte hörbar. „Wir hatten auch Rinde zum Frühstück, aber ein kleineres Stück. Aber wir haben gute Chancen auf ein warmes Mittagessen. Jannis und Finn sind schon heute ganz früh los!“, sagte Lia. Ich legte mich wieder hin und starrte in den wolkenlosen Himmel. Es war kalt, doch zum Glück hatte ich meine Jacke an.

Ich beobachtete, wie Lia den Beutel zu Ende nähte, während ich auf dem Rindenstück herumkaute.

Eliza hatte sich in ihre Decke gewickelt und sah Mikey zu, der an einem dünnen, frischen Ast herumschnitzte. Josy lag neben ihr und starrte Lias Finger an, die geschickt die beiden Fellränder zusammennähte, als wollte Josy sich jede geringste Bewegungen genauestens einprägen.

Als Lia fertig war, drehte sie drei Schnüre zu einer Kordel zusammen und stach Löcher in den Rand des Beutels. Dann fädelte sie die Kordel durch die Löcher und man konnte den Beutel nun an der Kordel zusammenziehen und die Stricke zusammenbinden, um den Beutel zu verschließen. Ich fand Lias Idee sehr praktisch. „Und was machen wir da jetzt rein?“, fragte ich sie. „Irgendwas wird uns schon einfallen. Wir können Wild darin aufbewahren, falls die Jungs heute noch zurückkommen.“

Ich nickte und schloss wieder die Augen. Vielleicht konnte ich ja noch ein bisschen schlafen.

Ich lauschte den Geräuschen um mich herum im Wald. Ein einsamer Vogel zwitscherte. Ein kalter Wind fuhr durch die Bäume und irgendwo hörte ich leise Schritte, vermutlich unsere Jungs, die auf dem Rückweg waren. Ich öffnete die Augen und sah in die Richtung, aus der die Schritte gekommen waren. In weiter Ferne sah ich sie. Ich konnte Jannis sofort an der schwarzen Lederjacke erkennen.

„Sie kommen wieder!“, sagte ich zu Lia. Sie sah auf und winkte den Jungs.

„Da seid ihr ja!“ Mikey sprang auf und rannte ihnen entgegen. Kurz darauf rannte auch Eliza ihm hinterher und Josy folgte ihr. „Habt ihr was geschossen?“, hörte ich Mikey rufen. Zur Antwort hielt Finn ein Tier in die Luft, das ich als irgendeinen wilden Vogel deutete.

„Hier gibt es jede Menge wilde Truthähne, oder was auch immer das ist!“, sagte Finn, als er sich ans Feuer setzte und mit Lias Hilfe den Vogel ausnahm.

Finn steckte den Vogel auf einem neuen Spieß in die Erde neben das Feuer und hielt ihn fest. Als der Vogel fertig war, teilten wir ihn gerecht auf und jeder bekam ein Stück. Es war nicht besonders groß, doch die Jungs standen direkt nach dem Essen wieder auf und machten sich auf die Suche nach mehr Essen. „Wenn es dir wieder besser geht“, sagte Finn zu mir, „werde ich dich um diese Arbeit sich nicht beneiden!“ Ich lachte und die beiden verschwanden im Wald.

 

 

 

 

 

 

Als Jannis aufwachte, sah er direkt ihn Kiras dunkelbraune Augen. „Ist alles okay mit dir?“, fragte er sie. Scheinbar ging es ihr besser, denn sie lächelte ihn an. „Weißt du, was für ein Tag heute ist?“, fragte sie zurück, anstatt ihm zu antworten. „Nein, sollte ich das?“, fragte Jannis vorsichtig. Er hoffte, nichts Falsches gesagt zu haben, denn Kiras Lächeln verschwand.

„Heute ist der 16. Januar!“, sagte sie und grinste wieder. „Der 16. schon?“, fragte Jannis. Dann war es ja schon einige Zeit lang her, seit sie aufgebrochen waren. Er dachte daran, wie egal es ihm gewesen war, als er seine Pfeile abgeschossen wurde. Seine Technik, daneben zu schießen, hatte er nie wieder probiert, seit Kira ausgewählt worden war. Es war ihm egal geworden, ob er ausgewählt werden würde. Kira war in der ganzen Zeit seine einzige Freundin gewesen, und er hatte nicht mit dem Wissen leben wollen, dass sie tot sei. Umso schlimmer ging es ihm bei dem Gedanken an den letzten Tag, an dem Jasmyn den Pfeil auf Kira abgeschossen hatte und Jannis zum zweiten Mal gedacht hatte, Kira sei tot.

Als Antwort auf seine Frage nickte Kira und zeigte auf ihre Armbanduhr. Der sechzehnte Januar… Jannis erinnerte sich dunkel, dass an diesem Tag irgendetwas war. Aber was? Oder bildete er sich das nur ein? Er wusste es nicht. Es kam öfter vor, dass er sich solche Sachen nur einbildete…

„Hilf mir auf die Sprünge!“, bat er Kira. „Der 16. Januar! Was ist heute vor fünfzehn Jahren gewesen?“, fragte Kira. Jannis war noch immer nicht richtig wach, also schwieg er.

Kira verpasste ihm spielerisch eine Ohrfeige. „Heute ist mein fünfzehnter Geburtstag, du Idiot!“, sagte sie. „Und so was nennt sich bester Freund!“ Kira schüttelte den Kopf und legte sich wieder auf ihre Decke. „Klar, das wusste ich doch!“, sagte Jannis und sprang auf. „Alles Gute zum Geburtstag, Kira. Also ähm… nun ja, dein Geschenk…“ Jannis kratzte sich verlegen am Kopf. „Beruhig dich mal!“, lachte Kira. „Ich hab dir nie gesagt, wann ich Geburtstag habe!“

„Aber du hast doch heute Geburtstag, oder?“, fragte Jannis, plötzlich verunsichert. „Ja, das schon, aber sag es niemandem, okay? Sonst kommen die noch auf die Idee, mir eine Extraportion Essen zu schenken, oder so!“ Kira lachte, dann sah sie ihn an. „Worauf wartest du? Steh auf, du musst jagen!“ Jannis raffte sich müde auf und legte seine Decke zusammen. Er weckte Finn. Es war noch dunkel und alle außer ihm und Kira schliefen noch. Bald darauf waren Jannis und Finn beide auf den Beinen und gingen auf die Jagd. „Weißt du, ich glaube nicht, dass Jasmyn uns in Ruhe lassen wird!“, sagte Jannis. „Soll sie nur kommen!“, knurrte Finn grimmig.

„Was willst du dann tun?“, fragte Jannis. Er blieb stehen und Finn drehte sich zu ihm um. „Was wohl? Ich werde sie umlegen!“ Finn zog einen Pfeil aus dem Köcher und schoss ihn in einen Baum. „Sie ist stärker, als du denkst!“, warnte Jannis ihn. „Vielleicht ist sie sogar stärker als wir alle! Sie wird zurückkommen! Und sie wird nicht allein kommen! Sie wird zurück in die Schule gehen und wenn es sein muss, wird sie mit allen Schülern hier aufmarschieren!“ Jannis kickte einen Stein weg. „Weißt du, warum wir euch töten sollten?“, fragte Jannis Finn dann direkt.

Finn schüttelte den Kopf. „Weil die Direktion der Schule es nicht zulassen kann, dass sich jemand ihren Befehlen widersetzt!“ „Und was schlägst du vor?“, fragte Finn ihn leicht genervt. Jannis’ Gedanken schlugen Purzelbäume. „Das weiß ich nicht. Ich dachte, du könntest mir helfen… Wir müssen uns irgendetwas einfallen lassen!“, sagte er.

„Ich glaube, ich habe eine Idee!“, sagte Finn nach einiger Zeit und lächelte Jannis an. Finns lächeln gefiel ihm nicht. „Und die wäre?“ Jannis hatte ein seltsames Gefühl. Finns Pläne schienen bis jetzt nicht immer die Besten gewesen zu sein. Wahrscheinlich würde Finns neuer Plan irgendetwas beinhalten, was voraussetzte, dass die Hälfte von ihnen starb, oder sie würde es, bei dem Versuch, den Plan in die Tat umzusetzen. „Ich will weiterleben!“, zischte Jannis deshalb. Finn antwortete nicht, er zeigte auf eine Bewegung.

„Da! Das ist ein Hase, oder so was!“ Jannis nickte und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Jetzt sahen sie, wie ein braunes Tier den Kopf hob und in ihre Richtung sah. Es war eindeutig ein Hase. „Los, wenn wir schnell rennen, kommen wir vielleicht auf Schussweite heran, bevor er die Gefahr wittert! Los!“ Beide rannten los. Der Hase suchte Haken schlagend sein Heil in der Flucht. Jannis und Finn zielten beide, doch sie schossen jeder vorbei, der eine rechts, der andere links. „Statistisch gesehen, wäre der Hase jetzt tot!“, sagte Finn, als sie sich gegen einen Baum lehnten, um zu verschnaufen.

„Was wolltest du mir vorhin noch mal vorschlagen?“, fragte Jannis ihn, als er wieder Luft bekam. Vom Rennen war er müde und er war sehr hungrig. Er hatte gehofft, wenigstens heute etwas schneller Beute zu machen, als gestern. Von einem einzigen Vogel wurde man nicht satt, schon gar nicht, wenn man noch vier weitere Kinder zu versorgen hatte.

„Wenn Jasmyn mit der ganzen Kampfschule hier aufmarschieren sollte, wäre es doch vielleicht nicht so schlecht, wenn wir noch ein paar gute Kämpfer hätten, oder?“ „Ich verstehe noch immer nicht, worauf du hinaus willst!“, sagte Jannis. „Komm zur Sache!“ „Wir gehen zurück, sammeln unsere Freunde ein und kommen wieder hierher!“, sagte Finn, ohne mit der Wimper zu zucken. Jannis prustete los. „Und du glaubst, das klappt?“ Finn zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Ich kenne ein paar Leute, die nichts lieber machen würden, als aus dieser Schule zu verschwinden.“ Jannis zögerte. „Und du bist dir sicher?“, fragte er wieder nach. „Einen Versuch ist es doch wert, oder?“

„Das sollten Lia und Kira entscheiden!“, sagte Jannis bestimmt. „Die haben das Kommando und sollten wissen, was sie tun.“

Sie jagten weiter und nach einer guten Stunde hatten sie einen Truthahn und einen jungen Hasen geschossen. „Heute hatten wir mehr Glück als Verstand!“, sagte Finn. „Hoffen wir, dass wir das auch weiterhin haben werden!“, murmelte Jannis. „Wenn wir deinen Plan durchführen wollen, werden wir so viel Glück wie möglich brauchen!“

 

 

ENDE DES Zweiten BANDES

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MISSION

COMPLETED 3

 

 

Neben mir bewegte sich Finn kaum merklich. „Scht!“, machte Lia und stieß ihn an. „Das halt ich nicht mehr aus!“, stöhnte Jannis. „Und was, wenn sie gar nicht kommen?“, fragte Mikey. „Seid doch mal still!“, fuhr Lia sie an. „Oder wollt ihr, dass sie uns schnappen?“ Nein, das wollten wir sicher nicht. Ich dachte an die letzten Tage zurück. Wir hatten uns so viel Mühe gegeben, wir wollten jetzt nicht so kurz vor dem Ziel scheitern. Keiner von uns.

 

Finn und Jannis waren von der Jagd gekommen und hatten uns ihren Plan erklärt. „Das wird nicht einfach, aber es ist ein toller Plan!“, hatte Lia sofort zugestimmt und auch ich fand die Idee toll. Als es mir wieder gut ging, beschlossen wir, Finns Plan in die Tat umzusetzen. Wir bereiteten uns auf alles vor. Zunächst hatten wir die Idee genauestens überprüft und jede noch so kleine Sicherheitslücke gestopft. Wir wollten nicht wieder zurück. Keiner von uns.

Das hieß für uns mindestens ein Jahr Küchendienst. Wenn wir unglaublich viel Glück hatten. Immerhin hatten die Prüfer versucht, uns zu töten, weil wir uns ihren Befehlen widersetzt und die Missionen nicht ausgeführt hatten.

Viele Tage später waren wir hier angekommen. Wieder trennte uns nur der Zaun von unseren Freunden, die wir so lange nicht gesehen hatten. Ich hatte lange Zeit auf Tim gehofft, doch wir hatten fast niemanden zu Gesicht bekommen. „Sieht ganz so aus, als hätte Jasmyn uns verpetzt und sie würden jetzt alle unter Bewachung halten!“, hatte Mikey gemurmelt. Bei Einbruch der Nacht waren wir vorsichtig über den Zaun geklettert und hatten uns unter unseren Freunden umgesehen. Denjenigen, denen wir vertrauten, hatten wir einen Zettel mit folgendem Inhalt unters Kopfkissen, unter die Decke oder in die Rucksäcke geschoben:

 

Wenn ihr uns wirklich vertraut und hier raus wollt, trefft uns morgen nach Einbruch der Dunkelheit außerhalb des Schulgeländes, in der Nähe des Bads. Zu niemandem ein Wort, außer er möchte mit und ihr vertraut auch demjenigen!

 

 

Dann hatte derjenige Unterschrieben, an dessen Freund, Bruder, Schwester oder Freundin der Zettel gehen sollte. Ich hatte nur einen einzigen abgegeben und nun wartete ich darauf, dass Tim auftauchte, an den der Zettel gegangen war. Ich hatte gesehen, dass jeder der anderen mindestens zwei Zettel geschrieben hatte, und wenn alles glatt lief, dürften wir bis morgen früh circa dreißig neue Mitglieder haben. Endlich tat sich etwas in den Büschen. Ich sah drei Kinder auf uns zukommen. Lia schaltete eine Taschenlampe ein und leuchtete den Neuankömmlingen ins Gesicht. Es waren allesamt Jungs. „Ist schon okay!“, flüsterte Finn ihr zu. „Darf ich vorstellen? Das sind Oliver, Henry und Connor!“ Lia schaltete die Taschenlampe aus und die Jungs setzten sich zu uns. Sie wollten uns mit Fragen bestürmen, doch Finn schnitt ihnen sofort das Wort ab. „Wir müssen noch auf einige Leute warten, dann werden wir euch alles erklären! Aber verhaltet euch ruhig!“

Kurz darauf stießen zwei Mädchen namens Scarlet und Bailey zu uns, offenbar Geschwister, fünf Mädchen, die drei Jungs im Schlepptau hatten und nur wenige Schritte hinter ihnen drei weitere Mädchen. Diese drei waren jünger, vermutlich zwischen zwölf und dreizehn Jahren alt.

Jetzt dauerte es länger, bis neue Gesichter auftauchten, doch schließlich stießen noch ein gutes Dutzend Kinder zu uns. Dann kam auch Tim. Er kam allein. Offenbar hatte auch er in der Zeit seit meinem Verschwinden keine neuen Bekanntschaften gemacht. Er wollte mich mit Fragen bestürmen, doch ich machte ihm schnell verständlich, dass jetzt nicht der Richtige Zeitpunkt war. Fünf weitere Kinder folgten. „Fehlen noch welche?“, fragte Lia in die Runde. „Zwei, mindestens!“, sagte Mikey. Kurz darauf tauchten beide auf, plus ein weiterer Junge.

„Sind wir jetzt vollzählig?“, fragte Lia uns. Wir nickten. Dann erklärten wir ihnen bei völliger Dunkelheit, dass wir vorhatten, im Wald zu leben, uns dort schon seit langem ernährten und es einen unglaublichen Spaß machte. Dass wir dabei mehrere Male beinahe von Jasmyn getötet worden waren, wir verhungert wären oder erfroren, verschwiegen wir.

„Ich finde, das hört sich klasse an!“, sagte ein Mädchen, die sich als Chloe vorgestellt hatte. „Ich auch… Aber warum seid ihr zurückgekommen?“, fragte ein Junge. Jetzt rückte Lia mit dem Rest der Geschichte heraus. Dass Jasmyn uns auf der Spur war und uns töten wollte. Einige schienen nun nicht mehr ganz so überzeugt, anderen hatte diese Geschichte erst noch mehr Lust auf so ein Abenteuer bereitet. „Also, kommt ihr mit?“, fragte ich. „Wer mitkommen möchte, kommt einfach mit uns, der Rest geht wieder und tut so, als hätte er uns nie gesehen, verstanden?“, fragte Lia etwas drohend. Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten.

„Oder ihr kommt einfach alle wieder zurück und hört nicht auf unsere kleinen Ausreißer!“, hörte ich eine tiefe Stimme. In dem Moment gingen überall um uns herum Lichter an. Ich hörte einige Mädchen schreien, Kinder riefen sich etwas zu, dann sprangen alle auf. „Kommt mit!“, schrie Lia und rannte vor uns her. „Los, kommt schon!“, brüllte nun auch Finn.

Er blieb stehen und winkte die anderen Kinder zu sich. Kurz darauf rannte Tim neben mir her und auch sonst folgten uns fast alle Kinder. „Lauft!“ Finn schob ein kleines Mädchen nach vorne zu Eliza und Mikey, die schon auf der Flucht waren. Inzwischen hatten unsere Trainer einige der Kinder eingefangen. „Nicht warten!“, rief ich dem Rest zu. „Kommt schon!“ In dem Moment höre ich aus dem Tumult heraus Finn schreien. „Lassen Sie mich los! Nein!“ Ich brauchte keine Sekunde, um ihn in dem Gewimmel ausfindig zu machen. „Bleib hier, Bareen!“, sagte der Typ, der hinter ihm stand, und ihm den rechten Arm auf den Rücken gedreht hatte. Mit dem Linken schlug Finn so stark er konnte auf den muskulösen, gebräunten Mann hinter ihm ein. „Lass das! Du hast keine Chance!“, sagte der Mann. Dann sah Finn mich an. „Lauft! Lauft!“, schrie er. Ich wollte den Kopf schütteln. „Lauft!!!“ Dann packte Tim mich und stieß mich weiter.

„Bleibt zusammen!“, schrie Lia und ich holte zu ihr auf. Wir rannten durch die Bäume, die die Schule umgaben. Hinter uns hörte ich noch ein paar Trainer etwas schreien, doch ich merkte, dass sie uns nicht verfolgten. Lia ordnete eine kurze Pause an. „Wie viele sind wir noch?“, fragte sie. Wir zählten durch und kamen auf insgesamt vierundzwanzig. „Na, das ist doch was!“, sagte Lia. Dann zögerte sie kurz und rang sich ein Lächeln ab. „Bis auf die Tatsache, dass wir jetzt, egal, was ihr vorhattet, nicht mehr zurückkönnen. Also, kommt ihr alle mit?“, fragte sie. Die Kinder nickten. „Dann brauchen wir Waffen. Ich bin im Übrigen Lia Sylvane und das ist Kira Mathlock“, stellte sie uns vor. „Wir sind hier die Anführer unserer kleinen Bande. Kira, was schlägst du vor?“, fragte sie mich. Ich zog eine Augenbraue hoch. Das sah ihr ähnlich. Wenn sie keinen Plan hatte, musste ich her. Das war einer der Gründe, warum ich sie noch immer nicht richtig leiden konnte, auch wenn sie eine gute Anführerin war.

„Keine Ahnung… Finn?“ Ich sah mich nach ihm um, bis mir einfiel, dass er geschnappt worden war. Bis jetzt war er in Sachen Pläne schmieden immer meine erste Adresse gewesen, auch wenn selten einer seiner Pläne gut funktioniert hatte. Ich schluckte die Tränen runter. Jetzt war keine Zeit dafür und unseren neuen Mitstreiter sollten nicht gleich den Mut verlieren.

„Jannis?“, fragte ich ihn deshalb, um meine Unsicherheit zu überspielen. „Wir könnten es riskieren, zurückzugehen, ins Waffenlager einzubrechen und was zu klauen. Aber…“ Ich ließ ihn nicht zu Ende reden.

„Toller Plan, so wird’s gemacht!“, sagte ich. „Wer kommt mit mir?“, fragte ich in die Runde. Sofort gesellte sich Tim zu mir. Auch Jannis wollte sich zu mir stellen. „Nein, Jannis, wir brauchen dich hier!“, sagte Lia. Dann stellte sie uns noch ein Mädchen vor. „Das hier ist Scarlet Brainton. Sie ist die beste Schwertkämpferin, die die Welt je gesehen hat!“, meinte Lia überzeugt. „Wie wäre es, wenn du sie begleiten würdest, Scarlet?“, fragte sie das Mädchen. Sie nickte und kam auf mich zu.

„Noch zwei Leute, würde ich sagen…“, sagte Mikey. Ein Junge, der sich als Henry vorstellte, erklärte sich auch dazu bereit, uns zu helfen. Und nach einigem hin und her kam auch noch ein Mädchen namens Linda mit.

Wir warteten nicht lange, sondern schlichen zurück. „Hat jemand einen genaueren Plan?“, fragte Tim und sah mich dabei an. „Wie wäre es, wenn jemand sie ablenken würde? Du zum Beispiel?“, fragte ich ihn. „Von mir aus. Und Linda kann mir ja helfen!“, schlug er vor. „Oder sonst jemand… Ist mir egal. Dann schnappst du dir mit Scarlet und Henry euch ein paar Waffen.“ „Kein Problem!“, stimmte Scarlet zu und auch Henry nickte.

Wir kletterten über den Zaun und Tim und Linda verschwanden in Richtung Gemeinschaftszelt.

„Schnell!“, befahl ich den anderen. Scarlet und Henry rannten direkt hinter mir auf einen Schuppen zu, in dem die Waffen verstaut waren. Wir warteten. Dann hörten wie laute Schreie und Rufe vom Gemeinschaftszelt aus und in der allgemeinen Aufregung schlüpften wir durch die Tür, die immer offen war, in den Schuppen. „Schnappt euch irgendwas!“, befahl ich. „Wir haben nicht lange Zeit!“ Ich warf mir zwei prall gefüllte Köcher über die Schulter, spannte drei Bogen und warf mir einen Schild auf den Rücken. Vollgepackt sah ich zu den anderen. Scarlet schnallte sich gerade das zweite Schwert an den Gürtel und Henry steckte ein Messer in seine Jackentasche, die bereits prall gefüllt war.

In einer Ecke fand ich eine Decke und rollte sie so gut ich konnte zusammen. Da sie sehr dünn war, konnte ich sie mir in den Ärmel stecken. „Ihr lauft vor und gebt das Zeug am Zaun an Lia und die Anderen weiter, ja?“, sagte ich. „Kommt dann wieder zurück!“ Ich drückte Scarlet, die noch etwas tragen konnte einen Bogen in die Hand und band ihr einen Köcher um. Sie waren nun so schwer beladen, dass sie nicht weit kommen würden, falls sie wegrennen mussten, doch ich hoffte, das Tims Ablenkungsmanöver das Nötigste tat, um sie ungesehen das Zeug von hier wegschaffen lassen zu können.

Auch ich packte meine Taschen mit Messern voll, dann sah ich mich bei der Bogenausrüstung um. Ich packte schnell zwei Armschutze, da ich wusste, dass sie sehr hilfreich sein konnten. Dann nahm ich noch einen Speer in die Hand und lief Scarlet und Henry nach, die bereits beim Zaun angekommen, waren und die Waffen auf die andere Seite warfen. Ich sah, wie Lia den Kindern Anweisungen gab und sie das Zeug in Windeseile vom Boden aufhoben und unter sich verteilten. Ich rannte weiter und auch meine Waffen landeten auf der anderen Seite des Zaunes.

„Was braucht ihr noch?“, fragte ich Lia schnell, die mich durch die Drahtmaschen des Zauns ansah. „Ein paar Speere wären hilfreich!“, sagte sie, während ich meine Taschen leerte und ihr die Messer in die Hand drückte.

„Und vielleicht noch den ein oder anderen Bogen! Auch Pfeile können wir immer gut gebrauchen! Immerhin gehen die schnell verloren und wir müssen mit ihnen jagen!“ „Frag doch mal herum, wer Erfahrung im Bogenschießen hat!“, sagte ich. Dann rannte ich zurück.

„Wir brauchen noch Speere, Bogen und Pfeile!“, sagte ich, als ich am Waffenlager ankam. „Schnappt euch ein paar und dann rennt so schnell ihr könnte zurück! Tim und Linda werden bald außer Puste sein und außerdem wird man unsere List erkennen! Ich muss noch ein paar andere Sachen besorgen.“ Damit ließ ich die Tür ins Schloss fallen und rannte davon. Ich sah schon von Weitem das Zelt der Prüfer vor mir. „Okay, Jasmyn, du bekommst noch diese allerletzte Chance!“, hörte ich eine Stimme.

„Hol dir zwanzig Leute und erledige diese Kinder! Aber das ist deine letzte Chance, sonst…“ Ich rannte weiter. Ich durfte mich damit nicht aufhalten. Die Botschaft war klar und ich hatte nichts anderes erwartet. Ich schlug die Plane eines verlassenen Zeltes zurück, das, wie ich wusste, für die Rucksäcke der Kinder vorbereitet war. Ich packte mir zwei Rucksäcke und warf sie mir links und rechts über die Schulter. Dann öffnete ich ein paar andere Rucksäcke und packte Decken und Wasserflaschen in einen weiteren Rucksack.

Mit fünf Rucksäcken bewaffnet trat ich den Rückzug an.

Als ich den Zaun fast erreicht hatte, sah ich auch Scarlet und Henry. „Rüber mit euch! Helft den Anderen, die Waffen zu verteilen und wartet auf mich, Tim und Linda!“, sagte ich. Ich half ihnen über den Zaun und gab ihnen die Rucksäcke, dann verschwand ich wieder. Ich sah Tim auf mich zulaufen, blieb aber nicht stehen. Ich rannte wieder auf das Zelt mit den Rucksäcken zu, Tim stürmte hinter mir her. „Mach schon, beeil dich! Sie haben Linda gefangen!“

Ich antwortete nicht sondern griff auf gut Glück nach zwei Rucksäcken, drückte sie ihm in die Hand, nahm selbst noch drei und schob Tim dann aus dem Zelt. Niemand hatte uns gesehen.

Am Zaun angekommen half Tim mir rüber und kletterte mir dann hinterher. „Sie haben Linda gefangen!“, keuchte er, warf die Rucksäcke zu Boden und holte tief Luft. Ich verteilte die Rucksäcke an ein paar Kinder. Die Waffen waren alle schon verteilt und jeder schien die Waffe zu haben, die er auch benutzen konnte. Lia hielt Tim ein Schwert hin. „Kannst du damit umgehen?“, fragte sie. „Und ob er das kann!“, antwortete ich für ihn, nahm meinen Bogen und den Köcher. Dann machten wir uns auf den Weg in den Wald.

Eine gute Stunde später schaltete Lia die Taschenlampe an. „Sie können uns jetzt, glaub ich, nicht mehr sehen!“, sagte sie. „Selbst wenn sie uns jetzt noch sehen, werden sie nichts unternehmen!“, sagte ich zu ihr und erzählte ihr leise, was ich belauscht hatte. Lias Gesichtsausdruck veränderte sich kaum. „Das wird kaum etwas an unserer Lage ändern. Wir waren bis jetzt auch immer auf der Flucht, nur, dass Jasmyn jetzt noch mehr Leute zur freien Verfügung hat. Aber wir schließlich auch!“, sagte sie und stieß mich in die Rippen.

Ein kurzes Ziehen in meiner rechten Schulter erinnerte mich an die Verletzung, die ein Pfeil, den Jasmyn auf mich abgeschossen hatte, hinterlassen hatte.

„Allerdings haben wir auch einen guten Kämpfer verloren!“, sagte ich leise zu ihr, damit niemand außer uns es hörte. „Finn wurde gefangen!“ „Ich weiß…“, sagte Lia leise. „Wir sollten es vorerst niemandem erzählen!“, sagte sie zu mir. „Sie werden es von allein merken und hoffentlich wollen sie dann nicht mehr umkehren. Selbst jetzt kann es noch sein, dass jemand zurück will!“, sagte sie, noch immer mit gedämpfter Stimme. Ich nickte und sagte den Rest des Weges kein Wort.

 

An Schlafen war nicht zu denken, als wir im Wald angekommen waren. Wir waren jetzt nur noch dreiundzwanzig Kinder, dreiundzwanzig hungrige, verängstigte, müde, misstrauische oder erwartungsvolle Kinder.

Als erstes befahlen Lia und ich, dass sie sich in verschiedenen Gruppen nach ihrem Alter sortiert aufstellten, damit wir einen besseren Überblick über unsere genaue Lage erhielten. Wir teilten die Kinder in fünf Altersklassen:

Kinder unter sechs Jahren. Hier gab es zum Glück niemanden. Wir hätten auch wahrscheinlich keine Verwendung für ihn gehabt. Es wäre nur ein weiteres Maul gewesen, das man hätte füttern müssen.

Kinder zwischen sechs und neun Jahren. In diese Gruppe stellten sich Josy und Eliza, da wir ihnen befohlen hatten, auch mitzumachen und Scarlet Braintons kleine Schwester Bailey Brainton, die allerdings in wenigen Monaten zehn wurde.

Dann kamen die Kinder zwischen zehn und dreizehn Jahren dran. Mikey und Jannis stellten sich als Erstes dorthin, ihnen folgte Oliver, dann Connor, ein blondes Mädchen, das Conny hieß und nächstes Jahr dreizehn wurde, wie sie sagte, außerdem ihre kleine Schwester Quinn, die zehn Jahre alt zu sein schien.

Die Kinder zwischen vierzehn und fünfzehn waren die meisten – Ich schätzte, dass fast alle von ihnen in etwa fünfzehn waren.

Hier waren Lia und ich die ersten, die sich in die Gruppe einteilten, dann folgten uns zwei Jungs, von denen der größere Liam und der kleinere Thomas hieß, Scarlet Brainton, ein Mädchen namens Wendy, dann folgten ihnen kurz darauf ein Mädchen namens Chloe, daneben stellte sich Henry, dann ein Mädchen und ein Junge, die sich sehr ähnlich sahen und Billie und Bryan hießen, ein Junge, der sich Kyle nannte und ein kleiner, unscheinbarer Junge namens Jordan.

In die Gruppe der Sechzehn- bis Achtzehnjährigen standen nur Tim und Joshua, ein Junge, der auch noch nicht lange sechzehn sein konnte.

Jetzt hatten Lia und ich eine ungefähre Vorstellung, wer was übernehmen konnte. Während wir versuchten, uns die Namen zu merken, fragten wir, wer mit einem Bogen umgehen konnte.

Joshua und Tim streckten sofort, doch ich stieß Tim an. „Du giltst nicht! Du triffst doch nicht mal was, wenn man es dir direkt vor die Nase hält!“ „Aber ich hatte schon mal einen Bogen in der Hand und hab schon geschossen!“, sagte er und streckte mir die Zunge raus, wobei er allerdings Lachen musste.

„Okay, anders gefragt. Wer von euch kann jagen, also mit einem Bogen ein bewegliches Ziel treffen?“, fragte ich und betonte jedes Wort, während ich Tim ansah. Diesmal blieb seine Hand unten und er sah mich schmollend an, was mich wieder zum Lachen brachte. Wieder streckte Joshua, außerdem Connor, Thomas und Jordan.

Das machte mit mir und Jannis schon einmal sechs gute Schützen, doch wir hatten nur fünf Bogen. „Kann jemand von euch noch was anderes? Schwertkämpfen, oder Messerwerfen?“, fragte ich. „Ich denke, ich bin ein ganz passabler Speerwerfer!“, meinte Joshua.

„Kannst du dann mit einem Speer jagen?“, fragte Lia. „Versuchen kann ich es!“, antwortete Joshua. Wir verteilten je einen Bogen und einen Köcher an die Bogenschützen, dann drückte Lia Joshua zwei Speere in die Hand. „Das sind jetzt deine, pass auf, dass du sie nicht verlierst!“, sagte sie. Dann bildeten wir unter uns Jägern Gruppen von jeweils zwei Leuten: Jannis und ich, Thomas und Jordan und Connor und Joshua. „Merkt euch euren Partner, mit ihm werdet ihr ab jetzt jagen!“, sagte Lia. Dann entließen wir sie und befahlen ihnen, die Wasserflaschen an dem Fluss zu füllen, der in der Nähe war. Jannis kannte den Weg und könnte sie auch in völliger Dunkelheit durch den Wald führen, doch Lia gab ihm ihre Taschenlampe.

Dann waren noch achtzehn Leute übrig.

Lia fragte nach denjenigen, die Messerwerfen konnten. Mehr als die Hälfte aller Kinder streckte. Da wir die Messer, die Lia damals hatte, schon unter uns verteilt hatten, blieb uns jetzt nur das knappe Dutzend Messer, das ich, Henry und Scarlet mitgenommen hatten. Wir gaben je ein Messer an Wendy, Henry, Bailey und Liam ab, Chloe, Oliver und Kyle bekamen je drei Messer, da sie die besten Messerkämpfer zu sein schienen.

Jetzt waren noch Bryan, Billie, Conny, Quinn, Tim und Scarlet übrig.

„Tim bekommt ein Schwert!“, sagte ich und drückte ihm eins in die Hand. „Scarlet auch!“, meinte Lia, die wohl mit Scarlet befreundet war, also gaben wir auch ihr ein Schwert. Eins hatten wir jetzt noch übrig. „Kann einer von euch damit umgehen?“, fragte Lia die anderen. Keiner antwortete. „Eigentlich nicht, nein…“, meinte Quinn.

„Dann nimmst du es!“, sagte Lia und gab es mir. „Du kannst das!“ Ich zuckte mit den Schultern. Wenn es sonst sowieso nur herumlag, war es besser als nichts.

Bryan, Billie, Conny und Quinn konnten scheinbar nur rennen oder turnen. Billie konnte reiten, aber das half uns in diesem Fall nicht weiter.

„Dann werdet ihr euch um die Vorräte kümmern. Ihr müsst sagen, was wir brauchen, Mikey mit dem Wasser auffüllen helfen, das Essen vorbereiten…“ Bei diesem Satz begannen Quinns Augen zu strahlen „Das können Conny und ich schon gut!“, sagte sie. Conny lächelte. „Wir haben in der Küche geholfen…“, erklärte sie. „Na, das ist ja perfekt. Dann sind Billie und….“

„Und Bryan“, sprang ich Lia zu Seite, die scheinbar ein Problem mit den vielen Namen hatte. „Hab ich doch gesagt… Dann sind Billie und Bryan für das Wasser verantwortlich und ihr beide nehmt die Tiere aus und kocht. Ist das so für alle okay?“, fragte Lia. Alle nickten.

„Okay, dann hauen wir uns noch ein paar Stunden aufs Ohr…“, sagte sie und gähnte. Wir durchsuchten die Rucksäcke und ich zählte zwölf Wasserflaschen, plus die sieben, die wir davor schon besaßen. Jetzt hatten wir also neunzehn. Doch ein Problem hatten wir noch: Wir waren inzwischen dreiundzwanzig in unserer kleinen Bande, doch wir hatten nur siebzehn Decken. Conny und Quinn kuschelten sich aneinander, Mikey und Eliza teilten sich eine Decke, Lia und Josy, Scarlet und Bailey, und Bryan und Billie, die auch Geschwister waren. Nun fehlte nur noch eine Decke, also teilte ich mir eine Decke mit Chloe, die ganz nett zu sein schien.

 

 

 

 

 

 

 

 

Am Morgen des nächsten Tages erwachte Mikey mit einen seltsamen, unbeschreiblichen Glücksgefühl. Er drehte seinen Kopf auf die Seite und sah, eng an ihn gedrängt, Eliza, die noch immer tief und fest schlief. Kira war weg, genauso Jannis. Bei genauerem Hinsehen sah Mikey, dass auch Joshua, Jordan und die anderen Jäger fehlten. Wahrscheinlich waren sie schon aufgebrochen. Vorsichtig stand Mikey auf. Es war noch dämmrig, doch im Osten sah er bereits erste Sonnenstrahlen über den Bergkamm scheinen.

Während er etwas von dem Holz mit den Streichhölzern neben dem Lagerfeuer entzündete, sah er sich um. Erst jetzt, bei dem Tageslicht, erkannte er, wie dreckig ihre kleine Gruppe im Gegensatz zu den Kindern war, die erst neu zu ihnen gestoßen waren. Lias blonde Haare bildeten einen starken Kontrast zu ihrer Haut, die über und über mit getrocknetem Schlamm, etwas Blut und Dreck bedeckt war. In ihrem Haar hing ein Blatt, was allerdings nicht verwunderlich war, da sie schließlich seit einigen Wochen im Wald lebten.

Elizas Gesicht war schmutzig und ihre Haare zerzaust – Josy sah er nicht, Jannis und Kira waren weg und sich selbst wollte Mikey gar nicht erst sehen.

Während Mikey in den Flammen stocherte, bewegte sich jemand hinter ihm. „Hallo. Gut geschlafen?“, fragte ihn ein Mädchen. Mikey nickte. „Ja, und du?“ Auch das Mädchen nickte.

„Wie heißt du?“, fragte das Mädchen. „Michael. Du kannst mich aber auch Mike nennen, oder Mikey. Und dein Name war…?“ Mikey sah das Mädchen an, doch er wusste nicht mehr, ob sie Quinn oder Conny war. „Conny.“ „Dann ist deine kleine Schwester also Quinn?“, fragte Mikey nach. Conny nickte. „Ja.“ Einen Moment lang schwiegen sie. „Ich habe auch eine kleine Schwester!“, sagte Mikey. „Sie heißt Eliza.“ „Ja, ich weiß. Sie und Quinn sind befreundet gewesen. Quinn hat Elizas Zettel gefunden und dann wollte sie Eliza unbedingt sehen. Und da sie so aufgeregt war und ich nicht wollte, dass sie eine Dummheit begeht, bin ich mitgekommen“, erklärte Conny.

Mikey sagte eine Zeit lang nichts. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Dann fragte Conny ihn: „Wie geht das hier bei euch eigentlich zu? Die Aufgaben hat Lia ja schon verteilt, aber sonst… Was macht ihr hier den ganzen Tag, vor allem die, die nicht jagen gehen?“

„Da gibt es schon genug zu tun!“, lachte Mikey. „Meistens trainieren wir Messerkampf oder Rennen oder so… Früher, als Finn noch hier war, hat er uns richtig kämpfen beigebracht. Er war ein guter Kämpfer, er konnte die spektakulärsten Tricks!“ Mikey schwieg wieder eine Weile. „Was ist mit ihm…?“, fragte Wendy vorsichtig. Mikey hatte gar nicht bemerkt, dass sie aufgewacht war und sich jetzt neben sie ins feuchte Laub setzte. „Er wurde gefangen. Gestern“, sagte Mikey knapp.

In dem Moment kamen Joshua und Connor von der Jagd. Sie ließen einen dicken Truthahn neben Mikey fallen. „Schau dir mal an, was hier rumflattert!“, sagte Joshua und lachte. Sein Speer war blutverschmiert und der Vogel hatte ein Loch im Bauch. Mikey hob hin hoch und sah ihn sich an. „Wendy, kannst du bitte Quinn wecken?“, fragte er sie. „Du weißt schon, Connys Schwester!“ Wendy nickte und Mikey gab den Vogel an Conny weiter. „Ich hoffe, du weißt, was du mit dem Vogel vorhast“, sagte er und stand auf. „Ich hab nämlich einen Bärenhunger!“ Dann lachte Mikey und weckte Eliza. „Komm, steh auf, du musst mir helfen, die Anderen zu wecken!“, sagte er zu ihr. Dann ging er zu Lia und weckte sie. „Joshua und Connor haben einen Vogel geschossen!“, sagte er. Lia gähnte und setzte sich auf.

Mikey weckte inzwischen Liam. Einige waren bereits wach geworden, ob Eliza sie geweckt hatte, oder ob sie von allein aufgewacht waren, wusste Mikey nicht. Als alle wach waren, befahl Lia den Zwillingen Billie und Bryan, die Wasserflaschen aufzufüllen. Der Rest sollte sich auf eine erste Übungsstunde im Messerwerfen vorbereiten und alle, die darin schon gut waren, sollten zu ihr kommen.

Bald hatten sich um sie und Mikey auch noch Chloe, Oliver und Kyle versammelt. Die anderen, die gestern nur ein Messer bekommen hatten, sollten noch etwas mehr üben.

Dann verteilten Lia, Mikey, Eliza und Josy ihre Messer an den Rest der Gruppe und zum Schluss hatte jeder ein Messer. Mikey bemerkte schon bald, dass die anderen Kinder Lia respektierten und ihre Befehle befolgten, daher beschloss er, ab und zu über Lias grobes Verhalten hinwegzusehen. Es brachte ihr immerhin Respekt ein.

Darin unterschieden Lia und Kira sich sehr: Lia war für die Anderen von Anfang an eine Autoritätsperson gewesen, Kira hatte den Respekt der Neuen dadurch erhalten, dass sie ihnen gezeigt hatte, dass sie bereit war, sich für sie zu opfern – Mikey war sich nicht sicher, ob Kiras oder Lias Weg, sich Respekt zu verschaffen, der Bessere war.

Lia befahl den Kindern, sich in gleichgroßen Gruppen auf sie, Mikey, Kyle, Chloe und Oliver zu verteilen. Jeder von ihnen sollte den Anderen dann zeigen, wie man mit einem Messer richtig zustieß und das Messer so warf, dass es sich im Flug nicht drehte und die Spitze immer nach vorne zeigte.

Mikey versuchte verzweifelt, Bailey zu zeigen, wie sie das Messer zu werfen hatte. „Nein, nein, nein, du machst das ja schon wieder falsch!“ Er nahm ihr das Messer weg. „Du musst es so werfen!“ Mikey holte aus und das Messer schlug in einen drei Meter entfernten Baumstamm ein. „Verstanden?“

Bailey nickte. Sie warf das Messer, doch es prallte von dem Baum ab. Mikey seufzte „Die Richtung stimmt!“ Dann ging er weiter zu Josy. „Josy! Nein!“ Josy schmiss das Messer und verfehlte nur um ein Haar Wendy, die gerade ihr Messer holte. „Du darfst nie werfen, wenn jemand vor die steht! Nie, hörst du?!“, fuhr er sie an. Sie nickte erschrocken und holte ihr Messer. „Noch mal! Alle gleichzeitig!“, sagte Mikey und gab das Kommando zum Werfen.

Irgendwann riefen Conny und Quinn sie zum Essen. Es war nur sehr wenig, ein Truthahn für siebzehn Kinder, doch Lia verzichtete für die anderen. „Heute Abend wird es mehr zu Essen geben, wenn die anderen wiederkommen!“, sagte sie. „Da schlag ich dann richtig zu!“ Dann lachte sie.

Trotzdem wurde niemand richtig satt. Nach dem Essen füllten Billie und Bryan die Flaschen auf und es wurde wieder Messerwerfen geübt. Mikey beschloss seiner Gruppe nun zu zeigen, wie man mit dem Messer richtig zustieß. „Ihr müsst immer ein bisschen aufpassen, wenn ihr mit einem Messer kämpft!“, sagte er. „Das Messer ist kürzer als ein Schwert, daher müsst ihr auch viel näher ran!“ Dann zeigte er ihnen, wie sie mit dem Messer abwehren konnten und wohin sie zielen mussten.

Dann drückte er ihnen kurze Stöcke anstatt Messern in die Hand und befahl ihnen, es damit einmal zu versuchen.

Als alles das Messerwerfen zu beherrschen schienen – bis auf Bailey, die sich als sehr unfähig entpuppt hatte – befahl Lia ihnen, bis zum Abendessen Stockkämpfen zu üben. Jeder suchte sich einen Partner, der ungefähr dieselbe Größe hatte, und dann suchten sich beide stabile Stöcke und begannen, zu kämpfen. Mit der Zeit begann Mikey ein besseres Gefühl für die Stöcke zu entwickeln. Scarlet und Tim kämpften gegeneinander und immer wieder hörten er und Chloe, mit der er kämpfte, auf, um den beiden zuzusehen.

Scarlet hatte zwar einen Nachteil, da sie kleiner war, als Tim, doch sie baute ihn durch ihre Schnelligkeit und Geschicklichkeit so schnell zu einem Vorteil aus, dass Tim sie trotz seinem Übermaß an Körperkraft, das ihn scheinbar Beweglichkeit kostete, nicht besiegen konnte. Bald standen alle um die beiden herum und beobachteten den Kampf.

Mit einer kurzen Drehung des Handgelenkes gelang es Tim schließlich, Scarlet zu entwaffnen. Beide schwitzten, doch Scarlet forderte eine Revanche. Es war der spektakulärste Kampf, den Mikey seit langem gesehen hatte. Er fragte sich, wer wohl gewinnen würde, wenn Finn gegen Tim gekämpft hätte. Wahrscheinlich Finn, da dessen Vorteil war, dass er es gewohnt war, gegen Größere zu kämpfen, was Scarlet wohl eher ein Problem bescherte.

Doch auch Tim war nicht ohne. Er war unglaublich stark und seine Deckung war beinahe perfekt. Scarlet hatte es nur ihrer ebenso guten Deckung zu verdanken, dass Tim sie noch nicht vollkommen vermöbelt hatte.

Es war noch hell, als Kira und Jannis wiederkamen. Inzwischen kämpften wieder alle, doch Mikey war noch immer von Tim und Scarlet fasziniert, die sich so schnell und kraftvoll bewegten, dass Mikey sich fragte, wie sie so lange durchhalten konnten. Sie mussten wirklich sehr viel trainiert haben.

„Hey, Tim!“, rief Kira. „Ich sehe, du bist etwas besser geworden!“ Tim drehte sich zu ihr um und Scarlets Stock schlug auf seine Schulter. „Aua!“ Er rieb sich die Schulter. „Nun ja, ich habe noch nie gegen Scarlet gekämpft, daher kann ich das nicht sagen. Aber gegen dich habe ich schon gekämpft!“ Tim hob seinen Stock auf, der ihm bei Scarlets Schlag aus der Hand gefallen war und lächelte herausfordernd. „Soll das eine Herausforderung sein?“, fragte Kira und legte den Hasen, den sie trug, neben das Feuer und auch Jannis legte seine Beute, zwei Eichhörnchen ab und beobachtete gespannt die anderen Kämpfer, von denen einige Paare schon wieder aufgehört hatten zu kämpfen.

Auch Mikey hielt jetzt inne und beobachtete, wie Kira langsam auf Tim zuging. „Das kannst du verstehen, wie du willst, aber ich schätze, wir sollten den Kindern hier mal zeigen, wie man richtig kämpft, findest du nicht?“, fragte Tim und lächelte frech. „Wie du möchtest, aber ich warne dich: Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, das damals zu einer Mission aufgebrochen ist!“, lachte Kira und ihre Augen verengten sich zu schlitzen.

„Damit kann ich leben!“, sagte Tim und lächelte. „Wie du meinst. Wer von euch leiht mir seinen Stock, damit ich Tim verprügeln kann?“, fragte Kira und lachte. „Fang!“, rief Scarlet und warf Kira den Stock zu. Kira fing ihn und stellte sich und Angriffsposition vor Tim. „Nicht so wild, ja? Ich will nicht, dass es hier Verletzte gibt!“, rief Lia aus der Menge der Kinder und lachte. Die anderen stimmten in ihr Lachen mit ein.

Kira sah sie gespielt böse an. „Mikey, wärst du so nett und würdest auf Lia aufpassen, damit sie sich nicht verletzt?“, fragte sie trocken und erntete dafür noch größere Lacher. Dann ging sie vor Tim in Kampfstellung.

„Wenn sie da nicht mal einen Fehler gemacht hat!“, flüsterte Mikey Chloe zu. „Hoffentlich bricht er ihn nicht die Rippen“, flüsterte Chloe zurück. Sie schien ernsthaft besorgt.

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ich hoffe, du hast geübt und bist jetzt auf meinem Niveau!“, sagte ich und ließ meinen Stock durch die Luft wirbeln, ohne Tim zu nahe zu kommen. „Lass deine Großspurigkeit sein!“, sagte Tim, der es ernst zu meinen schien. „Lass du mir meine Großspurigkeit!“, erwiderte ich. „Oder willst du, dass ich dich gleich platt mache?“, fragte ich dann und lächelte.

Auch Tim lächelte. „Mach dich für deinen Untergang bereit!“, lachte er und sein Stock sauste auf mich zu. Ich riss meinen eigenen Stock hoch und wehrte ab. Mit derselben Bewegung drehte ich mich, übte Druck auf Tims Stock auf und hinderte ihn so daran, den Stock wieder zu heben. Keine Sekunde später stand ich hinter ihm und wollte ihm den Stock in den Rücken rammen, doch er war schneller. Sein Stock zielte auf meine Schulter und ich musste dem Schlag ausweichen.

Ich versuchte, meine Finten und Tricks so spektakulär wie möglich zu gestalten, da ich mir sowieso sicher war, dass Tim mich noch immer besiegen könnte und das auch tun würde.

Tim zielte auf meine Beine und ich sprang in die Luft. In ein und derselben Bewegung führte ich einen Schlag gegen seine linke Hüftseite aus. Tim drehte sich weg und der Stock zischte an ihm vorbei. Elegant tänzelte ich zwei Schritte nach vorne und schlug abwechselnd nach rechts und nach Links. „Na, was sagst du jetzt?“, fragte ich Tim, der sich Mühe geben musste, meine Angriffe abzuwehren. „Du bist gar nicht so schlecht…“, gab er zu. Dann drückte er meinen Stock zu Boden und stieß nach meinem Oberkörper. Ich musste mich ducken und rollte mich auf dem Boden ab. Verwirrt über mein plötzliches Verschwinden drehte Tim sich nicht sofort um und mir blieb eine kurze Sekunde, um meinen neuesten Angriff zu planen. Kaum drehte sich Tim um, schlug ich nach seinem linken Schulterblatt. Er wehrte den Angriff ab und ich sprang einen Schritt zurück, als er nach mir schlug.

Kurz darauf schlug ich von oben nach seinem Kopf. Er wehrte auch diesen Schlag ab und wäre er nicht in der letzten Sekunde zurückgesprungen, hätte ich ihn mit meinem nächsten Schlag an den Rippen getroffen. Ich merkte, dass meine Konzentration nachließ und ich langsamer wurde. „Du verlierst schon wieder die Konzentration!“, sagte er. „Tu ich gar nicht!“, knurrte ich, während er mich einige Schritte zurückdrängte. Seine Schläge fielen nun so dicht hintereinander, dass ich keine Zeit hatte, über meine Abwehrtaktik nachzudenken. Wenn ich einen Treffer verhindert hatte, musste ich schon den nächsten Schlag abwehren.

Dann sah ich eine Lücke in Tims Deckung. Während er nach meinem linken Schulterblatt schlug, duckte ich mich unter dem Schlag weg und riss meinen Stock herum. Mit einem hellen Schlag trafen unsere Stöcke nur wenige Zentimeter von seinem linken Oberarm aufeinander.

Wir sahen uns kurz an und verschnauften, doch die Ruhe hielt nur wenige Sekunden, dann riss Tim seinen Stock von meinem weg und zielte auf meinen Kopf. Ich wollte den Schlag abwehren, doch Tim zog seinen Stock im letzten Moment weg und schlug nach meinem Oderarm. Ich schaffte es in der letzten Sekunde, ein Stück zurückzuspringen und der Stock traf mich nicht. Ich spürte den Lufthauch und schlug jetzt energisch nach seinem Bein. Er sprang hoch, machte einen Schritt auf mich zu und schlug gegen meinen Stock. Dann drückte er ihn auf mich zu und entwaffnete mich, indem er sein Handgelenk blitzschnell drehte. Ich duckte mich unter seinem nächsten Schlag weg und sprang auf meinen Stock zu. Ich bekam ihn zu fassen und schaffte es gerade noch, dem Angriff auf meine Rippen auszuweichen. Den nächsten Schlag konnte ich jedoch nicht mehr abwehren. Ich fuhr herum, hob den Stock um mich zu Verteidigen, doch bevor ich überhaupt die Lage gepeilt hatte, spürte ich Tims Stock unter meinem Hals.

„Tot“, lächelte er.

Ihm lief der Schweiß von der Stirn und er keuchte. Ich musste auch lächeln. „Du bist echt besser geworden!“, sagte ich, während sich meine Atmung beruhigte.

„Du aber auch!“, sagte Tim und ließ den Stock sinken.

Erst jetzt bemerkte ich, dass es um uns herum unglaublich still geworden war. Tim und ich drehten uns um und sahen in die Gesichter unserer Kameraden. „Was denn? Habt ihr noch nie einen Stockkampf gesehen?“, fragte Tim. „Das war unglaublich!“, platzte Scarlet heraus. „So einen Kampf habe ich noch nie gesehen!“ Ich merkte, wie ich rot wurde. „Na ja, also…“ „Nein Kira, sie hat recht!“, sagte jetzt auch Lia. Das erste Mal seit ich sie kannte hatte ich das Gefühl, sie wäre nicht vollkommen genervt von mir oder würde vor Wut gleich platzen – vielleicht hatte ich diesen Eindruck von ihr nur bekommen, weil in der letzten Zeit so ziemlich alles schiefgegangen war – doch jetzt wirkte sie… Ich wusste nicht, wie ich ihren Gesichtsausdruck beschreiben konnte. Bewundernd? Ehrfurchtsvoll? Es war verrückt, denn in den Gesichtern der anderen Kinder um uns herum spiegelten sich dieselben Gefühle.

„Warst du schon immer so gut?“, fragte Mikey. „Nein, eigentlich nicht…“, stotterte ich. „Warum hast du uns nie gesagt, dass dein Freund so viel Talent hat?!“, fragte Jannis erstaunt. „Warum sind wir überhaupt jemals ohne den losgezogen?“, wollte Mikey wissen. „Ach, das ist ganz einfach! Ich hatte damals ein gebrochenes Handgelenk und deshalb…“ Doch niemand hörte Tim zu. „Wir haben jetzt eine echte Chance, Jasmyn zu besiegen!“, sagte Eliza.

„Gegen euch kommt sie niemals an! Wenn Kira, Tim und Scarlet sie angreifen, ist sie so gut wie erledigt! Und unsere anderen Kämpfer hab ich ja noch gar nicht dazugezählt!“, rief Kyle.

„Halt, stopp, einen Moment!“ Jetzt musste ich ihn einfach unterbrechen. „Jasmyn ist nicht mehr allein, sie hat eine Gruppe, die mindestens so groß ist, wie unsere!“, platzte ich heraus. Schockiert starrten mich alle an. „Was… Was heißt das?“, fragte Connor. „Das heißt, wir sollten uns schleunigst überlegen, wie wir Jasmyn ein für alle mal erledigen können!“, knurrte Lia. „Sie werden nicht noch einmal so dumm sein und Jasmyn mit einer Gruppe Kinder losschicken, unter denen alte Bekannte von uns sind!“ Lia sah alle der Reihe nach an.

„Sie wird mit Killern aufkreuzen, die doppelt so groß sind, wie wir und dreimal so schwer! Ich meine, schaut uns doch mal an!“ Erst jetzt bemerkte ich, dass das alles eine Schnapsidee gewesen war. Von uns wog niemand mehr als siebzig Kilo und das auch nur, weil wir Tim und Joshua hatten, die allein durch ihre Größe etwas mehr auf die Waage brachten, als wir anderen, und ich konnte mit meinen 1,65 Metern sagen, dass ich neben Lia und Tim zu den größten gehörte. Bis auf die beiden und Joshua waren alle kleiner als ich, oder höchstens gleichgroß.

„Ihr habt dort doch die Leute gesehen!“, sagte Lia wieder. „Da gibt es sechzehnjährige Mädchen, die uns innerhalb von weniger als zwei Sekunden in vier Stücke teilen können! Oder Jungs, die hundert Kilo wiegen und einen jungen Baum ausreißen könnten! Josy…“ Wir drehten uns zu ihr um. Sie war die Kleinste von uns allen, keine sechs Jahre alt. „Du bist unglaublich gut für dein Alter und stark und schnell! Du kannst kämpfen! Und glaub mir, wenn du so groß wärst wie wir, du wärst die Beste von uns!“

Da stimmte ich Lia sofort zu. Ich fing einen skeptischen Blick von Bryan auf. „Ihr habt Josy noch nie kämpfen sehen, aber ich habe das!“, sagte ich. „Ihr könnt Lia glauben – die Kleine hätte mich fast umgebracht!“

Lia sah mich an und nickte. „Doch selbst, wenn wir zehn sechzehnjährige Josys hätten, könnten wir Jasmyn und ihre Meute Killerkids nicht besiegen!“, sagte Lia traurig.

Killerkids… Der Ausdruck gefiel mir. Es war das erste Wort, das Jasmyn wirklich gut beschrieb. Und wenn sie noch ein paar von ihrer Sorte dabei hatte, konnte man das gut und gerne als Killermeute bezeichnen.

„Warum habt ihr uns dann hier mit hineingezogen?“, fragte Bailey wütend. „Ja, warum, wenn wir doch sowieso keine Chance haben?“ Jetzt wurden mehrere wütende Rufe laut, zum Teil voller Angst, zum Teil voller Hass.

„Seid ruhig!“, brüllte Henry. Er stand jetzt neben Lia und mir. Die Rufe verstummten. „Lasst sie gefälligst reden!“, rief jetzt auch Scarlet.

„Du auch!“, sagte sie in scharfem Ton zu ihrer Schwester, als Bailey Widerspruch äußern wollte.

Ich hatte das Gefühl, dass Henry und Scarlet beide meine Freunde werden konnten, wenn ich je die Zeit bekommen würde, mehr als ein paar Worte mit ihnen zu wechseln. Im Grunde genommen sehnte ich mich regelrecht nach etwas Ruhe und hoffte, meine Kameraden besser kennen zu lernen, damit ich mich im Notfall voll und ganz auf sie verlassen konnte.

„Wir müssen sie auf die einzig mögliche Art und Weise besiegen, die uns bleibt. Wir müssen sie austricksen!“, sagte Lia. „Wenn wir mit Gewalt nicht mehr weiterkommen, müssen wir unseren Kopf anstrengen. Das ist etwas, worin wir ihnen im Vorteil sind. Man kann nur entweder groß, oder schlau sein!“, sagte sie im Brustton der Überzeugung. „Hey!“, rief Tim, doch Lia ignoriert ihn.

Ich war mir da zwar nicht ganz so sicher – immerhin war Tim auch nicht gerade der Dümmste – doch ich behielt meine Zweifel für mich.

Lia redete jetzt etwas ruhiger weiter. Ihre Stimme hatte einen fast etwas sanften Klang angenommen, wobei sie vorher doch noch recht barsch mit uns geredet hatte.

„Bis sie hier sind, bleiben uns noch einige Tage. Daher schlage ich vor, jeder wird jetzt trainieren. Und zwar werden wir nicht mehr wie kleine Kinder mit einem klitzekleinen Fischmesser bewaffnet durch den Wald hopsen! Nein…“ Lia schwieg kurz, um ihre Worte wirken zu lassen. Sie wandte sich zu mir um. „Kira, Jannis, Connor und die anderen drei da…!“ Ich merkte, dass Lias Namensgedächtnis sie schon wieder im Stich ließ.

„Joshua!“, half ich ihr. „Und das sind Jordan und Thomas!“ Dafür warf Lia mir einen wütenden Blick zu. „Sie wissen, dass sie gemeint sind!“, zischte sie. Dann wandte sie sich uns sechs Jägern zu. „Ihr werdet noch heute Bailey, Eliza und Mikey, zeigen, wie man schießt. Quinn und Josy werden von nun an kochen. Der Rest wird trainieren. Habt ihr gehört, was ich gesagt habe? Trainieren! Wir werden zwölf Stunden am Tag üben! Ihr werdet lernen, wie man tötet. Wie man mit einem Messer den Gegner in einem Schlag kampfunfähig machen kann! Wie ihr jemandem mit einem Schwert den Kopf abschlagen könnt! Wie ihr schießen müsst, um sicher zu gehen, dass ihr keinen zweiten Pfeil vergeuden müsst! Wie der Speer gerade fliegt und eurem Feind keine Zeit lässt, in Deckung zu gehen! Habt ihr verstanden, was ich sage?“

Eins musste ich Lia lassen, mit Worten konnte sie umgehen. „Ja!“, riefen alle. „Seid ihr euch da ganz sicher?“, fragte Lia mit einem Lächeln im Gesicht. „Ja“, schrieen wir. Wir Jäger rissen zusätzlich unsere Bogen in die Luft, jedenfalls die, die sie noch in der Hand hatten. Mir lief ein kribbeln über den Rücken. Lia hatte mir Lust darauf gemacht, zu kämpfen – was ich niemals von ihr erwartet hätte. „Werden wir uns verstecken?!“

„Nein!“

„Werden wir kämpfen?!“

„JA!!!“ Unsere Stimmen hallten durch den Wald, dann sprang Lia von dem Baumstumpf, auf den sie gestiegen war, um besser gehört zu werden. „So, das hätten wir!“, sagte sie. Ich sah sie einen Moment lang überrascht an. Das hätte ich nie von ihr erwartet. Diese seltsame Mädchen, das mich manchmal so ansah, als würde es mich abgrundtief hassen, das mir jedoch das Leben gerettet hatte… Sie hatte es tatsächlich geschafft, eine Masse Kinder zu mobilisieren und sie zu etwas zu bringen, was die Kinder sich ohne sie nie getraut hätten – mich eingeschlossen.

„Vielleicht seit ihr euch einfach zu ähnlich!“, meinte Jannis, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Wie meinst du das?“ Jannis zuckte mit den Schultern. „Ihr seid so… Unberechenbar. Und doch wollt ihr beide dasselbe. Ihr seid beide gute Anführer.“ Bei diesen Worten zweifelte ich einen Moment. Jannis schien das zu merken. Er packte mich bei den Schultern und schüttelte mich. „Kira! Es ist kein Zufall, dass du jetzt hier stehst und uns sagen kannst, was zu tun ist! Wenn Finn so wäre wie du, dann würde er hier stehen! Aber er war nicht so wie du!“ Jannis sah mich kurz an. „Ihr beide, Lia und du, seid vielleicht gerade im Begriff, etwas zu tun, was die Welt verändern könnte!“ „Jetzt übertreib mal nicht!“, sagte ich und riss mich los.

„Du unterschätzt, wie wichtig wir Kinder sind! Wir Kinder sind die Zukunft! Wenn wir uns gegen unsere Befehle stellen können, warum sollten es nicht auch Andere tun? Warum sollten nicht alle Kinder einfach sagen: „Nein, wir werden nicht mehr für euch sterben!“? Verstehst du das? Wenn unsere Mission…“ Er verschluckte sich scheinbar an dem Wort und zögerte kurz, um ein neues zu suchen. „Wenn unser Plan aufgeht, dann wird das überall bekannt werden. Das wird kein Einzelfall bleiben! Wir Kinder könnten endlich wieder alle in einer Familie leben, ohne vorher zeigen zu müssen, wie toll wir sind! Wir werden nicht mehr unterteilt werden in „Begabt“ oder „Unbegabt“! Es wird keine Kampfschulen mehr geben, kein Kinder wird je wieder kämpfen müssen…“

Bis jetzt hatte ich Jannis geduldig zugehört. „Spinnst du eigentlich?“, fragte ich ihn nun. „Selbst wenn es so wäre… Wir müssten erst einmal gewinnen! Hier geht es um Leben und Tod!“

Dann nahm ich meinen Bogen und ging zu Eliza, um ihr zu zeigen, wie man mit dem Bogen umging, damit sie ab Morgen mit einem Partner jagen konnte, während wir anderen uns darauf vorbereiteten, die Schlacht gegen Jasmyn zu gewinnen.

 

 

 

 

 

Jannis nahm Wendy mit in den Wald, um ihr das Jagen beizubringen. Lia hatte gemeint, dass es am besten war, wenn nicht nur die Jäger das Jagen beherrschten, sondern auch einige anderen Kinder. „Es ist am sichersten, wenn du versuchst, das Auge eines Tieres zu treffen!“, erklärte er ihr und zeigte ihr, wie sie den Pfeil einlegen musste und richtig schoss. „Wenn du es triffst, hat es kaum Überlebenschancen.“

Wendy schien nicht begeistert. „Möchtest du mal schießen?“, fragte Jannis sie. Widerwillig nahm sie den Bogen in die Hand und schoss ein paar Pfeile auf einen Baum in der Nähe ab.

Als es so aussah, als hätte sie ein Gefühl für die Waffe bekommen, zeigte Jannis ihr, wie man anhand von Spuren erkennen konnte, was für ein Tier hier gewesen war und wann.

Als die Sonne unterging machten sie sich auf den Rückweg. Sie hatten einen jungen Fuchs geschossen und Jannis war sehr glücklich, dass Wendy nicht wie viele anderen Mädchen angefangen hatte, zu weinen, als sie den toten Fuchs gesehen hatte.

Zu Hause übergaben sie den Fuchs Quinn, die Josy zeigte, wie sie ihn zuzubereiten hatte.

Die anderen Jäger kamen zurück und gaben ihre Beute ab – insgesamt wurden zwei Hasen, ein Fuchs und sieben Truthähne geschossen – und Quinn und Josy beeilten sich, alle Tiere auszunehmen und über dem kleinen Lagerfeuer zu braten. Jannis errichtete mit Kiras Hilfe noch ein weiteres Feuer und half ihr dann, die Tiere zu braten. Während sie die Stöcke mit dem Fleisch über das Feuer hielten, sahen sie den anderen Kindern zu, die trainierten. Bailey kämpfte gegen Oliver, in der Hand hatten beide kurze Stöcke, die ihnen als Messer dienten.

Direkt neben ihnen, lieferten sich Henry und Liam eine Stockprügelei, wie Jannis sie nur selten gesehen hatte.

Scarlet und Tim schlugen sich Stöcke um die Ohren, genauso wie Lia und Chloe.

Kyle lehnte neben den vier Paaren an einem Baum, einen Stock in der Hand, und wartete darauf, dass er jemanden ablösen sollte. Jannis stand auf. „Kannst du das Essen alleine braten? Du kannst ja die anderen Jäger fragen, ob sie dir helfen. Die haben schließlich zum Teil nichts zu tun!“, schlug er Kira vor, dann stand er auf. „Hey Kyle!“ Kyle drehte sich zu ihm um. „Komm her, und zeig, was du kannst!“ Kyle kam grinsend auf ihn zu, Jannis hob einen Stock vom Boden auf und ging in Angriffsposition.

 

 

 

 

Bailey schoss mit Eliza um die Wette, wie sie es schon oft gemacht hatten. Dann sahen sie eine Weile lang Kyle und Jannis zu, die miteinander kämpften. „Die sind gut!“, meinte Eliza. „So gut will ich auch sein!“ „Irgendwann werden wir so gut sein!“, meinte Bailey zuversichtlich.

Nach einem heftigen Schlagabtausch zwischen Kyle und Jannis rief Quinn alle zum Essen. Hungrig machte Bailey sich über das Bein eines Truthahnes her. Sieben Tiere waren noch immer sehr wenig für dreiundzwanzig Kinder, doch Kira und Eliza hatten wieder Rinde gesammelt, und – was ein erstes Zeichen dafür war, dass der Frühling hereinbrach – Löwenzahn. Conny und Quinn hatten gemeinsam einen Löwenzahnsalat gemacht und daher konnten alle das Essen richtig genießen. Sie lachten und redeten miteinander und Bailey fiel auf, dass es die meisten Kinder gar nicht hatten erwarten können, von der Kampfschule wegzukommen. Sie sah, dass Jannis sich mit Kyle und dessen Freund Jordan anfreundete, Kira saß zwischen Henry und Scarlet und lachte mit ihnen. In der kleinen Pause, die Eliza und Josy ihr ließen und sie nicht zuquasselten, beobachtete Bailey die anderen.

Wendy, Billie und Bryan hatten Joshua und Tim in ein Gespräch verwickelt, was sehr lustig war, da Billie und Bryan nicht nur Zwillinge waren und sich daher sehr ähnlich sahen, sondern oft sogar dasselbe zu denken schienen. Sie fragten beide gleichzeitig dieselben Fragen und Joshua und Tim sahen immer sehr hilflos aus, wem sie antworten sollten.

Conny und Quinn redeten abwechselnd auf Mikey ein. „Wie alt bist du doch gleich?“, fragte Kyle Jannis. „Zwölf. Ich bin zwölf Jahre alt“, sagte Jannis. „Ich auch!“, sagte Mikey mit vollem Mund, der für wenige Sekunden nicht von Quinn und Conny abgelenkt war. „Auch wenn ich nicht so aussehe!“, sagte er, nachdem er geschluckt hatte.

 

 

Am Abend fielen alle erschöpft ins Bett. Bailey kuschelte sich zu Scarlet unter eine Decke. Sie beobachtete die Glut des Lagerfeuers, das langsam herunterbrannte.

In der Dunkelheit konnte sie kaum etwas sehen, doch um sich herum hörte sie das Atmen der Anderen und ab und zu hörte Bailey, wie sich jemand umdrehte. „Jannis!“, hörte er Kira plötzlich flüstern. Bailey hörte, wie der Junge sich zu ihr umdrehte und belauschte die beiden. Sie wollte es eigentlich nicht, doch auf so engem Raum, war es unmöglich, ihnen nicht zuzuhören. „Was ist denn?“, fragte Jannis genauso leise zurück.

„Mir ist gerade etwas eingefallen! Als Lia die anderen „Killerkids“ genannt hat! Ich finde, wir bräuchten einen Namen. Also, unsere Gruppe bräuchte einen. Irgendetwas, wovor die Anderen Angst haben und was unsere Stärke ausdrückt. Verstehst du, was ich meine?“ Jannis gähnte und auch Bailey musste gähnen, doch sie hörte den beiden weiterhin zu. „Und ich finde, „Killerkids“ wäre genau das Richtige für uns!“, fügte Kira hinzu.

„Das klingt aber etwas sehr brutal… Bist du dir sicher, dass unser Name so drastisch sein sollte?“ „Wenn wir überleben wollen, müssen wir drastische Maßnahmen ergreifen. All das hier ist drastisch! Warum sollte nicht auch unser Name dazupassen?“, fragte Kira flüsternd. „Also, mir gefällt die Idee!“, meinte Kyle, der gelauscht hatte. „Man belauscht Andere nicht!“, sagte Kira. „Das ist fast unmöglich, so eng wie wir hier aneinandergedrängt liegen!“, sagte Bailey. „Ich finde den Namen super!“, sagte Lia. Offenbar hatte nicht nur Bailey sie belauscht. „Also, sind alle dafür?“, fragte Lia. „Es schlafen doch schon welche!“, sagte Kira. „Pech für sie, von jetzt an heißen wir nämlich die „Killerkids“!“, kicherte Lia und Jannis hörte, wie sie sich umdrehte. „Aber…“, hob Kira wieder an. „Kein „Aber“, es wird gemacht, wie ich es sage!“, kicherte Lia wieder. Offenbar genoss sie ihre Chefposition, aber es machte Jannis nichts aus, dass sie manchmal so grob war. Sie war schließlich eine gute Anführerin und man konnte sich immer auf sie verlassen. Da konnte man auch mal über den einen oder anderen Fehler hinwegsehen.

„Also sind wir von jetzt an die Killerkids?“, hakte Wendy nach. „Hast du nicht zugehört?“, fragte Lia. Wendy schwieg. Dann sagte eine Zeit lang niemand mehr etwas. Irgendwann hörte Bailey Kiras gleichmäßiges Atmen und wusste, dass sie eingeschlafen war. „Gute Nacht!“, murmelte Lia und gähnte. „Gute Nacht!“, kam es aus der Dunkelheit mehrstimmig zurück.

„Und morgen früh wird trainiert!“, sagte Lia und erntete dafür genervtes Stöhnen aus allen Ecken. „Gut, jeder, der Morgen nicht trainiert, wird als Kundschafter ausgeschickt um zu schauen, wo Jasmyn steckt. Und da wir es hier mit Jasmyn und ihrer Mördergang zu tun haben, können wir davon ausgehen, dass die mit Spionen umgehen, wie im Mittelalter: Sie werden geköpft und ihr Kopf landet auf einem Speer und wird irgendwo zwischen uns und ihnen als Warnung für uns in die Erde gebohrt!“, sagte Lia und stieß ein kurzes Lachen aus.

Bailey lief ein kaltes Kribbeln über den Rücken.

„Gute Nacht!“, sagte Bailey und alle antworteten ihr. Dann deckte sie sich gut zu und versuchte, die Kälte nicht zu sich und ihrer Schwester Scarlet, die schon schlief, unter die Decke zu lassen.

 

 

 

 

 

„Wir werden folgendes machen!“ Lia breitete die Karte vor Kira, Tim, Scarlet, Henry und Chloe aus. Am Tag davor hatten sie sich dazu entschlossen, dass sie folgende Reihenfolge der Rangordnung aufstellen würden: Lia und Kira waren die Anführer, auch wenn Kira Lia unterstellt war, da sie nur Lias Stellvertreterin war. Jeder von ihnen hatte zwei weitere Kinder ausgewählt, die jeweils ihre Stellvertreter waren. Kira hatte sich für Tim und Scarlet entschieden, Lia hatte Henry und Chloe gewählt.

Daher saßen die sechs Kinder nun zusammen und Lia unterbreitete ihnen ihren Plan.

„Kira, du suchst dir drei Leute raus, Tim und Scarlet machen dasselbe. Mikey, Bailey, Josy, Eliza und Quinn werden nicht kämpfen. Sie bleiben hier und werden kochen!“ Lia sah sie der Reihe nach an. „Henry, Chloe und ich werden den Rest unter uns aufteilen. Dann werden wir uns an verschiedenen Punkten des Waldes auf die Lauer legen und darauf warten, dass Jasmyn mit ihrer Killermeute auftaucht. Heute Abend treffen wir uns bei Einbruch der Dunkelheit wieder hier! Sorgt aber dafür, dass ihr bei Einbruch der Dunkelheit bereits hier seid, sonst bedeutet das, dass eine Gruppe in Gefahr ist!“ Lias Augen verzogen sich zu Schlitzen.

„Sollte einer von euch einfach nur die Zeit vergessen haben und wir machen uns auf die Suche nach ihnen, obwohl nichts passiert ist, werde ich den Verantwortlichen dieser Gruppe höchstpersönlich in seine Bestandteile zerlegen. Ist das klar?“, fragte sie dann in die Runde. Henry, Scarlet und Tim grinsten, Kira und Chloe nickten nur.

Also packten Kira, Chloe, Henry, Scarlet, Tim und Lia je einen Rucksack und wählten dann die Kinder aus, die mit ihnen kommen sollten.

Kurz darauf legte sich Lia mit Joshua, Wendy und Billie in der Nähe des Flusses auf die Lauer. Es war kalt und Lia hoffte, dass die weißen Atemwölkchen sie nicht verraten würden, falls Jasmyn aufkreuzen würde.

Sie zwang sich, absolut still zu liegen, obwohl die Kälte ihr bis auf die Knochen drang. Die dicke Winterjacke schien sie nicht zu schützen.

Eine Stunde verging, eine zweite, eine dritte. Die Sonne stand hoch am Himmel und neben Lia knurrte Wendys Bauch hörbar. Lia rollte sich auf den Rücken. Ihre Arme taten weh. „Wir machen jetzt Mittagspause!“, erklärte sie und stöhnte. Joshua, Wendy und Billie regten sich und packten das Essen und die Wasserflaschen aus. Jeder Knochen in Lias Leib schmerzte. Nachdem Joshua getrunken hatte, nahm sie einen kräftigen Schluck. „Trinkt die Flasche aus, dann füllen wir sie gleich wieder auf!“, sagte sie und gab sie rum. Von dem kalten Wasser lief ihr ein Schauer über den Rücken, doch sie ignorierte ihn.

Dann aß sie ein Stück kalten Truthahn und steckte sich dann ein Stück Kiefernrinde in den Mund, auf dem sie herumkaute, während sie sich wieder hinlegte, um der gegnerischen Gruppe aufzulauern.

Weitere Stunden vergingen, ohne dass sie Erfolgt gehabt hätten. Als Die Sonne hinter den Berggipfeln zu verschwinden drohte, gab Lia den Befehl, zurückzukehren.

Joshua, Wendy und Billie erhoben sich müde und sie liefen zurück zum Lager, wo sie ein leckeres Abendessen erwartete. Henrys Gruppe war schon zurück, die anderen vier Gruppen fehlten noch.

Lia erfuhr, dass auch Henry, Bryan, Kyle und Connor bei ihrer Suche nach Jasmyn keinen Erfolg gehabt hatten. „Wenn die anderen Gruppen auch nichts herausgefunden haben, müssen wir das Ganze morgen wiederholen!“, sagte Lia zu Henry.

Das ganze ging fünf Tage so. Am Abend des sechsten Tages versammelten sich die sechs kleinen Gruppen wieder im Lager, doch diesmal hatten Tim, Conny, Liam und Oliver etwas herausgefunden. „Unweit von hier haben wir am Bach erst Fußspuren gefunden!“, erklärte Tim. „Wir sind der Spur gefolgt und haben bald eine kleine Gruppe von sechs oder sieben Personen gesehen, aber wir glauben, dass das nicht alle waren, da Jasmyn nicht unter ihnen war!“ Lia nickte. „Hast du gesehen, wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben?“ „Auf der anderen Seite des Flusses, ungefähr zwei Kilometer östlich von hier!“, sagte Tim.

„Dann werden wir morgen angreifen!“, sagte Lia. „Hältst du das für schlau?“, fragte Kira sie. Lia sah sie an. „Wieso nicht?“ „Wir sind alle erschöpft und….“ „Dann werdet ihr heute wohl alle früh schlafen müssen!“, sagte Lia und wuschelte Kira durch die Haare. „Oder hast du ein Problem damit, meine Kleine?“ Kira wurde rot vor Wut, konnte sich aber beherrschen. Wortlos stapfte sie davon. „Ist sonst noch jemand müde?“, fragte Lia. Schweigen.

„Dann könnte ihr jetzt helfen, Abendessen zu machen! Na los!“ Lia klatschte in die Hände und scheuchte die Kinder davon.

Als es dunkel war und nur noch der Schein der Feuer ihr Lager erhellte, schickte Lia alle ins Bett und erklärte ihnen, dass ihnen morgen ein ganz großer Tag bevorstand. „Also versaut das ja nicht, verstanden?“, fragte sie und lachte.

Sie lag noch lange wach, während die anderen Kinder um sie herum schon lange schliefen. Sie dachte über den bevorstehenden Tag nach. Die genaue Anzahl ihrer Feinde kannten sie nicht, was den Angriff mit Sicherheit erheblich schwieriger machen würde. Kira hatte etwas von mindestens zwanzig Gegnern erzählt, doch wer wusste, ob Jasmyn nun doch mehr bekommen hatte?

„Wir müssten sie in kleinen Gruppen angreifen und sie in ihr Lagerzurückdrängen…“, dachte sie. „Wenn wir einen Kreis um sie bilden könnten, könnten sie nicht fliehen und säßen in der Falle. Allerdings wissen wir nicht, wie viele es sind, oder welche Kampfarten sie beherrschen. Gegen zwanzig Bogenschützen könnten wir wohl kaum etwas ausrichten.

Zwanzig Messerwerfer dagegen währen mehr als einfach zu besiegen. Doch niemand wird davon ausgehen, dass Jasmyns Aufraggeber ihr eine so einseitig gestrickte Gruppe mit auf den Weg gibt… Wir müssen mit mindestens fünf Bogenschützen rechnen, einer Hand voll Speerwerfern und Messerkämpfern. Außerdem wird mindestens die Hälfte von ihnen mit einem Schwert ausgestattet sein und es auch benutzen können, wenn sie nicht sogar mehrere Waffen besitzen. Auch müssen wir davon ausgehen, dass jeder von ihnen uns mit einer schnellen Bewegung das Genick brechen könnte. Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen, was bedeutet, dass wir auf Abstand bleiben müssen. Damit hätten unsere Bogenschützen kein Problem, doch Scarlet und Tim währen unbrauchbar und einen Kampf kann man auch nicht nur mit Messerwürfen gewinnen.“

Lia rollte sich auf die andere Seite und dachte weiter.

„Wenn unsere Bogenschützen die Schwertkämpfer und die größten dieser Mistkerle ausschalten könnten und wir dann nah an sie herankommen, hätten wir mit den Bogenschützen ein leichtes Spiel. Die Speerkämpfer könnten zwar noch immer mit ihren Speeren nach uns stechen, doch sie wären in ihrer Bewegungsfreiheit deutlich eingegrenzt. Kira könnte eventuell den Bogen an jemand anderen abtreten und Tim und Scarlet helfen, die restlichen Schwertkämpfer zu besiegen. Dann allerdings müssten wir uns voll und ganz darauf verlassen könnten, dass unsere Messerkämpfer den Rest erledigen, was nicht sehr leicht sein wird, da wir nur wenige Messer besitzen…“

 

 

Irgendwann war Lia eingeschlafen und erwachte am nächsten Morgen von dem Klirren von Waffen. Kira war schon auf und bewaffnete die Kinder.

„Hier, du nimmst noch zwei Pfeile!“, sagte sie zu Jannis. Mikey stand neben ihr und beobachtete missmutig das Schauspiel. Zwar schien er sich damit abgefunden zu haben, dass er auf Grund seiner Körpergröße angreifbar war, doch er wollte noch immer kämpfen.

Lia stand auf und holte ihre Messer. „Schade, dass wir keine Kettenhemden haben!“, sagte sie zu Kira. „Schade, dass wir kaum Pfeile haben!“, fügte die hinzu. „Und kaum Messer!“, sagte Lia, als sie beobachtete, wie der Waffenhaufen in der Mitte des Lagers rasch kleiner wurde. „Und schade, dass man zum Schießen beide Hände braucht, sodass ich weder mit dem Schwert kämpfen, noch ein Schild tragen kann!“, sagte Kira.

Lia hob ihr dennoch den Gurt eines Schwerts hin. „Irgendwann sind deine Pfeile alle und dann brauchst du eine Waffe. Vor allem, da ich von dir erwarte, dass du mit Tim und Scarlet an der vordersten Front kämpfen wirst und dich nicht wie die anderen Bogenschützen im Hintergrund halten wirst!“

Kira gürtete sich das Schwert um und nickte. „Wir haben vier Schilde. Je einen werden Scarlet und Tim bekommen, einen werde ich Wendy geben, die auch ganz vorne Kämpfen wird, einen bekommt Henry. Sorge dafür, dass du immer Wendy oder Henry in der Nähe hast und wenn du keine Pfeile mehr hast, sollen sie dir ihren Schild abgeben und dafür deinen Bogen nehmen. Irgendjemand wird ihnen dann schon ein paar Pfeile abtreten, dann können sie schießen. Beide können das. Alles klar?“, fragte Lia Kira. Kira nickte und einen Moment sahen sie sich an. „Dann los jetzt!“, sagte Lia und klopfte Kira auf die Schulter.

Mit einem leisen Pfeifen versammelte Lia alle um sich. Sie musste nicht viel sagen, dann ging es los. Tim zeigte ihnen den Weg. Schon von Weitem sahen sie den Rauch, der nur von einem Lagerfeuer stammen konnte.

„Die haben Zelte! Ist das gemein!“, entfuhr es Kyle, der direkt neben Lia stand. Lia lachte leise. „Vielleicht kannst du ihnen ja eins klauen, aber verlass dich nicht darauf!“

Am Lagerfeuer saß ein braunhaariger Junge, der um die vierzehn Jahre alt sein musste. Man konnte von ihm nicht sagen, dass er sehr groß war, doch sogar aus der Entfernung sah Lia, dass seine Arme vor Muskeln nur so strotzten. Es raschelte neben ihr, als Billie auf einen Ast trat.

Der Junge sah zu ihnen. Keine Sekunde später brüllte Lia: „Angriff!“ Und bevor der Junge reagieren konnte, stürmten sie aus dem Gebüsch. Die Äste, an denen sich langsam Knospen bildeten, schlugen Lia ins Gesicht. Der Junge brauchte nur einen Augenblick um aufzuspringen und bevor die Bogenschützen der Killerkids ihn ins Visier nehmen konnten, war er hinter einem Zelt in Deckung gegangen und schrie etwas Unverständliches.

Kurz darauf erschien ein dunkelhaariges, stämmiges Mädchen, das mit einem Schwert bewaffnet war, hinter ihr ein weiteres Mädchen, das mindestens genauso groß war, wie sie und einen Bogen in der Hand hatte.

Auch aus anderen Zelten strömten nun Kinder, hauptsächlich mit Schwertern bewaffnet, aber auch viele Bogenschützen waren dabei. Noch knapp zwanzig Meter trennten sie von ihren Feinden, als Jasmyn erschien. Sie war noch nie die Kleinste gewesen, doch die anderen überragten sie um Haupteslänge. Keine Sekunde später gingen zehn Bogenschützen in Position und schickten den Killerkids einen Pfeilhagel entgegen. „Deckung!“, brüllte Lia und warf sich flach auf den Bauch. Es war ein Wunder, dass niemand getroffen wurde und Lia sprang fast Augenblicklich wieder auf. „Bogenschützen, sammelt die Pfeile auf! Die Anderen folgen mir!“

 

 

 

 

 

 

Ich zögerte nicht eine Sekunde sondern zog direkt neben mir einen Pfeil aus dem Boden. Ich hatte gelernt, Lias Befehle nicht infrage zu stellen, außerdem hatte ich dafür gerade keine Zeit. Kurz darauf hörte ich Lias nächstes Kommando: „Bogenschützen, bereitmachen!“ Ich legte einen Pfeil in die Sehne und rannte wieder nach vorne. „Feuer!“, rief Lia und ich ließ die Sehne los.

Keine zwei Zentimeter neben einem riesenhaften Jungen durchschlug der Pfeil eine Zeltwand. Ich hatte noch sechs Pfeile, doch ich machte mir deshalb keine Gedanken. Neben mir ging Liam zu Boden, doch ich zog ihn wieder auf die Füße. „Bist du verletzt?“ „Nur ein bisschen!“, sagte er und drückte seine rechte Hand auf seinen linken Oberarm. „Zum Glück werfe ich mit Rechts!“

Ich ließ ihn los und hechtete ein paar Schritte weiter, dann war ich neben Henry. „Hier, nimm meinen Bogen!“ Ich hielt es für schlauer, ihm den Bogen jetzt schon zu geben, solange er sich damit noch verteidigen konnte. Schnell gab er mit seinen Schild und nahm meinen Bogen an. Auch den Köcher übergab ich ihm sofort und nach zwei Sekunden waren wir neu gerüstet. Ich zog mit der rechten Hand mein Schwert und suche Scarlet oder Tim.

Ich sah Tim, der mit dem Jungen kämpfte, auf den ich zuvor meinen Pfeil abgeschossen hatte. Er kam mit ihm scheinbar gut zurecht, doch Scarlet schien etwas mehr Probleme damit zu haben, sich gegen ein großes, blondes Mädchen zu verteidigen.

Ich war sofort an ihrer Seite und wehrte den Hieb ab, den das Mädchen gegen ihren Unterarm geführt hatte. Kurz darauf floh unsere Widersacherin.

„Danke!“, keuchte Scarlet. „Keine Ursache!“, sagte ich.

Kurze zeit später hörte ich einen schmerzerfüllten Schrei hinter mir. Oliver war zu Boden gegangen und auf ihm saß ein rothaariges Mädchen, das drauf und dran war, ihn zu erwürgen. Ich wollte Oliver zu Hilfe eilen, doch plötzlich spürte ich einen harten Faustschlag gegen meinen Unterkiefer.

Ich spürte Blut in meinem Mund und drehte mich zu meinem neuen Gegner um. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie ein Pfeil das rothaarige Mädchen nur um wenige Zentimeter verfehlte und sie von Oliver abließ, kurz darauf traf mich der Fuß des Jungen, der Wache gehalten hatte in den Rippen. Ich ließ mein Schwert auf ihn herabsausen, doch er duckte sich und entging dem Schlag.

Er packte meine Beine und riss mich zu Boden und noch bevor ich reagieren konnte, saß er auf meiner Brust und hielt meine Arme fest. „Na, wen haben wir denn da“, lächelte er boshaft. „Ist das nicht unsere kleine Freundin... Wie heißt du doch gleich?“, fragte er.

„Kira Mathlock!“, sagte ich trotzig und versuchte, ihn von mir herunterzustoßen, doch er war zu schwer. „Sicher, wie dumm von mir. Unsere kleine Kira Mathlock… Nun ja, es geht das Gerücht um, du wärst ein guter Bogenschütze, doch da ich deinen Bogen nirgendwo sehen kann, werde ich sicherlich keine großen Probleme mit dir haben, nicht wahr, Mathlock?“ Er griff nach dem Messer in seinem Gürtel, doch bevor er es zu fassen bekam, bohrte sich ihm ein Pfeil in den rechten Arm.

Er schrie auf und ich drückte ihn von mir runter. Ich sah Henry, der bereits den zweiten Pfeil einlegte, um dem Jungen zu töten, doch bevor er die Sehne loslassen konnte, wurde er von einem Jungen angegriffen. „Henry!“, schrie ich und sprang auf. Ich kam nur zwei Schritte weit, dann schloss sich mit eisernem Griff eine Hand um meinen Knöchel und ich schlug auf dem feuchten Waldboden auf.

„Wo willst du denn hin, Kira? Wir haben noch lange nicht zu Ende gespielt!“, knurrte der Junge, der hinter mir auf dem Boden kniete. Aus seinem Arm sickerte Blut, doch ansonsten schien er unverletzt.

Er war sogar noch so sehr bei Kräften, dass er mich mit seinem verwundeten Arm festhalten konnte. „Jasmyn scheint wirklich einen besonderen Hass auf dich zu haben. Ich weiß nicht, wie du das schaffen konntest, aber es ist mir auch egal! Sicher ist nur, dass es sie sicher freuen wird, zu hören, dass ich dich erledigt habe!“ Dann packte er sein Messer. Ich trat im ins Gesicht und spürte, wie seine Nase brach.

Dann sprang ich auf, als mich der Junge, vor Schmerz keuchend, losließ. „Rückzug! Rückzug!!!“, hörte ich Lia irgendwo am andere Ende des Lagers brüllen.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich hob mein Schwert auf und rannte los. Ich rannte durch die Zelte hindurch ohne jemanden zu sehen, doch plötzlich wurde ich von hinten festgehalten. „Wohin so schnell?“ Diese Stimme würde ich überall wiedererkennen.

„Finn!“

Eine Welle der Erleichterung durchfuhr mich, doch gleichzeitig war ich mir nicht sicher, ob seine Anwesenheit etwas Gutes war. „Ja, ich. Weißt du, ich hätte ja gern mit euch gekämpft, aber jetzt unterstehe ich leider Jasmyns Kommando und das besagt, dass ich dich töten muss!“

Ich trat Finn gegen das Schienbein, doch er ließ mich nicht los. Ich begann zu schreien, doch Finn schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. „Schrei nur, wenn du willst, aber deine Freunde können dir nicht helfen. Weißt du, all die Zeit habe ich mir überlegt, ob es so schlimm wäre, einfach wieder zurückzugehen. Jasmyn hatte ihre Mission, genauso wie wir eine hatten. Was hat uns groß von ihr unterschieden?“ Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. „Und jetzt bin ich hier. Ist das nicht lustig?“ Er ließ ein freudloses Lachen erklingen.

„Also, ich werde dir das erklären: Jasmyn hat die Mission gehabt, uns zu töten, wir sollten sie austricksen, habe es geschafft, Mission erfüllt. Kapiert?“, fragte Finn und hielt mich noch immer mit eisernem Griff fest. „Sie wollten nur wissen, ob wir zusammenhalten können. Wir hätten uns ihnen nie widersetzen müssen, aber wir haben es getan. Das konnten sie nicht zulassen, also sind wir jetzt hier und ihr seid schuld daran, dass wir uns hier jetzt alle umbringen müssen.“ In seiner Stimme klang Verachtung mit. Ich versuchte verzweifelt, mich zu befreien, und den Anderen zu folgen, die mich nicht zu bemerken schienen.

Finn hielt mir den Mund zu und ich erkannte meine Chance. Ich biss ihm in die Hand. Er fluchte auf und ließ los. „Henry!“, brüllte ich. Er war der Letzte, den ich gesehen hatte, er musste hier noch irgendwo sein. Kurz darauf zischte ein Pfeil an meinem Ohr vorbei. Finn erschrak und ließ mich los. „Lauf, Kira!“, brüllte Henry hinter mir, doch ich rannte schon davon. Ich hatte nach einigen Metern den Vorsprung der Anderen überwunden und rannte jetzt neben ihnen her. Ich sah mich um und erkannte, dass auch Henry nur wenige Schritte hinter mir war.

„Alles okay bei dir?“, fragte er mich keuchend. Ich nickte nur knapp, da ich wusste, dass ich meine ganze Kraft zum Rennen brauchen würde.

Irgendwann blieb Lia stehen und wir Anderen taten dasselbe. „Durchzählen!“ befahl Lia schroff, bevor sie oder jemand Anderes wieder richtig Luft bekam. Es waren alle da und Lia ließ uns verschnaufen. Dann liefen wir weiter bist wir im Lager angekommen waren, wo Lia sich um unsere Verletzungen kümmerte.

Tim hatte eine tiefe Schnittwunde, die sich über die gesamte Außenseite seines linken Unterarms zog und noch ein Stück über dem Ellenbogen einnahm.

Scarlets kleiner Finger an der rechten Hand war gebrochen. Nachdem Lia Tims Arm verbunden hatte, bandagierte sie Scarlets Finger und stabilisierte ihn mithilfe eines Zweiges.

Liam hatte schon zu Beginn des Kampfes ein Messer in die Wade bekommen, was Lia auch verband.

In den Rucksäcken, die Tim und ich damals geklaut hatten, hatten sich zum Glück auch Verbände befunden, ohne die wir jetzt schlecht dran wären.

Der Rest von uns hatte nur Schürfwunden oder Prellungen.

Zum Abendessen gab es wieder wilden Truthahn, dazu Pilze, die Mikey und Eliza im Wald gesammelt hatte, und wie fast jeden Tag seit vielen Wochen: Kiefernrinde.

„Das bestätigt meine Befürchtungen!“, erklärte Lia mir während dem Essen. „Welche?“, fragte ich sie kauend. „Wir haben keine Chance gegen sie. Nicht so.“ „Was sollen wir dann machen?“, wollte Scarlet wissen, die sich erneut Pilze in den Mund stopfte. Ich war in diesem Moment unglaublich froh, nicht in Lias Haut zu stecken. Ich wäre bestimmt nicht in der Lage gewesen, einen sinnvollen Plan auszuarbeiten.

„Vielleicht können wir sie anders besiegen. Mit einem Zweikampf, verstehst du?“ Ich nickte. „Aber wie genau stellst du dir das vor?“ „Das ist doch ganz einfach: Jeder von den Gruppen schickt jemanden und die beiden bekämpfen sich, bis einer aufgibt…“ Lia stockte. „Oder notfalls, bis in den Tod.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Und wen wollen wir schicken? Die werden Finn schicken, wenn sie einen Funken Verstand besitzen, und der könnte uns alle platt machen!“

Lia nickte. „Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung. Wir sollten das mit den Anderen nach dem Essen besprechen.“ Ich nickte wieder und nagte an einem Truthahnbein herum.

Nach dem Essen rief Lia mich, Tim, Scarlet, Henry und Chloe zu sich. „Hört zu, Kira und ich haben folgenden Plan ausgearbeitet: Wir werden sie in einem Zweikampf besiegen! Da wir davon ausgehen können, dass Finn unser Gegner sein wird, müssen wir jetzt einen guten Kämpfer aussuchen. Was sagt ihr zu dem Plan generell?“, fragte Lia sie. Henry nickte. „Ich finde das gut, aber wo bekommen wir einen so guten Kämpfer her? Scarlet und Tim fallen doch sicher für die nächsten Tage aus!“ Da hatte er recht. Mit einem gebrochenen Finger konnte Scarlet nicht kämpfen und Tim konnte mit seiner Schnittwunde am Unterarm nicht gegen Finn ankommen.

Auch Scarlet, Tim und Chloe nickten und dass ich sowieso einverstanden war, wusste Lia ja schon.

„Vielleicht kann er gegen Joshua kämpfen!“, schlug Chloe vor. „Er ist recht groß und…“ Sie verstummte, unsicher, was sie noch sagen könnte. „Es bräuchte zu lange, um ihn zu trainieren!“, warf Tim ein. „Wenn wir einen erneuten Angriff verhindern wollen, müssen wir sie spätestens übermorgen herausfordern!“, fügte Lia hinzu.

Ich hatte die ganze Zeit neben ihnen gestanden, die Vor- und Nachteile abgewogen, Risiken eingeschätzt und versucht, mir Finns Kampftechniken ins Gedächtnis zu rufen.

Als ich merkte, dass zwischen Henry und Tim ein Streit ausbrach, in dem sie diskutierten, ob sie Joshua die nächsten Tage einfach auf gut Glück trainieren sollten, stellte ich mich zwischen sie. „Hört auf!“, rief ich. „Ich mach’s!“

Alle verstummten und sahen mich an. „Nein, Kira!“, platzte Tim heraus. „Nichts für ungut, aber der macht dich in der ersten Minute platt, so… so wie ich dich platt gemacht habe!“, sagte er traurig.

„Ich bin nicht so leicht zu besiegen!“, sagte ich. „Außerdem hat Finn mich noch nie kämpfen sehen, ich ihn aber schon! Das wird mir einen erheblichen Vorteil verschaffen!“, sagte ich und versuchte, meine Stimme nicht zitterig klingen zu lassen. „Aber das ist verrückt!“, rief jetzt auch Scarlet. „Willst du etwa behaupten, ich wäre schlechter als ihr?“, fragte ich sie.

Sie verstummte und sah zu Boden. „Kira, du endest wieder mit einem Pfeil in der Schulter!“, sagte Lia entschieden. „Wie denn?“, fragte ich. „Ich denke, das ist ein Zweikampf! Da wird niemand mit einem Pfeil auf mich schießen!“, sagte ich. „Kira, bitte! Schon mal allein die Tatsache, dass er inzwischen mindestens einen Kopf gewachsen ist und schon lange nicht mehr so abgemagert ist, wie wir es alle sind, sollte dir doch zu denken geben!“; versuchte Tim es noch einmal. „Er hat Recht, Kira!“, sagte Chloe. „Finn hat Muskeln ohne Ende, während du… wir… alle etwas… Du weißt schon, was ich meine!“, sagte Chloe.

Ich nickte. „Aber irgendjemand wird gegen ihn kämpfen, und wenn ich es nicht tue, wer dann?“ Darauf wussten sie keine Antwort. „Du bist dir ganz sicher, dass du das machen willst?“, fragte Tim mich. Ich nickte. „Notfalls kann ich mich auch noch ergeben, wenn es zu gefährlich wird!“, sagte ich. Scarlet lachte. „Er wird dir keine Chance geben, aufzugeben!“, sagte sie eine Spur bitter. „Außerdem weiß doch jeder, der dich länger als ein paar Minuten kennt, dass das dein Stolz niemals zulassen würde!“, fügte Tim hinzu.

„Kira, lass das! Das ist zu gefährlich!“, flüsterte Henry. Ich schüttelte verbissen den Kopf. „Ich werde kämpfen!“ Ich betonte dabei so entschlossen wie möglich jedes Wort. Lia sah mich einen Moment lang an. „Na gut, wenn sie sich so sicher ist, soll sie es versuchen!“ Ich sah Lia dankbar an. „Und wie willst du ihnen sagen, dass wir sie herausfordern?“, fragte ich sie dann. „Wenn wir uns ihnen näher, knallen die uns doch sofort ab“, meinte Henry. „Wir werden ihnen eine Nachricht schicken, und Kira wird sie mit ihrem Bogen direkt in ihr Lager schießen!“, erklärte Lia. „Hoffentlich hast du Papier und Stifte dabei, denn von uns hat niemand an so was gedacht!“, sagte Tim und lächelte grimmig.

Zur Antwort hielt Lia einen grünen Stift hoch, dessen hinteres Ende abgebrochen war, und ein Stück Papier. „Wer von euch kann schön schreiben?“ Seltsamerweise sah Lia mich zuerst an. „Oh nein, bloß nicht! Du willst sie doch zu einem Zweikampf herausfordern, oder? Wenn ich schreibe, denken sie nachher, sie sind zum Hühnchen grillen eingeladen!“, sagte ich. Alle lachten und Tim nickte. „Da hat sie echt recht!“ „Ich kann relativ sauber schreiben!“, meldete sich Chloe.

Lia drückte ihr den Stift in die Hand und diktierte ihr den Text, den sie schreiben sollte. „Bitteschön!“, sagte sie dann, als Chloe zu Ende geschrieben hatten, rollte den Text zusammen und reichte ihn mir. „Wann… schicken wir es ab?“, fragte ich. „Jetzt gleich! Komm mit!“, sagte sie zu mir. Ich holte ein Stück Schnur und einen Pfeil, band das Blatt um den Pfeil und dann machten Lia und ich uns durch den stockdunklen Wald auf den Weg.

Als wir das Lager der feindlichen Gruppe fast erreicht hatten, erhellte der helle Schein ihrer Feuer bereits den Wald und wir konnten etwas besser sehen. Dann, kaum zwanzig Schritte von dem Lager entfern gingen wir hinter einem Busch in Deckung, der nur notdürftig Schutz spendete, da seine Blätter noch nicht vollständig gewachsen waren.

„Wohin soll ich schießen?“, fragte ich Lia mit gedämpfter Stimme. Sie ließ ihren Blick über das Lager schweifen. „Dorthin!“, sagte sie und ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung, während sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln breitmachte.

Sie zeigte vor einem Mädchen, das offenbar Wache hielt, auf den Boden, keine fünf Meter von ihr entfernt. „So haben wir die Gewissheit, dass sie es sofort finden!“; sagte sie. „Bist du bereit?“ Ich atmete tief durch und nickte.

Dann erhob ich mich etwas und zielte.

Die künstliche Feder kitzelte mich am Ohr, als ich den Pfeil losließ. Keine Sekunde später schlug er dicht neben dem Mädchen in den Erdboden. Das Mädchen schrie auf und griff zu ihren Waffen, doch als kein weiterer Pfeil folgte, ging sie vorsichtig zu unserer Nachricht.

Sie zog den Pfeil aus dem Boden und rollte das Blatt ab. Sie las einen Moment lang, dann schoss ihr Blick zu uns herüber und sie legte einen Pfeil in den Bogen ein, der neben ihr lag. Lia und ich waren darauf vorbereitet und sprangen auf. Der Pfeil bohrte sich neben uns in den Stamm einer Buche. „Ich hoffe, ihr nehmt unsere Einladung an, ihr von Maden zerfressenen, räudigen Hunde!“, schrie Lia, was das Mädchen noch wütender machte und sie einen weiteren Pfeil abschießen ließ, dem wir jedoch beide auswichen.

„Noch nie was von Gastfreundschaft gehört?“, stichelte ich das Mädchen. Bevor Lia und ich die Flucht ergriffen, schrie ich: „Darf ich den Pfeil wiederhaben?“ Kurz darauf bohrte sich ein Pfeil nur wenige Zentimeter von meinen Füßen entfernt in den Boden. „Danke!“, rief ich, dann drehten Lia und ich uns um und rannten davon. Wir hörten noch einen weiteren Pfeil in einen Baum schlagen, dann waren wir außer Schussweite.

„Wenigstens werden sie jetzt kommen!“, keuchte Lia, als wir stehen blieben. „Jetzt haben wir sie ganz schön wütend gemacht, das werden sie nicht versäumen wollen!“, lachte ich und lehnte mich gegen einen Baum.

„Es wird schon hell sein, wenn wir zurückkommen!“, sagte Lia. „Und du solltest auf jeden Fall noch etwas schlafen!“, sagte sie zu mir. Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht nötig, ich bin gar nicht müde!“, sagte ich. „Aber die Müdigkeit wird schon noch kommen! Los, wir joggen den Rest zurück!“, sagte sie und schlug ein schnelleres Tempo an.

 

 

 

 

 

 

Als Eliza erwachte, herrschte bereits reges Treiben im Lager. Irgendjemand hatte bei ihrem Angriff auf das feindliche Lager ein Kettenhemd gestohlen und jetzt versuchten sie, es Kira aufzuzwängen. „Das Ding ist mir viel zu groß und es ist zu schwer!“, wehrte sie sich.

„Keine Widerrede, du ziehst das an!“, sagte Lia irgendwann und zog es ihr über den Kopf. „Das passt schon!“ Dann setzte Kyle Kira einen Helm auf, während Conny auf dem Boden vor ihr kniete und ihr die Stiefel so fest wie möglich zuband. Gleichzeitig hatten Quinn und Mikey einen großen, schweren Schild geholt, den sie Kira nun in die linke Hand drückten. Billie kam mit einem Schwert und band es Kira um, während Joshua, Jannis und Josy sich auf die Suche nach ein, oder zwei guten Messern machten.

Als sie zurückkamen, gaben sie Lia zwei Messer. Eliza sah, dass diese nickte und die Messer weiter an Connor und Henry gab. Scarlet redete auf Kira ein und machte ihr ein paar Übungen mit dem Schwert vor, die Tim mit ein paar Worten oder Armbewegungen ergänzte. Kira sah ihnen gut zu und nickte ab und zu.

Eliza schlug die Decke weg und stand auf. Sie sah, dass auch Oliver noch schlief. Scheinbar wollte niemand irgendjemanden bewusst wecken, doch das Klirren der Schwerter, Messer und Dolche war so laut, dass Eliza sich fragte, wie Oliver weiterschlafen konnte.

Der Rest der Schar wuselte um Kira herum, korrigierte die Position ihres Helmes, oder erfüllte Lias Befehle. „Einen Dolch nimmst du an den Gürtel!“, sagte Lia und steckte ihn neben das Schwert. „Kira?“ Kira sah kurz zu ihr und nickte. „Einen stecken wir dir in den Stiefel, okay?“ Kira nickte noch einmal und Lia versteckte den Dolch in dem dicken Leder des Stiefels. „Für den Notfall!“

Eliza stellte sich neben Kira und fragte: „Wie lange erträgst du das schon?“ Kira lachte. „Den ganzen Morgen, und es ist schon fast Mittag!“ Eliza lachte jetzt auch. Kurz darauf landete eine Jacke in ihrem Arm. „Halt mal!“, befahl Thomas ihr. Dann drückte er Kira Handschuhe aus festem Leder in die Hand. Sie zog sie an und danach half Thomas ihr, die Jacke anzuziehen, während sie aufmerksam Scarlet und Tim zuhörte.

Dann traten alle von ihr weg. „Vielleicht solltest du die Jacke doch besser ausziehen!“, meinte Thomas und nahm sie ihr wieder ab. „Sonst schwitzt du dich tot!“ Lia nickte. „Das würde ich auch sagen!“

Ansonsten schienen alle recht zufrieden mit ihr zu sein. „Gut, ich denke, du bist bereit!“, sagte Tim. Dann sah Jannis zur Sonne. „Es ist fast Mittag! Wir sollten uns bereitmachen.“

Sie hatten der anderen Gruppe geschrieben, dass sie sich um Mittag, wenn die Sonne am höchsten stand, am Bach treffen wollten. Dort gab es eine große, freie Fläche, wo Kira und Finn ohne Probleme kämpfen konnte.

„Du siehst klasse aus!“, sagte Jannis und stiefelte um Kira herum. „Ich bekomm richtig Angst vor dir!“ Kira lächelte, dann trat Scarlet vor sie. „Du passt gut auf dich auf, okay?“, sagte sie und umarmte Kira. Dann machten sich alle auf den Weg.

Die andere Gruppe wartete schon. „Wir dachten schon, ihr kreuzt doch nicht auf!“, höhnte ein Junge und lächelte böse.

„Halt die Klappe, Kleiner, sonst wirst du von dem Kampf nicht viel mitbekommen!“, feuerte Joshua zurück. Wie erwartet stand neben Jasmyn Finn, in voller Rüstung. Jasmyn und Finn gingen auf Lia und Kira zu. „Ihr kennt die Regeln?“, fragte Lia Jasmyn. „Nur ein Idiot kennt die Regeln eines fairen Zweikampfes nicht!“, erklärte Jasmyn. „Deshalb hab ich ja gefragt…“, sagte Lia, ihre Miene blieb ausdruckslos, aber in ihrer Stimme lag Verachtung.

Kira und Finn nutzten die Zeit, während ihre Anführer miteinander sprachen, und sahen sich von Kopf bis Fuß an.

Auch Finn trug ein Kettenhemd sowie einen Helm. Er hatte ein langes Schwert um die Hüfte gebunden, daneben drei kleine Messer. Auch er hatte einen großen Schild, doch dieser schien schwerer zu sein, als Kiras eigener. Das würde Kira vielleicht ein paar Vorteile verschaffen, weil es ihn an Beweglichkeit kosten würde, doch der Schild selbst konnte auch zu einer gefährlichen Waffe werden.

Lia und Jasmyn hatten die Regeln besprochen: Der Verlierer von ihnen würde sich widerstandslos zurückziehen und die andere Gruppe nie wieder angreifen. Einen Moment lang war Eliza verwirrt, da Jasmyn ganz eindeutig den Auftrag hatte, sie alle zu töten, doch dann wurde ihr klar, dass wenn sie sich in den Wald zurückziehen und nie wieder etwas von sich hören lassen würden, sie ohne Probleme behaupten könnte, sie wären tot.

Dann zogen sich Jasmyn und Lia zurück und Finn und Kira blieben keine drei Schritte voneinander Entfernt stehen.

Eliza wurde von Lia zurückgescheucht und die beiden Gruppen bildeten einen freien Platz um Kira und Finn.

Finn und Kira sahen sich eine Zeit lang an, dann gab Jasmyn das Zeichen. Finn und Kira schritten einen Schritt aufeinander zu, dann hoben beide ihre Schwerter.

 

 

 

 

 

 

Gleich Finns erster Schlag durchbrach aufgrund von Finns gewaltiger Schlagkraft meine Deckung und hätte mich sofort getötet, wenn ich nicht im letzten Moment auf die Seite gesprungen wäre.

Der nächste Schlag prallte gegen meinen Schild, sodass mein ganzer Arm von einer Welle des Schmerzes erfasst wurde. Als der Schmerz verebbte, hatte ich kaum Gefühl in meinem linken Arm.

Den Darauffolgenden fing ich mit meinem Schwert ab und gab einen kräftigen Schlag gegen Finns Oberschenkel zurück. Finn wehrte den Schlag ab und schlug zurück. Eine Weile kämpften wir so gegeneinander, während Finn mit meiner Schnelligkeit, ich mit seiner Kraft zu kämpfen hatte.

Wir trugen beide einige kleine Verletzungen davon: Erst traf ich Finn mit der Schwertspitze am Oberarm und durchdrang leicht die Haut.

Kurz darauf traf Finn mich zweimal: Einmal an den Fingerknöcheln, dann an der Wange.

An meinem Gesicht lief nun warmes Blut herab, doch die Wunde an meiner Hand war schmerzhafter und gefährlicher, da ich das Schwert nicht richtig schwingen konnte, ohne dass meine rechte Hand schmerzte.

Irgendwann durchbrach ich Finns Deckung und traf ihn mit der Breitseite meines Schwertes an der Wade. Finn fluchte und taumelte zurück. Ich hoffte einen Moment, ihm den Knochen gebrochen zu haben, doch er brauchte keine zwei Sekunden, um sich wieder voll und ganz auf mich stürzen zu können.

Sein Schwert traf meinen Schild und hinterließ eine Delle. Ich duckte mich unter seinem nächsten Schlag hinweg, rannte ein paar Schritte auf die Seite und wich dem nächsten Schlag auf, der auf meine linken Rippen abgerichtet war.

Ich schaffte es, Finn eine weitere Schnittwunde zuzufügen, diesmal oberhalb des linken Ellenbogens.

Kurz darauf traf Finn zweimal kräftig meinen Schild und ich musste den linken Arm sinken lassen. Der Schmerz war zu groß.

Diese Lücke in meiner Verteidigung nutze Finn sofort aus und schlug nach meinen Rippen. Im letzten Moment wehrte ich den Schlag ab. Und bevor ich irgendwie reagieren konnte, traf die Breitseite von Finns Schwert mich auf den Kopf. Hätte ich den Helm nicht getragen, hätte ich jetzt mindestens eine sehr schwere Gehirnerschütterung, so dröhnten mir von dem Schlag nur gewaltig die Ohren und bevor ich Finn angreifen oder mich schützen konnte, wurde ich von den Füßen gerissen. Ich schlug auf dem Boden auf. Vor meinen Augen tanzten Sterne und mir war schwindelig. Während ich mein Schwert packte und versuchte, auf die Füße zu kommen, spürte ich einen kräftigen Schlag gegen meine Rippen.

Ich schrie vor Schmerz kurz auf, dann sah ich, dass Finn direkt vor mir stand. In weniger als einer Sekunde ließ ich den Schild und mein Schwert los und warf mich mit aller Kraft gegen Finns Beine. Er schrie auf und stolperte nach vorne, über mich und lag kurz darauf neben mir im Laub.

Bevor er sich bewegen konnte warf ich mich auf ihn und drückte ihn mit meinem ganzen Gewicht zu Boden.

Sein Schwert hatte er losgelassen, doch den Schild hatte er noch immer in der Hand und versetzte mir damit einen Stoß gegen die Rippen. Ich schrie wieder auf, ließ ihn jedoch nicht los.

Ein zweiter Schlag traf mich an der Seite und dem Dritten musste ich wohl oder übel ausweichen. Wenige Sekunden später hatte Finn sein Schwert wieder in der Hand und während ich noch nach meiner Waffe suchte, war er schon längst wieder auf den Füßen. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren sprang ich unbewaffnet auf.

Ich wich seinem ersten Schlag aus, und sah mich wieder nach meinen Waffen um. Erst da erinnerte ich mich an den Dolch in meinem Gürtel. Ich zog ihn heraus, auch wenn ich mich damit nicht verteidigen konnte. Dem nächsten Schlag wich ich wieder aus, indem ich nach vorne auf Finn zusprang, mich über die Schulter abrollte und hinter ihm zu stehen kam.

Dann riss ich ihn von den Füßen. Wieder lagen wir auf dem Boden und rangen darum, die Oberhand zu erlangen, doch wir waren gleichstark. Finn versetzte mir einen Stoß mit dem Schwertknauf in den Rücken, doch ich ignorierte den Schmerz und drückte ihn zu Boden. Irgendwann schaffte er es, sich unter mir wegzurollen und auf die Füße zu kommen.

Außer dem Messer hatte ich noch immer keine Waffen, doch auch Finns Schwert lag nun auf der Erde. Er hatte nur seinen Schild, ich nur mein Messer.

Einen Moment lang blieb mein Blick an den Messern hängen, die in seinem Gürtel stecken, doch ich sah schnell wieder weg, in der Hoffnung, er hätte die drei langen, gebogenen Messer vielleicht vergessen.

Er kam auf mich zu, den Schild erhoben. Ich stach mit dem Messer nach seinem Hals, doch er schlug mir im selben Moment so stark gegen die Brust, dass mir die Luft aus den Lungen wich und ich rückwärts in den Staub fiel. Finn drehte sich zu seiner Mannschaft um. Er riss die Arme in die Luft und stimmte ein siegessicheres Kampfgeheul an. Ich lang noch immer auf dem Boden und rang um Atem. Hinter mir hörte ich, dass die Killerkids den Atem anhielten. „Steh auf!“, brüllte Tim. „Steh auf, Kira!“ Nur zu gern hätte ich ihm den Gefallen getan, doch ich konnte nicht. Noch immer bekam ich keine Luft. Meine Lunge schien zu platzen. Irgendwann spürte ich, dass sie meine Lungen wieder mit Luft füllten. Ich keuchte, als mich der Schmerz durchfuhr, den Finns Schild angerichtet hatte.

Ich hoffte, dass keine Rippen gebrochen waren, doch ich hatte keine Zeit, es nachzuprüfen. „Gibst du auf?“, fragte Finn und drückte mir das Schwert gegen das Brustbein. „Niemals!“, knurrte ich. „Doch!“, schrie Eliza ängstlich hinter mir; Ihre Stimme wurde von Tränen erstickt. Ich hätte ihr zu gern mit einem Blick zu verstehen gegeben, dass mir nichts passieren würde, doch ich wusste, dass es ein Fehler wäre, Finn jetzt aus den Augen zu lassen. „Nein!“, rief ich lauter. Finn zuckte mit den Schultern. „Schade!“ Er hob das Schwert und ich nutzte diesen Moment. Ich beachtete den Schmerz nicht, der in meinen Rippen pochte und rammte Finn das Messer in den Fuß. Finn schrie auf und ließ das Schwert fallen.

Ich brachte mich vor der Klinge in Sicherheit, stand auf und hechtete zu meinem Schwert und dem Schild.

Als ich wieder voll bewaffnet auf den Beinen war und Finn noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden kniete, jubelten die Killerkids laut. „Gibst du auf, Finn?“, rief ich ihm zu. „Nein!“, schrie er zurück.

„Schade!“, knurrte ich grimmig, so wie er es vorhin zu mir gesagt hatte. Mit drei Schritten hatte ich den Abstand zwischen uns überwunden. Ich ließ mein Schwert auf ihn herabsausen, doch er zog sich im letzten Moment den Schild vor den Kopf, der ihn vor der scharfen Klinge schützte. Dann sprang er auf, packte meinen linken Arm und dreht ihn mir auf den Rücken. Ich wusste nicht, wie er das so schnell geschafft hatte, doch er stand hinter mir und ich konnte ihn mit meinem Schwert nicht treffen. Ich schrie auf, als es in meiner Schulter knackste.

Dann ließ ich mich auf die Knie fallen und rollte mich von Finn weg. Ich lag auf dem Boden und stieß mit dem Schwert nach ihm, doch er wich aus. Ich kam wieder auf die Beine, mein Arm tat unglaublich weh und in der Schulter verspürte ich ein schmerzhaftes Ziehen. Wahrscheinlich hatte Finn mir den Arm ausgekugelt, aber daran konnte ich jetzt nicht denken.

Wir sahen uns an, sowohl er als auch ich hatten unsere Waffen wieder, auch wenn ich kaum den Schild halten konnte. Finn keuchte schwer. Seinen rechten Fuß konnte er kaum belasten. „Was würdest du zu einer Pause sagen?“, fragte er mich keuchend, mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Fünf Minuten?“, fragte ich zurück. Finn nickte. „Okay!“, stieß er hervor. Wie ließen unsere Waffen sinken, dann drehte Finn sich um und humpelte zurück. „In fünf Minuten geht es weiter!“, rief ich ihm zu. Er nickte nur schwach.

Ich ging zu meiner Gruppe hinüber und ließ das Schwert ins Laub fallen. „Zeig mir deinen Arm!“, befahl Lia mir grob. Ich biss die Zähne zusammen, setzte mich hin und hielt ihr vorsichtig meinen linken Arm hin. „Ihr habt den Kampf gesehen, worauf muss ich achten?“, fragte ich Scarlet, Tim und Henry, die vor mir standen. Auch die restlichen Kinder versammelten sich nun um uns. „Finns Deckung ist auf der rechten Seite lückenhaft!“, sagte Tim sofort. „Wenn du einen Schlag abgewehrt hast, ist er gut drei oder vier Sekunden ohne Deckung auf der rechten Seite. Wenn du also einen Schlag antäuschst und er ihn abwehrt, hast du knapp fünf Sekunden, um ihn rechts zu verletzen. Ansonsten kann ich dir nur raten, das Schwer etwas höher zu halten, die Zähne zusammenzubeißen und weiter so tapfer zu kämpfen, wie bisher!“, sagte Tim. Ich schrie auf, als mein linker Arm ins Gelenk zurücksprang.

„Gut. Ist euch Anderen etwas aufgefallen?“, fragte ich den Rest der Truppe, während ich vorsichtig meinen linken Arm bewegte.

Scarlet schüttelte den Kopf. „Nur das, was Tim gesagt hat. Und, dass Finn ein miserabler Kämpfer ist, sobald er unbewaffnet ist. Wenn er sowohl das Schwert als auch seinen Schild los ist, kannst du ihn vermutlich leichter besiegen. Wenn er sich nicht an die Messer in seinem Gürtel erinnert und nirgendwo eine Waffe versteckt hat, die wir bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen haben!“, fügte Scarlet hinzu. „Ich werde es mir merken!“, sagte ich und nahm einen Schluck aus der Flasche, die Connor mir gereicht hatte.

„Die fünf Minuten sind um!“, rief Finn vom Lagerplatz unserer Gegner aus. „Sind sie nicht…“, knurrte ich leise, doch ich trank noch einen letzten Schluck und stellte dann die Flasche weg. Ich erhob mich, nahm mein Schwert in die rechte und das Schild in die linke Hand, obwohl mein linker Arm heftig protestierte. Ich wusste, dass ich nicht mehr lange würde so kämpfen können und dass ich den Kampf in den nächsten zwanzig Minuten beenden musste.

„Du schaffst das!“, sagte Scarlet leise zu mir und Tim nickte, dann klopften mir beide auf die unverletzte Schulter. „Du bist gut! Weiter so!“

Finn und ich stellten uns wieder gegenüber, diesmal war es an Lia, das Zeichen zum Anfang des Kampfes zu geben.

Finn und ich sprangen aufeinander zu, diesmal führte ich den ersten Schlag. Finn wehrte ab, drehte sich um mich herum und stand hinter mir. Ich duckte mich unter seinem Schwert hindurch und schlug dann so fest ich konnte gegen die Breitseite seines Schwertes. Es gab ein helles Klirren und ich hatte das Gefühl, der Arm würde mir abfallen. Hoffentlich ging es Finn genauso, doch er ließ das Schwert nicht los.

Er schlug ein paar Mal nach mir, ich fing seine Schläge ab, dann trafen unsere Klingen mit den Kanten aufeinander. Ich erinnerte mich sofort an Tims alten Trick und drehte mein Handgelenk so schnell ich konnte. Finn musste das Schwert fallen lassen, da ich ihm sonst das Handgelenk gebrochen hätte.

Mit einem wütenden Aufschrei wollte er mit den Schild ins Gesicht rammten, doch ich konnte in der letzten Sekunde zur Seite springen. Den nächsten Schlag des Schildes wehrte ich mit meinem Eigenen ab. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine linke Schulter und ich wusste, dass es nicht weiter sinnvoll war, mit dem Schild zu kämpfen. Ich warf ihn zu Boden und stellte mich Finn nur mit dem Schwert in der rechten Hand.

Nach zwei weiten Schlägen zersplitterte sein Schild. Er starrte einen Moment lang auf die Splitter um uns herum. Dann rannte er mit einem wütenden Gebrüll auf mich zu und ich fragte mich einen Moment, ob er nicht ganz richtig im Kopf war, da ich ja immer noch mit meinem Schwert bewaffnet war. Doch er rannte an mir vorbei, packte meinen Schild und schmiss sich mitsamt dem Schild so hart gegen meinen Oberkörper, dass ich zu Boden fiel. Finn lag auf mir, und drückte mich durch sein Gewicht zu Boden, der Schild war zwischen uns eingeklemmt.

Ich versuchte zu atmen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich wusste, dass Finn mich töten würde, wenn ich jetzt nichts unternahm. An den Dolch in meinem Gürtel kam ich nicht heran. Da fiel mir das Messer in meinem Schuh ein. Vielleicht konnte ich es schaffen, den Fuß so hoch zu biegen, dass ich den Griff des Messers zu fassen bekommen könnte.

Ich schlug Finn mit der Stirn ins Gesicht und er wich ein Stück zurück. Diese paar Zentimeter genügten, um mich so weit zu erheben, dass ich mit der rechten Hand an den Griff des Messers kam. Ich packte es und riss es heraus. Ich stieß es Finn in den Oberarm und er schrie schmerzerfüllt auf. Ich spürte, wie die scharfe Klinge die Muskeln in seinem Arm durchtrennte und dann auf Widerstand stieß, vermutlich sein Knochen.

Finn schrie immer noch, plötzlich ließ er sich von mir runterrollen und ich konnte aufstehen. Ich sah Finn kurz ins Gesicht. Obwohl ich im soeben den Oberarm bis auf den Knochen durchstoßen hatte, sah ich in seinem Gesicht kaum Schmerz, nur Wut und Hass.

„Jetzt stirbst du!“, brüllte er. Er packte mich an den Schultern und stieß mir das Knie in den Bauch. Ich keuchte und krümmte mich zusammen. Da packte Finn mich und warf mich über seine Schulter. Ich spürte, wie mir der Helm vom Kopf rutschte, der mir zu groß gewesen war, dann kam ich mit dem Kopf auf einem Stein auf. Einen Moment lang fürchtete ich, das Bewusstsein zu verlieren, dann würde Finn mich umbringen, das wusste ich. Daher rang ich darum, klar im Kopf zu bleiben und nicht nachzugeben.

Ich hörte wieder, wie Finn in Jubel ausbrach. Gleichzeitig spürte ich, wie mir warmes Blut von der Stirn an der Schläfe herab lief. Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, den Schmerz und die Welt um mich herum auszublenden. Undeutlich hörte ich noch immer Finns Lachen und Jubeln, dann drang seine Stimme zu mir durch: „Gibst du auf?“ Ich war zu schwach, um zu antworten, und selbst wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich nichts gesagt.

„Gibst du auf?!“, fragte Finn mich ungeduldig. Dann wandte er sich an Jasmyn. „Sie sagt nichts, aber tot ist sie auch noch nicht!“ In seiner Stimme schwang ein seltsamer Tonfall mit, den man fast als Vorwurf deuten konnte. „Was jetzt?“ Jasmyn erwiderte etwas, was ich jedoch nicht verstand. „Okay!“, rief Finn.

Ich dachte an Eliza, Josy, Bailey und ihre Schwester Scarlet, Tim, und all die anderen, die meinen Tod nicht mit ansehen sollten. Ich dachte daran, dass sie sich dann für immer im Wald verstecken mussten. Das konnte ich nicht zulassen. Sie hatten ihre Hoffnung und ihr Vertrauen in mich gesetzt. Sie wussten, dass ich gewinnen konnte. Und ich wusste es auch…

Ich sah, dass Finn sich jetzt langsam zu mir umdrehte, sein Schwert fest in der Hand. Doch bevor er sich ganz zu mir umgedreht hatte, packte ich mein Messer und sprang auf. Er stand noch nah bei mir, daher brauchte ich nur wenige Schritte bis zu ihm. Ich packte ihn und stieß ihn zu Boden. Die Welt um mich herum drehte sich und ich konnte kaum etwas sehen, da mir Blut in die Augen lief.

Ich drückte ihn auf den Bauch und packte seinen Arm, so wie er es zuvor bei mir gemacht hatte. Ich drehte den Arm auf Finns Rücken, bis er vor Schmerz schrie. „Gibst du auf?“, fragte ich ihn. „Nein!“, schrie er zurück, doch der Schmerz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich drehte seinen Arm noch ein Stück weiter zurück. „Gibst du jetzt auf?“ „Nein!!!“ In Finns Schrei aus Schmerz und Verzweiflung mischte sich Wut. Ich wollte ihm den Arm eigentlich weder brechen noch auskugeln, doch notfalls würde ich es tun. Irgendwie musste ich ihn zum aufgeben bringen, denn umbringen würde ich ihn auf keinen Fall. Das wollte ich nicht, und ich könnte es auch nicht. Diesen Triumph wollte ich Jasmyn nicht gönnen, denn auch dann hätte sie in gewisser Weise gewonnen.

Ich drehte den Arm so weit zurück, dass ich wusste, dass bei der geringsten weiteren Bewegung der Knochen brechen könnte.

„Finn! Gib auf!“, sagte ich eindringlich. „Ich habe keine Lust, dir den Arm zu brechen, aber ich werde es tun!“ Ich wartete kurz auf eine Antwort. Finn stöhnte nur noch vor Schmerz, sein Gesicht drückte ich auf die nasse Erde. „Gibst du auf?“, fragte ich, keuchend vor Anstrengung. Finn antwortete nicht und ich versetzte ihm einen Stoß mit meinem Knie. „Gibst du auf?“ „Ja!“, jammerte er leise. „Ich glaub nicht, dass das jemand gehört hat! Also noch mal: Gibst du auf?!“

„Ja!“, rief Finn. „Du hast gewonnen!“ Ich hielt inne, dann ließ ich seinen Arm los und stand auf. Finn blieb noch kurz liegen, dann stand auch er auf. Er sah mich nicht an; er hob sein Schwert auf und ging zurück zu Jasmyn und ihrer Truppe. Ich drehte mich zu meinen Leuten um und lächelte.

Kurz darauf schrien alle wild durcheinander, dann rannte Tim auf mich zu und umarmte mich: „Du hast es geschafft!! Kira, du hast es tatsächlich geschafft!“ Meine Rippen schmerzten und ich unterdrückte ein Stöhnen, als mich nun alle umringten, mir auf die Schulter klopften, gratulierten und mich umarmen.

„Hey! Hey, lasst sie am Leben, Leute, nicht so wild, wir brauchen sie noch!“ Der Kreis, den die Kinder um mich gezogen hatten, lichtete sich und Lia kam auf mich zu. „Das hätte ich nie von dir gedacht! Du hast echt ganz schön was drauf! Als du grad eben auf dem Boden lagst, dachte ich echt, jetzt wäre es aus mit dir! Aus und vorbei!“ Dann lachte sie und drückte mich kurz. „Tja, Unkraut vergeht nicht!“, sagte ich lächelnd und strich mir verlegen durch die Haare.

„Ich sehe es! Vielleicht sollte mich daran gewöhnen, dich nicht immer so schnell aufzugeben!“ Sie legte mir den Arm um die Schulter. „Aber jetzt solltest du dich ausruhen! Joshua, du kommst mit mir! Wir sollten Jasmyn einen Besuch abstatten und alles regeln!“

Sie schickte mich mit den Anderen zurück zu unserem Lager. Sie und Joshua würden nachkommen. Ich hatte zwar einige Bedenken, doch ich äußerte sie nicht. Ich war zu müde, um mich jetzt mit Lia zu streiten.

 

 

 

 

 

Als Lia und Joshua einige Stunden nach ihnen im Lager ankamen, merkte Jannis an ihrem wütenden Gesichtsausdruck sofort, dass etwas schief gelaufen sein musste. „Nie wieder! Nie, nie, nie wieder, werde ich einen Zweikampf gegen jemanden austragen, der wohl so überhaupt keine Ehre besitzt!“, schrie Lia wütend. „Connor, bring mir was zu trinken!“, schrie sie den Jungen an. Kurz danach reichte er ihr eine Flasche Wasser und sie stürzte fast den gesamten Inhalt hinunter. „Diese verdammten Aasgeier!“, fluchte sie weiter. „Ich fass es nicht!“ Sie kickte die Flasche in hohem Bogen durchs Lager.

„Was ist denn passiert?“, fragte Scarlet.

„Da haben wir ehrlich und fair einen Kampf gewonnen, und jetzt weigern die sich einfach, sich zurückzuziehen! Das gibt’s doch gar nicht!“

Jannis wurde wütend. Also hatte Kira ihr Leben für nichts und wieder nichts riskiert. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte Tim sie. „Sag mir, dass sie Scherze macht!“, wandte er sich an Joshua. „Joshua! Sag mir, dass das nicht stimmt!“ Joshua senkte wütend seinen Blick. „Was machen wir jetzt?“, fragte Jannis, der innerlich vor Wut kochte.

„Wir lassen das nicht auf uns sitzen! Das machen wir! Wir greifen an, sobald es allen wieder halbwegs gut geht! Und dann… Dann werden wir, wenn es sein muss, alle einzeln umbringen, wenn wir dafür nur Jasmyn bekommen!“, knurrte Lia. Jannis hatte sie noch nie so aufgebracht gesehen. „Wie geht es deinem Arm, Tim?“, fragte Lia. „Besser. Es hat aufgehört, wehzutun. In ein paar Tagen kann ich kämpfen!“, sagte er.

„Und dein Finger, Scarlet?“ „Es geht schon, ich kann ihn etwas bewegen, aber ich brauche ihn ja nicht groß, wenn ich kämpfe!“ Lia nickte. „Es wird noch dauern, bis Kira sich erholt hat, und dann werden wir sie angreifen! Macht euch bereit!“

Jannis nahm seinen Bogen und schoss ein paar Pfeile ab. Irgendwann kam Kira. „Hast du geschlafen?“, fragte Jannis sie. „Ein bisschen. Aber es geht mir gut!“, meinte Kira. Sie stellte sich neben ihn und eine Zeit lang schossen sie beide Abwechselnd auf einen Baum in fünfundzwanzig Schritten Entfernung.

„Wie geht’s deinem Kopf?“, fragte Jannis Kira. „Besser. Er pocht noch ein wenig, aber sonst…“ Sie wurde von Lia unterbrochen, die von hinten auf sie zukam. „Hey Kira, gut, dass du wach bist! Ich hab es den Anderen schon erzählt: Wir werden sie angreifen. Bald!“ „Angreifen? Wovon sprichst du?“; fragte Kira überrascht. Wütend erzählte Lia ihr, dass Jasmyn und ihre Truppe sich nicht an die Abmachungen hielten und sich nicht zurückzogen. „Also werden wir sie jetzt angreifen. Wir werden sie alle umbringen, um an Jasmyn heranzukommen.“ „Dann gibt es jetzt also keine Regeln mehr?“, fragte Kira Lia vorsichtig. Lia sah sie eiskalt an. „Gab es denn jemals welche?“

Dann drehte sie sich um und schritt mit wehenden Haaren davon. Jannis und Kira sahen ihr hinterher. „Sie ist schon ein seltsames Mädchen!“, sagte Kira leise und legte einen glatten Pfeil in die Sehne ein. Sie zielte wieder auf den Baumstamm und schoss.

Als es Abend wurde, zogen Kira, Tim, Scarlet, Lia, Henry und Chloe sich zurück, um den Ablauf des Kampfes für morgen zu besprechen.

Als es dunkel war, wurde Jannis von hinten angestoßen. Kira stand hinter ihm. „Was hast du denn an der Hand gemacht?“, fragte er sie. Sie trug einen Verband um den Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Sie sah den Verband an, als sähe sie ihn heute zum ersten Mal in ihrem Leben, dann hellte sich ihre Miene auf und sie lachte.

„Ach, das kommt vom Bogenschießen, ich hab mir an den Pfeilen die Haut aufgerissen. Aber, weshalb ich eigentlich da bin: Wir werden morgen in sechs Gruppen eingeteilt und werden sie in dieser Formation angreifen. Ich will, dass du mit mir kommst, weil ich nicht schießen kann. Daher hab ich mir gedacht, ich sichere mir schon mal den besten Bogenschützen!“ Jannis lachte. „Danke für das Kompliment! Klar, ich komme mit, wer ist noch dabei?“, fragte er. „Ich weiß noch nicht. Lia hat sich bereits Joshua, Connor und Bryan ausgesucht. Vielleicht nehmen wir noch Wendy und Oliver. Ich werde die zwei Mal fragen!“

Dann verschwand sie in der Dunkelheit. Jannis stand auf und legte sich hin. Er zog sich die Decke bis ans Kinn, denn obwohl es Frühling wurde, war es nachts immer noch sehr kalt.

 

 

Am Morgen wurde Jannis von Lia geweckt. „Komm, wir wollen aufbrechen! Kira wartet schon auf dich!“

Zusammen mit Wendy und Kyle machten sie sich auf den Weg. Oliver hatte Henry bereits versprochen, mit ihm zu gehen, daher war an seiner Stelle Kyle mitgekommen. „Also, wir haben folgenden Befehl“, erklärte Kira ihnen, „Zunächst werden sich alle Gruppen rund um das Lager postieren. Auf Lias Zeichen werden wir ihr Lager stürmen. Wir sollen sie in die Mitte zurücktreiben und keine Gnade walten lassen. Solange ich nicht tot bin, habt ihr meinen Befehlen zu folgen. Falls mir etwas passiert, hat Jannis hier das Sagen, verstanden?“ Alle nickten. „Verstanden!“ Kira nickte. „Gut. Dann los!“

Sie joggten locker durch den Wald, bis das Lager der feindlichen Gruppe in Sicht kam. Dann führte Kira sie links daran vorbei. Irgendwann gab sie das Kommando, stehen zu bleiben. „Geht in Deckung!“, flüsterte sie. Jannis legte sich direkt neben Wendy auf den feuchten Erdboden, kurz darauf lagen Kira und Kyle neben ihnen. „Nicht bewegen!“, sagte Kira. Jannis schielte durch die Äste vor seinem Gesicht.

Er sah Jasmyn, die in Begleitung eines Jungen aus einem Zelt kann. Finn. „Bleibt wo ihr seid!“, sagte Kira grob, als Jannis sich ein wenig reckte, um mehr erkennen zu können. „Wenn du unsere Position verrätst, werde ich das Lia petzten und ihr sagen, sie soll ihre Drohungen an dir ausprobieren! Und das sag ich auch nur, weil mir gerade nichts Passendes einfällt!“

Jannis duckte sich wieder, etwas eingeschüchtert durch ihre harten Worte. Er konnte noch immer sehen, dass Jasmyn und Finn aufgeregt miteinander redeten. Irgendwann spürte er Kiras Blick: „Was?“, fragte er leise. Kira lächelte. „Dieser Kampf… Wird unser Leben für immer verändern.“ „Angriff!“, schrie Lia in dem Moment. Kira sprang auf und brüllte ihrerseits „Angriff!“, von überall um das Lager herum hörte man jetzt die sechs Kinder, die die kleinen Gruppen führten, ihre Befehle brüllen. „Tötet sie!“, schrie Lia irgendwo einige Meter rechts von ihnen.

Jannis sprang auf und lief los. Den Bogen gespannt, einen Pfeil bereits eingelegt, hechtete er hinter Kira her auf das Lager zu.

Er sah, wie Jasmyn und Finn sich überrascht umsahen und Alarm schlugen, als sie die Meute der Killerkids auf sich zurasen sahen. In wenigen Sekunden waren ihre Leute um sie herum versammelt. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt!“, schrie Jasmyn und zog ihr Messer.

Jannis legte einen Pfeil in die Sehne seines Bogens und schoss ihn ab. Er verfehlte Jasmyn nur, weil sie rechtzeitig einen Haken nach links schlagen konnte.

Seite an Seite stürmten Jannis und Kira den Anderen ihrer Gruppe voraus und stürzten sich in den Kampf.

 

 

 

 

 

 

Unruhig saß Bailey am Lagerfeuer und stocherte in der Asche. „Was ist, wenn ihnen jetzt etwas zustößt?“, fragte sie in die Runde. „Letztes Mal ist auch nichts passiert!“, sagte Eliza beruhigend. Bailey nickte, war allerdings nicht überzeugt. Sie hatte ein sehr ungutes Gefühl. „Wieso lassen sie mich nicht mitkämpfen? Ich bin viel älter als Jannis!“, schimpfte Mikey. „Aber du bist nicht sehr groß. Außerdem kannst du nur Messerwerfen, und Messerkämpfer haben sie genug!“, lenkte Eliza ein. Josy nickte und reichte ihm einen Becher Tee. Mikey trank ihn aus und gab ihn Josy zurück. „Wollen wir uns Witze erzählen?“, fragte Bailey um Mike abzulenken. Mikey lächelte gezwungen. „Okay, fang du an!“ Bailey überlegte eine Weile, dann sagte sie: „Okay, ich glaube mir ist ein guter Witz eingefallen: Wie kann man mit einem Pferderennen ein kleines Vermögen machen?“, fragte sie in die Runde. Mikey zuckte mit dem Schultern. „Keine Ahnung, spuck’s aus!“, sagte Eliza. „Indem man mit einem großen Vermögen anfängt!“

Mike und Eliza lachten, nur Josy hatte den Witz nicht verstanden. Als sie ihn ihr erklärt hatten, lachte sie auch, doch Mikey schlug vor, etwas anderes zu spielen.

„Wir könnten uns wieder Schuhe zuwerfen!“, lachte Eliza und stieß Mikey in die Rippen.

Mikey murrte, doch er erhob sich, um seinen Schuh auszuziehen. „Iiih! Was stinkt denn hier so?“, fragte Quinn, die gerade mit einem Bogen und einem Hasen aus dem Wald zurückkehrte. „Mike, bist du das?“, fragte Eliza. Mikey lief hochrot an. Seit Wintereinbruch hatte er nicht mehr geduscht, daher war es nicht unwahrscheinlich, dass er jetzt etwas müffelte. „Das richt ja, als wäre hier was gestorben!“, sagte Eliza und sie und Josy lachten. „Du riechst auch nicht besser!“, knurrte Mikey. Dann stürzte er sich auf sie und warf sie ins Laub. Eliza lachte und Josy sprang Mikey von hinten an. „Hey, zwei gegen einen gilt nicht!“, rief Mikey und lachte auch. Dann sprangen Bailey, Conny und Quinn zu ihnen. „Ich, Josy und Eliza gegen euch drei!“, rief Bailey lachend und warf Mikey eine Hand voll Laub ins Gesicht.

Josy hustete und fiel hin. „Mann, Mikey, schau, was du angerichtet hast!“, sagte Bailey lachend und zeigte auf die grinsende Josy. „Hey, sie ist von allein hingefallen!“, lachte er. „Alles klar?“ Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch, doch sie umklammerte seinen Arm und zwang ihn kurz darauf zu Boden.

„Auf ihn!“, rief Bailey und sie und Eliza stürzten sich auf den Jungen. „Conny, Quinn!“ Die Mädchen kamen ihm lachend zu Hilfe.

Eine Weile lang rauften sie miteinander. Irgendwann beendete Bailey die Rauferein. „Wir sollten mal Essen machen! Ich hab einen Bärenhunger, und dann sollte ich noch mal jagen gehen! Zum Glück hat Kira ihren Bogen dagelassen!“

„Na, ob das ein Glück ist, weiß ich nicht! Hast du ihre Finger gesehen?“, fragte Mikey und verzog das Gesicht. „Nein, will ich die überhaupt sehen?“, antwortete Bailey. „Ich glaube nicht!“ Mikey stand auf und half Eliza hoch. „Kommt, machen wir uns an die Arbeit!“

 

 

 

 

 

Ich packte den Griff des Messers, das auf mich zugesaust kam und drehte dem rothaarigen Mädchen den Arm auf den Rücken. Sie schrie auf und ließ das Messer fallen. Dann gab ich ihr einen Stoß, der ihr beinahe die Rippen gebrochen hätte, hob das Messer auf und kam Henry zu Hilfe, der gegen einen riesenhaften Jungen namens Dylan kämpfte. „William! Will!“, schrie dieser jetzt, als er sah, dass ich Henry half. Kurz darauf war ein zweiter Junge neben uns und drängte uns mit seinen schnellen Schwertschlägen zurück.

Ich wehrte alle ab, doch ich musste dennoch zurückweichen. Kurz darauf sauste ein Pfeil an meinem Ohr vorbei und hätte um ein Haar William getroffen. Der Junge sprang zur Seite und Henry und ich retteten uns.

„Wir sind ein tolles Team, wenn wir uns gegenseitig das Leben retten!“, sagte ich zu Jannis, der den Pfeil abgeschossen hatte. „Ich bin ganz deiner Meinung!“, lächelte er. Dann rannte ich an ihm vorbei, zu Liam und Thomas, die einige Probleme dabei zu haben schienen, sich gegen drei Mädchen zu verteidigen, die die Jungen mit dem Rücken beinahe an die Zeltwände gedrängt hatten. Kurz bevor ich mein Ziel erreicht hatte, wurde ich von dem rothaarigen Mädchen entwaffnet, gegen das ich zuvor gekämpft hatte. „Wohin so eilig?“, fragte sie und hielt mir das Messer entgegen. Ich wich zwei Schritte zurück, dann stieß ich mit meinem Fuß gegen etwas. Allein an dem Klang erkannt ich, dass es nur ein Bogen sein konnte. Ich bückte mich, riss die Waffe hoch und konnte gerade noch das Messer abwehren, das auf mich zugeflogen kam. Wenige Schritte neben mir steckte ein Pfeil in dem fest getrampelten Boden. Ich bückte mich ein weiteres Mal und riss ihn heraus, legte ihn ein und wollte schießen, doch das Mädchen verschwand und ich beschloss, den Pfeil für den Notfall zu behalten.

Ich drehte mich gerade um, um mein Schwert aufzuheben, als ich sie sah. Jasmyn stand keine sechs Meter von mir entfernt und zielte mit einem Bogen auf mich. Ich fragte mich, warum sie mit einem Messer kämpfte, wenn sie auch Bogenschießen konnte, doch ich wusste, dass sie mit dem Messer besser umgehen konnte – auch wenn sie sowohl mit dem Messer als auch mit dem Bogen töten konnte, wie ich ja am eigenen Leib erfahren hatte. „Na, Kira, gefällt es dir hier bei uns?“, fragte sie, den Blick auf mich gerichtet.

Die Sehne hatte sie bis an ihr Ohr gespannt, der Pfeil war auf mein Herz gerichtet. „Ehrlich gesagt, nicht besonders, seit du hier bist!“, sagte ich, den Pfeil fixierend. „Wie schade!“, lächelte sie. Dann ließ sie den Pfeil los. Ich wich verzweifelt einen Schritt zurück und hoffte, dem Pfeil zu entkommen, doch ich wusste im tiefsten Inneren meines Herzens, dass das unmöglich war. Dass ich gleich sterben würde. Ich sah den Pfeil wie in Zeitlupe auf mich zufliegen und wartete auf den Schmerz.

In dem Moment bewegte sich neben mir etwas. Es war Jannis. Ich sah ihn entsetzte an, doch sein Blick war nur auf den Pfeil gerichtet. Als seine Hand mich an der Schulter packte und mich wegstieß, wusste ich, was er vorhatte. „Nein!!!“ Jannis sprang vor mich, der Pfeil traf ihn, nicht mich. „Nein!!!“ Ich hörte einem Schrei und mir wurde bewusst, dass er von mir stammen könnte, auch wenn ich meiner Stimme nie den Befehl dazu gegeben hatte. Jannis fiel neben mir auf den Boden, der Pfeil steckte tief in seiner Brust.

„Nein!“, schrie ich wieder, diesmal wusste ich es sicher, dass der Schrei von mir stammte. Ich riss den Bogen hoch und zielte auf Jasmyn. Die nasse Feder kitzelte mich am Ohr, Wassertropfen spritzten mir ins blutverschmierte Gesicht, als ich den Pfeil losließ. Kurz darauf landeten frische Blutstropfen in meinem Gesicht, als die empfindliche, bereits verletzte Haut zwischen meinen Fingern an der rechten Hand wieder aufriss. Der Pfeil hätte Jasmyn sofort getötet, hätte sie sich nicht in der letzten Sekunde hinter einem Schild verschanzt.

Ich legte einen weiteren Pfeil ein, doch Jasmyn rannte davon und ich ließ den Bogen sinken. Verzweifelt suchte ich nach Jannis; Er lag wenige Schritte neben mir auf dem Boden, die Augen geschlossen. „Jannis!“ Ich schrie so laut ich konnte. Dann schlug ich mir den Weg zu ihm frei. Ich spürte, wie mir heiße Tränen über die Wangen rannten, während ich mein Schwert schwang. Ich verletzte zwei Mädchen, einen Jungen entwaffnete ich und brach ihm mit einem schnellen Tritt mindestens zwei Rippen. „Nein! Jannis!“, schrie ich wieder, panisch, als sich mir ein weiterer Junge in den Weg stellte. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich zu meinem Freund.

Ich packte das Schwert fester. Schweiß lief mir in eine Wunde über dem Auge, doch ich konnte den Schmerz nicht spüren.

Mit einem wütenden Aufschrei schlug ich dem Jungen vor mir so stark gegen das Schwert, dass beide Klingen eine tiefe Scharte davontrugen. Der Junge musste das Schwert fallen lassen und keine Sekunde später rammte ich ihm meine Klinge in den Bauch. Es war der erste Mensch, den ich getötet hatte, doch ich verschwendete keinen einzigen Gedanken an ihn. Ich konnte nur an Jannis denken, denn wenn meine Befürchtungen sich als richtig erwiesen, war der Junge, der gerade vor mir zu Boden sank, nicht das erste Todesopfer in diesem Kampf.

Irgendetwas war hier schrecklich außer Kontrolle geraten.

Ich rannte zu meinem Freund. „Jannis!“ Er hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht. „Jannis! Jannis!“ Ich schüttelte ihn, doch er regte sich noch immer nicht. Ich schlug ihm auf die Wange. Meine Tränen fielen auf sein blasses Gesicht. „Nein! Jannis, wach auf! Bitte!“

Ich ließ mich neben ihm auf die Knie sinken, meine Beine gaben einfach unter mir nach.

„Du kannst nicht sterben! Bitte!“, flüsterte ich, doch ich wusste, dass es bereits zu spät war. Das Bild vor meinen Augen verschwamm und ich ließ den Kopf auf seine Brust sinken. Ich spürte die weichen, nassen Federn des Pfeils an meinem Ohr. Seine Brust bewegte sich nicht und ich hob langsam den Kopf wieder.

Ich vergaß eine Sekunde, dass ich mich noch immer mitten in einem Kampf befand. Ich schloss die Augen und ließ den Tränen ihren Lauf. Doch dann hörte ich hinter mir Schritte und das verräterische Klirren von Metall, als jemand sein Schwert hob.

Mit einem Aufschrei, in den ich all meine Wut, meinen Hass und meine Trauer hineinlegte, riss ich mein Messer hoch und fuhr herum. Das Mädchen hatte mit meinem Messer zwischen den Rippen nicht mehr als ein paar Sekunden zu leben, doch ich war bereits wieder auf den Füßen.

Vielleicht hatte ich in diesem Moment vollkommen den Verstand verloren, doch ich wusste, dass es noch mindestens einen Toten in diesem Kampf geben würde: Jasmyn oder mich.

Anders würde dieser Kampf kein Ende finden.

Ich suchte das Lager noch nach Jasmyn ab, als mich jemand am Arm packte. Ich schlug ihm so heftig ich nur irgend konnte ins Gesicht. „Kira! Ich bin’s!“, schrie eine bekannte Stimme.

„Lass mich los! Ich muss sie töten! Dafür bring ich sie um!“, schrie ich, während mir noch immer die Tränen aus den Augenwinkeln liefen. „Wir sollen uns zurückziehen! Wir haben gewonnen! Sie fliehen!“, sagte Henry, dessen Nase blutete, und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Nein! Ich werde sie töten! Lass mich los!“ Ich schrie und weinte und Henry, Scarlet und Tim schafften es nur mit vereinten Kräften, mich zum Rückzug zu zwingen, und selbst dann gab ich nur nach, weil Tim mir damit drohte, mich bewusstlos zu schlagen.

„Du wirst eine Gelegenheit bekommen, dich an ihr zu rächen! Das verspreche ich dir!“, sagte Scarlet zu mir und drückte mich an sich, damit ich mich nicht weiter wehren konnte. Ich vergrub das Gesicht in ihren Haaren und schluchzte. Sie redete mit mir, doch ich hörte ihr nicht zu. Sie wollten mich alle trösten, das war klar, doch ich wollte mich nicht trösten lassen.

„Das kann einfach nicht wahr sein!“, schluchzte ich. „Er kann nicht tot sein…“ „Tut mir Leid Kira…“, hörte ich Tim sagen und kurz darauf schloss er mich in die Arme. „Aber es ist wahr.“ Dafür liebte ich ihn so: Er log mich nie an. Egal, worum es ging. Auch wenn jeder andere in dieser Situation nichts gesagt oder sich für eine Notlüge entschieden hätte.

„Worauf wartet ihr! Kommt schon!“, brüllte Lia uns zu. Ich erkannte, dass wir die Letzten waren. Ich starrte noch immer über Tims Schulter auf Jannis’ leblosen Körper. „Komm jetzt! Kira?“, fragte Tim mich vorsichtig und ließ mich los. „Lass ihn nicht umsonst gestorben sein!“ Sanft versuchte er, mich ein paar Schritte zurückzuziehen, doch ich stieß ihn weg.

Dann drehte ich mich um und rannte los.

Ich stolperte durch den Wald. Die Tränen verschleierten mir die Sicht und ich stolperte oft. Jedes mal fing Tim mich auf und zog mich mit Scarlets und Henrys Hilfe weiter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Sonst noch was?“, fragte Lia und sah in die Runde. Tim schüttelte den Kopf. „Das ist alles, was wir zu sagen haben.“ Lia nickte. „Okay, dann gehen wir jetzt als erstes Essen!“, befahl sie. Sie begegnete Kiras wütendem Blick, doch Lia musste selbst einmal wieder klar denken können, bevor sie sich Gedanken über Jannis’ Tod machen konnte. Damit hätte sie nie und nimmer gerechnet… Nicht, dass Jannis sterben würde!

Natürlich, sie hatte gewusst, dass Jasmyn töten würde, um ihre Ziele zu erreichen, doch dass es wirklich passieren würde, dass Jasmyn Thoron einen Jungen, den sie beide gekannt hatten, der mit ihnen gelebt, gekämpft und gejagt hatte, einfach so umbringen würde… Das hätte sie nicht in ihren dunkelsten Albträumen gedacht.

„Da draußen sind unseretwegen Menschen gestorben, und du denkst ans Essen?“, schrie Kira wütend und sprang auf. Lia verschränkte genauso wütend die Arme vor der Brust. „Du solltest endlich aufhören, wie ein kleines Kind zu denken!“, sagte sie ruhig. Kira erstarrte. „Nein, Lia! Du solltest anfangen, wie ein Mensch zu denken!“ Keine zwei Sekunden später schlug Lia ihr mit der Faust in den Magen. Kira ging mit einem Keuchen zu Boden, doch kurz darauf rappelte sie sich auf und schlug zurück.

„Hört auf!“, hörte Lia Chloe schreien, doch Lia packte Kira und rang sie zu Boden. Sie rangelten eine Weile und jede versuchte, der anderen einen heftigen Schlag, oder Tritt zu versetzen, um den Kampf zu beenden, denn sie hatten nicht wirklich Lust, sich zu prügeln, und sie wussten auch, dass sie nicht auf die Andere, sondern auf sich selbst wütend waren – doch aufgeben, das wollte keine der beiden Mädchen.

Kira trat ihr in die Rippen und Lia versuchte, sie weiterhin zu Boden zu zwingen. Kira keuchte vor Wut und biss Lia in die Schulter. Lia trat ihr daraufhin wütend in den Bauch.

Beide schrieen vor Schmerz auf, dann griff Kira Lia wieder an. Lia hätte jetzt schon längst genug gehabt, und aufgegeben, doch jetzt musste sie sich wehren. Als Kira mit ihrer Faust nach Lias Gesicht schlug, packte Lia ihre Hand und drehte sie ihr auf den Rücken. Kira schlug mit der Linken weiter auf sie ein, und Lia fühlte mehrer Hände, die sie packten, und von Kira wegzogen.

Kurz darauf sah sie Henry und Chloe, die Kira von ihr wegzogen, Tim und Scarlet zogen sie grob von Kira runter. Scarlet half Kira auf, aus deren Nase rotes Blut tropfte und auch aus Kiras linkem Mundwinkel lief hellrotes Blut.

Tim, Scarlet und Kira funkelten Lia an. Lia konnte ihre Wut fast verstehen: Sie hatte zuerst zugeschlagen, doch Kira hatte sie beleidigt. Außerdem wollte Lia sich nicht prügeln. Sie hätte von Kira abgelassen, doch dann hatte Kira weitergemacht, und Lia keine Chance zum Aufgeben gegeben. Also war es Kiras Schuld, nicht ihre. Deshalb funkelte sie genauso wütend zurück.

Henry und Chloe halfen Lia auf die Beine. Lia wischte sich vorsichtig über die Stirn, mit der sie auf den harten Waldboden geknallt war. Jetzt befand sich auch an ihrem Ärmel etwas Blut, doch der Schmerz in ihrer Stirn war nichts im Vergleich zu dem in ihren Rippen. Zwar schien keine von ihnen gebrochen zu sein, doch sie waren mit Sicherheit stark geprellt.

Lia konnte förmlich spüren, wie ihre linkte Körperhälfte anschwoll. Eins musste sie Kira lassen, eine gute Kämpferin war sie schon, auch ohne Waffen. Körperlich war sie Lia auf alle Fälle überlegen. Wenn sie wütend war, und niemand Lia helfen konnte, könnte Kira Lia in einem Kampf mit Sicherheit umbringen.

Diese Tatsache ignorierend starrte sie Kira drohend an. Sie durfte vor ihr keine Angst zeigen, denn noch war Lia hier der Chef ihrer Bande, und Kira hatte sich unterzuordnen. Wenn das stimmte, was Kira erzählte, konnte Lia jetzt kein Chaos gebrauchen, denn dann hatte sie jetzt ganz andere Probleme.

Einen Moment lang sagte keiner ein Wort. Lia und Kira sahen sich hasserfüllt an, die anderen vier Kinder waren still.

„Kommt, wir gehen essen!“, sagte Kira dann und Tim und Scarlet folgten ihr.

 

 

 

 

 

 

 

Mikey saß neben Conny und Quinn am Feuer und briet ein Stück Hase. „Du hast doch keine Ahnung!“, rief Kyle hinter ihm. „Halt doch den Mund, ich hab’s gesehen!“, schrie Liam. „Stimmt nicht!“ Mikey hörte, dass die Jungs sich nun herumschubsten. „Hört auf damit!“, schrie Joshua. „Vergiss es!“, schrie Kyle „Du hast uns gar nichts zu sagen!“, brüllte Liam.

„Wie wäre es denn, wenn wir einfach auf Kira und Lia warten und schauen, was die dazu zu sagen haben?“, mischte sich Wendy ein. „Er soll aber zugeben, dass ich recht hab!“, sagte Kyle beleidigt. Man sah ihm an, dass er sich angegriffen fühlte. „Tu ich aber nicht!“, reizte Liam den Jungen. Kyle schlug nach seinem Gesicht, doch Liam wich aus. In dem Moment stürzte Thomas sich auf die beiden, bevor der Streit vollkommen eskalieren konnte.

„Hört auf!“, brüllte Bryan die Jungs an, die sich jetzt zu dritt auf dem Boden balgten. Liam und Kyle schlugen zusammen auf Thomas ein, der vergeblich versuchte, sich zu schützen.

„Halt die Klappe!“, schrien Liam und Kyle jetzt wie aus einem Mund. Jordan, Wendy und Joshua packten Liam, Kyle und Thomas und zerrten sie auseinander. Thomas blutete aus der Nase und hielt sich das rechte Handgelenk und die Rippen. Liam und Kyle waren leicht verbeult, ihre Wut übertrumpfte den Schmerz. „Du bist echt dumm!“, schrie Kyle. „Du hast keinen blassen Schimmer!“ Hinter ihnen ertönte ein Schluchzen.

„Ich hasse es, wenn Leute schreien!“, rief Bailey und stürmte an den Jungs vorbei. „Bailey!“ Eliza lief ihr hinterher. „Nein, Eliza! Komm zurück!“ Mikey sprang auf, dabei fiel der Hase ins Feuer.

„Das habt ihr ja toll hingekriegt!“, schrie er Kyle und Liam an, die jetzt beide auf dem Boden saßen und sich nicht im Geringsten beachteten. Joshua, Jordan, Thomas und Wendy standen hilflos um sie herum und sahen in die Runde.

Wendy seufzte resigniert und ging davon, Jordan und Joshua sahen sich an, schüttelten den Kopf und folgten Wendy dann, Thomas warf Kyle und Liam noch einen wütenden Blick zu, den aber keiner der Beiden bemerkte, da die beiden Jungen viel zu sehr damit beschäftigt waren, sich selbst zu bemitleiden, dann verschwand auch Thomas.

Mike wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte und rannte Eliza und Bailey hinterher.

 

 

 

 

Bailey rannte weiter, ohne auf Eliza zu achten, die dicht hinter ihr war. Sie wollte nicht mehr angeschrien werden. Bei ihnen zu Hause wurde nur geschrien. Sie war so glücklich gewesen, dieser Hölle endlich zu entkommen, als sie und Scarlet in die Kampfschule aufgenommen wurden. Sollte es jetzt hier genauso weitergehen?

Nein. Das wollte sie nicht zulassen. Das konnte sie nicht zulassen. Dann würde sie nie wieder zurückgehen.

Sie kam alleine klar, und vielleicht würde Scarlet sie irgendwann finden, und sie verstehen, und dann konnten sie zusammen weglaufen, und sich irgendwo verstecken. Dann würde das alles endlich ein Ende haben.

„Eliza! Bailey!“, hörte sie Mikeys Stimme hinter ihr. Er rannte ihnen hinterher, doch Bailey war sich sicher, dass er sie nicht finden würde, außer sie wollte es, denn vermutlich war Baileys dunkelbraune Jacke bereits nicht mehr von der Dunkelheit rings um sie herum zu unterscheiden.

Trotzdem holte Mikey schnell auf und fing Bailey und Eliza ab. Bailey liefen Tränen über die Wangen. „Ich hasse es, wenn Leute schreien!“, weinte sie. Die blonden kurzen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Eliza umarmte sie und versuchte unbeholfen, sie zu trösten. Mikey nahm beide in den Arm. „Das wird doch so nichts!“, flüsterte er und streichelte Eliza, die auch weinte, über die Haare. Bailey wusste, wie sehr Mikey es hasste, dass seine kleine Schwester immer versuchte, allen zu helfen, denn dadurch weinte sie viel häufiger. Sie weinte immer, wenn jemand anderes weinte.

„Wir müssen jetzt zusammenhalten!“, versuchte Mikey ihnen zu erklären. „Bailey, du darfst nie wieder weglaufen! Wenn Jannis wirklich tot ist, wissen wir nicht, wozu Jasmyn und ihre Gruppe noch in der Lage sind. Dann haben wir sie immer unterschätzt. Versteht ihr das?“

Er sah Bailey an, aus deren blauen Augen die Tränen rannen. Das Mädchen nickte und wischte sich die Tränen ab.

In der Ferne hörte sie die Geräusche aus dem Lager, als die Kinder jetzt begannen, miteinander zu diskutieren, doch all das klang abgedämpft und nur halb so laut, wie es eigentlich hätte sein müssen. Mikey selbst spürte eine tiefe, innere Leere und Gleichgütlichkeit in sich, die nur langsam unterdrückt wurde von nackter Angst. Was da passiert sein musste… Er hätte nie in so einem Ausmaß gedacht. Bis jetzt, waren das alles nur harmlose Prügeleien und Messerkämpfe gewesen. Niemand war wirklich ernsthaft verletzt worden und wenn, dann hatte er trotzdem überlebt. Aber Jannis…

Bailey senkte den Kopf und wischte Eliza die Tränen ab, um ihre Freundin zu trösten. „Nicht weinen, okay?“, sagte sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Mikey forderte wieder ihre Aufmerksamkeit und sah die beiden an.

„Wir müssen uns gegenseitig schützen… Wir sind jetzt eine Familie, okay? Und da passt einer auf den Anderen auf!“ Mike umarmte die Mädchen, dann ließ er sie los. „Wir müssen wieder zurück, okay? Nicht, dass sie sich Sorgen um uns machen.“ Eliza und Bailey nickten.

 

 

 

 

 

 

Zurück im Lager hatte sich die Situation nicht merklich verbessert. Zwar ignorierten sich Kyle und Liam jetzt, doch dafür hatten sich Wendy, Thomas und Jordan in die Haare bekommen und Quinn und Conny schienen sich auch nicht ganz einig zu sein. Mikey stellte sich neben das Feuer. „Haltet euch die Ohren zu!“, warnte er Bailey und Eliza. Dann schrie er, so laut er konnte, bis sich alle zu ihm umdrehten.

„Hört mir mal gut zu!“, rief er und stellte sich auf einen Baumstumpf, damit er nicht so klein war. Er konnte trotzdem kaum über Wendys Haare hinwegsehen, doch er fühlte sich stärker.

„Hört ihr mir zu?“

Er redete jetzt mit Absicht leiser, damit der Rest der Kinder auch leise sein musste, um ihn zu hören. „Hört ihr mir alle zu?“

Vereinzelt nickten Kinder, irgendwann schlossen sich die Anderen ihnen an. „Ich will, dass ihr euch umschaut. Schaut euch die Kinder an, neben denen ihr steht!“, sagte Mikey langsam. Kyle und Liam drehten sich voneinander weg, doch dass wollte Mike nicht zulassen. „Liam! Schau Kyle an!“, befahl er grob. Liam verschränkte die Arme, doch jeder Widerstand war zwecklos. Das merkte er bald und drehte den Kopf kurz auf die Seite. „Kyle, schau dir Liam an.“ Die Blicke der Jungs begegneten sich kurz. „Josy?“ Das blonde Mädchen sah auf.

„Schau Eliza an! Wendy, Bryan! Schaut euch in die Augen. Joshua! Connor! Thomas! Bailey! Schaut euch alle an! Ich will, dass ihr euch alle anschaut!“ Mikeys Stimme war jetzt eindringlicher geworden. Nachdem er sicher war, dass jeder seinen Nachbarn angesehen hatte, redete er weiter. „Kyle? Glaubst du, es geht Liam gerade gut? Genau jetzt, in diesem Moment?“, fragte Mikey ihn. Erschrocken schoss Kyles Blick zwischen den beiden Jungs hin und her. „Wendy! Wie fühlt sich Bryan wahrscheinlich gerade?“, wollte Mikey wissen. Wendy blickte zu Boden. „Wie fühlt ihr euch alle gerade?“ Mikey sah, dass sich jetzt wieder einige Blicke trafen. „Geht es euch gut? Macht euch das so Spaß?“

Mikey bekam keine Antwort.

„Ich hab euch was gefragt!“ Seine aufgebrachte Stimme hallte durch den Wald. „Wenn ihr wollt, dann streitet euch weiter! Na los, ihr habt meine Erlaubnis!“ Die Kinder sahen ihn verwirrt an. Mikey zuckte mit den Schultern. „Macht doch, was ihr wollt! Schlag euch die Köpfe ein! Worauf wartet ihr noch?“

Wieder schwiegen alle. „Kyle, gerade eben hättest du Liam am liebsten den Kopf abgerissen! Also, was ist? Wenn es dir so großen Spaß macht, bitte!“ Mikey sah allen der Reihe nach in die Augen. Eine lange Pause entstand. Man hörte nichts außer dem Heulen des Windes.

„Ich warte darauf, dass ihr euch prügelt, oder eine Erklärung abgebt.“ Nichts. „Wisst ihr was? Ihr seit Idioten. Und zwar allesamt! Wir sind alle Idioten! Wir haben doch nur einen einzigen Feind, und das ist Jasmyn! Warum verbrauchen wir unsere Energie hier, indem wir versuchen, uns hier gegenseitig zu verprügeln?“ Er sah alle mit wildem Blick an. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Kira, Scarlet und Tim zurückkamen, doch er beachtete sie nicht weiter. „Warum?!“

Er sah, wie die Kinder vor ihm zusammenzuckten. „Ich möchte eine Antwort, wenn das einer von euch versteht. Ich verstehe es nämlich nicht. Aber das hat doch sicher einen vollkommen plausiblen Grund, oder?“ Er wartete einen Moment und sah in die Runde. Kyle und Liam sahen sich ratlos an, senken dann jedoch den Blick, als sie sich in die Augen sahen.

Mikey schloss einen Moment lang die Augen und lauschte den vereinzelten Waldgeräuschen. Alles, was er sich gewünscht hatte, würden sie verderben, wenn sie sich weiterhin stritten und prügelten. Ein kalter Wind fuhr durch die Bäume und Mikey fühlte sich plötzlich unwohl. Es war kalt. Kalt und still. Nichts existierte mehr. Nur Kälte und Schweigen. Hier stand er, ganz allein. Dieses plötzliche Glücksgefühl, nachdem sie sich zu einer so großen Gemeinschaft zusammengefunden hatten und Mikey das Gefühl gehabt hatte, wieder eine Familie zu haben, eine richtige Familie, war verschwunden.

Es war einfach weg.

Als Mikey die Augen wieder öffnete, hatte sich niemand vom Fleck bewegt. „Warum hört ihr dann nicht auf damit?“, fragte Mikey leise. „Wir sind aufeinander angewiesen. Kyle, wenn dir jetzt augenblicklich Jasmyn mit einem Messer in der Hand gegenüberstehen würde, um dich zu töten, und deine einzige Hoffnung ist Liam… Wäre es dann nicht schöner, zu wissen, dass er alles tun wird, um dich zu retten, als zu wissen, dass dein letzter Schlag ihm fast das Nasenbein gebrochen hätte?“

Kyle nickte zaghaft. „Dann entschuldige dich.“ Kyle sah Liam an. Liam starrte zurück. „Entschuldigt euch beide!“ „Entschuldigung“, murmelte Kyle. „Das hab ich nicht gehört!“, provozierte Mikey. Kyle funkelte ihn böse an. „Entschuldigung!“, rief Kyle, doch er sah Liam jetzt genau in die Augen. „Es tut mir Leid! Ich hab es nicht gesehen, du hast vielleicht recht und es tut mir Leid, dass ich dir nicht geglaubt habe!“

„Du musst dich nicht entschuldigen!“, sagte Liam leise. „Mir muss es leidtun. Ich wollte dich nicht anschreien!“ Kyle und Liam sahen zu Mikey. Mikey nickte, stolz auf seine Rednerkünste.

„Ich will jetzt, dass ihr euch das merkt und ich will es euch nie, nie wieder sagen müssen! Habt ihr das verstanden?“ Alle nickten und murmelten zustimmend.

Mikey sprang von dem morschen Baumstumpf und ging zurück ans Feuer. Kurz darauf war Tim neben ihm. „Hey, ich hab dich gehört und hab mir gedacht, du könntest… na ja, Kira und Lia haben sich grad richtig übel gestritten und es kam sogar zu einer Schlägerei und vielleicht könntest du mal zwischen ihnen… vermitteln, oder so?“, fragte Tim ihn. Er sah Mikey hoffnungsvoll an, der nur mit den Schultern zuckte. „Ich kann es versuchen!“

Tim wirkte erleichtert und drehte sich um. Kurz darauf tauchte er mit Lia und Kira im Schlepptau wieder auf. Mikey sah beide an. „Setzen!“, sagte er streng. Lia und Kira gehorchten stumm und setzten sich Mikey gegenüber ans Feuer. Tim setzte sich zwischen die beiden.

„Wisst ihr, was ich an einem Streit hasse?“, begann Mikey. „Dass ein Streit fast immer aus einem Missverständnis entsteht. Aus etwas, was der eine falsch aufgegriffen und der andere falsch gemeint hat. Oder dass jemand etwas gesagt hat, um seine eigene Unsicherheit zu überspielen. Weil er… es nicht besser ausdrücken kann.“ Er sah Lia und Kira kurz an.

„Ich hasse Geheimnisse. Geheimnisse können ganz schön sein. Ein geheimes Versteck, eine lustige Geschichte. Doch wenn du einem Freund ein Geheimnis nicht erzählen willst ist es eins, mit dem du ihm schadest, daher schlage ich vor, wir spielen mit offenen Karten. Was war los?“ Tim schilderte den Vorfall knapp und Mike nickte.

„Okay. Lia, was ging in dir vor, als du von Jannis’ Tod erfahren hast?“, fragte Mikey sie gerade heraus. Er sah, dass Lia erst Mühe hatte, einen Ton herauszubringen. „Ich weiß nicht… Ich war… Verwirrt. Oder… Entsetzt. Ich weiß es nicht.“ Sie sah auf den Boden. „Kira, wie hast du dich gefühlt, als die Jannis sterben sahst?“ Kira sah ihn einen Moment lang entsetzt an, dann zischte sie: „So etwas kann man nicht beschreiben! Er ist meinetwegen gestorben! Er war mein Freund!“ Mikey nickte. „Aber er war auch Lias Freund.“ Kira und Lia sahen sich kurz an. „Kann es sein, dass Lia einfach… Nimm mir das nicht übel, Lia, aber, kann es sein, dass du in dem Moment nicht gewusst hast, wie du reagieren sollst und deshalb einfach… Erstmal alle Gefühle in den Hintergrund geschoben und versucht hast, es herunterzuspielen, weil du selbst verunsichert warst?“

Lia sah ihn erschrocken an, doch Mikey sah an ihrem verstörten, entsetzten Blick, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte. „Ihr müsst endlich mal aufhören, alles so einfach aussehen zu lassen und zu versuchen, so cool zu wirken! Damit kann man Andere sehr verletzen!“ Mikey sah Lia genau an. „Kira, was stört dich an Lia am meisten?“, fragte Mike sie. „Dass sie manchmal so taktlos sein kann!“, knurrte Kira. „Lia, was für ein Problem hast du mit Kira?“ „Sie geht so schnell in die Luft. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie keine Sichtweise außer ihrer Eigenen akzeptieren will!“ „Das ist nicht wahr, ich…“ „Kira, Lia redet jetzt!“, sagte Mikey laut. Kira verstummte.

„Merkst du, was ich meine, Lia? Wenn du immer alles so cool nimmst, kann man das auch so auffassen, als sei dir alles egal!“ Lia nickte.

„Kira… Das solltest du verstehen. Man kann sich nicht von jetzt auf gleich ändern und das erwartet auch niemand von euch. Ihr müsst nur wissen, wie ihr anfangen könnt. Lia, versuch doch einfach Mal, etwas mehr Gefühl zu zeigen. Das ist keine Schwäche. Wir sind doch deine Freunde und wir sind für dich da, wenn du ein Problem hast, okay? Uns kannst du damit belasten, auch wenn wir in deinen Augen vielleicht nur Kinder sind! Wir haben schon sehr viel durchgemacht und kommen damit klar!“ Lia nickte unsicher.

Mikey sah ihr in die Augen. „Versprich es mir! Und versprich es Kira! Und Tim! Wenn du ein Problem hast, komm zu uns!“ Lia nickte, diesmal entschlossener. „Versprochen!“

„Kira, du darfst nicht alles immer so eng sehen. Du musst ruhiger bleiben und darfst nicht immer gleich austicken. Ja? Wenn du das Gefühl hast, dass Lia dich nicht versteht, dann versuch, es ihr zu erklären. Manche Leute können sich nicht so gut in andere hineinversetzen.“

Auch Kira nickte. Mikey stand zufrieden auf. „Dann lass ich euch jetzt allein. Ich hab Hunger!“

Damit ging er zu Henry und Scarlet an ein anderes Feuer und nahm einen Hasenspieß entgegen, den Conny ihm in die Hand drückte.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war!“, gab Quinn zu bedenken. „Ich werde es hier echt langweilig finden, wenn sich niemand mehr prügelt!“, lachte sie dann. Mikey versetzte ihr mit dem Ellenbogen einen nicht ganz ernstgemeinten Stoß in die Rippen und grinste sie an. „Glaub mir, es wird schon noch spannend genug werden!“

Und Mikey wusste nicht, wie recht er damit hatte.

 

ENDE DES dritten BANDES

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MISSION

COMPLETED 4

 

 

 

 

 

 

 

„Ahhhhh!“ Tim riss mich mit sich zu Boden und setzte sich auf meinen Bauch. „Tot!“, lachte er. Ich lachte jetzt auch. „Das sehe ich aber ganz anders! Bis jetzt fühle ich mich noch quicklebendig!“ Ich kitzelte ihn und er ließ von mir ab. „Das schreit nach Revanche!“, sagte ich. „Tja, wenn du dir lebendig genug vorkommst, um noch einmal gegen mich zu kämpfen!“, sagte Tim großspurig. „Gegen dich?“, lachte ich. „Jeder Zeit!“

Wieder griff ich ihn an, mein Stock sauste auf ihn herab, doch sein erhobener Arm wehrte ihn ab. Dann tauschten wir einige Schläge aus, die der Andere jeweils perfekt parierte. Schließlich schlug Tim mir mit voller Wucht auf den Kopf. Ich fiel ins Gras und sah eine Zeit lang Sternchen, dann wollte ich mich aufrappeln, doch Tim saß schon wieder auf meinem Bauch. „Tot!“, wiederholte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Ich stieß ihm meinerseits grinsend den Stock in den Bauch. „Sehe ich etwa so aus, als wäre ich tot?“, fragte ich ihn trocken und stolzierte vor ihm auf und ab, bis er mir einen weiteren Stoß mit dem Stock gab. „Wenn du willst, prügele ich dich grün und blau!“, erklärte mir Tim freundlich. „Das schaffst du nicht!“, erwiderte ich ebenso freundlich. „Und ob ich das schaffe!“, sagte Tim wieder in demselben Ton, den ich angeschlagen hatte.

„Dann mach dich bereit, denn jetzt wirst du sehen, was es heißt, grün und blau geschlagen zu werden!“, lachte und stürzte mich auf ihn. Wir rangelten eine Weile, doch zum Schluss unterlag ich ihm doch immer wieder. „Tot, tot, tot!“, sang Tim und stand auf.

Ich klopfte mir gelassen die Erde vom T-Shirt. „Ja, das ist die Titelmelodie für dein Ende!“, erklärte ich ihm. Jetzt hatte mich der Ehrgeiz gepackt und ich beschloss, ihm eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen.

„Oje!“, lachte Tim, als ich auf ihn zukam. Er packte seinen Stock fester und wehrte die ersten Hiebe ab, bevor ich einen Treffer auf seinen Unterarm landete. „Pass auf, diesmal mach ich dich fertig! Das ist dein Ende!“, lachte ich und sprang auf ihn zu. Vielleicht hätte ich ihn diesmal wirklich geschlagen, doch ich wurde unterbrochen. Schade eigentlich…

„Das werden wir ja mal sehen, Kira, ich hab nämlich eine Aufgabe für dich!“, sagte Lia, die hinter mir aufgetaucht war.

In der letzten Zeit hatte ich sie aufgrund unserer unterschiedlichen Meinungen über den Tod meines besten Freundes Jannis eher gemieden, daher passte es mir gar nicht, als sie nun sagte: „Wir beide werden jetzt nämlich mal auskundschaften, was unsere liebe Jasmyn vorhat! Es ist fast zwei Wochen her, dass wir das letzte Mal etwas von ihr gehört haben!“ Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Tim versuchte, mich anzugreifen, doch ich wehrte den Stock ab, schlug zweimal heftig gegen seine Rippen und stieß Tim mit dem Stock in den Bauch, bevor er mich erneut angreifen konnte.

„Hast du was gegen mich?“, fragte er mit schmerzverzerrtem Gesicht und hielt sich die Rippen. „Nein, ich verprügle alle Leute, die ich mag!“, sagte ich lachend. „Dann musst du mich ja unglaublich gern haben!“, sagte er und richtete sich auf.

„Wenn sie dich so gern hat, dann kannst du ja gleich mit uns kommen. Wir könnten nämlich noch ein paar helfende Hände gebrauchen. Auch wenn dein Liebster wahrscheinlich reichen wird, bei seiner Körpergröße!“, neckte Lia mich und zwinkerte mir zu. In einem Punkt hatte Lia recht, aber auch nur in einem einzigen: Tim war wirklich groß.

„Er ist nicht mein Liebster!“, spie ich heraus. Ich erinnerte mich an Mikeys Worte und versuchte, mich nicht gleich wieder mit ihr zu Streiten. „Wir sind nur gute Freunde und ich finde es nicht lustig, wenn du das sagst“, versuchte ich ihr meinen Standpunkt klar zu machen.

„Alles klar, aber ich finde, ihr wärt wirklich ein tolles Paar…“ Lia lächelte mich wieder so an und ich war mir diesmal nicht sicher, ob sie nicht doch auf einen Streit aus war. „Tja, tut mir Leid, dass ich dich enttäuschen muss, aber aus uns wird nie was werden. Wir sind nur gute Freunde!“, knurrte ich sie an. „Och Kiralein…“ Ich hasste es, wenn sie mich so nannte. Das war höchstens, aller allerhöchstens Tim vorbehalten, da er schon seit vielen Jahren mein bester Freund war. Und das wusste sie ganz genau.

„Wann geht’s los?“, fragte ich unbeteiligt. „Noch heute. Pack deine Pfeile und deinen Bogen, dann brechen wir auf!“, befahl Lia.

Ich holte meinen Bogen und die Pfeile, Tim nahm sein Schwert und gürtete es sich um. Lia packte zwei Messer in ihre Taschen, dann gingen wir los. „Vielleicht kannst du das ja nicht verstehen“, versuchte ich es ihr begreiflich zu machen. „Aber Tim und ich sind der beste Beweis dafür, dass ein Junge und ein Mädchen ganz normal befreundet sein können!“

Lia kicherte. „Das ist biologisch absolut unmöglich. Glaubt mir, noch bevor ihr volljährig seid, wird sich einer von euch in den Anderen verlieben. Ob ihr es nun wollt, oder nicht!“, sagte sie lachend. „Na, dann solltest du aber auch mit Joshua etwas aufpassen! Der sieht nämlich mindestens genauso gut aus, wie Tim!“

Joshua war ein weiterer Junge in unserer Bande. Er war sechzehn und wurde bald siebzehn und man konnte wirklich nicht sagen, dass er schlecht aussah: Braune Haare, braune Augen, muskulöser Körperbau… Alles in allem war er schon ein junger Mann.

„Oder ihr haltet euch einfach von allen männlichen Wesen fern, dann müssen wir jetzt nicht diese blöde Diskussion führen!“, schlug Tim vor. „Egal, was wir tun, Lia: Du hast schlechte Karten: Das würde nämlich bedeuten, dass Tim und ich uns innerhalb der nächsten zwei Jahre ineinander verlieben müssten, da er ja schon sechzehn ist!“, erklärte ich ihr grinsend.

„Wir müssen jetzt sowieso still sein!“, warnte Lia. Ich sah, dass wir uns dem Lager unserer Feinde näherten. Lia ging in die Hocke und wir krochen auf allen vieren durchs Unterholz. „Könnt ihr was verdächtiges sehen?“, fragte Lia. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nichts!“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach aufgegeben hat! Das macht sie nicht!“, flüsterte Lia mir zu. „Wir müssen näher ran!“ Damit sprang sie auf und huschte durch die Büsche, die gerade Blätter bildeten.

Es musste nun Ende April sein, überall sangen die Vögel und kalt war es schon lange nicht mehr. Ein dünner Ast strich mir übers Gesicht, als ich Lia folgte. Mit dem Köcher verhedderte ich mich ab und zu in den Büschen, doch ich konnte mit Lia Schritt halten. Tim war hinter mir, ich hörte, wie er die Äste auf die Seite drückte, seine schweren Füße auf der feuchten Erde, seinen warmen Atem.

Mit einer Handbewegung brachte Lia uns sofort zum stehen. Wir lauschten. „Ich höre etwas!“, wisperte Tim hinter mir. Lia nickte, doch sie sagte nichts. „Mitkommen!“, zischte sie dann. Wir sprinteten den Abhang hinunter auf die Zelte zu. Ich fand es noch immer seltsam, warum sie ihr Lager nicht hoch oben auf einem Hügel errichtet hatten, wo sie ihre Feinde sehen konnten. Ich selbst fühlte mich in Tälern gefangen. Eingekreist und umzingelt.

„Da ist sie!“, flüsterte Lia. Sie zeigte auf ein Mädchen, das neben zwei Jungen am Feuer saß. Braune Locken, dünn, ein Messer in der rechten Hand. Jasmyn schien uns nicht zu bemerken und mir viel auf, wie wenig sie sich in der letzten Zeit verändert hatte. Schließlich war es viele Monate her, seit wir sie zum ersten Mal gesehen hatten.

„Und jetzt? Hast du einen Plan?“, flüsterte ich Lia von hinten ins Ohr. „Nein.“ Ich beugte mich etwas weiter nach vorne, um mehr sehen zu können, da passierte es. Ich rutschte aus. Tim versuchte, mich zu halten, doch es war zu spät. Er erwischte nur meinen Hemdärmel und wir rissen Lia mit uns.

Zu dritt kullerten wir den Hang hinab und landeten inmitten des feindlichen Lagers – eine denkbar ungünstige Position, wenn man nur spärlich bewaffnet ist, und sich noch von einem Sturz erholen muss, denn kaum waren wir auf den Beinen, wurden wir angegriffen.

Jasmyn ritzte Lias Wange etwas auf, doch wenige Sekunden später, nahmen wir den Kampf mit ihr und den Jungen auf. „William, Dylan! Herkommen!“, schrie Jasmyn. „Scott, Alexandra!“, blaffte sie. „Nathan! Billy! Macht, dass ihr herkommt, hier gibt es Arbeit!“ Kurz darauf waren zwei weitere Jungs neben ihr, beide groß gewachsene, junge Burschen.

„Ruby!“, rief das Mädchen namens Alexandra ihrer Freundin zu, einem Mädchen, das sich sofort neben Jasmyn stellte und Seite an Seite mit ihr den Kampf gegen uns aufnahm, wobei ihre Wuschelmähne nur so durch die Luft flog. „Los, lasst sie nicht entkommen!“, rief Jasmyn, als Lia, Tim und ich uns umdrehten, um zu fliehen. Wir kamen nicht weit:

Jasmyn packte Lia am Kragen. Allein hätte sie sie niemals festhalten können, doch bevor Lia sich rühren konnte, waren Scott und Dylan neben ihr und hielten sie fest. „Lauft weg! Kira! Lauf!“, schrie sie mir zu. Ich legte einen Pfeil ein und schoss ihn auf ein heran laufendes Mädchen ab.

„Nun macht schon!“, schrie Lia mir verzweifelt zu, doch ich weigerte mich vehement, sie jetzt im Stich zu lassen. Wenn sie auch nicht zu meinen engsten Freunden zählte, ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ich jetzt weglief, um mich selbst in Sicherheit zu bringen.

In der letzten Sekunde rollte sich das Mädchen weg und als ich nach einem zweiten Pfeil griff, packte jemand mein rechtes Handgelenk. Ich drehte mich um und sah in das Gesicht eines muskulösen Mädchens. Sie war mindestens einen halben Kopf größer und wog sicher dank ihrer Muskeln doppelt so viel, wie ich. Entsetzt suchte ich nach einer Fluchmöglichkeit, doch als ich mich losriss, stolperte ich nur wenige Zentimeter zurück, bevor ich einen Jungen umstieß.

„Halt sie fest, Nathan!“, rief Ruby und stürzte sich auf mich. Ich hatte keine Chance gegen die drei Ungeheuer – sie waren einfach zu stark und zu groß für mich. Ich sah mich verzweifelt nach Tim um. Er hielt mit seinem Schwert vier Kinder auf Abstand. „Tim!!!“ Ich schrie, so laut ich konnte. Mit platzte beinahe das Trommelfell, doch meine Angreifer ließen mich keine Sekunde los. „Tim lauf weg! Lauf!“, befahl ich ihm noch immer schreiend. Tim schüttelte den Kopf, doch ich wusste, dass wir alle sterben würden, wenn Tim jetzt hierblieb. Noch hatte zumindest er eine Chance zu entkommen, also schrie ich noch einmal: „Lauf weg, Tim! Bitte! Ich bitte dich, Tim, lauf!!!“ „Nein!“, schrie er wütend und genauso verzweifelt wie ich, doch er kämpfte tapfer weiter. Ich wusste, was er dachte. Wie konnte ich das Unmögliche von ihm verlangen, obwohl ich mich noch Sekunden zuvor selbst über Lias Befehl hinweggesetzt hatte, zu fliehen?

Aber Tim musste doch einsehen, dass es keinen Sinn hatte. Dass wir unseren Angreifern nicht gewachsen waren. Und mit jeder Sekunde, die verstrich, schrumpfte die Chance für ihn, hier lebend herauszukommen.

„Hau ab, Tim! Mach schon!“, schrie Lia, die einem Mädchen gegen das Schienbein trat. Inzwischen schaffte ich es, meine Hände zu befreien. Ich hatte keine Zeit, meine Waffen zu ziehen, doch man sollte nicht die geballte Macht von zehn Fingernägeln unterschätzen, wenn sie einen Jungen mit voller Wucht im Gesicht treffen. Nathan, ein muskelbepackter Junge mit strohblondem Haar, wich zurück, als ich ihm mit meinen Fingernägeln die Wange aufriss und ein Auge dabei leicht verletzte.

Ich rannte zwei Schritte, dann wurde ich zu Boden geworfen. Ich konnte mich nicht bewegen, kräftige Hände drückten mich zu Boden.

„Tu, was ich sage, Tim! Sonst wird es dir leidtun, das verspreche ich dir!“, hörte ich Lia schreien, dann hörte ich zu meiner Erleichterung, dass Tim einen wütenden Schrei ausstieß und sich seine Schritte entfernten. „Schnappt ihn euch!“, hörte ich Jasmyns barsche Stimme, dann liefen drei Paar schwere Stiefel an meinen Augen vorbei.

 

 

 

 

 

 

„Mike!“ Mikey sah von dem Holzstück auf, das er gerade mit seinem Messer bearbeitete. Er hörte Tims Stimme sofort an, dass etwas nicht stimmte. „Mikey! Du musst mir helfen!“ Tim blieb keuchend vor ihm stehen und erzählte ihm, dass Jasmyn Lia und Kira gefangen hatte.

Einen Moment lang wusste Mikey nicht, was er sagen sollte, dann sprang er auf. „Henry! Scarlet! Chloe!“, rief er. Die drei Kinder sahen ihn an. „Kommt sofort her!“, befahl er ihnen.

Sie waren sofort bei ihm und Tim erklärte die ganze Geschichte noch einmal. „Was sollen wir tun?“, fragte Henry. „Wir müssen sie befreien!“, sagte Mikey. „Ich weiß nicht… Das birgt ein großes Risiko!“, gab Henry zu bedenken. Scarlet nickte. „Ich glaube nicht, dass Lia und Kira das gewollt hätten!“ Mikey war einen Moment wie erstarrt. „Seid ihr verrückt geworden?“, platzte er heraus. „Mikey!“, versuchte Scarlet ihn zu beschwichtigen. „Du weißt, wie wichtig Kira mir ist. Sie ist meine Beste Freundin! Aber hier geht es leider nicht um sie. Nicht nur. Es geht um unser Leben. Um das Leben von uns allen!“ Mikey starrte sie fassungslos an. „Ihr seid verrückt.“ „Nein, wir überdenken nur jeden Plan zweimal!“, sagte Henry. „Glaubst du, Lia und Kira würden wollen, dass wir uns für sie in Gefahr begeben?“, fragte Chloe. „Außerdem sind sie vielleicht gar nicht mehr am Leben! Immerhin hat Jasmyn den Befehl, uns alle zu töten!“

Mikey und Tim sahen sich verzweifelt an. „Umso wichtiger ist es doch, dass wir uns beeilen!“, sagte Mikey. „Nein, Mike. Umso wichtiger ist es, dass wir hierbleiben und aufpassen, dass sie nicht noch jemanden schnappen! Und das wird nun unsere Aufgabe sein!“, sagte Henry. „Wieso eure?!“, schrie Mikey Henry und Chloe an. Scarlet würdigte er keines Blickes. Wie konnte sie nur behaupten, Kira wäre ihr wichtig, wenn sie nichts versuchte, um sie zu retten?

„Weil wir nicht ohne Grund von Kira und Lia zu ihren Stellvertretern ausgewählt wurden!“, sagte Henry. „Und wir werden nicht zustimmen, dass sich alle in Gefahr begeben, nur um Lia und Kira vielleicht zu retten!“, sagte Chloe. „Wir versuchen doch nur, Kira und Lia zu helfen, indem wir euch beschützen“, fügte Chloe hinzu. „Glaubt ihr, ihr macht den beiden einen Gefallen, wenn ihr für sie sterbt? Sie würden euch hassen!“

„Chloe hat absolut Recht, so ungern ich es sage!“, sagte Scarlet. „Ich kann nicht glauben, dass du auf ihrer Seite bist!“, schrie Mikey Scarlet an. „Du magst Kira doch auch! Ihr beide seid doch wie Geschwister! Wie kannst du sie guten Gewissens sterben lassen?“

„Das kann ich, indem ich dafür meine anderen Geschwister und Freunde rette!“, sagte Scarlet zornig. „Das kann ich, indem ich an Bailey denke, und an Josy, Conny, Quinn und Eliza! Und wenn du ein guter großer Bruder für Eliza wärst, würdest du auch an sie denken!“, fuhr Scarlet Mikey an. Sie hatte völlig die Fassung verloren. „Ich kann das tun, indem ich mich in Kiras Lage versetze, indem ich mir alles in Erinnerung rufe, was sie je zu mir gesagt, was sie je für mich getan hat, und mich dann frage, was ich an ihrer Stelle wollen würde! Würde ich wollen, dass ihr für mich sterbt? Die Antwort ist ein klares Nein! Kira hat unser Leben immer über ihres gestellt, und sie würde es uns nie verzeihen, wenn jemand von uns bei einem schlecht organisierten Rettungsversuch sterben würde!“, schrie Scarlet Mikey an, der bei ihren Worten immer kleiner geworden war. Sie hatte Recht, sie alle hatten Recht, doch er wollte es nicht wahrhaben und holte noch einmal Luft, um zu widersprechen, doch Henry schnitt im das Wort ab.

„Denk doch mal nach, Mikey!“, versuchte Henry noch einmal, es ihm begreiflich zu machen. „Welches Leben ist soviel wert, dass wir dafür das von zwanzig anderen riskieren können?“ Mikey senkte den Blick. „Ist das euer letztes Wort?“, fragte Tim. Chloe, Henry und Scarlet sahen sich an. Dann nickte Henry. „Tut mir Leid.“

Auch Tim senkte den Blick. „Okay. Komm schon, Mikey. Sie haben recht!“, sagte er dann und klopfte Mikey auf den Rücken. Verzweifelt sah er Tim an, suchte nach einem Zeichen dafür, dass das alles nur ein Scherz war, doch Tim schien es ernst zu meinen.

Mikey ließ den Kopf hängen und rannte weg. „Mikey!“ Er blieb abrupt stehen und sah sich zu Chloe um, die ihn gerufen hatte. „Hör mal. So lange das nicht alles geklärt ist…“ Sie sah zu Henry und Scarlet. Die beiden nickten, Scarlet zögerlich. „Wir möchten nicht, dass du das Lager verlässt. Wir können es uns nicht leisten, dass du in deiner Wut eine Dummheit begehst!“, sagte Scarlet schließlich.

Mike funkelte sie wütend an.

„Ich hasse euch“, sagte er. Seine Stimme wurde von Tränen erstickt, dann lief er weg. „Mike!“, rief Chloe. „Lass ihn!“, beruhigte Scarlet sie. Mikey verkroch sich am Feuer unter seiner Decke. „Was ist passiert?“, fragte Eliza ihn irgendwann. Sie und Josy standen neben ihm. „Nicht so wichtig“, log er seine Schwester an.

Er konnte nichts dafür. Es war ihm einfach herausgerutscht. Er hatte sich so daran gewöhnt, Eliza nur nichts von seinen Problemen zu erzählen, sie nur nicht mit irgendetwas zu beunruhigen, während er doch noch vor wenigen Wochen den Anderen gesagt hatte, dass sie sich gegenseitig alles erzählen müssen.

Er hatte immer nur das Beste für sie gewollt, aber das war gewaltig schief gegangen. Er musste der Tatsache ins Auge sehen, dass er Eliza nicht beschützen konnte, dass sie mit ihm auf dieser Mission war, dass sie ein Teil ihrer Bande war, und dass sie in Gefahr war, wenn er in Gefahr war.

Und nur wenn sie wusste, was Sache war, konnte sie vorsichtig sein, darüber nachdenken und dementsprechend handeln. Nur dann konnte sie erwachsen werden, ungetrübt durch irgendwelche kindlichen Ängste ihre eigenen Entscheidungen treffen und groß und stark ihr eigenes Leben führen, so wie Mikey es sich für sie wünschte. Also rückte er jetzt doch mit der Wahrheit heraus.

„Nein, doch… Ich meine… Doch, es ist wichtig. Jasmyn hat Kira und Lia gefangen und jetzt weigern sich Chloe, Henry, Tim und Scarlet, ihnen zu helfen. Und das alles nur, weil sie meinen, dass sie es nicht riskieren können, das Leben der gesamten Bande aufs Spiel zu setzten, nur um Lia und Kira zu retten. Wir wissen nicht mal, ob sie noch leben und…“ Mikey verstummte und nahm Eliza in den Arm. „Und wenn wir es heimlich machen?“, fragte Eliza. „Mit wem? Nur du und ich? Und Josy?“ Mikey lachte bitter. „Außerdem haben sie mir verboten, das Lager zu verlassen!“, fügte er noch immer wütend hinzu.

Eliza setzte sich neben ihn und deckte ihn zu. „Bailey wird auch mitmachen!“, versprach sie zuversichtlich. Mikey schüttelte den Kopf. „Eliza, du bist acht, Josy ist fünf und Bailey ist zehn! Die Kinder dort… Das sind keine Kinder mehr! Jasmyn ist die Jüngste von denen! Und mit Abstand die Kleinste!“, fügte er hinzu.

Traurig setzte Eliza sich neben ihn ins Laub. Es zerriss Mikey innerlich, sie so betrübt zu sehen, doch er wusste, dass er die richtige Entscheidung gefällt hatte, ihr alles zu sagen. „Wir können es versuchen“, flüsterte sie und stupste Mikey an der Schulter an. Mikey schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Nein, das können wir nicht, Eliza.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bailey hatte natürlich mitbekommen, was passiert war, und dass Scarlet sich geweigert hatte, Lia und Kira zu helfen. „Scarlet, warum machst du das?“, fragte sie ihre Schwester bei erster Gelegenheit zornig. „Was meinst du?“, stellte Scarlet sich dumm. „Du weißt, was ich meine!“ Bailey schubst ihre Schwester wütend. „Warum hilfst du ihnen nicht? Du magst Kira doch auch! Du musst ihnen helfen!“ „Bailey, hör mir zu…“, begann Scarlet. „Nein, du hörst mir zu! Ich bin noch nicht fertig. Was soll das? Wieso hast du dich so verändert? Wo ist meine Schwester hin, die sich gegen jede Ungerechtigkeit gewehrt hat, und der niemand wichtiger war, als ihre Freunde und ihre Familie? Scarlet, was ist mit dir passiert?“, fragte Bailey ihre Schwester verzweifelt.
„Bailey, sei leise, damit niemand hört, was ich dir jetzt sage, ja?“, bat Scarlet. „Du darfst es Henry und Chloe nicht erzählen, denn eigentlich bin ich ihrer Meinung. Wir dürfen die Anderen nicht gefährden. Das würde ich nicht zulassen. Aber noch weniger könnte ich zulassen, dass Kira etwas passiert. Sie ist mir so wichtig geworden, wie du. Sie ist die große Schwester, die ich nicht hatte, verstehst du das?“ Scarlet setzte sich vor Bailey auf den Boden und auch Bailey setzte sich.

„Seit Dad abgehauen ist, war immer ich für alles verantwortlich. Dabei war ich erst acht. Das verstehst du, oder? Weißt du noch, wie ich dich immer geweckt habe, und dich in den Kindergarten gebracht habe? Und wie laut Dad immer geschrien hat, wenn wir ihn dabei geweckt haben?“ Bailey nickte. Sie konnte sich noch so gut daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. „Seither habe ich nie wieder jemandem so vertraut, wie ich es bei Kira tue. Ich hab endlich mal wieder das Gefühl, dass ich jemandem wichtig bin und dass mich jemand beschützt. Immer musste ich die Leute um mich herum beschützen – Mum und dich… Und jetzt…“ Scarlet schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht zulassen, dass Kira etwas passiert!“, sagte sie zu Bailey. „Ich werde etwas unternehmen, versprochen!“, sagte Scarlet. „Das hatte ich von Anfang an vor. Aber ich muss auf den richtigen Zeitpunkt warten. Und ein paar Leute um mich scharen, die mir helfen. Ich weiß nur nicht, wen.“

„Wie wär’s mit Tim?“, fragte Bailey. „Zu riskant. Ich weiß nicht, wie er zu Henry und Chloe steht. Vermutlich hat er es auch schon längst aufgegeben, eine Rettungsaktion zu planen“, antwortete Scarlet ihrer Schwester. Nervös und verzweifelt fuhr sie sich durch die Haare.

Bailey senkte den Kopf und dachte nach. Sie und Eliza und Josy würden keine große Hilfe sein, auch Conny und Quinn nicht, sie waren einfach zu jung, zu schwach und zu untrainiert. Aber wer würde ihnen sonst helfen? Bailey viel keine Lösung ein. Sie musste darauf vertrauen, dass ihre Schwester wusste, was sie tat und eine Lösung für ihre Probleme fand, so wie sie es schon früher immer getan hatte.

Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. „Komm“, sagte Scarlet und legte Bailey den Arm um die Schultern. „Lass uns jetzt schnell gehen, damit wir trocken bleiben!“ und dann rannten sie durch den Regen zurück zum Lager, so wie sie es früher immer getan hatten. Zurück nach Hause…

 

 

 

 

 

Das monotone Prasseln des Regens auf die Zeltplane und ließ Lia aufwachen. Ihr Kopf pochte und sie roch Blut. Hinter ihr saß Kira. Undeutlich sah Lia in der Dunkelheit die Konturen des Zeltes vor sich: Irgendwo konnte sie eine Kiste vor sich erkennen. Dann schien sie die Stelle zu sehen, wo ein Reißverschluss die beiden Enden der Zeltplane zusammenhielt.

Ansonsten war es stockdunkel im Zelt. Lia versuchte, sich zu bewegen, doch es ging nicht. Sie spürte den feuchten Waldboden, auf dem sie saß. In ihrem Rücken eine Zeltstange. Um ihre Handgelenke waren dicke Seile gebunden, die sie an die eiserne Zeltstange fesselten. Sie vermute, dass es Kira genauso ging.

Da sie wusste, wie ausweglos ihre Situation war, konnte sie nur darauf warten, dass Kira aufwachte. Vielleicht konnten sie gemeinsam einen Plan entwickeln, um von hier zu fliehen.

„Kira? Kira?“, flüsterte sie scharf. Kira bewegte sich nicht. Ihr Kopf ruhte auf Lias Schulter. Lia versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie mit Tim losgezogen waren, um Jasmyn auszuspionieren. Irgendetwas zwischen dieser Erinnerung und dem hier und jetzt musste etwas schief gelaufen sein. Lia versuchte, sich zu erinnern. Sie erinnerte sich daran, dass sie einen Stoß in den Rücken bekommen hatte… Sie hörte Kira überrascht schreien… Und kurz darauf waren sie hier gewesen. Nein, da fehlte noch etwas…

Sie war aufgesprungen und hatte sich Jasmyn gestellt. Dabei hatte diese sie an der Wange verletzt. Daher kam der pochende Schmerz. Aber was war dann passiert? Warum tat ihr Kopf weh?

Irgendwann wusste Lia wieder, dass ein kräftiger Junge sie festgehalten hatte. Sie hörte Kira in ihrer heraufbeschworenen Erinnerung noch einmal schreien. Dann erinnerte sie sich daran, dass Tim sie nicht im Stich lassen wollte. Wie sie ihn angeschrien hatte, damit er weglief…Dann hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen. Jetzt wusste sie wieder alles.

„Lia?“, flüsterte Kira schwach. „Bist du wach?“, fragte sie. Lia nickte. „Ja.“ „Was ist… passiert?“ „Ich weiß nicht genau. Tim ist weggerannt. Ich glaube, sie haben ihn nicht gekriegt. Aber uns…“ Sie verstummte. „Hast du auch solche Kopfschmerzen?“ Sie spürte, dass Kira nickte. „Was sollen wir tun? Wir müssen hier weg, aber wie?“, fragte Kira sie. „Ich hatte gehofft, du hättest eine Idee!“, gab Lia zu.

Kira schwieg.

„Nein. Mir fällt nichts ein…“, sagte Kira langsam. Lia befürchtete, dass sie beide eine Gehirnerschütterung hatten. Ihr war schlecht und sie fixierte den Boden zwischen ihren Beinen, der sich zu drehen schien.

„Ich hab Durst“, murmelte Kira. „Ich auch!“, sagte Lia und verzog das Gesicht. Am meisten machte es Lia zu schaffen, dass ihre Augen sich nur langsam an die Dunkelheit um sie herum gewöhnten. Sie konnte noch immer kaum etwas sehen.

„Siehst du was?“, fragte sie Kira. „Vor mir steht ein Stuhl. Und daneben liegt etwas auf dem Boden, aber ich kann nicht erkennen, was es ist. Wahrscheinlich ein Messer, oder so etwas in der Art.“

Lia wurde hellhörig. „Ein Messer?“, hakte sie nach. „Ja, ich glaube, das könnte es sein.“ „Kommst du ran?“, fragte sie aufgeregt. „Ich kann es versuchen!“ Sie merkte, wie sich Kira hinter ihr streckte und versuchte, mit den Fußspitzen an das Messer zu kommen.

„Unmöglich. Es liegt mindestens drei Schritte von mir weg, auch wenn ich mich noch so sehr strecke! Ich komm nicht ran!“ In ihrer Stimme klang Verzweiflung mit. Auch Lia fühlte sich plötzlich so hilflos, dass sie am liebsten losgeheult hätte, aber sie wusste, dass sie jetzt keine Schwäche zeigen durfte. Sie musste jetzt stark sein. Doch dann erinnerte sie sich an Mikeys Worte.

„Ich hab Angst“, flüsterte sie so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob Kira es gehört hatte. Ob sie es überhaupt gehört haben konnte, denn einen Moment lang war Lia sich selbst nicht sicher, ob sie überhaupt etwas gesagt, oder nur die Lippen bewegt hatte. „Ich auch“, antwortete Kira jedoch schließlich.

In dem Moment wurde die Zeltplane zurückgeschlagen und Jasmyn kam in Begleitung zweier Jungs herein.

Lia musterte die Jungs eine Sekunde, dann wandte sie sich Jasmyn zu, um etwas zu sagen, doch bevor sie etwas tun konnte, redete Jasmyn schon los. „Ach, ihr seid ja wach. Na ein Glück, ich hatte schon gedacht, dass Dylan zu hart zugeschlagen hat!“ Sie lachte bösartig und Lia lief ein Schauer über den Rücken. „Wäre das so schlimm gewesen?“ fragte Kira sie. „Du willst uns doch sowieso tot sehen, oder?“

Jasmyn verstummte. „Na ja, genaugenommen stimmt das, aber nicht ganz. Was glaubt ihr denn, was ich nun damit erreichen werde, wenn ich euch zwei töte? Ihr habt einen Haufen Kinder um euch geschart, die euch rächen würden, und damit würde ich wahrscheinlich erst recht die Rebellion anstacheln. Nein, das wäre wirklich nicht gut. Ich würde eine Lawine lostreten!“ Sie lächelte abfällig und schüttelte den Kopf.

„Außerdem besitzt ihr beide zwei Dinge, die ich brauche!“ Jasmyn kniete sich vor Lia und grinste sie an. „Und das wäre?“, fragte Lia und versuchte, so großspurig und überheblich zu klingen wie möglich. „Nun, Nummer eins: Natürlich Informationen. Informationen über euren genauen Lagerort, eure Waffen und so weiter, Verteidigungsstrategien. Ihr wisst schon. Das übliche!“, sagte Jasmyn mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Ha, und du denkst, die kannst du aus uns herauskitzeln?“, fragte Lia verächtlich. Jasmyn beugte sich weiter vor, bis ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Lias entfernt war. Die Luft zwischen ihnen erwärmte sich von ihrem Atem und ihrer Körperwärme. „Nein, das denke ich nicht. Ich weiß es.“

Jasmyn stand auf. „Was das Zweite angeht… Da muss ich weiter ausholen, damit ihr es versteht. Kira Mathlock, weißt du noch, wie abweisend du anfangs zu uns allen warst? Wir waren alle abweisend zueinander, aber du ganz besonders. Das machte dich… nun ja, geheimnisvoll. Stark. Es gab eine lange Zeit – eigentlich war dieses Gefühl immer da – da war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt jemals das Mädchen kennen lernen würde, das du wirklich warst. Wenn es jemanden gab, von dem ich mir sicher war, er wäre der perfekte Anführer, dann warst du das. Ich habe es dir ja damals schon gesagt: Du warst gefährlich.

Lia Sylvane, als du zu der Mission aufgebrochen bist, um mit mir, Jannis und Josy Mathlock, Bareen und die beiden Jovins-Kinder zu finden, wusste ich sofort, dass du… anders warst. Ich hatte bei dir genau dasselbe Gefühl, wie bei Kira. Ihr seid beide irgendwie…“ Jasmyn machte eine kurze Pause und sah Lia in die Augen. „Ihr seid anders. Und das bringt die Kinder dazu, euch zu folgen. Sie würden alles tun, was immer ihr ihnen sagt. Dieses Verhalten bringt euch grenzenlose Loyalität ein!“ Wieder machte Jasmyn eine kurze Pause. „Daher habe ich beschlossen, euch beide als Köder einzusetzen, um eure Aufstände ein für alle mal zu zerschlagen!“, beendete sie ihre Rede mit einem Lächeln.

Dann betrachtete sie eine Zeit lang ihre Fingernägel. „Was glaubt ihr – ihr kennt eure Leute schließlich am besten – wie lange wird es dauern, bis sie hier aufmarschieren und wir sie alle vernichten könne?“, fragte sie und schaute kurz zu ihnen, nur um dann weiter ihre rund gefeilten Fingernägel zu betrachten. Lia und Kira sahen sich verzweifelt an, was gar nicht so einfach war, da sie sich mit den Schultern berührten und kaum bewegen konnten.

Als sie keine Antwort gaben, zog Jasmyn den Stuhl näher an sie heran. „Zum Glück können wir uns die Zeit solange mit einem kleinen Frage-Antwort-Spiel vertreiben. Also, wer will anfangen und mir etwas über eure kleine Kinderbande erzählen?“, fragte sie, während sie sich setzte und den Kopf in die Hände stützte. Lia und Kira sahen sich wieder an, doch keiner von ihnen antwortete. Jasmyn stand auf. „Ist mir auch egal, irgendwann werdet ihr mit der Sprache herausrücken. Wir haben unsere Methoden, um Leute wie euch zum Reden zu bringen!“ Sie schnippte den Jungs zu und verließ mit ihnen das Zelt.

„Spätestens der Hunger wird euch zum Reden bringen!“, sagte sie und steckte den Kopf noch einmal ins Zelt. Lia beobachtete sie. Sie zwinkerte ihnen zu und verschwand. Lia ließ die Schultern hängen. „Also, in einem Punkt hat sie unrecht: Sie kann uns nicht verhungern lassen, wenn wir wirklich so wichtig sind!“ „Du vergisst da was!“, warf Kira ein. „Sie braucht nur einen von uns!“

Lia drehte den Kopf zu ihr zurück. „Aber sie braucht uns!“ „Aber sie braucht uns“, stimmte Kira ihr zu.

Es entstand eine Pause. „Ich will nach Hause!“, sagte Kira. „Welches zu Hause?“ Lias Frage klang spitzer als beabsichtigt. „Zu Tim, und Scarlet und Henry. Mikey. Eliza. Josy. Chloe, und Connor, und Oliver und all die Anderen!“, sagte Kira leise. „Diese zu Hause! Das ist mein einziges zu Hause.“ Lia sah auf den Boden. „Vielleicht kann ich mich befreien!“, murmelte Kira. „Wenn… Keine Ahnung, vielleicht kann ich mir ja die Daumen brechen, oder so, und dann…“ Sie verstummte. Dann begann sie an den Fesseln zu zerren. Plötzlich stieß sie einen spitzen Schmerzensschrei aus. „Alles okay?“, fragte Lia sie. „Ja, ich… hab mir nur weh getan.“ Sie seufzte. „Das klappt so nicht.“

Lias Augen hatten sich inzwischen etwas an das Licht gewöhnt, doch sie konnte noch immer nicht mehr sehen, als die Holzkiste und den Eingang des Zeltes.

„Ich weiß nicht, was ich hoffen soll. Dass die Anderen uns befreien, oder dass sie bleiben wo sie sind!“ Sie sah verzweifelt an die Decke des Zeltes, wo eine Spinne eifrig ein Netz spannte.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in einer Situation sein würde, in der ich mir wünschen würde, ich wäre tot. Aber ich glaube, das wäre das Beste für uns alle. Dann müssten sie nicht kommen… Und wir müssten das hier nicht ertragen!“, wisperte Lia.

 

 

 

 

 

 

Mikey hatte sich unter der Decke verkrochen, doch sie hielt den Regen nicht ab. Sie hatten einstimmig beschlossen, dass Eliza, Josy, Bailey und Quinn sich unter den Wurzeln des umgefallenen Baumes verstecken sollten, da diese einen notdürftigen Schutz vor den Wassermassen, die vom Himmel regneten, boten.

Mikey fror bis auf die Knochen, die Regentropfen durchweichten die Decke und drangen durch seine Kleidung.

Etwas Gutes hatte der Regen: Mike konnte jetzt endlich alleine und in aller Ruhe nachdenken. Er wusste, dass er Kira retten musste, und Lia, aber er wollte niemanden sonst in Gefahr bringen.

Er war sich sicher, dass es fast unmöglich war, seinen Wunsch, Lia und Kira zu retten, in die Tat umzusetzen, doch er wollte auf keinen Fall Eliza gefährden. Sie hatte schon zu viel durchgemacht für ihr Alter und es war auf jeden Fall seine Aufgabe, sie zu beschützen. Er war schließlich ihr großer Bruder und er würde es nie wieder riskieren, dass ihr jemand weh tun würde. Nie, nie wieder.

Er wusste, dass Eliza nichts von seinem Vorhaben erfahren durfte, und auch Tim nicht, denn der schien Kira und Lia bereits aufgegeben zu haben, ebenso wie Henry, Chloe und Scarlet. Auf ihre Hilfe konnte er nicht hoffen. Es machte Mikey wütend, wie schnell Tim seine beste Freundin aufgab, vor allem, wenn man bedachte, in welcher Gefahr Lia und Kira sich befanden.

Mikey wusste, dass er, sollte sein Plan Erfolg haben, ihn so schnell wie möglich in die Tat umsetzen müsste.

Doch dazu müsste er erst einmal eine Idee bekommen.

Die Decke schützte ihn nicht und er konnte schlecht darunter atmen. Gerade, als er sie weg schlagen wollte, hörte er sachte etwas neben sich zu Boden fallen. Einen Moment lang wagte er nicht, sich zu rühren, doch dann siegte seine Neugier. Er fand einen feuchten, durchweichten Zettel und versuchte ihn aufzufalten, ohne ihn zu sehr zu beschädigen. Sein Blick schnellte auf der Suche nach dem Verfasser der Nachricht durch die Umgebung. Er sah, wie Tim ihm kurz zulächelte und sich dann unter seiner Decke versteckte, so, als wäre er nie da gewesen.

Mikey sah auf das nasse Stück Papier, das sich in seiner Hand aufzulösen begann.

Er konnte die Worte gerade noch lesen, bevor der Platzregen die Tinte verlaufen ließ:

 

Morgen beginnt die Jagd auf Jasmyn!

 

 

 

 

 

 

Ich zerrte wütend an meinen Fesseln. Immer, immer wütender. „Gib’s auf!“, sagte Lia schließlich. „Du verletzt dich nur.“

„Nein! Ich weigere mich, jetzt aufzugeben!“, schrie ich so laut, dass Lia zusammenzuckte. Ich riss immer weiter an dem dünnen Seil um meine Handgelenke. Immer weiter, immer wütender. Meine Wut war das einzige, was ich noch spürte. Das warme Blut, das mir aus den frischen Wunden an den Handgelenken herab lief, die das einschneidende dünne Seil hinterlassen hatte, dasselbe warme Blut, das irgendwann von meinen Fingern tropfte, ignorierte ich weitgehend. Wieder schrie ich wütend. Wenn es sein musste, würde ich so lange schreien, bis Jasmyn auftauchte und ich ihr mit einem gezielten Tritt alle Rippen brechen könnte, was ich in meiner Wut zweifellos tun würde.

Die Frage war nur, ob sie sich blicken ließ, wenn ja, ob sie nahe genug herankommen würde, damit ich nach ihr treten konnte, und wenn sie das auch tun würde, ob sie dann etwas anderes für mich übrig hätte, als niederträchtige Worte oder Schläge, von denen ich und Lia in den letzten Stunden genug bekommen hatten.

Als Jasmyn und die Jungs, die sie ständig begleiteten, merkten, dass aus uns nichts herauszubekommen war, hatte der kleinere der Beiden, Scott, diese Methode vorgeschlagen.

Meine Wangen brannten, die linke stärker als die rechte, da ich dort eine Ohrfeige von Dylan, dem größeren der Jungen, abbekommen hatte.

Lia jedoch war viel schlimmer dran. Sie hatte sowohl einen Tritt als auch einen Faustschlag in die Rippen bekommen und jemand hatte ihr ins Gesicht getreten. An ihrer Nase klebte getrocknetes Blut.

Ich konnte verstehen, warum sie aufgab. Ich hätte das wahrscheinlich an ihrer Stelle genauso getan, aus Angst, was passieren würde, sollte ich mich Jasmyn weiterhin widersetzen. Doch ich war nicht gewillt, aufzugeben und Jasmyn gewinnen zu lassen. Es brauchte länger, um meinen Willen zu brechen. Vielleicht war Lia auch einfach nur ein bisschen benommen, denn ich hatte sie immer als sehr stark angesehen und konnte mir nicht vorstellen, dass ihr die paar Tritte und Schläge den Willen raubten, gegen Jasmyn anzukämpfen.

„Ich werde nicht aufgeben!“, sagte ich langsam, eher zu mir selbst, als zu Lia. „Ich gebe nicht auf! Nicht jetzt! Nicht jetzt!“ Ich schrie vor Schmerz und Wut über meine missliche Lage. Ich konnte den Schmerz in meinen Handgelenken nicht länger ertragen, daher schlug ich jetzt den Kopf dreimal heftig gegen die Zeltstange, an die wir gefesselt waren.

Mir rannen warme Tränen über die Wangen, am Hals entlang, bis sie den Stoff meines Hemdes erreichten und davon aufgesogen wurden. Ich trug nur ein dünnes Hemd, es wärmte kaum und die Luft um mich herum war eiskalt. Zwar hielt das Zelt den Wind ab, doch obwohl der Eingang gut verschlossen war und kein Lichtstrahl von draußen hereindrang, hatte man das Gefühl, in einer Wüste aus Schnee und Eis zu sitzen, so kalt war es.

Vielleicht lag es an der kühlen Stimmung zwischen Lia und mir – wir redeten kaum mehr als ein paar nötigste Worte miteinander, obwohl wir uns jetzt doch eigentlich so viel zu sagen hätten. Ich hätte ihr gern gesagt, wie Leid mir das alles tat – schließlich war ich es gewesen, die ihre Neugier nicht hatte zügeln können, und den Abhang hinabgestürzt war und sie mit sich gerissen hatte – nur zu gern hätte ich ihr gesagt, dass mir auch mein Verhalten nach Jannis’ Tod leidtat. Dass ich nur so verängstigt und verwirrt war, ich sie niemals so geschlagen und angeschrien hätte, wenn ich richtig bei mir gewesen wäre.

Doch ich konnte einfach nicht vergessen, dass Jannis für mich gestorben war. Kein Leben ist mehr wert als ein anderes. Wer entscheidet schon, ob ein Mensch stirbt, oder nicht? Der Pfeil hätte mich treffen sollen, Jasmyn hatte ihn auf mich gerichtet. Wenn Jannis nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt tot. Vielleicht wäre das besser gewesen, doch wäre dann vielleicht Jannis losgelaufen, mit Tim und den anderen im Schlepptau, um mich zu rächen? Oder hätte Lia ihn gebeten, mit ihr Jasmyn auszuspionieren? Selbst wenn sie es getan hätte, Jannis wäre nie so unvorsichtig gewesen und wäre das Risiko eingegangen, zu stürzten.

Sie wären nicht geschnappt worden. Doch auch ich hatte in den letzten Tagen mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, einfach loszulaufen, um Jasmyn ein für alle mal zu töten und sie für den Tod meines besten Freundes zu Rechenschaft zu ziehen.

Doch immer hatte mich etwas zurückgehalten: Lias Argumente, dass ich noch nicht stark genug war, um gegen Jasmyn zu kämpfen, die sich als richtig erwiesen hatten, wie man nun sah.

Tims flehende Blicke, sollten Lias Argumente nicht gereicht haben.

Oder Joshuas harte Schläge in meinen Magen, sollten auch Tims Blicke nichts bewirkt hatten. Nach Joshuas Schlägen hatte ich mich dann immer so miserable gefühlt, dass ich es selbst unter Aufbietung meiner gesamten Willenskraft nicht geschafft hätte, den Weg von unserem Lagerplatz bis hierher zu bewältigen, geschweige denn, gegen jemanden zu kämpfen und als Sieger hervorzugehen, erst recht nicht gegen Jasmyn.

Hätte Jannis sich davon zurückhalten lassen? Oder wären Lias Argumente an ihm abgeprallt, wie an einer Mauer aus Stein und Eis, unbezwingbar, wie er für mich immer gewesen war, obwohl er noch so jung war? Wer hätte ihn gebeten, zu bleiben? Tim? Josy? Mike? Wer hätte es geschafft, ihn so übel zuzurichten, dass er es nicht mehr geschafft hätte, gegen Jasmyn zu kämpfen? Joshua ganz sicher nicht. Er war so stark gewesen…

Bei dem Gedanken an ihn, musste ich jetzt richtig heulen. Ich zog die Knie heran und ließ den Kopf darauf sinken, ignorierte den Schmerz in meinen Handgelenken weiterhin und ließ die Tränen auf meine Knie tropfen.

 

 

Einige Zeit später kam Jasmyn herein, diesmal begleiteten sie ein Mädchen mit dunkelblonder Lockenmähne und – Finn.

Bei seinem Anblick tickte ich vollkommen aus. „Ich hab dir vertraut, Bareen!“, schrie ich ihn an. „Ich hab dir vertraut! Und du hast zugelassen, dass sie ihn tötet! Du bist schuld daran! Ich hasse dich!“ Finn sah mich teilnahmslos an. Sein Blick ließ meinen Widerstand und Hass verschwinden und ich fühlte mich nur noch klein und schutzlos. Er erinnerte mich nur wieder daran, wie machtlos ich wirklich war. Ein weiterer Freund, den ich nicht vor seinem Schicksal retten konnte.

Aber dann verscheuchte ich den Gedanken. Ich war nicht Schuld daran, dass Finn gefangen genommen wurde. Es war sein Plan gewesen. Er selbst hatte beschlossen, so lange zu warten, bis alle anderen weg waren. Er selbst hatte beschlossen, sich auf Jasmyns Seite zu schlagen.

Der zweite Punkt ließ mich stutzen. Er hatte wirklich die größte Gefahr auf sich genommen, um uns andere in Sicherheit zu bringen. Niemand hatte ihn dazu gezwungen, als Letzter zu fliehen. Und er hatte niemanden gebeten, ihm zu helfen, als er geschnappt wurde. Im Gegenteil. Ich erinnerte mich daran, wie er mich angeschrien hatte, damit ich floh. So wie ich und Lia Tim angeschrien hatten. Er hatte es getan, um uns zu beschützen, bis zum letzten Moment hatte er versucht, uns zu retten, so wie Lia und ich es bei Tim versucht hatten. Und doch stand er jetzt vor mir und – ich konnte nicht anders, ich hasste ihn. Abgrundtief. Hätte ich ihn doch nur getötet, als ich die Gelegenheit dazu hatte.

Ich versuchte, seine Situation zu ignorieren, doch mein Gewissen sagte mir, dass er hier der einzige war, der wirklich gefangen war. Gefangen zwischen zwei Fronten, zwischen seinen Freunden, gegen die er nun kämpfen musste, und seinen früheren Feinden, für die er nun sterben sollte. Und doch hatte er es so gewollt. Er hatte es mir sogar gesagt…

„Weißt du, all die Zeit habe ich mir überlegt, ob es so schlimm wäre, einfach wieder zurückzugehen. Jasmyn hatte ihre Mission, genauso wie wir eine hatten. Was hat uns groß von ihr unterschieden?“

Ich schauderte. Im Grunde genommen waren wir nur ein paar verängstigte, hungernde Kinder, die von ihren Befehlsgebern darauf angesetzt wurden, sich gegenseitig umzubringen. Wir hatten zuvor keinerlei Grund gehabt, uns zu bekämpfen. Den einzigen Grund, hatten unsere Auftraggeber erschaffen. Sie waren die, die es zu bekämpfen galt, nicht wir.

„Ihr seid schuld daran, dass wir uns hier jetzt alle umbringen müssen.“

Das hatte er gesagt. Einen Moment lang war ich verwirrt. Diese Schuldfrage… Wie lange trug ich sie schon mit mir herum? Ich wusste es nicht. Ging es denn darum, wer Schuld hatte, um das, was richtig war und was falsch? Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr.

Erst Jasmyns stimme brachte mich zurück in die Wirklichkeit. „Habt ihr uns vielleicht inzwischen etwas zu sagen?“, fragte sie Lia und mich. Lia und ich warfen uns wieder verzweifelte Blicke zu. „Finn!“ Jasmyn lenkte ihn mit den Augen in meine Richtung. Er zückte ein Messer und kam auf mich zu. Er schob den Ärmel meines Hemdes hoch. „Seit ihr sicher, dass ihr uns nichts zu sagen habt?“, fragte Jasmyn noch einmal. Mein Puls beschleunigte sich, doch ich antwortete nicht. Hier ging es nicht mehr um mich. Hier ging es um mehr. Jasmyn wartete eine Zeit lang, dann zuckte sie mit den Schultern. „Wie ihr meint!“

Ich schrie erschrocken auf, als sich die kalte Klinge ins Fleisch meines Oberarms bohrte. „Lasst sie in Ruhe!“, hörte ich Lia hinter mir schreien. „Hört auf damit!“ Ich wollte Finn in die Rippen treten, doch er wich schnell zurück und mein Tritt ging ins Leere. „Überlegt euch, was ihr wisst!“, sagte Jasmyn leise. „Bei unserem nächsten Besuch, wollen wir eine Antwort!“ Dann verschwand sie mit ihren Begleitern aus dem Zelt. Kurz bevor Finn ganz verschwand, fing ich seinen Blick auf, doch ich wurde nicht schlau aus ihm. Ich hatte das Gefühl, alles sei ihm plötzlich gleichgültig geworden. Resigniert… „Vielleicht ist das ja so…“, dachte ich. „Wenn man sich immer für Leute aufopfert und so wenig zurückbekommt. Aber was hätte ich schon tun sollen?“, versuchte ich dann die Schuld von mir zu schieben. Das war es ja. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß überhaupt nichts.“ Mein Kopf fühlte sich so leer an, wie selten.

In dieser Nacht träumte ich viel. Von Jannis, der sich vor mich warf, als Jasmyn den Pfeil losließ, von Tim, der mich verzweifelt anschaute, während ich ihm zu schrie, er solle weglaufen – und von Finn. Von Finns letztem Blick, als der Trainier ihn festhielt. Wie sich unsere Blicke trafen, so wie sie sich auch an diesem vergangen Tag getroffen hatten. Und wie er dann los schrie, wir sollten abhauen. Ich sah mich selbst in meinem Traum, wie ich ihm einen letzten verzweifelten Blick zuwarf und dann davonlief. Und sogar im Schlaf kam ich mir so unglaublich feige vor, dass mir schlecht wurde.

 

 

 

 

 

Eliza hatte schon lange, sehr, sehr lange nicht mehr so schlecht geschlafen. Das letzte Mal musste es wohl die Nach gewesen sein, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Sie hatte das Gefühl, dass die Situationen relativ gleich waren, denn wer wusste schon, ob Lia und Kira noch am Leben waren?

Eliza konnte und wollte einfach nicht verstehen, warum ihr Bruder ihnen nicht helfen wollte. Sie jedenfalls würde es versuchen, auch wenn sie wusste, dass ihr ein bestenfalls gewagtes, wenn nicht sogar unmögliches oder vollkommen verrücktes Unternehmen bevorstand.

Sie stand leise auf, um die anderen Kinder nicht zu wecken. Die meisten schliefen noch, jedoch nicht alle. Sie hoffte, dass alle wichtigeres zu tun hatten, als sie zu beobachten und darauf aufzupassen, dass sie sich nicht wegschlich. Immerhin war Mikey der Hauptverdächtige, wenn es darum ging, sich davonzuschleichen, also hoffte sie, dass sie ihn im Auge behalten würden, und nicht sie. Sie schlich zu ihrem Rucksack, kramte etwas darin herum und zog schließlich ein langes, dünnes Messer heraus.

Dann sah sie sich um. Sie konnte nur Wendy entdecken, die in einiger Entfernung am Feuer saß und in die Flammen sah.

Die morgendliche Dunkelheit nutzend, schlich sich Eliza durchs Lager, um niemanden zu wecken. Die ganze Zeit behielt sie dabei Wendy im Auge. Als sie sich sicher war, dass das Mädchen sie nicht sehen würde, sprintete sie los. Keine fünf Schritte später wurde sie zu Boden geworfen und jemand packte die Hand, in der sie das Messer hielt. „Ach nee, du und ein Messer gegen Jasmyn, oder was?“, fragte Mikey. „Lass es fallen!“

Der Druck auf ihr Handgelenk verstärkte sich, bis Eliza notgedrungen das Messer fallen lassen musste. „Ihr wollt ihnen ja nicht helfen, also muss ich es tun!“, rief sie, mit Tränen in den Augen. „Sei still!“, fuhr Mikey sie an. Erschrocken schwieg Eliza. „Wenn du absolut nicht nachgeben kannst, komm mit! Wir sind nämlich keinesfalls untätig gewesen!“, zischte Mikey seine kleiner Schwester an. Eliza nickte und erhob sich. Dann ging sie hinter Mikey her.

Sie bemerkte, dass Mikey sich genau umsah, bevor er ihr den Befehl gab, so schnell sie konnte hinter ihm herzurennen.

Fast fünf Minuten liefen sie so schnell sie konnten durch den Wald, dann erreichten sie den Bach. Mikey pfiff zweimal, dann tauchte Tim auf. „Was macht die denn hier?“, flüstere er, doch seine Stimme hörte sich wütend an. „Sie wollte einen Alleingang starten und das konnte ich nicht zulassen!“, erklärte Mikey. „Immerhin ist sie meine kleine Schwester. Außerdem denke ich, kann es ganz praktisch sein, jemanden zu haben, der über unsere Pläne bescheid weiß, aber nicht am Geschehen beteiligt sein wird!“ „Welchen Plan? Was habt ihr vor?“, fragte Eliza sie. Mikey und Tim übergingen sie jedoch vollkommen.

„Wie viele kommen noch?“, fragte Mikey. „Vielleicht drei, vielleicht zehn! Ich weiß es nicht so genau!“, sagte Tim. „Ich hab ihnen gesagt, sie sollen dafür sorgen, dass unter gar keinen Umständen Henry, Scarlet und Chloe davon Wind kriegen!“

„Wovon Wind kriegen?“, fragte Eliza wieder. „Wir starten eine Befreiungsaktion. Nur, dass wir diesmal nicht das Ziel verfolgen, sie zu töten, sondern Lia und Kira da rauszuholen, also wird nur ein Teil von uns gegen Jasmyn und ihre Leute kämpfen, der Rest sucht Lia und Kira.“ Eliza nickte, gespannt, was Mikey ihr noch erzählen würde, doch ihr Bruder schwieg.

„Und was habt ihr jetzt vor?“, fragte Eliza unsicher. „Jetzt werden wir warten.“ Es dauerte lange, bis Kyle sich blicken ließ, in Begleitung von Thomas und Jordan.

„Wisst ihr, ob noch jemand kommt?“, fragte Mikey die drei. „Das will ich doch hoffen!“, erklärte Jordan. Sie warteten noch lange, sehr, sehr lange, bis Billie und Bryan auftauchten. „Oh, super, dann sind wir ja schon zu siebt!“, sagte Thomas sarkastisch. Dann wandte er sich an Tim. „Wir sind zu wenige, um das zu schaffen!“ „Wieso? Mehr als zwei werden wir nicht brauchen, um Lia und Kira zu befreien, und außerdem…“ In dem Moment tauchte Joshua auf. „Machst du auch mit?“, fragte Eliza ihn.

„Klar! Wenn hier jemand etwas plant, bin ich dabei!“, sagte er und lächelte. Eliza sah sich um. Allesamt sahen sie entschlossen aus, schienen jedoch trotzdem sehr unsicher zu sein. „Ihr kennt den Plan. Also, wann legen wir los?“, fragte Mikey sie im Flüsterton. „Wir brauchen Zeit, um uns vorzubereiten. Wenn plötzlich auf einmal alle Waffen verschwinden, kommen sie sofort hinter unseren Plan!“, sagte Tim. Joshua nickte. „Die drei sind zurzeit sehr aufmerksam. Ich bin fast nicht weggekommen. Sie haben mich richtig verhört!“ Dabei lachte er.

„Und was hast du ihnen erzählt?“, fragte Mikey angespannt. „Dass ich ein bisschen Bewegung brauche!“ Mikey nickte, sichtlich erleichtert. „Gut. Sehr gut. Also, wann glaubt ihr, haben wir alles erledigt?“, fragte er dann in die Runde. Die Kinder sahen sich etwas ratlos an. „Schätze, eine Woche brauchen wir schon, bis wir alles zusammengeschafft haben!“, sagte Joshua, nachdem er und Kyle einen abschätzenden Blick getauscht hatten. Eliza sah fast, wie Mikey das Herz in die Hose rutschte. „Das dauert zu lange!“, widersprach ihr Bruder.

Billie nickte. „Mikey hat recht, Wir müssen das in den nächsten drei Tagen schaffen!“ „Kriegt ihr das hin?“, fragte Tim. Joshua, Jordan, Thomas, Bryan und Kyle sahen sich an. „Wir versuchen es!“, sagte Joshua. „Also, ihr lasst jeden Tag etwas verschwinden – ein Messer, einen Bogen, ein Kettenhemd, irgendwas!“, erklärte Mikey. „Dann dürften wir bis in drei Tagen alles zusammen haben.“

„Ich werde euch in der Nacht vor dem dritten Tag wecken, dann geht’s los, okay?“, sagte Tim. „Wir müssen aber leise sein, damit wir niemanden wecken, denn dann haben wir keine Ausrede!“

„Und was mache ich?“, fragte Eliza die Jungs und Billie. „Du bleibst hier und wenn etwas schiefgehen sollte, alarmierst du Henry, Chloe und Scarlet!“, befahl Mikey.

„Wenn wir spätestens am selben Abend nicht zurück sind, dann weißt du, dass etwas passiert ist! Dann alarmiere den Rest, okay Eliza?“ Eliza schwieg. Die Anderen um sie herum starrten sie mit durchdringenden Blicken an, unter denen sie das Gefühl hatte, zu schrumpfen.

Die Kinder schienen ihr zu vertrauen, auch wenn sie nicht wollten, dass Eliza mitkam, was sie sehr gut verstehen konnte. Sie war schließlich, egal was sie tat, jünger und schwächer als die anderen Kinder um sie herum. Doch trotzdem packte sie Wut, wenn sie daran dachte, dass sie hier untätig herumsitzen müsste, während sie wusste, in welcher Gefahr sich die Kinder befanden, was die Anderen um sie herum nun zu merken schienen und sie zweifelnd ansahen.

„Können wir uns auf dich verlassen?“, fragte Kyle sie. „Ja, könnte ihr!“, murmelte sie nach einer langen Pause.

 

 

 

 

Bailey traute sich nicht, mit Eliza über die Sache zu reden, denn Eliza hatte in der letzten Zeit viel geweint, und es ging ihr nicht gut. Bailey wollte nicht, dass es ihr wieder schlecht ging, denn sie konnte sich natürlich denken, dass auch für Eliza sowohl Kira als auch Lia sehr wichtig geworden waren. Schließlich hatten sie schon ein halbes Jahr länger als Bailey miteinander ums Überleben gekämpft.

So etwas konnte sie nicht kalt lassen.

Daher mied Bailey dieses Thema weitgehend, wenn sie mit Eliza zusammen war. Sie schossen auch nicht mehr um die Wette, und warfen keine Messer mehr – beides hätte sie zu sehr an Kira und Lia erinnert. Stattdessen liefen sie stundenlang schweigend nebeneinander her, kreuz und quer durch den Wald. Hin und wieder war auch Josy bei ihnen, doch auch dann vermieden sie längere Wortwechsel, um nicht in die Verlegenheit einer unpassenden Gesprächsituation oder einer langen Gesprächspause zu kommen.

So kam es, dass sie oft lange Zeit einfach nur nebeneinander saßen wie Hühner auf der Stange und nichts sagten. Hätte sie ein Außenstehender dabei beobachtet, hätte der wohl gesagt, die drei Mädchen würden über irgendeine mentale Ebene miteinander kommunizieren, doch in Wirklichkeit waren sie sich nur körperlich nahe, im Geist jedoch so weit voneinander entfernt, wie selten. Zwar fühlte jede den Schmerz und die Wut der anderen, doch sie hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach.

 

 

 

 

 

 

 

„Ich weiß, dass ich rankomme! Das schwör ich dir! Wenn ich mich nur weiter strecken könnte…! Ich weiß es…“ Kiras Stimme nahm einen verzweifelten Ton an. „Vergiss es, du kannst nichts dafür. Wir müssen einfach warten, bis sie eine Dummheit begehen!“, versuchte Lia sie zu trösten. „Aber ich komm an das Messer ran! Das weiß ich genau!“ Lia merkte, wie Kira sich wieder streckte und versuchte, mit dem Fuß an das Messer auf dem Boden heranzukommen. „Es fehlt nur noch ein halber Meter! Wirklich!“ Lia hatte schon längst aufgegeben, Kira zu erklären, dass ein halber Meter sehr viel war, was ihre momentane Situation anbetraf. Und ein halber Meter war nun mal ein halber Meter zuviel, wenn Kira versuchte, an ein Messer heranzukommen.

Lia seufzte und sackte in sich zusammen.

Die letzten Tage oder Stunden oder was auch immer, waren der Horror gewesen. Am meisten machte Lia es noch immer fertig, dass es immer stockdunkel war. Sie konnten kaum etwas sehen, und die Tageszeiten erkennen, das konnten sie erst recht nicht. Es konnte also sein, dass sie hier schon viele Wochen gefangen waren, oder erst seit wenigen Stunden.

Die meiste Zeit hatte Lia versucht, zu schlafen, um den gleißenden Schmerz in ihrem Kopf und die dumpfe Wut über ihre Machtlosigkeit zu vergessen, doch sie war oft genug wach gewesen, um mitzubekommen, dass Jasmyn nicht einfach aufgeben würde. Sie würde genauso weiter machen, bis Lia und Kira ihr ihren genauen Lagerort und die Anzahl ihrer Bandenmitglieder verraten hatten. Und außerdem schien Jasmyn noch immer zu hoffen, dass die anderen Kinder versuchen würden, ihre Anführer zu befreien.

Hinter Lia streckte sich Kira immer noch in einem verzweifelten Versuch, an das Messer heranzukommen. Lia konnte fühlen, wie sich das Seil um Kiras Handgelenke so straff zog, dass es nicht angenehm sein konnte, also versuchte sie Kira zu stoppen, damit sie sich nicht das Blut abschnürte oder sich anderweitig verletzte.

„Kira, hör auf! Du tust dir noch weh!“ Kira stieß einen verzweifelten Laut aus und sank zusammen.

Lias Blick wanderte wie so oft auf der Suche nach einer Waffe, oder einem anderen Gegenstand, das ihnen in ihrer misslichen Lage helfen konnte, durch das Zelt. Inzwischen hatten ihre Augen sich an die ständig andauernde Dunkelheit gewöhnt, doch noch immer konnte sie nichts außer den schwachen Konturen der Kiste vor sich sehen. Sie fragte sich wieder, ob die Kiste leer war, oder wenn nicht, was darin war.

 

 

Lia wusste nicht, ob sie eingeschlafen war, doch es musste wohl so gewesen sein, oder sie hatte ein Blackout gehabt, das ihr mehrere Stunden Erinnerung geraubt hatte.

Als sie aufwachte, stand Jasmyn vor ihr. „Gut geschlafen?“, fragte sie in ihrer geheuchelten Freundlichkeit. „Mit einem Kissen wäre es eindeutig gemütlicher gewesen!“, gab Lia grob zurück. „Wie freundlich du bist!“, sagte Jasmyn. Dann nahm sie auf der Kiste Platz. Hinter Lia hörte sie, wie ein Stuhl etwas über den Boden gezogen wurde. Sie verrenkte sich den Hals und sah einen Jungen, der den Stuhl vor Kira gezogen und sich daraufgesetzt hatte.

Zwischen dem Jungen und Jasmyn stand ein Mädchen, an dessen Namen sich Lia nicht mehr erinnern konnte.

„Also, habt ihr euch eine Antwort zurecht gelegt?“, fragte Jasmyn. „Hast du dich immer noch nicht damit abgefunden, dass aus uns kein Wort herauszubekommen ist?“, fragte Lia zurück. Jasmyn lachte. „Sei ruhig weiterhin so frech. Wir brauchen nur einen von euch beiden, den anderen können wir töten. Dazu haben wir sogar den Befehl!“, lächelte Jasmyn böse.

Lia zuckte mit den Schultern. „Mach doch, mir ist es egal, was ihr mit mir macht!“ gab sie zurück, obwohl sie zitterte. Jasmyn begann wieder zu lachen. „Du hast mich falsch verstanden, Lia. Einen von euch brauchen wir, und der wirst du sein, weil du mit Sicherheit die meiste Kontrolle und die meisten Informationen besitzt!“, sagte sie, als sie sich beruhig hatte. „Was für eine Verschwendung es wäre, dich umzubringen!“ Jasmyn schüttelte den Kopf. Hinter Jasmyn begann jetzt ein Junge zu reden „Während wir sie hier…“ Der Junge auf dem Stuhl gab Kira einen festen Stoß mit dem Fuß. „ohne jede Probleme umbringen dürfen!“

Lia merkte, dass sie blass wurde. „Wenn ihr ihr etwas tut, werdet ihr nie ein Wort aus mir herausbekommen!“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. „Ich hatte gedacht, dass du das sagst, aber das ist mir egal!“, sagte Jasmyn. Dann gab sie dem Jungen ein Zeichen, der aufstand und ein Messer zückte. „Entweder wir beenden jetzt unser kleines Frage-Antwort-Spiel, indem du mir ein paar schöne Antworten auf meine Fragen gibst, oder du wirst gleich eine Freundin weniger haben!“, erklärte Jasmyn freundlich.

„Und wenn sie tot ist, was dann?“ Lia versuchte, Zeit zu schinden. „Wenn ich dann nicht rede?“ Jasmyn zuckte mit den Achseln. „Dann sind wir in der gleichen Situation, wie jetzt, nur dass wir einen Gefangenen weniger haben, den wir durchfüttern müssen!“, meinte sie dann. Lia wusste, dass sie in der Falle saß, und dass ihr nicht viel Zeit blieb, um sich etwas auszudenken. „Denk nach!“, befahl sie sich. „Denk nach, denk nach, mach schon! Lass dir was einfallen!“

Ihr fiel nichts ein. „Was willst du wissen?“, fragte Lia traurig. Sie wusste, dass sie lügen konnte, doch sie fürchtete, dass Jasmyn nicht darauf hereinfallen würde, oder es ihnen beiden schlecht bekommen würde, wenn sie die Wahrheit herausfanden – was sie unweigerlich tun würden.

„Lia, nein!“, hörte Lia Kira rufen, dann Kiras schmerzerfülltes Stöhnen, als der Junge ihr in die Rippen trat. „Lasst sie in Ruhe! Hör sofort auf!“, schrie Lia wütend. Sie versuchte, den Jungen von Kira wegzustoßen, doch sie kam nicht an ihn heran. Als sich jetzt das Mädchen einmischen wollte und auf Lia zukam, trat Lia ihr so feste gegen das Schienbein, dass sie einen Moment hoffte, es wäre gebrochen, doch das Mädchen fluchte nur wie ein Kesselflicker und hüpfte ein paar Schritte zurück, bevor es Anlauf nahm und Lia gegen den Oberarm trat.

„Schluss jetzt!“, brüllte Jasmyn schließlich. Alle hielten inne.

Kira ließ den Kopf auf Lias linke Schulter sinken. Jasmyn stand auf und verließ schweigend das Zelt, die beiden Kinder folgten ihr. Lia atmete tief durch. Das war gerade noch einmal gut gegangen. „Kira, bist du verletzt?“, fragte sie. Kira zuckte mit den Schultern und stöhnte wieder. „Ich hab Nasenbluten. Ansonsten tun meine Rippen weh und meine Hüfte. Mehr nicht, glaube ich…Und was ist mit dir?“, fragte Kira Lia dann.

Lia zuckte mit den Schultern, wobei die dünnen Seile um ihre Handgelenke in ihr Fleisch schnitten. „Geht schon, nur ein kleiner Tritt gegen den Oberarm. Nichts Wildes!“, versuchte Lia sich herauszureden, obwohl ihr Oberarm gewaltig pochte und sie spüren konnte, wie er anschwoll. Doch sie war sich ziemlich sicher, dass nichts gebrochen war. Während sich das Pochen beruhigte, merkte Lia, dass Kira hinter ihr versuchte, sich wieder zu befreien.

Irgendwann gab sie genervt und gereizt auf. „Ach, das hat alles keinen Zweck!“, sagte sie und stemmte wütend die Füße in den Boden.

Lia seufzte. „Was sollen wir tun? Wir werden das nicht ewig durchhalten!“, sagte Kira. „Ich weiß es nicht“, antwortete Lia. Sie seufzte wieder und ließ auch ihren Kopf auf Kiras Schulter sinken. Sie schloss die Augen und versuchte, die Welt und den Schmerz um sie herum auszublenden. „Ich weiß mal wieder überhaupt nicht, was wir tun sollen!“, sagte Lia bitter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich hörte, dass die Zeltplane zurückgeschlagen wurde, doch ich war zu müde, viel zu müde, um die Augen zu öffnen.

Ich hörte schwere Schritte und zwang mich schließlich doch dazu, die Augen zu öffnen. Jasmyn und zwei riesige Jungs, von denen einer Dylan war, soweit ich es beurteilen konnte, waren ins Zelt gekommen. Ich konnte hören, dass sie leise miteinander redeten, doch ich verstand kein Wort.

Dann begannen sie, eindringlich auf Lia einzureden. Ich zwang mich, richtig wach zu werden. „…dich jetzt zum letzten Mal, Lia, sonst wird es richtig unangenehm für euch beide!“, drohte Jasmyn gerade. Dylan hatte wieder vor mir auf dem Stuhl Platz genommen. Lia gab etwas Patziges zur Antwort. Dann war es einige Zeit lang still.

„Kümmert euch um die beiden. Macht mit ihnen, was ihr wollt, aber lasst sie beide am Leben, verstanden? Beide!“ Ich hörte, wie Jasmyn verschwand.

Die Jungs warfen sich einen unglücklichen Blick zu. „Was müssen wir machen, damit ihr mit der Sprache herausrückt?“, fragte Dylan uns beide. „Tut mir Leid, da sind alle Bemühungen vergebens!“, sagte Lia und spuckte dem Jungen vor die Füße.

Ich sah, dass dieser hochrot wurde und Dylan sich drohend, mit einem Messer in der Hand, erhob.

Ich wusste, dass mir nur wenig Zeit blieb, zu handeln. Das letzte Mal hatte Lia mich beschützt, jetzt musste ich sie schützen, das war klar.

Kurz entschlossen stellte ich Dylan ein Bein, als er an mir vorbeiging. Er stolperte, fluchte und fiel hin, sodass sich das Messer tief in den Plastikboden des Zeltes grub und dann in die Erde, wobei es einen hässlichen Schnitt im Zeltboden hinterließ.

Wütend sprang er auf, er fluchte und schrie und ich wusste nur, dass er glücklich sein konnte, sich nicht aufgespießt zu haben.

Dann drehte er sich zu mir um, kniete sich mit hochrotem Gesicht vor mich hin und fragte mich: „Warst du das?“ Ich zuckte zurück. Wahrscheinlich hatte ich gerade einen Fehler begangen, also tat ich das erstbeste, was mir einfiel. Ich holte aus und trat Dylan dann, so fest ich konnte, zwischen die Beine.

Der Junge stöhnte auf und wich zurück, doch scheinbar hatte ich ihn nicht richtig getroffen. Bevor ich irgendetwas tun konnte, packte er sein Messer und stieß damit nach meinen Rippen.

Ich keuchte, als ich spürte, wie das Messer sich zwischen meine Rippen bohrte, dann hörte ich Lia schreien. „Dylan! Spinnst du?!“, schrie der andere Junge. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf Dylans wutverzerrtes Gesicht. Kurz darauf war der andere Junge neben ihm und stieß ihn wütend an. „Du hast gehört, was Jasmyn gesagt hat!“

„Ist mir doch egal, William! Die Göre hat mich getreten! Genau an diese Stelle!“, sagte er mit einem vagen Blick in die Richtung, in der ich ihn getroffen hatte.

„Und wenn sie unser verdammtes Lager in die Luft gesprengt hätte! Wie willst du Jasmyn erklären, dass du Mathlock umgebracht hast? Sie wollte die beiden lebend! Begreifst du so schwer?“ Scheinbar schienen die beiden vergessen zu haben, dass ich noch immer am Leben war. Ich stöhnte vor Schmerz und versuchte, meine Hände freizubekommen, doch sie waren gefesselt. Ich hatte keine Chance.

Das warme Blut lief auf meiner Haut entlang und tropfte neben meiner Hüfte zu Boden.

„Ich musste doch irgendwas machen, Will!“, sagte Dylan ruhig. Er saß noch immer vor mir auf dem Boden. „Hätte ich ihr das einfach durchgehen lassen sollen?“, fragte er dann etwas wütender. Will stieß einen wütenden Schrei aus, als er merkte, dass Dylan einfach nicht kapieren wollte, dass er etwas Falsches getan hatte.

„Aus dem Weg!“ Will stieß Dylan zur Seite und durchschnitt meine Fesseln. Kaum konnte ich mich bewegen, drückte ich meine Hände auf die Wunde. Ich spürte, wie die Welt um mich herum wegzukippen schien, dann fand ich mich auf dem Boden wieder.

„Jetzt kannst du dich nützlich machen und sie zu Danny und Kiliana bringen! Ich hoffe mal für dich, dass die ihr noch helfen können, sonst will ich nicht in deiner Haut stecken!“, erklärte Will wütend und ich merkte, wie ich hochgehoben wurde. „Ist ja gut, beruhige dich, Will!“, verteidigte sich Dylan.

Ich spürte das warme Blut auf meinen Handflächen und fing kurz Lias ängstlichen Blick auf. Dann wurde es schwarz um mich herum.

 

 

 

 

 

„Scarlet? Sag mal, weißt du, wo mein Messer ist?“, fragte Mikey. Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Schau mal bei den anderen Waffen!“, schlug sie vor. Darauf hatte Mikey gewartet. „, Ja, du hast Recht, da wird es sein! Gute Idee, danke!“, rief er. Er lief los. Etwas abseits vom Lager hatten sie, vor Wind und Wetter durch ein paar Decken geschützt, alle Waffen gestapelt, die sie besaßen.

Mike wuchtete die von Regen und Erde schwer gewordenen Decke hoch und sah sich darunter um. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass niemand ihn beobachtete, dann griff er nach zwei Messern und einem Kettenhemd. Er sah, dass alle anderweitig beschäftigt waren und zog sich innerhalb von wenigen Sekunden die Jacke aus, schlüpfte ins Kettenhemd und zog die Jacke wieder an.

Gelassen, als wäre nichts passiert, marschierte er zurück, um Messerwerfen zu üben. „Hast du es gefunden?“, fragte Scarlet ihn plötzlich. Mikey zuckte unwillkürlich zusammen, doch er hatte sich rasch wieder im Griff und statt einer Antwort hielt er das Messer hoch. Er traute seiner Stimme in diesem Moment nicht.

Scarlet nickte. „Okay, von mir aus, kannst du dich etwa weiter vom Lager entfernen, wenn du möchtest“, gab sie ihm die Erlaubnis, trainieren zu gehen. Mikey lächelte und rannte los.

Er hoffte, dass sie glaubte, dass er außer sich vor Freude war und es nicht länger abwarten konnte, in den Wald zu verschwinden.

Die letzten Tage hatte er sozusagen unter Hausarrest gestanden, da Henry, Chloe und Scarlet Angst hatten, er könnte versuchen, Kira und Lia zu befreien. „Wenn die wüssten…“, dachte Mikey. Im Wald traf er sich wie verabredet mit Kyle.

„Hast du noch was gefunden?“, fragte Kyle ihn. Er zog die Jacke aus. „Das will ich doch mal behaupten!“, sagte er und präsentierte dem Jungen stolz das Kettenhemd. Außerdem übergab er ihm die zwei Messer.

Kyle versteckte sie unter einem großen Holzbrett, das sie im Wald gefunden hatten. Dort lagen bereits eine volle Montur Bogenausrüstung – ein Armschutz, ein Fingerschutz, ein Köcher mit fünfzehn Pfeilen und ein Bogen -, außerdem vier Messer, zwei Speere und ein Schwert.

„Lass uns mal durchgehen, was wir noch brauchen!“, schlug Kyle vor. „Mehr Kettenhemden haben wir nicht…“, meinte Mikey. „Dann wird das wahrscheinlich Joshua bekommen, da er und Tim die Mädels befreien werden, und er sich mit einem Speer nicht verteidigen kann!“, sagte Kyle, während Mikey es auszog.

„Jordan bekommt den Bogen! Er ist ein besserer Schütze als Thomas!“ Mikey nickte zustimmend. „Josh bekommt die beiden Speere. Er ist der Einzige, der damit umgehen kann!“, sagte Mikey. „Dann bekommt noch jeder außer Josh und Jordan ein Messer, dann geht es auf!“, meinte Kyle. „Das reicht! Mehr Messer können wir sowieso nicht beschaffen, ohne dass es auffällt und Josh kann mit dem Speer in der Hand nicht noch mit einem Messer kämpfen und Jordan kann nur entweder schießen oder mit einem Messer kämpfen!“, meinte Mikey.

Kyle nickte. „Dann sollten wir Tim sagen, dass wir bereit sind!“ Mikey nickte und sie verdeckte gemeinsam die Waffen mit dem Brett. „Los geht’s“, sagte Kyle und schmunzelte. „Jetzt kommt’s drauf an!“

Dann machten sich die Jungen auf den Weg, Tim zu suchen.

Im Lager hatte ihn niemand gesehen, doch Wendy meinte, er wäre mit Oliver trainieren gegangen. „Weißt du, wann er zurückkommen wollte?“, fragte Kyle sie. „Es ist echt total wichtig!“, fügte Mike hinzu. Wendy schüttelte ihre blonde Lockenmähne. „Nein. Vielleicht kommt er erst heute Abend wieder, wer weiß!“

Kyle und Mikey warfen sich einen kurzen Blick zu. „Okay, danke Wendy!“ Als Wendy außer Hörweite war, sagte Kyle. „Wir müssen ihn suchen, wenn unser Plan heute beginnen soll!“

Mikey nickte. „Da stimme ich dir voll und ganz zu, aber wir sollten nicht sofort verschwinden! Lass uns noch bis nach dem Mittagessen warten, sonst wird jemand Verdacht schöpfen.“

Der Morgen verging schnell. Joshua, Jordan, Thomas und Connor waren auf der Jagd, Bryan, Billie, Quinn und Conny saßen am Feuer und brieten seltsam aussehende Pilze über dem Feuer, doch der Geruch, den die Pilze verströmte, machte Mikey hungrig.

Er setzte sich neben sie. Am liebsten hätte er die Zwillinge auf ihre Rettungsmission angesprochen, doch das konnte er nicht tun, solange Conny und Quinn dabei waren. „Was kocht ihr da?“, fragte er stattdessen. „Das sind Pilze“, meinte Quinn. „Ach nee…“ Mikey musste kichern. „Und wie heißen die?“ „Das weiß ich nicht mehr. Aber ich hab sie schon mal gegessen. Ich esse die schon den ganzen Tag!“, sagte die Kleine und stopfte sich einen Pilz in den Mund. Mikey sah Conny an. „Und du erlaubst ihr einfach, dass sie fremde Pilze isst?“, fragte er sie ungläubig. Conny zuckte die Schultern. „Ich weiß auch nicht mehr, wie sie heißen, aber sie scheint sie zu kennen, und bis jetzt konnte ich mich immer auf sie verlassen, auch wenn sie erst elf ist.“ Mikey nickte und sah dann ins Feuer.

Er würde es Eliza nie und nimmer erlauben, unbekannte Pilze zu essen. Er glaubte auch nicht, dass Scarlet das Bailey erlauben würde, oder Bryan Billie – oder Billie Bryan, denn er wusste nicht, wer von beiden älter war, obwohl eindeutig Billie das Sagen zu haben schien.

Und schon war er mit den Gedanken bei Lia, die es Josy sicher auch nicht erlauben würde, irgendwelche Pilze in sich hineinzustopfen.

Erst da fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, wie es Josy ging. Kira hatte keine Geschwister, aber Lia war für Josy so etwas wie ein Elternersatz gewesen und zudem ihre große Schwester, daher glaubte er nicht, dass es ihr sehr gut ging. „Ich glaube, ich muss mal nach Josy sehen…“, murmelte er.

Er fühlte sich plötzlich für das Mädchen verantwortlich: Scarlet hatte genug eigene Probleme, Conny hatte sicher genug mit Quinn zu tun, die irgendwelche Früchte, Beeren und Pilze in sich hineinstopfte, und Bryan und Billie hatten nun wirklich nichts mit Josy zu tun. Die Anderen hatten keine kleineren Geschwister, oder wenn, dann wusste er nichts davon, also blieb nur noch er. Nur er hatte noch Erfahrung mit kleinen Kindern.

Er stand auf und machte sich auf die Suche nach Josy. Er fand sie sofort. Ihr blonder Wuschelkopf verriet sie. Das Mädchen saß mit einem Messer in der Hand auf einem Baumstamm und ritzte Muster in die feuchte Rinde.

„Hey, Josy. Wie geht’s?“, fragte Mikey und setzte sich neben sie. Josy zuckte die Schultern, beachtete ihn jedoch weiter nicht. Die kurzen, blonden Haare, die sie normalerweise immer mit zwei Haarklammern zurückgesteckt hatte, hingen ihr nun ins Gesicht. „Siehst du so überhaupt noch was?“, fragte Mikey. Josy nickte. Mikey drehte sie trotzdem zu sich und steckte ihr die Haare ordentlich zurück.

„So ist es doch besser, oder?“, fragte er sie. Josy nickte wieder. „Danke.“ Josy war noch nie sehr gesprächig gewesen, doch nun hatte sie so lange kaum geredet, dass Mikey sich Sorgen um sie gemacht hatte. Daher war er nun erleichtert, dass sie sich bedanke.

„Weißt du, Josy, ich dachte mir, wir beide könnten mal ungestört… reden. Oder wir gehen trainieren oder so was.“ Auf einmal war er entschlossen, Josy zu helfen, die ganz offensichtlich schwer darunter litt, dass ihre Schwester gefangen genommen wurde, und er wollte ihr unbedingt von ihrem Plan erzählen, Kira und Lia zu retten.

Irgendetwas musste er tun, denn er konnte ihre Niedergeschlagenheit nicht länger ertragen und fühlte sich für sie verantwortlich.

Josy schien die Aufregung in seiner Stimme gespürt zu haben, denn sie sah von dem Baumstamm, dem sie sich wieder zugewandt hatte, hoch, betrachtete Mikey lange und nickte schließlich.

Die beiden standen auf und gingen etwas tiefer in den Wald. Irgendwann rückte Mikey mit der Sprache heraus. Josy wirkte ruhig, doch in ihren Augen konnte Mikey die Aufregung sehen.

„Und wann wollt ihr los?“, fragte Josephine ihn. „Nach dem Mittagessen werden Kyle und ich Tim suchen, und ihm sagen, dass alles bereit ist. Den Rest muss er entscheiden…“, sagte Mikey. „Ich weiß, wo Tim ist!“, sagte Josy, ohne zu zögern.

„Wo denn?“, fragte Mikey überrascht. „Das sag ich dir nur, wenn du mir versprichst, dass ich mitkommen darf!“, meinte Josy und verschränkte die Arme vor der Brust. Mikey lachte. „Nein, dann warte ich lieber, bis er wiederkommt.“

„Und wenn ich bis dahin Scarlet verraten habe, was ihr vorhabt?“, fragte Josy und sah Mikey eisig an. Mikey erstarrte. „Das machst du nicht.“

„Warum nicht?“, fragte Josephine ihn herausfordernd. Mikey knirschte mit den Zähnen. „Sie ist deine Schwester! Das würdest du nicht machen!“

„Doch, würde ich. Weil ich weiß, dass Lia das nicht gewollt hätte, dass ihr euch wegen ihnen in Gefahr begebt. Ich habe nur noch nichts gesagt, weil ich Lia auch zurückhaben will!“ Ihre Stimme nahm einen weinerlichen Ton an, doch als Josy das merkte, bemühte sie sich, sich zusammenzureißen und blickte Mikey trotzig an. „Tut mir Leid Josy, aber glaubst du, Lia würde das wollen?“, fragte Mikey sie. „Mir ist egal, was sie will! Wenn ich tun würde, was sie will, dann würde ich euch auch bei Scarlet, Henry oder Chloe verpetzen!“, erwiderte das Mädchen und lächelte. Sie wusste, dass Mikey in der Falle saß. Und Mikey wusste das auch.

„Aber ein Glück, dass ich nicht das tue, was Lia gewollt hätte, nicht wahr?“, fragte sie Mikey dann.

Mikey verzog wütend das Gesicht. „Das kann ich nicht zulassen! Wenn dir etwas passiert, bringt Lia mich um!“, sagte er. Josy zuckte mit den Schultern. „Dann wird mir halt nichts passieren! Oder du sagst einfach „Nein“ und ich bin in zwei Minuten bei Scarlet und petze!“, sagte sie.

„Verdammt, ich hätte dir das alles nie erzählen sollen!“, rief Mikey wütend und trat gegen einen Baumstamm. Josephine zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du hast es getan, also entscheide dich!“, sagte sie kalt.

Mikey sah sie wütend an und kniete sich vor sie hin „Ich schwöre dir, wenn du uns in Gefahr bringst, bringe ich dich um, egal, was Lia dann mit mir macht!“, zischte er.

Lia nickte zufrieden. „Kein Problem!“, sagte sie. „Komm.“ Dann führte sie Mikey durch den Wald. Irgendwann sahen sie Tim, der gegen Oliver kämpfte.

„Tim, können wir reden?“, fragte Mikey ihn. Tim sah ihn durchdringend an und nickte dann. „Geh schon mal zurück, Oliver!“, befahl er.

Mikey erklärte Tim kurz, was passiert war, und dass sie wohl oder übel Josy morgen mitnehmen müssten.

Tim nickte ihn mürrisch an. „Das ist alles deine Schuld! Du bist einfach zu nett, Mike!“, sagte er dann wütend.

„Tut mir Leid! Was hätte ich denn tun sollen?“ Darauf wusste Tim keine Antwort. Also beschloss Mikey, zurückzugehen und Tim in Ruhe zu lassen.

 

 

 

 

 

 

„Was ist mit meiner Freundin?!“, platzte Lia heraus, als zwei Kinder ins Zelt kamen. Die beiden warfen sich einen Blick zu. Wahrscheinlich hatten sie keine Ahnung, wen Lia meinte, oder sie wussten einfach nicht, was mit Kira war. Jedenfalls bekam Lia keine Antwort.

„Hier ist was zu essen für dich!“, sagte das Mädchen. Lia lachte geringschätzig. „Also hat Jasmyn jetzt doch nicht mehr vor, uns verhungern zu lassen?“, fragte sie die beiden. „Keine Ahnung…“, meinte der Junge. „Wahrscheinlich braucht sie halt eine von euch beiden.“ Lia wurde blass, als sie merkte, was das bedeutete. „Nein. Das kann nicht sein! Kira ist nicht tot!“, sagte sie. „Nein!“, schrie sie. Die Kinder sahen sich wieder an. „Anders kann ich mir Jasmyns Sinneswandel nicht erklären!“, meinte das Mädchen. Dann banden sie Lias Hände los, damit sie essen konnte, doch Lia dachte gar nicht daran.

„Dann hat sich eure Jasmyn aber geirrt, denn ich werde nichts essen, absolut nichts!“, schrie sie wütend. Dann packte sie den Teller und schmiss ihn durch die Luft, sodass die Kartoffeln und das Fleisch sich im ganzen Zelt verteilten. Sie hätte jetzt aufspringen und davonlaufen könne, doch sie war zu wütend, um das zu bemerken. Sie blieb sitzen und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Sie merkte, dass ihre Augen feucht wurden. Vielleicht hatte sie Kira doch mehr gemocht, als sie sich je eingestehen konnte.

Und jetzt war sie tot und sie hatte sich nicht einmal dafür entschuldigen können, dass sie so gemein zu ihr gewesen war.

„Ich würde lieber verhungern, als Jasmyn etwas zu erzählen!“, schrie sie wieder, während eine Träne sich aus ihren Augen befreite und über ihre Wange kullerte. Sie sah noch ein letztes Mal mit wutverzerrtem Gesicht zu den beiden Kindern hoch, dann schlang sie die Arme um ihre Beine und versteckte das Gesicht in den Händen, bevor sie hemmungslos anfing, zu schluchzen.

Sie merkte, dass das Mädchen im Zelt umherging und dann den Teller wieder neben sie stellte, doch Lia sah nicht hoch. Schließlich verschwanden die Kinder und Lia sah kurz neben sich.

Dort stand der Teller, ein Stück dreckiges Hühnchenfleisch lag darauf und daneben zwei Kartoffeln. Die beiden hatten ihr die Hände nicht gefesselt, doch sie war sich sicher, dass das Zelt bewacht wurde.

 

 

 

 

 

Seit ungefähr einer halben Stunde erklärte mir Kiliana, dass sie keine ausgebildete Ärztin sei, sondern nur einen Erst-Hilfe-Kurs belegt hatte, was mich nicht sonderlich beruhigte, doch sie schien das nicht zu merken. Jetzt war sie gerade dabei, die Wunde zu nähen.

Ich spürte urplötzlich einen stechenden Schmerz. „Oh Mann, jetzt hab ich es versaut!“, jammerte Kiliana.

Ich verzog gequält die Augenbrauen. „Okay…“, sagte ich unsicher. Das war nicht gerade vertrauenerweckend. Kiliana schimpfte noch ein bisschen weiter, dann drehte sie sich von mir weg. Sie schnappte sich ein Tuch und tupfte an meiner Hüfte herum, wo ich warmes Blut spüren konnte. „Ach, egal!“, sagte sie dann und warf den Lappen weg. Ich fuhr hoch, wobei sie mich noch mal stach. „Nicht egal!“, rief ich erbost. Sie schüttelte nur den Kopf, sodass ihre roten, kurzen Locken um ihren Kopf wippten, dann zwang sie mich mit sanftem Druck auf meine unverletzte Hüfte zurück auf die Decken. „Leg dich wieder hin!“, befahl sie mir. Widerwillig ließ ich mich auf die Decke zurücksinken.

Eigentlich war es gar nicht so schlecht hier, bis auf die Tatsache, dass Jasmyn damit drohte, uns umzubringen. Aber es war hier kuschelig, und die meisten Leute schienen ganz in Ordnung zu sein… Jedenfalls war Kiliana darum bemüht, mein Leben zu retten, ebenso wie William. Vielleicht befolgten sie nur ihre Befehle, aber wenigstens halfen sie mir.

Ich biss die Zähne zusammen, während Kiliana die Wunde zu Ende nähte.

Sie hatte die Wunde gut verbunden und jetzt befahl sie mir, zu schlafen, doch ich dachte gar nicht daran.

Ich musste Lia erzählen, dass ich am Leben war. Vielleicht war das hier und jetzt meine einzige Chance, zu entkommen. Das war mein Plan: Ich würde lossprinten, Lia befreien und mit ihr abhauen. Ich schob die Gedanken an meine Wunde beiseite, die sich in meinen Kopf drängten. Ich würde das schon schaffen.

Ich setzte mich vorsichtig auf, wovon mir schwindelig wurde. Ich versuchte, aufzustehen, doch ein stechender Schmerz schoss durch meine linke Körperseite, bis in meinen Arm und einen Moment kam ich mir wie gelähmt vor, dann ließ ich mich auf die Decke fallen. „Es wird noch eine Chance geben…“, dachte ich mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Irgendwann. Irgendwann werde ich abhauen können. Aber nicht jetzt.“ Dann schloss ich die Augen und versank in einen unruhigen Schlaf.

 

 

In meinem Traum sah ich Jannis. Er lief vor mir her, durch den Wald. Er trug eine hellbraune Hose, die ihm nur bis zu den Knien ging, ein weißes Hemd, das halb geöffnet war, er trug keine Schuhe und seine Haare waren ordentlich gekämmt. Nichts an seinem Körper verriet eine Spur von Tod oder Gewalt. „Jannis!“, rief ich.

Jannis drehte sich um. „Was machst du hier Kira?“, fragte er mich. „Du solltest nicht hier sein.“ Er sah jünger aus, unschuldiger. Er sah mich einfach nur an. „Ist alles okay mit dir?“, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. „Es ist alles ganz schrecklich! Ich vermisse dich so! Ich… Ich…“ Mir lief eine Träne über die Wange. Jannis streckte die Hand nach mir aus, doch meine Hände durchschnitten seine, als wären sie aus Luft. „Kira. Du weißt, dass ich immer bei dir bin, nicht wahr?“, fragte er. Ich nickte. „Hier drinnen.“ Jannis legte seine Hand auf mein Herz, doch ich spürte die Berührung nicht.

Ich… Jannis, es tut mir Leid!“ Jannis lächelte, strahlend… lebendig. „Das muss es nicht. Ich habe es selbst so gewollt. Ich wollte, dass du lebst.“ „Aber ich… ich fühle mich so allein ohne dich!“, sagte ich. „Kira, du hast andere Leute, für die du weiterleben musst. Was ist mit Tim, Eliza, Lia, Josy oder Mikey? Alle brauchen dich!“ Ich nickte.

Jannis sah zum Himmel. Er war wolkenlos, hellblau und eine frische Brise wehte durch den Wald. „Ich muss bald wieder gehen, also versuche ich, mich kurz zu fassen, außerdem hasse ich Abschiede.“ Ich nickte. „Ich auch.“ „Hör mir zu, Kira!“, sagte er eindringlich. „Du musst für uns beide weiterleben. Okay? Ich werde nicht weit weg sein. Ich werde immer bei dir sein. Wenn du mich sehen willst...“ Er kam näher, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war, seine Haare glänzten im leichten Sonnenlicht, das durch die Zweige fiel. Er sah mir in die Augen. „Schließ einfach die Augen!“

Unwillkürlich schloss ich meine Augen für einen Moment, der mir wie eine Ewigkeit vorkam. Dann nickte ich. „Jannis… Du bist mein allerbester Freund. Ich werde dich nie vergessen, nicht nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben!“, sagte ich schnell. Jannis stand vor mir und hörte mir zu. „Es gibt so vieles, was ich dir noch sagen muss, aber Worte… Ich kann das nicht so gut, wie Mikey. Worte würden nur für immer im Weg stehen. Aber… Du warst immer da, wenn ich einen Freund gebraucht habe. Danke. Danke, Jannis. Ich habe dir nie erzählt, wie wichtig mir das alles war, deshalb tue ich es jetzt, und ich hoffe, dass du es nicht vergessen wirst!“

Jannis schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht, Kira. Versprochen! Versprochen…“

 

 

Jannis Worte hallten noch durch meinen Kopf, während ich langsam wach wurde. Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen rannen. Ich schluchzte leise. „Es tut mir Leid, Jannis!“, wisperte ich. „Das muss es nicht. Ich habe es selbst so gewollt. Ich wollte, dass du lebst.“ Seine Stimme hallte wieder durch meinen Kopf. Ich schloss einen Moment die Augen und versuchte, ein Bild von Jannis heraufzubeschwören. Ich sah ihn noch immer deutlich vor mir: Seine Haare glänzten hellbraun im Sonnenlicht, sein weißes Hemd und die hellbraune Hose fielen locker um seinen Körper. „Wenn du mich sehen willst… Schließ einfach die Augen!“ Ich nickte wieder, als würde ich noch immer mit Jannis sprechen.

„Danke. Ich werde es nicht vergessen“, flüsterte ich.

Im Dämmerlicht sah ich Kiliana, die gerade Danny weckte, einen Jungen in meinem Alter mit strohblondem Haar und großen, blauen Augen. Die beiden hielten abwechselnd Wache. Außer mir lagen in dem Zelt noch zwei Verwundete: Ein Mädchen, das ich damals in meinem Wutanfall nach Jannis’ Tod niedergestochen hatte, das jedoch überlebt hatte und Kevin, ein kräftiger, junger Mann, der sich bei einem Übungskampf gegen Ruby, das Mädchen mit dem Lockenkopf, den linken Unterarm bis zum Ellenbogen aufgeschlitzt hatte.

Ich konnte den Anblick des Mädchens nicht ertragen und legte mich wieder hin. Sie erinnerte mich an die anderen beiden Kinder, die nicht überlebt hatten: Einen Jungen, dem ich das Schwert in den Leib gerammt hatte, als er sich zwischen mich und Jannis gestellt hatte.

Ich hatte inzwischen erfahren, dass er Sebastian hieß und gut zwei Jahre jünger war, als ich.

Ich fühlte mich schrecklich, so unglaublich dass ich einen erst zwölfjährigen Jungen umgebracht hatte, der zwar so groß und mindestens zweimal so stark gewesen war, wie ich, doch dennoch jünger.

Hilfloser.

Unschuldiger.

Mir vielen ein Dutzend Adjektive ein, die auf den Jungen gepasst hätten, doch ich erlaubte meinem Gewissen nicht, weiterzudenken, sonst würde es mir nur noch schlechter gehen und ich würde möglicherweise sogar wieder anfangen zu weinen, und das wollte ich nicht.

Keine Schwäche zeigen.

Meinen Feinden keine Angriffsfläche bieten.

Nicht nachgeben.

Bloß nicht nachgeben…

Das andere Mädchen hatte Philippa geheißen…

Meine Stärke verschwand sofort, als mir der Name einfiel.

Sie war in etwa so alt wie ich gewesen, jedoch etwas kleiner. Auch hier war ich eindeutig im Vorteil gewesen. Philippa hatte keine Chance gegen mich gehabt, obwohl ich mit dem Rücken zu ihr an Jannis’ Seite gesessen war. Ich war in diesem Moment für jeden zur tödlichen Gefahr geworden. Vielleicht hätte ich in diesem Moment sogar meine Freunde verletzt.

Außer den beiden hatte ich noch drei weitere Kinder verletzt:

Das Mädchen, das nun neben mir schlief, hatte nur mit viel Glück und der Aufbietung aller Kräfte von Danny und Kiliana überlebt – genaugenommen war sie schon so gut wie tot gewesen.

Ihr hatte ich erst mit meinem Schwertknauf gegen den Schädel geschlagen und ihr außerdem eine tiefe Schnittwunde quer über die Brust zugefügt. Eigentlich wäre sie verblutete, doch Kiliana und Danny konnten ihr rechtzeitig helfen.

Das wusste ich daher, dass Kiliana regelmäßig den Verband wechselte. Die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, waren nur leicht verwundet, sie konnten inzwischen schon längst wieder kämpfen.

Ich sah zu dem schlafenden Mädchen hinüber und fragte mich, warum ich sie verletzt hatte. Warum ich Philippa und Sebastian getötet hatte. Weil sie Jannis getötet hatten… Nein, sie hatten mit Jannis’ Tod nichts zu tun gehabt. Das war Jasmyns Schuld gewesen. Und warum hatte sie Jannis getötet? Weil es ihre Mission war, uns zu töten. Uns alle.

Und wer hatte ihr diese Mission gegeben?

Wut stieg in mir auf. Wir Kinder hatten uns nichts getan, und dennoch mussten wir für sie sterben, nur damit die Ehre unserer Kampfschule gerettet wurde, und nicht an unseren Auftraggebern gezweifelt wurde.

Ich spürte, wie die Wut verraucht und mich mit endloser Müdigkeit zurückließ. Ich legte mich wieder hin und schloss die Augen.

Ich musste irgendetwas tun, um diesen ganzen Hass zu beenden. Ich hatte bereits einen Freund verloren, wer würde der nächste sein? Tim? Lia? Die kleine Josy? Ich konnte wohl kaum darauf hoffen, dass sie uns in Ruhe lassen würden. Sie hatten ihren Schwur bereits einmal gebrochen.

Ich musste mir also etwas anderes ausdenken. Erst jetzt wurde mir klar, dass es damit nicht getan sein würde. Die Prüfer, oder auch unsere Trainer, von denen nun sicher nicht mehr alle auf unserer Seite standen, da wir die tolle Ehre ihrer blöden Kampfschule beschmutzt hatten, würden einfach neue Leute schicken.

Die einzige Möglichkeit war, zu sterben. Oder sie zumindest davon zu überzeugen, wir wären gestorben. Doch was dann? Dazu müssten wir erst einmal Jasmyns ganze Gruppe ausrotten, die inzwischen genug Hass auf uns entwickelt hatten, um uns weiterhin zu verfolgen. Hass… Da war dieses Wort schon wieder.

Wieso hasste ich Jasmyn? Weil sie Jannis getötet hatte. Weil Jannis mein Freund gewesen war.

Vielleicht hatten Philippa und Sebastian auch Freunde gehabt, die mich nun hassten. Freunde, die mein Blut sehen wollten. Die mir genauso wenig vergeben konnten, wie ich Jasmyn.

Ich beschloss, mir fürs Erste keine Gedanken darüber zu machen, wie ich dieses Problem lösen könnte, denn momentan lag es in weiter Ferne und ich musste mich um andere Probleme kümmern. Zum Beispiel, hier herauszukommen…

 

 

 

 

 

 

 

Lia sah sich im Zelt um. Durch den Eingang konnte sie nicht, der wurde bewacht, da war sie sich ganz sicher, aber vielleicht konnte sie das Messer wiederfinden, an das Kira damals verzweifelt heranzukommen versucht hatte.

Lia stand leise auf, damit niemand sie hören konnte, dann tastete sie im Dunkeln den Boden des Zeltes ab.

Ihre Hand stieß gegen etwas Kaltes. Das musste das Messer sein. Sie hob es auf und drehte es in der Hand herum. Es war in seine Schutzhülle gepackt, doch Lia holte es sofort heraus und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sie konnte es nicht mit den Wachen vor dem Zelt aufnehmen, aber was sollte sie sonst tun? Versuchen musste sie es und vielleicht konnte sie die Wachen überraschen und dann fliehen…

Sie hatte sich gerade dazu entschlossen, als sie Jasmyns Stimme vor dem Zelt hörte. Schnell setzte Lia sich wieder an die Zeltstange, ließ das Messer unter ihrem Hemd verschwinden und schlang das dünne Seil ein paar Mal locker um ihre Handgelenke.

Keine Sekunde später betrat Jasmyn das Zelt, gefolgt von zwei Jungen, die Kira grob vor sich her stießen. Lia blieb vor Erleichterung fast das Herz stehen. „Kira! Du lebst!“, rief sie. Kira sah sie mit schmerzverzerrtem Gesicht an, brachte jedoch ein schwaches Lächeln zustande. „Sieht so aus…“, presste sie zwischen vor Schmerz zusammengekniffenen Zähnen hervor. „Du weißt doch…. Unkraut vergeht nicht!“, sagte sie mit zusammengepressten Zähnen. Dann stieß ein Junge Kira neben Lia zu Boden und fesselte ihre Hände wieder neben Lias an die Zeltstange. Lia hörte Kira vor Schmerz stöhnen, dann spürte sie, wie der Junge das Seil um Kiras Handgelenke festzog.

Lias Fesseln ließ er jedoch unberührt und stand wieder auf. Dann verließen Jasmyn und die Jungen das Zelt wieder.

„Wie geht es dir?“, hauchte Lia Kira zu. Sie war so unglaublich erleichtert, dass sie ihrer Stimme keinen kräftigeren Klang verleihen konnte. „Ganz… gut!“, sagte Kira. Dann hörte Lia sie heiser lachen. „Wenn man bedenkt dass mich Dylan fast abgestochen hätte!“

„Ich hab eine Überraschung für dich!“, sagte Lia. Kira horchte auf. „Was denn für eine?“, fragte sie. Lia befreite ihre Hände, stand auf und zeigte Kira das Messer und ihre befreiten Hände. „Das hier ist unsere Fahrkarte in die Freiheit!“, sagte sie lächelnd und deutete auf das Messer.

 

 

 

 

 

„Wann geht ihr los? Was hat Tim gesagt?“, fragte Eliza Mikey aufgeregt. „Nicht jetzt!“, zischte er Eliza zu, denn Scarlet beobachtete sie aufmerksam.

„Wann dann?“, fragte Eliza, so laut, dass sie wahrscheinlich jeder hören konnte. Jetzt musste Mikey sich wohl schnell etwas ausdenken. „Nein, Eliza, ich kann jetzt nicht mit dir spielen!“, sagte er laut.

„Hä?“, fragte Eliza. „Geh doch zu Bailey, die hat vielleicht Zeit! Oder zu Quinn, oder Josy. Ja, frag Josy, ob sie was mit dir machen will, die ist ziemlich einsam, seit Scarlet, Henry und Chloe sich geweigert haben, ihre Schwester zu retten!“, sagte Mikey, der immer lauter geworden war. Eliza zog die Augenbrauen hoch. „Alles klar bei dir?“, fragte sie ihn. „Ich hab doch nie gesagt, dass ich…“ Mikey hielt ihr den Mund zu.

„Ich hab jetzt keine Zeit, verstehst du?“, fragte er sie eindringlich. Eliza nickte und Mikey ließ sie los.

„Wann können wir denn… spielen?“, fragte sie und hoffte, es nun richtig verstanden zu haben. „Wir haben so lange nichts mehr miteinander gemacht und ich würde so gern… spielen?“, sagte sie und sah ihn fragend an. „Ich würde wirklich gern mit dir spielen!“, sagte sie noch mal und nickte. Mikey schlug sich gegen die Stirn. „Sei still!“, zischte er ihr zu. „Ich muss jetzt ganz dringend zu Billie, ich hab ihr versprochen, mit ihr die Flaschen zu füllen!“, sagte er.

„Okay, aber irgendwann gehen wir… spielen!“, rief sie Mike nach, der jetzt davonlief.

Dann ging sie zu Josy, die wie üblich auf ihrem Baumstamm saß und Muster hineinritzte. Auch Eliza begann, mit ihrem Messer Kreise, Schlangenlinien und andere Formen in den Stamm zu schnitzen.

„Hallo, Eliza!“, sagte Scarlet, die plötzlich hinter ihr stand. Eliza fuhr herum, rutschte mit dem Messer ab, und schnitt sich in die Hand. Es tat nicht sehr weh, doch da Eliza sich sicher war, dass Scarlet sie gleich mit Fragen durchlöchern würde, beschloss sie, loszuweinen. Sie schrie los und merkte, dass ihr ein paar Tränen über das Gesicht kullerten, wie sie es vorhergesehen hatte.

„Au!“, schrie sie und hielt ihre Hand. Scarlet war sofort neben ihr. „Zeig mal! Blutet es?“, fragte sie. Eliza nickte und schluchzte ein bisschen. Scarlet sah Elizas Hand an, doch wirklich bluten tat es nicht. Eigentlich war es nur ein Kratzer, was Eliza jetzt auch bemerkte.

„Schau mal, es blutet gar nicht! Du hast dich nur erschrocken, das ist alles!“, beruhigte Scarlet sie. Eliza schluchzte weiter. „Es tut aber weh!“, sagte sie und beschloss, beleidigt zu spielen, da Scarlet ihre Wunde nicht zu würdigen schien. „Das ist nur ein Kratzer!“, sagte Scarlet und zeigte Eliza die Hand. „Nein, ist es nicht!“, sagte Eliza störrisch. „Schau! Es blutet!“, sagte sie und zeigte auf den Kratzer, der gerade etwas zu bluten begann. Scarlet schien ein Kichern zu unterdrücken, was Eliza fast etwas beleidigend fand, daher fing sie noch einmal lauter zu schreien und schluchzen an.

Aus den Augenwinkeln sah sie Josy, die ihr interessiert zugesehen hatte, jetzt jedoch etwas verächtlich den Kopf schüttelte und sich wieder dem Baumstamm widmete.

Auch Scarlet versuchte jetzt wieder, Eliza zu beweisen, wie ungefährlich die Wunde war.

„Dir geht’s gut!“, sagte sie, fast etwas verzweifelt. „Nein!“, jammerte Eliza und drückte auf ihrer Hand herum, bis ein kleiner Blutstropfen aus dem Kratzer lief.

„Schau!“, rief Eliza wieder, und beschloss, weiterzuweinen. „Ich verblute!“, schrie sie und weinte noch ein bisschen. „Ach, Quatsch!“, sagte Scarlet. „Das hört gleich wieder auf, zu bluten. Komm, wir holen dir ein Pflaster!“, sagte sie und nahm Eliza mit sich. Eliza überlegte eine Weile, was sie noch machen könnte – vielleicht in Ohnmacht fallen, oder so was in der Art – doch Scarlet klebte ihr ein Pflaster auf die Hand und Eliza gab sich damit zufrieden, dass Scarlet sie wegen dem Schock, den sie scheinbar erlitten hatte, für den Rest des Tages vom Training und von ihren anderen Pflichten freistellte.

„Das ist alles deine Schuld!“, ließ Eliza Scarlet noch wissen, bevor diese sich zum Gehen wandte. Sollte Scarlet ruhig ein schlechtes Gewissen haben und denken, sie wäre ihr etwas schuldig. Damit hatte Eliza kein Problem und vielleicht wäre sie schon sehr bald auf Scarlets Hilfe angewiesen. Daher konnte es auch nicht schaden, Scarlet noch mal daran zu erinnern, weshalb sie mit dem Messer vom Baumstamm abgerutscht war.

Dann kuschelte Eliza sich unter eine Decke und lächelte selbstzufrieden. Kurz darauf kam Mikey angestürmt. „Was ist passiert?“, fragte er sie erschrocken. Eliza kicherte und sah zu ihm hoch. „Nichts, ich hab nur so getan. Das ist nur ein kleiner Kratzer!“, sagte sie und kicherte wieder. Mikey nickte erleichtert. „Zeig mal!“, sagte er. Sie machte das Pflaster ab. Der Kratzer hatte schon längst aufgehört zu bluten, er tat nicht einmal mehr weh, wenn Eliza ehrlich war.

„Und du hast es tatsächlich geschafft, wegen dieses Kratzers das ganze Lager in Panik zu versetzen?“, fragte Mikey lachend. Eliza nickte zufrieden. „Mann, von dir kann man noch was lernen!“, sagte Mikey, schüttelte lachend den Kopf und stand auf.

„Ich weiß!“, sagte Eliza. „Nicht frech werden!“, meinte Mikey. Eliza grinste noch immer. „Ja, großer Bruder!“, sagte sie.

Dann rollte sie sich unter der Decke zusammen, während Mikey neben ihr saß und ihr wieder einmal eine Geschichte erzählte.

Erst jetzt merkte Eliza, wie wenig Zeit sie in der letzten Zeit mit ihrem Bruder verbracht hatte. Als Mikey aufstehen wollte, hielt sie ihn fest und sagte: „Wir müssen mal etwas Richtiges miteinander machen! Einen Ausflug oder so. Etwas Normales!“, erklärte sie.

Mikey nickte zustimmend. „Du hast recht! Aber jetzt muss ich gehen!“, sagte er. „Wieso?“, fragte Eliza ihn. „Ich muss trainieren! Ich durfte nur kurz nach dir schauen! Das war eine Ausnahme, verstehst du?“, fragte er sie. Eliza nickte. „Eine Ausnahmen…“, murmelte sie, als er weg war. Sie nahm sich zwar fest vor, von nun an beim Schnitzen besser aufzupassen, doch gleichzeitig dachte sie darüber nach, sich öfter mal zu verletzen, damit Mikey öfter zu ihr kommen durfte.

Sie wischte den Gedanken schnell weg. Es würde schon noch eine Zeit kommen, wenn sie mit ihrem Bruder wieder mehr unternehmen konnte, auch ohne, dass sie verletzt war. Denn sie wusste, dass Mikey nur sauer sein würde, wenn er herausbekam, dass Eliza sich mit Absicht verletzte. Und das wollte Eliza auf keinen Fall.

 

 

 

 

 

 

 

Unser Fluchtplan erwies sich als schwieriger, als erwartet, da sich herausstellte, dass ich kaum in der Lage war, zwei Schritte hintereinander gerade zu gehen, geschweige denn, im Notfall wegzulaufen und eventuelle Verfolger abzuhängen.

„Was jetzt?“, fragte ich Lia, als ich mich wieder zu Boden sinken ließ. Die Welt um mich herum kippte wieder bedenklich, doch Lia hielt mich an der Schulter fest, sodass ich nicht umfallen konnte.

„Ich könnte dich stützen…“, schlug Lia vor. „Dann sind wir nicht schnell genug!“, widersprach ich. Ich sah Lia in die Augen. „Du musst allein fliehen, solange du es noch kannst!“, sagte ich. Lia wich erschrocken zurück. „Spinnst du?“, fragte sie mich empört. „Ich würde dich hier niemals zurücklassen!“ „Lia, siehst du nicht, dass es nicht anders geht?“, fragte ich sie. Sie musste das doch einsehen. „Ich kann nicht lauen, aber du kannst es! Du musst hier weg! Bring dich in Sicherheit!“ „Du hast Fieber, oder? Sonst würdest du nie so reden!“, sagte Lia und wollte mir die Hand auf die Stirn legen, doch ich drehte den Kopf weg, da ich zu schwach war, die Hand zu heben.

„Nein, Lia. Bring dich in Sicherheit! Mir wird nichts passieren! Sie brauchen einen von uns…“, erklärte ich Lia wieder. „Einen von uns brauchen sie!“, wiederholte ich. „Sie werden mir nichts tun.“ Lia schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht von mir verlangen!“, sagte sie wütend. „Würdest du das tun?“, fragte sie mich dann. Ich biss mir auf die Lippe.

„Das tut hier nichts zur Sache!“ Natürlich, ich hätte lügen können, doch das wollte ich nicht. Nicht einmal, wenn ich Lia dadurch dazu bringen könnte, zu fliehen, denn sie würde es wahrscheinlich trotzdem nicht tun, und außerdem würde sie mir das nie, nie verzeihen.

„Bitte, Lia! Tu es für mich! So wie wir Tim gebeten haben, zu fliehen! So wie Finn uns gebeten hat, zu fliehen! So bitte ich dich jetzt!“ Ich konnte Tränen der Verzweiflung in Lias Augen sehen. „Ja, und erinnerst du dich daran, was passiert ist, nachdem wir geflohen sind? Oder nachdem Tim weggerannt ist?“, fragte sie mich wütend.

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Du verlangst Unmögliches von mir!“, sagte sie leise. „Lia!“, sagte ich energisch. „Mir wird nichts passieren!“ Ich spürte wieder, wie mir schwindelig wurde. Zum Glück packte Lia mich just in diesem Moment an den Schultern. „Und wenn doch? Dylan hat schon einmal die Beherrschung verloren, was, wenn das nun noch einmal passiert? Wenn dich diesmal jemand umbringt?“, fragte sie mich. „Glaubst du, ich könnte dann je wieder in den Spiegel schauen?!“ Sie dämpfte ihre Stimme wieder etwas, als sie draußen vor dem Zelt Geräusche hörte.

„Lia, ich flehe dich an, verschwinde von hier, solange du noch kannst!“, sagte ich verzweifelt. „Nein!“, sagte Lia wütend. „Mach, was du willst, aber ich lasse dich nicht allein!“

Ich schwieg und sah zu Boden. „Was ist mit Josy?“, fragte ich sie. Lias Blick wurde weich, ich sah Verzweiflung zwischen der Wut in ihren Augen aufblitzen. „Josy braucht dich! Sie ist deine Schwester!“, sagte ich leise. Ich war zu schwach, um zu diskutieren. Ich wollte nur noch schlafen, aber ich durfte jetzt nicht nachgeben.

„Ist dir das egal? Willst du sie im Stich lassen?“, fragte ich sie. „Josy hat die anderen! Du hast nur mich!“, sagte Lia. Ich sah Lia in die Augen. „Aber du kannst mir hier nicht helfen!“, sagte ich. Ich war so müde. „Renn weg, hol die anderen, mach was du willst, aber bleib nicht hier!“ So müde. „Dies hier könnte deine einzige Chance sein…“ So müde… „Und wenn du stirbst?“, fragte Lia mich leise. Seltsamerweise machte mir diese Vorstellung keine Angst. „Dann kannst du das auch nicht ändern, indem du hierbleibst!“, sagte ich schwach.

Ich hoffte, Lia nun überzeugt zu haben, denn sie schien einen Moment hin- und hergerissen. „Ich komme wieder. Das verspreche ich!“, sagte sie und stand auf.

Dann ging sie an die Rückseite des Zeltes und machte mit dem Messer einen kleinen Schnitt in die Zeltwand, gerade so große, dass sie hindurchpasste. Ich sah sie verschwinden und schloss müde die Augen.

 

 

 

 

 

Lia schlüpfte durch die Zeltwand und warf Kira noch einen letzten, verzweifelten Blick zu, doch Kira hatte die Augen geschlossen. Lia ließ die Zeltplane zufallen und huschte durchs Lager. Es war mitten in der Nacht, nur ein Wachposten stand vor ihrem Zelt, ein weiterer saß an einem Lagerfeuer, doch die beiden konnten Lia unmöglich sehen. Kaum hatte Lia das letzte Zelt hinter sich gelassen, rannte sie so schnell sie konnte davon. Sie hatte die Orientierung verloren, doch sie hörte in weiter ferne den Bach rauschen und wusste, dass sie nur dem Rauschen folgen, auf die andere Seite gelangen musste und dann immer weiter, immer weiter…

Sie hoffte, dass die Lagerfeuer noch brannten, denn sie war sich wirklich unsicher, ob sie ihr Lager in ihrem Zustand wiederfinden könnte.

Sie tastete sich durch den dunklen Wald, der sich um sie zu drehen schien. Sie war hungrig, ihr war kalt, und sie war verletzt – keine wünschenswerte Verfassung, wenn man auf der Flucht durch einen stockdunklen Wald ist.

Doch Lia erlaubte sich nicht, stehen zu bleiben. Sie hatte nur noch einen einzigen Gedanken: Weiterzulaufen, zu ihrem Lager zu kommen, damit sie Kira retten konnten.

Endlich sah sie den Schein der Lagerfeuer. „Aufwachen! Aufwachen!“, schrie sie, wie besessen. Sie ließ sich neben Connor auf den Boden fallen und rüttelte ihn wach. „Connor, wach auf!“, schrie sie ihn an. „Was?“, fragte Connor verschlafen und setzte sich auf. „Jordan! Jordan!“, schrie Lia und gab dem Jungen einen Stoß in die Rippen. Bald war das ganze Lager wach und alle bestürmten Lia mit Fragen, doch sie beantwortete keine Einzige. Sie redete schnell mit Scarlet, Chloe, Tim und Henry, und konnte sie dazu bewegen, mitzukommen. „Schnappt euch Waffen!“, befahl Henry, „Wir brechen auf!“

Chloe hielt Lia fest, die sich ein Kettenhemd überstreifen wollte. „Du nicht!“, sagte sie. Lia riss sich los. „Hast du sie noch alle?!“, schrie Lia sie an. Sie merkte, dass sie langsam völlig verrückt zu werden schien. „Ich werde ihr helfen! Ich muss mitkommen! Das bin ich ihr schuldig! Ich muss! Ich muss!!!“, schrie sie und umklammerte das Kettenhemd.

„Lia, schau dich doch an!“, sagte Tim. „Du bist nicht in der Lage zu kämpfen!“, sagte auch Scarlet. Sie sah Scarlet und Tim abwechselnd wütend an. „Wisst ihr eigentlich, was sie auf sich genommen hat, damit ich fliehen konnte?“, fragte sie wütend. „Sie hat so lange auf mich eingeredet, bis ich sie bei denen…“ Sie spuckte wütend aus, „…zurückgelassen habe! Wer weiß, was die mit ihr machen, wenn sie merken, dass ich weg bin!“ Ihr traten die Tränen in die Augen, doch sie versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.

Stattdessen verzog sie nur noch einmal wütend das Gesicht, als Scarlet sie an den Schultern nahm und ihr in die Augen sah. „Lia, versteh das doch! Du musst hierbleiben!“ Scarlet schüttelte sie leicht, wovon Lia wieder schwindelig wurde, doch trotzdem riss sie sich trotzig los.

„Nein!“, knurrte Lia und zog das Kettenhemd an. „Lia, du kannst nicht kämpfen! Du wirst uns nur gefährden, und Kira auch! Versteh das doch!“, bat Henry sie. Lia schüttelte wieder den Kopf, doch sie merkte, dass die Welt um sie herum sich noch immer bedenklich drehte. Wahrscheinlich war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch auf den Beinen war, denn sie merkte, dass ihr nicht nur schwindelig war, sondern, dass auch ihr Kopf wieder angefangen hatte, zu bluten.

„Nein, ich geh mit!“, widersprach sie wieder. „Nein, tust du nicht!“, sagte Tim und hob sie hoch. „Lass mich runter! Tim, ich warne dich!“, schrie Lia wütend und schlug nach Tim, doch er steckte ihre Schläge weg, als wäre sie nur Luft für ihn.

„Lass mich runter!“, rief Lia. „Kein Problem!“, sagte Tim und setzte sie ab, doch er hielt sie noch immer fest. „Wenn du jetzt nicht versprichst, dass du hier bleibst, werde ich dich zu deinem eigenen Besten bewusstlos schlagen, hörst du?“, drohte er ihr. Lia starrte ihn wütend an, doch sie merkte, dass es keinen Sinn hätte, mit ihm zu streiten – er würde als Sieger aus ihrem Streit hervorgehen, daran konnte sie nicht zweifeln.

Lia nickte schließlich – sie hatte keine andere Wahl. Außerdem war ihr bewusst, dass sie selbst wahrscheinlich kaum in der Lage wäre, den Weg von hier bis zu Jasmyns Lager noch einmal zurückzulegen.

Sie merkte erst, wie sehr sie zitterte, als die Anderen das Lager verlassen hatten – alle bis auf Josy, Eliza und Bailey waren mitgegangen, sogar Quinn und Mikey, der so lange gebettelt hatte, bis er mitgehen durfte.

Die drei jüngeren Mädchen lagen jetzt unter ihren Decken und versuchten, wieder zu schlafen, doch das war für Lia unmöglich. Mit Baileys Hilfe hatte sie ihre Kopfwunde verbunden, jetzt wickelte sie sich in eine Decke und wartete, während sie kleine Schlucke heißen Tee trank.

 

 

 

 

 

 

Ich öffnete die Augen, geweckt durch laute Rufe draußen vor dem Zelt: Meine Hände waren noch immer frei, doch als ich versuchte, mich hochzustemmen, knickte ich mit dem linken Arm ein und fiel auf den Boden.

Ich unternahm einen zweiten Versuch, doch als auch der scheiterte, blieb ich reglos liegen.

Meine Rippen schmerzten und jeder Atemzug tat mir weh, daher atmete ich so flach wie möglich. Das hatte den Vorteil, dass es nicht so sehr wehtat und ich gleichzeitig den Gesprächen und Rufen vor dem Zelt lauschen konnte. Draußen hörte ich Jasmyn etwas schreien, doch mein Kopf war zu benebelt, um es zu verstehen. Ich hoffte, dass Lia es geschafft hatte, zu fliehen, und dass sie ihr nicht auf den Fersen waren.

Kurz darauf hörte ich Schritte, dann rannten einige Leute an meinem Zelt vorbei. Ich war noch immer zu schwach, um aufzustehen, doch ich konnte jetzt deutlich hören, dass draußen ein großer Tumult losbrach. Kinder stürmten zu den Waffen, schrien sich undeutlich Befehle zu. Finns Stimme löste sich aus denen der Anderen. „Alex, Scott, Sarah, Samantha und William zu mir! Dylan, Ruby, Billy, Brandon und drei weitere da rüber!“, hörte ich ihn schreien.

Dann liefen Kinder durch das Lager. „Haltet euch bereit!“, schrie Finn. Ich wollte wissen, was da vor sich ging und versuchte ein weiteres Mal, aufzustehen, was ein weiteres Mal fehlschlug.

Jetzt hörte ich auch außerhalb des Lagers Schreie und Rufe, dann hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam, die ich aber nicht zuordnen konnte.

Ich schloss die Augen, zu müde, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Doch als ich Waffengeklirr hörte, Metall, das auf Metall schlug und schwirrende Bogensehnen, war ich mit einem Mal wieder hellwach. Ich setzte mich mühsam auf. Das konnte nur eins bedeuten: Lia war die Flucht gelungen und sie hatte Hilfe holen können.

Kaum war ich zu diesem Schluss gekommen, öffnete sich die Zeltplane und Jasmyn, Ruby und Finn stürzten herein. „Ich will keinen Mucks von dir hören, oder wir schneiden dir die Kehle durch, verstanden?“, zischte Jasmyn, die mit einem gezückten Messer auf mich zukam. Ich war nickt imstande, zu nicken, und wenn ich die Kraft gehabt hätte, hätte ich es wahrscheinlich auch nicht getan, also blieb ich still an die Zeltstange gelehnt liegen.

Ich beobachtete die drei Kinder, versuchte, die Chancen abzuschätzen, sie zu überraschen, abzulenken oder ähnliches, damit ich fliehen konnte – was schon mal eine verrückte Vorstellung war, wenn man bedachte, wie schlecht es mir ging.

Ruby trug einen Gürtel mit einem kurzen Schwert an der Hüfte und zwei kleinen Dolchen, ein langes, dünnes Messer hatte sie in der Hand.

Finn hatte wie üblich seinen Rundschild und das Kurzschwert in den Händen, außerdem hingen auch an seinem Gürtel ein langer Dolch und zwei Messer.

An Jasmyns Gürtel reihte sich ein Messer an das andere. Ich konnte allein bei einem kurzen Blick darauf fünf lange Messer erkennen, davon eins, wie auch Lia eins zum Sägen hatte, des weiteren zwei Dolche und außerdem ein Schnitzmesser.

Außerdem hatte sie in der linken Hand ein Schwert und in der Rechten hielt sie einen weiteren Dolch.

Ich konnte außerdem damit rechnen, dass ich, sollte ich es an den drei vorbeischaffen, auf weitere schwer bewaffnete Kämpfer treffen würde, nicht zu vergessen die Bogenschützen, die sich sicher über das gesamte Lager verteilt hatten und mich noch aus dreißig Meter Entfernung mit einem gezielten Schuss töten könnten, was sie sicher tun würden.

Alles in allem war ein Fluchtversuch unmöglich.

Jasmyn, die meine befreiten Hände sah, gab Ruby den Befehl, mich wieder zu fesseln und Ruby band mir wieder die Hände um die Zeltstange.

Die Wunde an meinen Rippen schmerzte nun aufgrund des Drucks an meinen Handgelenken etwas mehr, doch ich versuchte, den Schmerz zu ignorieren und bei Bewusstsein zu bleiben.

Ruby und Finn drehten sich zum Eingang des Zeltes, als draußen ein dumpfer Schlag ertönte und jemand auf dem Boden aufschlug. Dann sah ich Tim, Scarlet und Henry, gefolgt von Mikey, Wendy, Chloe, Jordan, Thomas, Bryan und Billie ins Zelt stürmen.

Sie erstarrten, als sie Jasmyn sahen, die bereits neben mir auf dem Boden saß und mir das Messer an die Kehle hielt. „Keinen Schritt weiter!“, knurrte sie wütend. Tim trat etwas aus der Masse hervor, die anderen hielten den Atem an.

„Lass sie in Ruhe, Jasmyn!“ Jasmyn erhob sich, sie wechselte das Schwert in die rechte Hand, als Tim noch einen Schritt näher kam. Sie ließ den Dolch zu Boden fallen und Ruby und Finn postierten sich rechts und links neben ihr. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du hier der…“ Sie wedelte mit der Hand in der Luft herum, bevor sie, beinahe verächtlich, das Wort ausspuckte. „..der stellvertretende Anführer bist, Tim?“, fragte sie ihn.

Tim sah zu Scarlet, Henry und Chloe, die hinter ihm standen. „Eigentlich sind wir das alle, allerdings rede ich für uns!“, meinte Tim schließlich. Jasmyn nickte und lächelte kurz. Es war ein freudloses, kaltes, beinahe diabolisches Lächeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, obwohl ich es nur zur Hälfte sah.

Tim kam noch einen winzigen Schritt weiter auf Jasmyn zu, die jetzt drohend ihr Schwert hob. „Bleib wo du bist!“, sagte sie gefährlich leise. Tim blieb stehen, ließ sein Schwert jedoch nicht sinken. „Legt eure Waffen weg!“, befahl Jasmyn dann. „Alle!“ Tim und Scarlet sahen sich kurz an, doch keiner machte Anstalten, Jasmyns Befehl nachzukommen.

„Legt die Waffen weg!“, sagte Jasmyn eindringlicher, doch Tim tat noch immer nicht, was sie wollte. „Ihr spielt hier mit ihrem Leben!“, sagte Finn und deutete mit seinem Schwert auf mich. Tim wechselte wieder einen hilflosen Blick mit Scarlet. Die beiden mussten meinen Befehlen gehorchen, fiel mir jetzt ein. Ich wollte nicht, dass sie sich für mich in Gefahr brachten. Sie waren mir zu wichtig.

„Tim!“, rief ich schwach. Alle Blicke fuhren zu mir herum. „Tim, haut ab, solange ihr noch könnt!“, sagte ich. Jasmyn sah wieder zu Tim. „Sie hat recht!“, meinte sie. „Wisst ihr, unsere liebe Kira ist ein unglaublich schlaues Ding!“, sagt sie dann und begann, im Zelt auf und ab zu gehen, was nicht nur mich, sondern auch den Rest meiner Leute unglaublich nervös machte.

„Sie hat sofort herausgefunden, wie sie euch dazu bekommt, ihr zu folgen. Aber in diesem Punkt ähneln wir uns sehr, denn ich habe sofort herausgefunden, wie ich diese Stärke zu einer Schwäche machen kann. Ihr würdet alles tun, dachte ich mir. Alles, um sie zu retten. Und jetzt seit ihr hier, genau da, wo ich euch wollte, nicht wahr?“, fragte sie Finn und Ruby, die zu lächeln begannen und dann beide nickten.

Tim ließ sich keine Regung anmerken, doch in den Gesichtern hinter ihm spiegelte sich Entsetzen, Angst und Hoffnungslosigkeit. Sie hatten uns allen eine Falle gestellt und wir waren allesamt hineingetappt.

Tim ging noch einen kleinen Schritt näher auf sie zu, nur noch weinige Meter trennten ihn und Jasmyn nun. Ich sah, dass er sie um Haupteslänge überragte, und doch war eindeutig, dass Jasmyn hier die Fäden in der Hand hatte. „Ich dachte, wir könnten das wir Männer regeln!“, sagte Tim und packte sein Schwert fester.

„Da hast du aber etwas übersehen: Ich bin ein Mädchen!“, sagte Jasmyn, doch auch sie packte ihr Schwert fester. Tim seufzte und ging Angriffsposition. „Dann halt so, wie es Männer regeln würden!“, knurrte er. Scheinbar wollte er Jasmyn herausfordern oder sie zumindest so ablenken, dass die anderen Kinder mich befreien konnten.

Ich merkte, dass Jasmyns Hand sich jetzt fester um den Schwertgriff schloss und ich hoffte schon, dass sie Tims Herausforderung annehmen würde, doch sie antwortete: „Da hast du falsch gedacht!“ Plötzlich fuhr sie zu mir herum und stach mit dem Schwert nach mir. Ich spürte, wie sich die Kalte klinge unterhalb meines Brustbeines in mein Fleisch grub und keuchte erschrocken und vor Schmerz auf.

„Nein!“, schrie Tim und ich sah, dass Scarlet auf mich zustürzen wollte. „Bleibt wo ihr seit!“, warnte Jasmyn. „Noch hat sie vielleicht eine Überlebenschance, vielleicht, aber wenn uns einer zu nahe kommt…“ Ich spürte, wie sie etwas mehr Druck auf den Schwertknauf ausübte und schrie wieder vor Schmerz. Ich sah die verzweifelten Blicke der anderen, doch sie waren in diesem Moment genau so hilflos und schwach wie ich. Warmes Blut lief über meinen Oberkörper. Es war nur ein kleiner Schnitt, nicht sehr tief, doch alle Kraft war aus mir gewichen und ich ließ mich nach vorne sinken, bis meine Stirn die kalte Klinge vor mir berührte.

„Jasmyn, bitte…!“, flehte Mikey. Jasmyns Blick fuhr zu ihm herum. „Bitte, lass sie!“ Ich hörte jemanden schluchzen, ein Mädchen – Billie. „Jasmyn, das hat keinen Sinn!“, versuchte Tim es nun. „Wenn du sie tötest werden wir wiederkommen und sie rächen!“

Jasmyn grinste wieder, doch sie erwiderte nichts. Offenbar schien sie der Gedanke zu amüsieren, wie die Kinder vor ihr versuchen würden, mich zu rächen, denn sie kicherte los. „Das würde ich ja gern sehen! Das ist echt verlockend, diese Idee, die ihr da habt!“, meinte sie und begann, abwesend, halb verträumt, das dünne Schwert in der Wunde zu drehen. Ich keuchte wieder vor Schmerzen und ich sah, dass Mikey Tränen über das Gesicht liefen.

Auch die anderen hatten das Gesicht entsetzt und ängstlich verzogen, Billie hatte sich an ihren Bruder geklammert, der sie mit einer Hand schützend an sich herandrückte, und verbarg schluchzend das Gesicht in seinen Haaren.

„Na, Kira, das wäre doch lustig, oder? Der Kleinkindergarten kommt, um dich zu rächen!“, lachte Jasmyn. Ich wusste, dass ich wahrscheinlich nur eine einzige Chance hatte, hier lebend rauszukommen. Ich murmelte etwas Unverständliches, was eine Antwort hätte sein können.

„Hast du was gesagt?“, fragte Jasmyn mich und lehnte sich zu mir vor, wobei sie wieder grinsend den Druck auf das Schwert erhöhte. Ich hob den Kopf und sah schnell zu Tim. „Ich sagte: „Jetzt“!“ Tim verstand sofort.

Nachdem wir so lange miteinander gekämpft hatten, wussten wir oft schon, was der andere vorhatte, bevor der es selbst wusste, daher war Tim bei Jasmyn, bevor die sich überhaupt umdrehen konnte. Er riss sie von den Füßen, sie riss das Schwert mit sich und ich spürte, wie ich keuchend zusammensank. Nur die gefesselten Hände hielten mich noch in meiner halbwegs aufrecht sitzenden Position.

Nur wenige Sekunden später war Wendy bei mir. „Nicht bewegen!“, befahl sie mir. „Danke, hab ich aber gar nicht vor!“, murmelte ich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Scarlet und Henry gegen Finn und Ruby kämpften, und die beiden gerade die Flucht ergriffen. Wenige Sekunden später lief auch Jasmyn davon.

„Hat jemand ein Messer?“, rief Wendy durchs Zelt. Tim reichte ihr seins. „Mikey!“, rief er dann. „Du und Bryan, ihr haltete Wache, okay?“, sagte er. „Sorgt dafür, dass sie uns nicht überraschen können!“ Mikey nickte und er und Bryan verschwanden durch die Zeltöffnung.

Wendy durchtrennte in sekundenschnell die Fesseln und ich spürte, wie ich noch ein Stück weiter an der Zeltstange herabrutschte, bis mich jemand festhielt. Ich sah Scarlet neben mir, dann hörte ich Tims Stimme. „Jordan, Thomas, Henry, Billie!“ Die vier sahen zu ihm. „Ab mit euch! Die anderen können Verstärkung sicher gut gebrauchen!“, rief er und die vier Kinder verschwanden. Während Wendy die Wunde untersuchte, sah ich mich im Zelt um. Zurückgeblieben waren nur Tim, Scarlet, Wendy, Chloe und ich. Draußen vor dem Zelt mussten noch immer Mikey und Bryan stehen.

Ich kniff die Augen zusammen und stöhnte, als Wendy die Wunde berührte. „Tut mir Leid, das muss ich machen!“, sagte sie. Ich nickte. „Ich weiß.“ Kurz darauf stand sie auf. „Ich will mal wissen, woher du dein Glück hast!“, sagte sie und verschränkte sie Arme vor der Brust. „Hätte Jasmyn dich einen Zentimeter weiter oben oder weiter rechst getroffen, wärst du tot!“, erklärte sie. Dann wandte sie sich an Tim. „Nur eine Fleischwunde, sie wird überleben!“, teilte sie ihm mit.

„Ich wusste gar nicht, dass du das kannst!“, sagte Tim. Wendy zuckte die Schultern. „Ich wollte früher immer Ärztin werden und meine Eltern haben mich bei einem Erste-Hilfe-Kurs angemeldet. Dort habe ich viel gelernt und später hat der Vater einer Freundin uns ein paar Mal mit in seine Praxis genommen, wenn wir früher Schulschluss hatten und wir haben ihm zugesehen, aber das ist ja jetzt egal. Kannst du Kira tragen?“, fragte sie Tim.

Er nickte und kam auf mich zu. Ich winkte ab. „Das geht schon! Ich kann laufen!“, sagte ich und versuchte, aufzustehen, doch Wendy und Scarlet hielten mich zurück. „Ja klar, und ich kann fliegen!“, meinte Wendy. „Keine Widerrede, Tim wird dich tragen. Wenn ich mich nicht total irre, wird’s dir in spätesten fünf Minuten sowieso so schlecht gehen, dass du uns umkippen würdest!“, meinte sie und Tim hob mich hoch. „Danke für die Warnung!“, sagte ich und verzog das Gesicht, doch ich hörte noch, wie sie Tim zuflüsterte: „In spätestens drei Minuten ist sie weg.“

Wendy behielt recht, denn kaum waren wir draußen wurde mir schlecht. Ich merkte noch, dass Scarlet Mike und Bryan zu sich rief, dann verlor ich das Bewusstsein.

 

 

Als ich aufwachte sah ich Lia, die mir gegenübersaß und mit Wendy redete und kicherten, neben meinem Kopf saß Scarlet. Als die drei merkten, dass ich wach war, begann Lia zu lächeln. „Hey, Kira, schau mal! Ich hab eine neue Freundin!“, sagte sie und zog Wendy zu sich heran. „Wir können jetzt zusammen über irgendwelchen medizinischen Firlefanz fachsimpeln, weil sie sich so gut auskennt, wie ich!“, sagte Lia und kicherte. Ich setzte mich vorsichtig auf.

„Das will ich doch mal hoffen!“, antwortete ich und befühlte erst meine Rippen, dann die Stelle, an der Jasmyns Schwert mich getroffen hatte.

„Alles klar, Wendy und ich haben uns darum gekümmert!“, sagte Lia. Wendy nickte. „Die Wunde an deinen Rippen hab ich neu genäht!“, erklärte sie mir. „Ich weiß nicht, welcher Anfänger die genäht hat, aber sehr gut war es nicht!“

Ich musste lachen, was allerdings ziemlich wehtat. „Das kann ich mir vorstellen!“, sagte ich, während ich an Kilianas Versuche dachte, die Wunde zu versorgen.

„Was die Stichwunde hier betrifft…“, begann Wendy, „Die kann man nicht nähen. Da musst du warten, bis sie von allein zusammenheilt!“ Ich nickte, vorsichtig, da mir jede Bewegung Schmerzen bereitete. Ich legte mich wieder hin, dann sah ich Lia fragend an. „Und was ist mit dir?“, fragte ich sie. Sie winkte ab. „Nicht so schlimm. Nur ein paar Kratzer und Schürfwunden…“, sagte sie ausweichend. Wendy stieß sie an. „Was ist mit deinem Kopf?“, fragte ich sie.

„Gehirnerschütterung!“, antwortete Wendy für sie, als Lia keine Anstalten machte, meine Frage zu beantworten. Ich runzelte die Stirn. „Dann solltest du aber nicht sitzen!“, sagte ich. Wendy nickte. „Hab ich ihr auch gesagt, aber sie hat sich um keinen Preis hinlegen wollen, bevor sie sich nicht davon überzeugt hatte, dass es dir gut geht!“, erklärte sie.

Dann überredete sie Lia und mich, noch etwas zu trinken, vor allem Lia, die mit ihrer Gehirnerschütterung viel trinken musste, danach legten wir uns hin. „Wie geht’s dir?“, fragte Scarlet. „Geht so…“, sagte ich schwach. „Mir tut alles weh und…“ Ich konnte irgendwie nicht klar denken. Ich fand die Vorstellung, dass Jasmyn und ihre Leute Lia und mir so gezielt Schmerzen zugefügt hatten, um Informationen aus uns herauszubekommen, so absurd… Das war einfach nicht mehr menschlich. Das wollte nicht in meinen Kopf.

Ich stöhnte und ließ meinen Kopf an Scarlets Schienbein sinken. Scarlet merkte, dass ich jetzt etwas Zuneigung brauchte und nahm meine Hand. „Möchtest du reden?“, fragte sie mich, doch ich schüttelte nur stumm den Kopf.

Also machte Scarlet es sich neben mir bequem und sagte: „Wenn du willst, bleibe ich die ganze Nacht bei dir.“ Ich kicherte, was mir wieder weh tat. Das war ja echt nett von ihr, aber eigentlich wollte ich jetzt am liebsten schlafen, oder allein mit Lia sein. Nur Lia verstand, was sich da in den letzten Tagen verändert hatte. Denn irgendetwas in mir hatte sich eindeutig verändert und ich wusste, dass es mir nie mehr möglich sein würde, so zu leben, wie früher.

Als Scarlet merkte, dass ich meine Ruhe haben wollte, strich sie mir durch die Haare, dann lehnte sie sich vor und stupste mir mit dem Zeigefinger auf die Nase.

„Das habe ich immer bei Bailey gemacht, wenn sie krank war, und meine Eltern wieder mal nicht da waren, oder mein Vater keine Lust hatte, sich um sie zu kümmern“, sagte sie, als ich grinste. „Du gehörst jetzt zu uns!“, sagte sie und lächelte mich an. Sie versuchte, mich abzulenken, das wusste ich, aber trotzdem hätte ich jetzt am liebsten meine Ruhe gehabt und einfach nur nachgedacht. Es gab so viel, was ich in meinem Kopf ordnen und sortieren musste. „Du bist jetzt Kira Brainton. Oder Bailey und ich heißen Mathlock“, lachte Scarlet. „Ich würde meinen Namen doch sehr gerne behalten!“, sagte ich schwach, aber lächelnd. „Immerhin habe ich mir damit richtig was aufgebaut. Aber dann sind wir eben eine Patchwork-Familie. Und jeder hat seinen eigenen Namen“, schlug ich vor. „Gerne. Aber egal, was passier: Wir drei sind jetzt eine Familie. Das bedeutet, dass du immer mit mir und Bailey reden kannst, wenn du möchtest“, sagte Scarlet und strich mir über die Stirn. Dann stand sie auf und ging.

„Kira?“, fragte Lia mich irgendwann in die Stille hinein.

„Ja?“

„Es tut mir Leid… Du weißt schon was!“, sagte sie, als ich keine Antwort gab.

„Ja.“ Es ging um den Tod meines besten Freundes Jannis. Und ihr Verhalten danach.

„Ich…Ich habe in dem Moment einfach nicht gewusst, was ich tun soll. Also hab ich versucht, es zu verdrängen.“

„Ich weiß. Ich… Ich muss mich auch entschuldigen. Dafür, dass… Dass ich dich so angeschnauzt habe.“

„Das musst du nicht. Ich hab zuerst zugeschlagen. Ich habe nicht nachgedacht. Das war so dumm von mir!“

„Nein, das war nur eine Reaktion auf mein Verhalten!“, meinte ich. „Aber ich… ich musste die ganze Zeit daran denken, dass es meine Schuld ist!“, sagte ich und ich merkte, dass mir eine Träne über die Wange in den Ausschnitt meines T-Shirts lief.

„Das stimmt doch nicht, Kira! Red dir das nicht ein!“, rief Lia.

„Du weißt nicht, was passiert ist, oder?“, fragte ich sie.

Ich sah zur Seite und sie schüttelte den Kopf. Ich nickte. „Dachte ich mir.“ Ich drehte mich wieder weg, doch ich spürte Lias Blick in meinem Nacken.

„Möchtest du darüber reden?“, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf, doch ich fing trotzdem an zu erzählen.

„Weißt du, in diesem Kampf habe ich die ganze Zeit versucht, zu Jasmyn zu kommen, um sie zu töten und den Kampf möglichst schnell zu beenden. Oder den Anderen zu helfen, die es mit übermächtigen Gegnern zu tun hatten…“, erklärte ich Lia.

„Die ganze Zeit war da nur dieses eine Ziel für mich. Ich hab gekämpft, und gekämpft, und gekämpft. Und irgendwann hab ich Jasmyn dann gesehen. Sie stand direkt vor mir, nur ein paar Meter von mir entfernt. Mit einem Bogen und einem Pfeil in der Sehne. Ich hatte nur mein Schwert, der Bogen und der Köcher waren bei Henry. Da lag nur einige Schritte neben mir ein Bogen, den jemand fallen gelassen haben musste. Aber er war zu weit weg. Jasmyn hat die Sehne gespannt und gezielt, und grade, als sie den Pfeil losgelassen hat, hat er mich auf die Seite gestoßen und…“ Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Tränen daran zu hindern, aus meinen Augen zu laufen. „Und…“ Ich wollte nicht weiterreden. Ich konnte nicht weiterreden.

Ich spürte Lias Arm, der sich vorsichtig um meine Schultern legte. „Es ist meine Schuld. Alles!“, schluchzte ich. „Wenn du meinst“, sagte Lia. Ich sah zu ihr. „Was meinst du damit?“, fragte ich sie. Lia zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst, dass du so hilflos bist, dass Jannis gar keine andere Wahl gehabt hatte, als dich zu retten, weil du so ein kleines, süßes, niedliches Mädchen bist, von mir aus! Aber denk daran: Du hast Jannis nicht vor dich gezerrt – er hat sich selbst dazu entschlossen, dir das Leben zu retten. Jannis ist ein schlauer Junge. Er hatte mit Sicherheit seine Gründe!“, sagte Lia. Ich schwieg.

„Jannis hat sich etwas dabei gedacht, als er das getan hat! Er hat dein Leben über seins gestellt! Glaubst du, er würde wollen, dass du dir jetzt die Schuld an seinem Tod gibst?“, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf. „Dann solltest du ihm doch jetzt dafür danken, dass er dich gerettet hat, indem du aufhörst, dich selbst für Sachen zu bestrafen, die außerhalb deiner Macht stehen, oder?“, fragte Lia. Das leuchtete mir ein.

„Vielleicht hast du recht…“, sagte ich. „Natürlich hab ich das, du Dummerchen!“, sagte Lia, doch in ihrer Stimme lag keine Verachtung, eher Mitleid. Sie rutschte wieder ein Stück von mir weg und ich rollte mich unter der Decke zusammen.

„Und du hast ja gehört, was Scarlet gesagt habt: Ihr seid eine Familie. Du kannst mit ihnen reden. Und für mich gilt dasselbe. Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du ein Problem hast, und ich werde versuchen, dir zu helfen.“

„Und wenn du ein Problem hast, dann komm zu mir!“, sagte ich zu Lia. „Dann werde ich versuchen, dir zu helfen.“ Lia nickte. „Wir müssen jetzt zusammenhalten. Nicht nur wir beide, wir alle. Vielleicht hatten die letzten Tage auch ihre guten Seiten…“ „Was meinst du?“, fragte ich sie. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass an den letzten Tagen etwas hätte gut sein sollen.

„Wir haben eine gemeinsame Erinnerung, auch wenn sie nicht besonders schön ist. Aber wir haben etwas das uns verbindet. Und wenn wir das Gefühl haben, dass uns die ganze Welt nicht mehr versteht, dann wissen wir, dass es immer jemanden geben wir, der uns versteht. Weißt du, was ich meine?“, wollte Lia wissen. „Ich glaube schon“, antwortete ich.

 

 

 

 

 

 

„Vielleicht bin ich ja verrückt…“, meinte Mikey und drehte das Stück Reh lange zwischen seinen Fingern hin und her, bevor er es sich in den Mund stopfte und kaute. „Vermutlich sogar!“, sagte Kyle und Mikey bedachte ihn mit einem wütenden Blick. „Ich hab meine Theorie noch nicht mal geäußert!“, sagte Mike und stieß Kyle an.

„Na, dann schieß los…“, sagte Kyle und aß weiter.

„Habt ihr nicht auch irgendwie das Gefühl, dass wir in Schwierigkeiten stecken?“, fragte Mikey.

Kyle stopfte sich achselzuckend eine Kartoffel in seinen Mund. „Ich meine, Jasmyn hat fünfundzwanzig gute Kämpfer, wir sind weniger und auch nur halb so gute Kämpfer!“, erklärte Mike. „Vielleicht sollten wir eine Zeit lang untertauchen!“, schlug er vor. Kyle verschluckte sich an seiner Kartoffel. „Wie meinst du das?“, fragte er. Mikey verdrehte die Augen. „Du bist nicht gerade der Schlauste, oder?“, fragte er Kyle, der ihm dafür eine Kopfnuss verpasste. „Einfach mal eine Zeit lang nichts von uns hören lassen!“, erklärte er. „Bis wir besser sind. Stärker! So, dass wir es mit ihnen aufnehmen können!“ Kyle überlegte. „Keine schlechte Idee. Wir können einfach mal… Ferien machen!“, lachte er und schon landete die nächste Kartoffel in seinem Mund. „Kannst es bei Gelegenheit ja mal Lia vorschlagen!“, meinte der Junge. Mikey sprang auf. „Bei Gelegenheit? Oh, nein! Das mach ich jetzt sofort!“ Damit rannte er davon.

Lia war wach, also unterbreitete er ihr seinen Vorschlag.

Lia hörte geduldig zu, dann sah sie zu Kira.

„Wie findest du das?“, fragte Lia. Kira nickte langsam und musterte Mikey. Dann sah sie zu Lia. „Nicht schlecht, würde ich sagen. Das würde in der Tat ein paar Vorteile für uns bereithalten: Wir können trainieren, uns für den nächsten Kampf bereit machen und so. Jetzt kommt der Sommer. Ich hab keine Lust, ständig auf der Flucht zu sein, und vielleicht würden uns Jasmyn und ihre Bande ja mal in Ruhe lassen, wenn wir sie nicht angreifen. Jedenfalls werden sie sich nicht gezwungen sehen, etwas gegen uns zu unternehmen, obwohl das natürlich nicht ewig so sein wird!“, sagte Kira.

Lia nickte. „Der Meinung bin ich auch. Also, Mike, wenn du nichts dagegen hast, kannst du beim Abendessen den Anderen unseren Entschluss verkünden. Und bis dahin setzt du dich am besten mit Tim, Scarlet, Henry und Chloe zusammen, und ihr überlegt euch einen guten Trainingsplan. Wir werden Jasmyn irgendwann gegenübertreten müssen, ob wir wollen, oder nicht!“, sagte Lia.

Mikey nickte.

„Ich gehe gleich zu ihnen!“, versicherte er den Mädchen voller Tatendrang. Dann sprintete er los, um mit Scarlet, Henry, Chloe und Tim zu reden. „Das wird ein toller Sommer!“, dachte er und lächelte.

 

ENDE DES Vierten BANDES

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MISSION

COMPLETED 5

 

 

„Seht ihr? So müsste ihr das machen!“, erklärte Tim uns und schlug in einem schnellen Schlagwechsel dreimal hintereinander abwechselnd auf meine beiden Hüftseiten.

Ich schaffte es gerade noch, den Stock abzuwehren, dann drehte ich mich zu den Kids um, die neben uns saßen und Tims Vortrag aufmerksam zuhörten. Mikey, Liam, Oliver, Scarlet, Henry, Billie, Bryan, Kyle und Connor saßen um uns herum.

In dem Moment spürte ich, wie mich etwas im Rücken traf. Ich drehte mich zu Tim um, der mit erhobenem Stock tadelnd vor mir stand. „Noch eine Lektion: Dreht eurem Gegner niemals den Rücken zu!“, sagte er und stupste mich mit dem Stock an. Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Hätte ich in einem Kampf auch nicht gemacht“, verteidigte ich mich und ging wieder in Kampfstellung.

„Bist du bereit, Kira?“, fragte Tim mich und ich nickte. Dann gingen wir die Schritte noch einmal durch, bis sie alle verstanden hatten.

„Wir kämpfen jetzt noch mal richtig!“, bereitete Tim mich vor. Ich schüttelte energisch den Kopf. Sein Training hatte mir in den letzten sechs Wochen mehr blaue Flecken eingebracht, als die vielen Jahre, die ich davor mit ihm trainiert hatte, zusammen. Er schien ganz darauf versessen zu sein, mir und den anderen Kindern zu zeigen, was ich alles falsch machte.

„Vergiss es!“, sagte ich abwehrend. „Stell dich nicht so an! Ein einziges Mal noch, okay?“, fragte Tim mich. Ich gab auf. Tim gewann immer, nicht nur beim Kämpfen. „Von mir aus.“ Wir stellten uns einander gegenüber und ich griff ihn zuerst an. Wir schlugen uns eine Weile lang die Stöcke um die Ohren, dann landete ich einen Treffer an Tims linkem Schulterblatt. „Gut gemacht! Weiter!“, befahl Tim und ich griff, durch meinen Treffer ermutigt, weiter an. Doch der Treffer hatte mich auch unvorsichtig gemacht, deshalb landete Tim vier Treffer in Folge, zwei an meiner Hüfte, einen an meinem Schienbein und den Letzten an meiner Schulter, bevor ich es schaffte, ihm mit dem Stock auf den Kopf zu schlagen.

Der Schlag war wohl ziemlich heftig gewesen, denn Tim taumelte zurück und ich sprang vor, um den Kampf möglichst zu beenden, doch Tim fing sich wieder, bevor ich ausholen konnte und wehrte meinen Schlag ab. Keuchend wich ich einen Schritt zurück, packte meinen Stock fester und täuschte einen Schlag auf Tims rechtes Handgelenk an, ließ den Stock jedoch auf seine linke Schulter hinuntersausen. Das hätte vielleicht geklappt, wenn mein erster Schlag leichter zu durchschauen gewesen wäre, doch Tim, der scheinbar meine Finte nicht einmal bemerkt hatte, schlug bereits nach meinem Kopf. Ich wich zurück, doch der Stock traf mich hart an der Nase.

Ich hatte meinen Stock bereits wieder erhoben, als ich merkte, dass mir warmes Blut aus der Nase lief. „Ähm, Kira, du blutest!“, rief Connor, doch ich ignorierte ihn. „Den Kampf werde ich gewinnen!“, knurrte ich und schlug nach Tims Hüfte. Er konnte den Schlag abwehren, doch mein nächster Schlag kam sogar für ihn unerwartet und daher erwischte ich ihn am Kinn und kurz darauf an beiden Schultern.

„Schön, du hast gewonnen, und jetzt kümmere dich um deine Nase!“, lachte Tim. Ich setzte mich zwischen Connor und Wendy, die mir ein Taschentuch reichte und Connor dann auftrug, eine Flasche Wasser zu holen.

Inzwischen war Scarlet aufgestanden und Tim zeigte an ihr weitere Übungen.

Ich sah aus den Augenwinkeln, wie am anderen Ende des Lagers Quinn, Conny und Josy das Essen vorbereiteten und Eliza und Bailey gerade mit einigen leeren Wasserflaschen losmarschierten, um sie zu füllen. Connor kam mit der Wasserflasche zurück und Wendy machte ein Tuch nasse. Dann legte Connor es mir in den Nacken. Ich bekam eine Gänsehaut und der Junge lachte. „Frierst du etwa?“, fragte er mich und drückte etwas stärker auf das Tuch, sodass das kalte Wasser meinen Nacken hinab bis zu meinem Rücken lief. Ich boxte ihn in die Schulter und er versuchte, ein weiteres Lachen zu unterdrücken. „Hör auf, du…!“ Ich ließ den Satz in der Luft hängen. Sollte er sich selbst ausdenken, als was ich ihn beschimpfen wollte. Doch auch ich konnte ein Lachen schließlich nicht unterdrücken, weshalb Connor mich nicht so ernst nahm.

Dann lauschten wir beide wieder vorbildlich Tims „Unterricht“.

Irgendwann hörte meine Nase auf zu bluten und ich schmiss das Tuch weg. Es dauerte noch eine Weile, bis Tim merkte, dass seine Lieblingsschülerin wieder trainingstauglich war, doch er merkte es. „Hat deine Nase aufgehört zu bluten?“, fragte er mich. Ich zögerte. „Jaaa…“, sagte ich gedehnt. „Kommst du wieder her?“ „Nein…“, sagte ich ebenso gedehnt. Als ich Tims bösen Blick sah, setzte ich zu einer Erklärung an: „Weißt du, ich hab meinen Tag bis ins kleinste Detail geplant!“, fing ich an. „Ich werde hier rumlungern, dir vielleicht zugucken, eventuell etwas essen und trinken, aber der Punkt „mir von Tim alle Knochen brechen lassen“, ist nicht dabei!“, sagte ich. Um mich herum hörte ich vereinzelte Lacher, doch Tim sah mich immer noch so böse an, dass ich weich wurde.

„Scarlet, gib den Stock her!“, sagte ich und stand auf. Scarlet warf mir den Stock zu, ich fing ihn auf und dann kämpften Tim und ich wieder. Es dauerte nicht lange, da hatte Tim bereits zwei Treffer: Einen an meinem Oberarm und einen weiteren an meinem Ellenbogen. Jetzt war ich vorsichtiger und lange Zeit schaffte keiner von uns es, einen Treffer zu erzielen, doch schließlich ließ meine Schnelligkeit und auch meine Konzentration nach. Tims erster Schlag traf mich am Kopf. Ich sah Sternchen, ließ meinen eigenen Stock sinken und wich zurück, da explodierte seitlich an meinem Knie ein weiterer gellender Schmerz. Tim stieß mich noch einmal in die Rippen, entwaffnete mich und stieß mich dann zu Boden.

„Das war Glück!“, sagte ich, während ich taumelnd wieder hochkam und meinen Stock suchte. Dann stellte ich mich wieder vor Tim, doch mir war schwindelig und ich hatte Kopfschmerzen.

Daher traf bereits Tims erster Schlag. „Au!“, rief ich und hielt mir den Oberarm. „Den hättest du aber abwehren können!“, meinte Tim. „Haha, lustig! Welchen von den zwei Stöcken meinst du denn?“, sagte ich, denn ich sah tatsächlich doppelt. „Vielleicht machst du besser noch mal eine kleine Pause!“, meinte Tim. „Tolle Idee!“, knurrte ich und setzte mich wieder hin.

Tim kämpfte jetzt wieder gegen Scarlet und ich sah ihnen wieder zu – nur diesmal nicht so aufmerksam wie zuvor.

Ich hatte mich gegen Connor gelehnt und die Augen geschlossen. „Ich bin hundemüde…!“, stöhnte ich. Mein Magen knurrte. „Und du hast Hunger!“, meinte Connor. „Das auch!“, sagte ich.

Scarlet und Tim trainierten gerade einen etwas längeren Schlagabtausch und setzte mich wieder auf. „Essen ist fertig!“, schrie Quinn gerade. Ich drehte mich um und stand auf. „Kommt!“, sagte Tim auch und er und Scarlet legten die Stöcke weg. Ich half Connor und Mikey hoch, dann gingen wir zusammen zum Essen. „Ihr müsst nachher wieder jagen gehen!“, berichtete uns Conny. „Wir haben fast kein Fleisch mehr!“ Ich nickte, dann aß ich meine Rehkeule. Nach dem Essen versammelten, Connor, Jordan, Joshua, Thomas, Tim und ich uns unter einer großen Tanne, wo unsere Waffen aufgeschichtet waren.

Tim hatte Jannis’ Platz an meiner Seite eingenommen, nachdem dieser gestorben war, doch er konnte ihn natürlich nicht vollkommen ersetzen. Noch immer hatte ich das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlte, dabei war das jetzt schon sechs Monate her.

Im Februar wurde Jannis getötet, jetzt war es fast August.

Wir nahmen uns jeder einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen, Joshua nahm seine zwei Speere, dann gingen wir auf die Jagd. Anfangs jagten wir noch gemeinsam in einer großen Gruppe, doch als wir ein junges Reh, vier Hasen und drei Truthähne erlegt hatten, brachten Joshua und Tim die Beute zurück, da sie die Stärksten von uns waren. Dann gingen Thomas und Jordan in eine Richtung und ich und Connor in die Andere.

Connor und ich unterhielten uns über Gott und die Welt, während wir Kiefernrinde von den Bäumen schnitten und sie in einen Sack packten, Äpfel und andere Früchte von den Bäumen pflückten, und Pilze sammelten. „Bist du dir sicher, dass man die essen kann?“, fragte Connor mich. „Nö. Aber Quinn und Conny werden das wissen!“, sagte ich. Wir packten sie zu dem restlichen Essen und gingen schließlich wieder zum Lager zurück.

Wir waren die letzten Jäger, Jordan, Joshua, Thomas und Tim waren bereits zurück. Joshua hatte mit seinem Speer noch vier Fische gefangen, die bereits zum braten über dem Feuer brutzelten.

Wir ließen den Sack mit unseren Vorräten neben das Feuer fallen und Josy und Conny machten sich daran, alles zu sortieren.

Dann setzten wir uns neben Tim und Jordan, die beide einen Apfel in der Hand hielten, und beobachteten, wie Scarlet und Lia einen Stockkampf austrugen. „Lia, pass auf deine Beine auf!“, schrie Tim. Er schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. „Mensch, das gibt’s doch gar nicht! Scarlet! Du hast auch noch eine linke Seite, die gedeckt werden möchte!“, schrie Tim und ich musste kichern.

Dann gab ich Eliza und Bailey Tipps, die sich im Bogenschießen übten. „Ellenbogen höher, Bailey!“, rief ich. Ich sah, wie sie das Gesicht verzog und versuchte, die Sehne zu halten, doch sie war zu schwach und musste den Pfeil loslassen.

„Versuch es noch mal, aber jetzt ist erst Eliza dran!“, sagte ich. Eliza beging den Fehler, dass sie die Bogensehne nicht genug spannte, und der Pfeil erreichte die Zielscheibe nicht einmal.

„Das wird schon!“, munterte ich sie auf. Die beiden schossen noch ein paar Pfeile abwechselnd ab und ich beobachtete sie dabei, dann stand ich auf und ließ sie allein.

Tim saß noch immer kopfschüttelnd neben Jordan und Thomas – Connor war verschwunden.

„Tim, hast du Lust noch mal mit in den Wald zu kommen?“, fragte ich ihn und streckte ihm den Bogen entgegen. Er nickte, ich half ihm hoch und drückte ihm den Bogen in die Hand. „Erwartete uns nicht zum Abendessen!“, sagte er, dann rannten wir los. „Wollt ihr irgendwo hin?“, fragte Connor uns. Wir grinsten. „Kannst mitkommen!“, erklärte Tim und zu dritt rannten wir in den Wald. „Wohin wollen wir?“, fragte ich die Jungs. „Hm.. Da lang!“, sagten beide und zeigten in verschiedene Richtungen. Wir lachten alle drei laut los, dann liefen wir einfach weiter gerade aus.

Es tat gut, alles um mich herum zu vergessen.

Und das erste Mal seit langer Zeit konnte ich wieder glücklich sein.

Ich beobachtete die Jungs neben mir: Sie liefen schnell und geschmeidig durch den Wald, beide mit einem Bogen in der Hand, ich mit meinem eigenen zwischen ihnen. Wir redeten und lachten, ignorierten die Tiere um uns herum jedoch vollkommen. Jagen konnten wir noch, wenn wir hungrig wurden. „Hey, Kira! Ich wette mit dir, dass ich diesen Baumstamm dort genau dort treffe, wo die Rinde etwas abgeschält wurde!“, prahlte Tim. Ich lächelte. Der Baum stand gut fünfzig Schritt weit von uns weg und die Fläche, die Tim treffen wollte, war nur ungefähr handtellergroß, wenn überhaupt.

„Niemals!“, wettete Connor dagegen. „Tim, du kannst wirklich nicht gut schießen!“, sagte auch ich lachend. „Für dich würde ich alles treffen!“, meinte er. Connor lachte. „Gut, ich wette dagegen! Aber ich treffe!“, sagte er überzeugt. „Tust du nicht!“, meinte Tim herablassend. „Tu ich doch!“, meinte Connor. „Tust du nicht!“ „Aber du natürlich, nicht wahr?“, fragte Connor und lachte. „Klar!“, sagte Tim und zog die Augenbrauen hoch. Die Jungs griffen gleichzeitig nach ihren Pfeilen, legten einen ein und zielten. „Ich wette, keiner von euch schafft das!“, sagte ich. „Connor und Tim sahen mich gleichzeitig an. „Für dich treffe ich alles!“, sagten sie gleichzeitig. Dann lachten sie und konzentrierten sich wieder auf ihr Ziel.

Das war so ein Spiel geworden. Die Jungs dachten sich irgendetwas Verrücktes aus und schworen irgendeinem Mädchen, sie würden jetzt nur für sie das unmögliche Wagen.

Das Lustigste war, als Joshua Josy versprach, ein Eichhörnchen für sie zu fangen. Das ging natürlich vollkommen daneben.

Ich beobachtete Connor und Tim, einen Augenblick war der Wald verstummt – dann ließen sie beinahe zeitgleich die Sehne los. Tims Pfeil verfehlte den Baum um fast einen halben Meter, während Connors Pfeil ein Stück Rinde vom Baum riss.

„Wenigstens sind die Pfeile so weit geflogen!“, meinte Connor dann. „Komm, wir holen sie wieder!“, sagte Tim. „Warte! Da Kira vorhin davon überzeugt war, wir könnten das nicht, wüsste ich jetzt mal gern, ob sie es besser kann!“, sagte Connor und lehnte sich auf seinen Bogen.

„Da hast du recht!“, stimmte Tim zu und die Jungs sahen mich beide Erwartungsvoll an. Ich sah zum Baum. Ich hatte schon aus größerer Entfernung getroffen, allerdings war das Ziel hier kleiner.

Ich legte dennoch einen Pfeil ein, spannte die Sehne so stark ich konnte und zielte. Ich hörte die Jungs neben mir atmen, einen leichten Windstoß, der mir die Haare aus dem Gesicht blies. Kaum war er vorbei, ließ ich die Sehne los.

Der Pfeil war so schnell, dass man ihm kaum mit den Augen folgen konnte. Keine zwei Zentimeter vom Ziel entfernt schlug der Pfeil in die Rinde.

Auch wenn ich nicht getroffen hatte – ein guter Schuss war es allemal. Die Jungs jubelten und klopften mir auf die Schulter. Man sah ihnen an, dass sie stolz auf mich waren. „Das hat sie alles nur mir zu verdanken!“, sagte Tim großspurig. „Ja, natürlich!“, sagte Connor sarkastisch und sah mich an. „Er hat recht!“, lachte ich. „Er hat mich beim Kämpfen immer so fertig gemacht, dass ich danach rein aus Protest den Rest des Tages nur noch geschossen habe – deshalb habe ich auch so viel Übung!“, lachte ich.

„Hey!“, protestierte Tim und kitzelte mich. Ich lachte, befreite mich und lief los, die Jungs folgten mir dicht auf den Fersen.

Wir sprinteten durch den Wald, bis ich sehen konnte, dass sich vor uns der Wald lichtete. Ich wurde langsamer – hier war ich noch nie gewesen. Wir gingen weiter und kamen schließlich auf einen Feldweg. Rechts und links von uns wuchsen Maisfelder. „Davon könnten wir doch auch welche mitnehmen!“, schlug Tim vor. „Du meinst, stehlen?“, fragte ich ihn. „Warum nicht?“ Ich sah mich um. „Aber hier sieht man uns doch!“, sagte ich dann leise. Tim zuckte mit den Schultern. „Gut, dann gehen wir eben ins Maisfeld rein!“, sagte er und war kurz darauf zwischen den hohen Maisstauden verschwunden, Connor folgte ihm.

Demnach blieb mir nichts anderes übrig, als den Jungs hinterherzulaufen. „Kommt zurück!“, rief ich leise. Ich hörte die Jungs vor mir Kichern. Irgendwie war mir das alles unheimlich. „Connor? Tim?“ Ich blieb stehen und drehte mich im Kreis. Wo waren sie? Da hörte ich ein Knacksen vor mir. „Tim?“ Ich machte einen Schritt darauf zu. „Connor?“

Keine weiteren Geräusche. Es war still, totenstill um mich herum. „Wo seit ihr?“, rief ich jetzt lauter. Ich hörte wieder Geräusche, doch diesmal waren sie weiter weg. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich rannte los, los in die Richtung aus der ich gekommen war. Oder war es gar nicht diese Richtung? „Tim?“, schrie ich. „Kira! Komm her!“, hörte ich ihn schließlich.

Ich folgte seiner Stimme. Da waren sie. Ein Glück…

„Da bist du ja. Wir dachten schon, du hättest dich verirrt, oder wärst von irgendeinem aggressiven Monster, das hier haust, gefressen worden…“, kicherte Tim. „Das ist nicht lustig!“, sagte ich und schubste ihn. „Ich hab mich tatsächlich verlaufen!“ „Du?“, fragte Tim erstaunt. „Dabei dachte ich immer, wenn hier jemand einen guten Orientierungssinn hat, dann du!“ Er kicherte wieder – heute war er aus irgendeinem Grund unglaublich albern.

„Können wir jetzt gehen?“, fragte ich. Von der Rennerei war mir heiß geworden und ich sehnte mich nach dem schattigen Wald. „Klar!“, sagte Connor und wir arbeiteten uns aus dem Maisfeld heraus.

Als wir wieder auf dem Weg waren, war der Wald verschwunden. Dafür lag ein kleines Dorf vor uns.

„Cool…“, staunte Connor neben mir und auch ich bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. „Ich wusste gar nicht, dass es hier ein Dorf gibt!“, meinte Tim. „Ich auch nicht!“, sagte ich.

Wir gingen langsam in das Dorf hinein. Hier und da sahen wir ein paar Leute, die durch die Gassen liefen, oder Kinder, die in den Straßen oder Gärten spielten.

Wir betraten ein Geschäft und sahen uns um. „kann ich Ihnen helfen?“, fragte uns der Verkäufer. „Wir… Wir schauen uns nur um!“, meinte ich und betrachtete eine große Frucht, vor mir, die ich noch nie gesehen hatte. Der Verkäufer bemerkte meinen Blick.

„Das ist eine Papaya. Sie stammt von einer entlegenen Insel, die heute kaum noch bereist wird. Eigentlich ist sie so gut wie ausgestorben. Haben Sie Interesse?“, fragte er mich. Sie… Es war seltsam, gesiezt zu werden. Früher war ich noch zu klein, in der Schule wurden wir nicht gesiezt und dann hatte ich keinen Kontakt mehr zu erwachsenen Leuten gehabt. Daher brauchte ich etwas, bis ich begriff, dass ich gemeint war. „Nein, danke, ich glaube nicht, dass ich mir das leisten kann!“, sagte ich. Der Verkäufer zuckte mit den Schultern. „Schade.“ „Wir möchten gar nichts kaufen, sondern etwas verkaufen!“, sagte Tim.

Der Verkäufer hob die Augenbrauen. „Tatsächlich? Und das wäre…?“ Tim zeigte dem Mann die Maiskolben. „Nun ja, die sind ja ganz nett, aber Mais hab ich eigentlich genug…“, meinte der Verkäufer. Sein Blick fiel auf unsere Waffen. „Das sind sehr hübsche Exemplare!“, sagte er und deutete auf Connors Bogen. Ich reichte ihm zögerlich meinen Bogen und er sah ihn sich genau an. „Darf ich fragen, wo Sie diese Waffen herhaben?“, fragte er uns jetzt und gab mir den Bogen zurück. „Nein“, erwiderte Tim knapp, „Sie erzählen uns ja auch nicht ihre ganze Lebensgeschichte.“

Mein Blick wanderte durch den Laden und blieb an einem Plakat hängen. „Jungs…!“, sagte ich.

Das Plakat zeigte uns. Besser gesagt, Lia Sylvane. Doch daneben hingen drei weitere Plakate, von denen eins mich zeigte, ein weiteres Scarlet Brainton und eins Mikey Jovins. Wahrscheinlich waren wir die Bekanntesten, obwohl ich nicht wusste, wie Scarlet zu dem Ruhm gekommen war. Vielleicht war sie auch einfach als eine der Gefährlichsten eingestuft worden, wenn man bedachte, wie sie ihr Schwert schwang.

„Nicht jetzt, Kira!“, sagte Tim und wandte sich zu dem Verkäufer. Ich betete, dass er meinen Namen nicht gehört hatte, trotzdem war ich neugierig geworden und ging näher an das Plakat heran. Da stand mein Name: Kira Mathlock. Darunter ein kurzer Text und dann eine 5 und drei Nullen. Das war der Preis, der für mich ausgesetzt wurde. Kurz war ich beleidigt. Hatte ich ein Jahr lang im Wald rebelliert, um nur läppische 5 000 wert zu sein? Aber mir wurde schnell klar, dass das für viele Menschen eine schöne Summe war. Und diese Summer würde niemand einfach so ausschlagen.

„Wieso halten sie diese Bogen für etwas so Besonderes?“, fragte Tim. Der Blick des Verkäufers huschte kurz zu mir. „Weil die einzigen, die so aussehen, normalerweise nur in den Kampfschulen benutzt werden!“, sagte der Verkäufer und in diesem Moment wusste ich, dass er meinen Namen gehört hatte, dass er wusste, wer ich war, und vor allem wusste ich, dass wir in Schwierigkeiten steckten.

„Oh, nun, das lässt sich leicht erklären…!“, begann Tim, und ich sah an seinen roten Ohren, dass er drauf und dran war, sich eine seiner wilden Lügengeschichten auszudenken, doch ich packte Connor und Tim an den Ärmeln, brüllte: „Abhauen!“, und rannte mit ihnen nach draußen. „Was war denn das?“, fragte Tim mich, als ich mich hektisch umsah. „Hast du die Plakate nicht gesehen? Sie suchen uns!“, sagte ich und lief dann nach links. Ich hörte an den Geräuschen auf den Pflastersteinen, dass Connor und Tim mir folgten, kurz darauf klingelte die Ladenglocke, als der Ladenbesitzer aus dem Laden sprang und schreiend hinter uns herlief. „Diebe! Haltet die Diebe!“, hörte ich ihn brüllen, und jetzt wusste ich, dass wir nicht nur Schwierigkeiten, sondern in Lebensgefahr waren. Wenn sie wussten, wer wir waren, wäre es kein Problem, uns auch noch einen Diebstahl anzuhängen, oder eventuell aus versehen auf uns zu schießen.

„Nichts wie weg hier!“, schrie ich Tim und Connor zu und wir sprinteten die Straße entlang. Ich hörte, wie sich Türen öffneten und einige Leute die Verfolgung aufnahmen, doch ich sah mich nicht um. Meine Kraft ließ nach und Tim überholte mich. „Nicht nachlassen!“, rief er und zog mich weiter. Connor war inzwischen auch neben uns und ich hörte an den lauter werdenden Schritten, dass auch unsere Verfolger aufholten. „In den Wald! So schnell wie möglich!“, schrie ich, als die ersten Schüsse fielen.

Geduckt rannten wir um eine Hausecke und in einem großen Bogen wieder zurück durchs Dorf.

Weitere Schüsse fielen hinter und, doch niemand wurde getroffen. Haken schlagend brauchten wir ungefähr doppelt so lange, um das Ende des Dorfes zu erreichen, wie wir normalerweise auf dem direktesten Weg gebraucht hätten, doch als wir das Dorf hinter uns gelassen hatten, wagten wir noch lange nicht, stehen zu bleiben.

Erst, als wir den Weg durch das Maisfeld zurückgelegt hatten und den Waldrand erreicht hatten, blieben wir stehen, um zu Atem zu kommen. „Oh mein Gott…“, murmelte Tim. „Das war aber haarscharf!“, sagte ich. Connor stand neben uns. „Ich hätte schwören können, die eine Kugel hat meine Haare erwischt!“, sagte er und betastete seinen Kopf. „Ist einer von euch verletzt?“, fragte er dann Tim und mich. Wir schüttelten beide den Kopf. Als wir wieder atmen konnten, zogen wir uns in den Wald zurück. „Nie wieder!“, sagte ich knapp. Tim und Connor nickten. Sie verstanden, was ich meinte.

 

 

 

 

 

 

Eliza saß vor Mikey und starrte Bailey an. „Sie ist doof. Das ist das Problem!“, sagte Eliza sachlich. Mikey stöhnte wütend. „Und wieso bist du dieser Meinung?“, fragte er und überlegte, ob Eliza und Bailey wohl zu weit voneinander entfernt saßen, um sie einmal schön kräftig mit den Köpfen gegeneinander zu schlagen.

„Es ist nun mal so.“ „Und du bist…!“, setzte Bailey an. „Bailey Brainton, jetzt redet Eliza!“, sagte Mikey scharf und Bailey verstummte. Zu Eliza gewandt sagte er: „Das ist kein Grund, Eliza, und das weißt du. Was genau ist eigentlich los?“ Eliza und Bailey schwiegen. Mikey klopfte Eliza wütend auf den Kopf. „Hallo, jemand zu Hause?“, fragte er. Eliza schlug seine Hand weg.

„Sie hat überhaupt keine Zeit mehr für mich! Sie hat jetzt Quinn und Conny!“, meckerte Eliza. „Man kann doch neue Freundschaften schließen!“, meinte Mikey. „Du hast doch Josy. Und du magst Quinn doch auch, oder?“ Eliza sah ihn wütend an. „Josy ist doch nur ein Baby!“ „Josy ist sechs Jahre alt und um einiges vernünftiger als ihr beide zusammen!“, warf Mikey ein.

Wieder fing er einen wütenden Blick von Eliza auf. „Wieso könnt ihr nicht alle zusammen was machen?“, fragte Mikey. „Das frage ich mich auch!“, sagte Eliza. Jetzt sah Bailey sie wütend an.

„Weil ich nicht will, dass sie dauernd wie eine Klette an mir hängt!“, sagte sie. „Ich will auch mal was alleine machen!“

Mikey seufzte. „Wisst ihr was? Was haltet ihr davon, wenn ihr mal zu Josy, Conny und Quinn geht, und was mit ihnen macht, und wenn einem von euch das zu viel wird, geht er einfach und lässt die anderen allein?“, fragte Mikey. Eliza und Bailey sahen sich an. „Doofe Idee!“, knurrte Eliza. „Dann kann ich euch auch nicht helfen!“, sagte Mikey. „Entweder ihr macht das so, oder ich kann euch nicht helfen! Also überlegt euch was! Tschüss!“, sagte Mikey und beendete damit ihre auf höchstem Niveau geführte Konversation. Eliza und Bailey standen auf und verzogen sich murrend – aber Seite an Seite.

Seufzend lehnte Mike sich zurück und sah in die Baumkronen. „Wenigstens sind sie jetzt beide sauer auf mich!“, dachte Mikey und grinste.

„Hey, Mike. Wenn du sowieso nur rum liegst, kannst du dich auch nützlich machen!“, sagte Lia und warf ihm ein Bündel Schnüre zu. „Was soll ich damit?“, fragte der Junge und ließ sie vor Lias Nase baumeln. „Mitkommen!“, forderte Lia ihn knapp auf. Mikey erhob sich und folgte Lia, die jetzt auch noch andere Kinder zusammentrommelte – Kyle, Jordan, Thomas, Chloe, Joshua, Quinn und Conny, die Zwillinge, Eliza, Josy und Liam.

„Eliza, Josy, Quinn, Conny: Ihr vier werdet versuchen, aus den Dingern halbwegs passable Netze zu knüpfen, okay?“, sagte Lia und warf ihnen die Hälfte der Bündel zu. „Der Rest kommt mit mir!“ Als sie sich zum gehen wandten, sagte Lia zu ihnen: „Falls ihr Bailey seht, sagt ihr, sie soll euch helfen! Scarlet, Henry, Oliver und der Rest sind jagen, aber was Bailey treibt, weiß ich nicht!“, erklärte Lia.

Conny nickte, dann setzten sich die restlichen Killerkids in Bewegung. Lia führte sie in zügigem Tempo durch den Wald. Sie antwortete auf keine einzige Frage. „Henry und ich haben uns zusammengesetzt und uns überlegt, dass wir unser Lager für den kommenden Winter etwas… nun ja, wetterfester machen sollten!“, erklärte sie irgendwann, als Billie und Bryan sich weigerten, noch einen Schritt weiter zu gehen, wenn Lia ihnen nicht ihren Plan erklären würde. „Und was genau hast du jetzt vor?“, wollte Liam wissen.

Lia schmunzelte. „Lasst euch überraschen!“ Irgendwann wurde das Gelände unzugänglicher, große Äste versperrten ihnen den Weg. „Billie, Bryan, Liam, Kyle, Thomas, Chloe: Sammelt von diesen Ästen so viele ihr könnt und schleift sie zurück zum Lager! Mikey, Joshua und Jordan, ihr kommt mit mir weiter!“, sagte Lia und winkte die drei Jungs mit sich. Hinter sich hörten sie die Killerkids genervt stöhnen, doch sie machten sich schnell an die Arbeit.

Die Jungs folgten Lia weiter, bis zu einer Stelle, wo der kleine Bach in einen großen See mündete. „Hier kommen unsere Seile zum Einsatz!“, sagte Lia und ließ die Schnüre fallen. „Im Fluss werden wir nachher die Netze spannen, um Fische zu fangen. Mit den Dingern hier, “, sie zeigte auf die Seile zu ihren Füßen, „müssen wir jetzt eine Halterung bauen, in die wir die Netze dann einspannen können, okay?“ Die Jungs nickten und sie machten sich an die Arbeit.

Jordan und Lia wateten durchs Wasser ans andere Ufer des Flusses, während Mikey unruhig auf die Wassermassen zu seinen Füßen starrte.

Schließlich warfen Joshua und Mikey Lia und Jordan die Seile zu und sie spannten sie einmal quer über den Fluss. Lia schrie ihnen etwas zu. Joshua und Mikey sahen sich fragend an. „Was?“, brüllten sie gleichzeitig. „Bindet die Seile gut fest!“, schrie Lia. Mikey und Joshua nickten und machten sich an die Arbeit. Schon bald waren die zwei Seile über den Fluss gespannt und sie hatten sie an Bäumen nahe am Wasser festgemacht.

Lia und Jordan kamen wieder zurück und sie machten sich auf den Weg zurück zum Lager. Dann halfen sie Conny, Quinn, Eliza, Josy und Bailey, die inzwischen aufgetaucht war, die Netze zu knüpfen.

Irgendwann tauchten Scarlet und Henry auf, die gemeinsam Jagen waren, und halfen ihnen, die Netze anzufertigen. Eine gute halbe Stunde später stießen auch Wendy und Oliver zu ihnen und halfen bei den Netzen.

In der Zwischenzeit waren die Jungs und Chloe und Billie eifrig damit beschäftigt, die Äste herbeizuschleppen. „Legte sie alle dort auf einen Haufen!“, befahl Lia.

Als sich ein großer Haufen Äste angesammelt hatte, befahlt sie Wendy, Chloe und Billie, die Zweige von den Ästen zu machen. „Werft sie aber nicht weg!“, sagte Lia noch.

Als ein Netz fertig war, schickte sie Jordan und Joshua zurück, um die Netze im Fluss zu befestigen, Mikey half den Mädchen beim Entfernen der Zweige.

Diese Arbeit war anstrengender, als die Netze zu knüpfen, doch nicht so eintönig, daher genoss Mikey diese Arbeit.

Dann kam Lia und forderte die Kinder, die mit dem heranschleppen der Äste beschäftigt waren, auf, ihnen beim Äste entfernen zu helfen. Als alle Äste von störenden Zweigen befreit waren, hatten sie zwölf gerade, gut zwei Meter lange Stöcke, und dazu viele etwa eineinhalb Meter große Äste. „Mikey, hol bitte noch ein paar Seile!“, sagte Lia und Mikey lief los, um das Gewünschte zu holen. Als er zurückkam, waren die anderen Kinder damit beschäftigt, unter dem umgefallenen Baum, der ihnen lange als Lagerstätte gedient hatte, einen Graben auszuheben, der Rest lehnte die Äste an den Baum, sodass über dem Graben ein Dach entstand. „Jetzt verstehe ich, was du mit „wetterfest“ gemeint hast!“, lachte Mikey und half ihnen.

Gegen Abend hatten sich ihnen alle angeschlossen und da es nicht genug Platz für alle gab, wies Lia die Hälfte der Kinder an, mit den kleineren Zweigen, die sie aufgehoben hatten, die Lücken zwischen den Ästen zu stopfen.

Mikey stand oben auf dem recht stabilen Dach, da er einer der leichtesten war – neben ihm standen Quinn und Eliza. Sie nahmen die Zweige entgegen und füllten die Löcher auf. Schließlich nahmen sie auch Laub, um die Lücken zu stopfen und als es dunkel war, hatten sie eine Höhle geschaffen, in der alle Kinder Platz hatten. Doch Lia ließ sie nicht schlafen. Sie befahl, die Decken und Rucksäcke zu bringen, dann befestigte sie am Dach der Höhlen, in der man aufrecht sitzen konnte, zwei Taschenlampen, die etwas Licht spendeten.

Auch Tim, Connor und Kira waren inzwischen wieder da und Conny und Josy machten Abendessen, während Eliza, Bailey und Quinn die Wasserflaschen auffüllen gingen.

Bis zum Abendessen trainierte jeder für sich Messerwerfen, Schießen, oder Stockkampf. Mikey forderte Connor zu einem Wettrennen heraus, das er gewann.

Mikey sah zur Seite, als er lautes Lachen hörte, und sah Kira und Scarlet, die sich mit Stöcken duellierten. Tim stand neben und gab ihnen wohl Tipps, doch momentan kugelte er sich vor lachen auf dem Boden, aus welchem Grund auch immer.

Kira und Scarlet warfen ihre Stöcke zur Seite und stürzten sich auf Tim, der versuchte, sich gegen sie zu wehren, doch die beiden Mädchen kitzelten Tim durch, bis der vor Lachen nach Luft schnappte.

Dann aßen sie zu Abend und legten sich danach in ihrem neuen zu Hause schlafen.

 

 

 

 

 

Lia erwachte, als Wendy auf ihre Hand trat. „Pass doch auf!“, zischte sie. Wendy entschuldigte sich kichernd, während Lia sich auf die andere Seite drehen, und weiterschlafen wollte, doch Josy ließ das nicht zu.

Mit einem großen Sprung hüpfte sie auf Lias Hüfte und setzte sich dort hin. „Aufwachen!“, sagte sie gedehnt und hielt Lia die Nase zu. „Josy, lass mich schlafen!“, brummte Lia und drehte sich auf den Rücken. Josy fiel von ihrer Hüfte und landete auf Kyle, der neben Lia gelegen hatte.

Sie entschuldigte sich und kroch wieder auf Lia zu. „Aber mir ist langweilig!“, sagte sie.

„Sag Liam, Kyle, Oliver, Eliza, Wendy, Billie und Bryan, sie sollen mit dir die Netze einholen. Vielleicht sind da inzwischen ein paar Fische drin…“, murmelte Lia und wollte weiterschlafen. „Und was ist mit dem Rest?“, fragte Josy. Lia öffnete verschlafen die Augen. Ihre Schwester saß mit verschränkten Armen auf ihrem Bauch und sah sie streng an. „Der Rest kann Frühstück machen, die Jäger sollen jagen gehen und Chloe, Henry, Kira, Tim und Scarlet sollen sich hier mit mir treffen!“, sagte Lia und stieß Josy zu Boden.

Josy nickte und krabbelte eilig davon. Lia gähnte, streckte sich und setzte sich auf. In der Nacht war ein Stück des Daches über ihrem Kopf eingestürzt und jetzt hingen kleine Zweige in die Höhle und Laub rieselte auf sie herab. „Das müsste repariert werden…“, dachte Lia und überlegte, wo sie die zusätzlichen Leute hernehmen sollte. Vielleicht konnte sie das heute Nachmittag mit Josy und Eliza erledigen.

Sie kroch auf allen vieren aus der Höhle und stand auf. Das Sonnenlicht stach ihr in die Augen, doch sie hatten sich schnell an die Helligkeit gewöhnt und Lia sah sich um.

Die Kinder gingen ihrer Arbeit nach, und sie sah, wie Connor, Joshua, Jordan und Thomas gerade aufbrachen und mit ihren Bögen – Joshua mit zwei Speeren – bewaffnet im Wald verschwanden.

Kira, Tim und Scarlet kamen auf sie zu, dicht gefolgt von Henry und Chloe. „Was gibt’s?“, wollte Kira wissen.

„Ihr müsst mir etwas helfen: Noch bevor das Jahr um ist, werden wir Jasmyn ein für alle mal vertreiben!“, sagte Lia. Chloe stöhnte. „Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, sie diesen Sommer nicht anzugreifen?“, fragte Henry. Lia nickte. „Diesen Sommer. Aber wir können und werden uns nicht ewig verstecken. Es ist bereits Ende August! In einigen Wochen werden die Tage kürzer und das Wetter kälter. Und bis dahin werden wir unser Lager in eine Festung verwandelt haben!“, grinste Lia. „Dann können sie uns nichts anhaben, selbst wenn sie es bis hierher schaffen!“ Auch Kira grinse. „Ich finde die Idee gut. Wer von euch will schon immer auf der Flucht sein?“ „Vergesst nicht, dass euer letzter genialer Plan ganz schön schief gelaufen ist!“, warf Scarlet ein und erntete dafür einen wütenden Blick von Kira und Lia.

„Wir werden Folgendes tun…“, setzte Lia an, dann erzählte sie eine volle halbe Stunde lang. In dieser Zeit begannen alle zu grinsen, als sie ihren Plan begriffen. „Das ist super! Das machen wir!“, erklärte Kira. „Dann können wir sie angreifen, aber sie uns nicht, ohne, dass wir sie bemerken und dementsprechend vorgehen können!“, lachte jetzt auch Scarlet, die ihre Meinung über Lias Pläne wohl geändert hatte.

„Wann legen wir los?“, fragte Henry. „Direkt nach dem Frühstück“, antwortete Lia. Dann gingen die Kinder gemeinsam zu Quinn, Conny und dem Rest der Kinder, und halfen ihnen mit dem Frühstück. Unter Josys Anleitung hatte die Hälfte der Kinder die Fische aus den Netzen geholt und sie mit hierher gebracht.

Nun steckten sie sie auf Stöcke und ließen sie über dem Feuer braten. Irgendwann kamen auch die vier Jungs zurück, die zum Jagen aufgebrochen waren. Sie hatten einige Äpfel mitgebracht und einen Hasen gefangen.

Lia schnappte sich einen Apfel, biss hinein und setzte sich zwischen Bailey und Conny. Sie nahm einen Stock entgegen, auf dem ein Fisch steckte und hielt ihn in die Flammen.

Als der Fisch fertig war, legte sie ihn auf ein gegerbtes Hasenfell und steckte einen neuen auf den Stab. Als sie alle Fische gebraten hatten, grillten sie ein paar Maiskolben, die Kira, Tim und Connor mitgebracht hatten. Lia unterhielt sich mit Conny und Wendy.

Als das Essen fertig war, nahm sich jeder etwas und sie aßen gemeinsam am Feuer. Danach vergruben sie die Knochen und Gräten und machten sich daran, das Loch im Dach ihrer Höhle zu stopfen, und ihr Lager in eine Festung umzuwandeln.

Lia gab den Kleineren – Eliza, Quinn, Bailey und Josy – den Auftrag, das Dach zu stopfen.

„Kira, Scarlet, Tim! Ihr geht mit Jordan, Joshua, Wendy, Bryan, Billie, Liam, Connor und Oliver in den Wald und sammelt Stöcke – große Äste, wenn möglich junge Bäume! Wenn ihr umgefallene Bäume findet, versucht, sie hierher zu schleifen! Lasst euch irgendwas einfallen!“, sagte Lia und schickte sie dann weg.

Dann sah sie sich die restlichen sechs Kinder an. „Ihr kommt mit mir!“ Gemeinsam begannen sie, rund um das Lager Markierungen in den Boden zu malen – hier hatte Lia vor, die Äste hinzulegen, um aus ihnen eine unüberwindbare Mauer zu bauen.

„Was könnten wir noch machen?“, fragte Lia die Kinder.

„Wir könnten einen Graben ausheben, um diejenigen abzufangen, die über die Bäume kommen!“, schlug Henry vor. Lia verzog das Gesicht, als sie sich vorstellte, wie viel Zeit das beanspruchen würde, doch sie fand die Idee gut. „Das dauert lange, aber wir haben ja viel Zeit! Wir sollten versuchen, den Graben mindestens einen Meter breit und genauso tief zu machen!“, sagte Lia. „Sonst wird er nichts nützen. Hat sonst noch jemand eine Idee?“

„Wir könnten den Graben mit spitzen Ästen oder Dornen füllen!“, schlug Mikey vor. Lia nickte begeistert. Sie war stolz auf ihre Bande. „Mike, Chloe und Thomas, ihr geht Dornengestrüpp suchen!“, befahlt sie und die drei Kinder liefen los. „Hat sonst noch einer eine Idee?“, fragte sie die zurückgebliebenen drei Kinder an. Sie dachten eine Weile nach, schüttelten dann jedoch den Kopf. „Gut, dann helft mir, die Äste an die richtige Stelle zu rücken!“, sagte Lia und sie machten sich daran, die Äste, die Kiras Leute inzwischen angeschafft hatten, zu den Markierungen zu schleifen.

Dann bat sie Kira, Scarlet und Connor, ihnen zu helfen.

Zu siebt ging die Arbeit schneller, und als Bryan kam, und ihnen Bericht erstattete, war Lia mehr als zufrieden. „Wir haben einen umgefallenen Baum gefunden!“, berichtete er. „Wir haben die Wurzeln und Äste abgemacht! Die anderen sind damit beschäftigt, ihn herzuschaffen!“, sagte der Junge. „Sie werden es bald geschafft haben!“ „Gut!“, meinte Lia. „Nimm Eliza, Josy, Bailey und Quinn mit, und geh mit ihnen nach weiteren Ästen suchen!“ Bryan nickte und holte die vier jüngeren Mädchen, die inzwischen das Dach repariert hatten.

 

 

Als es Abend war, hatten die Kinder zwei Bäume herangeschafft, und die östliche Seite ihres Lagers gesichert. „Jetzt müssen sie erst einmal darum herum, wenn sie uns angreifen wollen!“, stellte Kira zufrieden fest und wischte sich die dreckigen Hände an ihrer Jeans ab. Sie hatten die zwei Bäume nebeneinander gelegt, die Lücken mit großen und kleinen Ästen gefüllt, und über die Baumstämme noch weitere Äste gestapelt. Es war eine anstrengende, langwierige Arbeit gewesen, doch sie hatten es schließlich geschafft.

Noch immer war die Hälfte der Kinder unter Mikeys Anweisungen damit beschäftigt, einen Graben auszuheben. Da sie das mit den bloßen Händen machen mussten, ging hier die Arbeit nur sehr langsam voran und war äußerst nervenaufreibend, da sich der Fortschritt nur schwer feststellen ließ. Trotzdem hatte noch keiner den Mut verloren.

Die andere Hälfte von ihnen schleppte unermüdliche Äste heran, und Bryan – der so etwas wie ihr Botenjunge geworden war – hatte ihnen erzählt, dass sie bereits fünf weitere Bäume gefunden hatten, und sie sie am morgigen Tag herbringen wollten.

Lia und Kira machten sich wieder an die Arbeit. Lia half zwischen Mikey und Kyle, den Graben auszuheben.

Es war bereits dunkel, als Lia den Kindern erlaubte, aufzuhören. „Für morgen haben wir noch viel Arbeit vor uns!“, sagte sie. „Aber jetzt holt euch was zu Essen und geht dann schlafen!“

 

 

 

 

 

 

Der nächste Tag kam, und die Zeit verging schneller, als Eliza gedacht hatte. Sie war mit dem ausheben des Grabens beschäftigt. Neben ihr saßen Bailey und Josy und sie erzählten sich die verrücktesten Geschichten, um sich von der Arbeit abzulenken und nicht zu schnell zu ermüden.

Plötzlich stand Lia neben ihr. „Hey. Ich brauch euch drei! Ihr müsst die Netze überprüfen und das Essen vorbereiten. Schafft ihr das?“, fragte Lia Eliza, Bailey und Josy. Die nickten. „Klar!“ „Gut“, sagte Lia, „Dann muss ich nicht extra einen der Älteren dafür entbehren. Jede helfende Hand ist wertvoll.“

Eliza stand auf und wischte sich die dreckigen Hände an der nicht minder dreckigen Hose ab, dann gingen sie an den Fluss.

Bailey stieg sofort ohne zu zögern ins Wasser und sah Eliza auffordernd an. „Kommst du?“, fragte sie. Eliza spürte, wie sie rot wurde. „Ich kann nicht schwimmen!“, gestand sie. Bailey und Josy sahen sich ratlos an und auch Eliza hatte keine Ahnung, wie sie das Problem lösend sollten: Die Strömung des Flusses war nicht sehr stark, doch Josy konnte dagegen nicht ankommen. Außerdem war der Fluss zu tief für sie. „Es ist nicht so tief, wie es aussieht!“, sagte Bailey und zeigte auf den Grund des Flusses.

„Wenn du hier bleibst und das Netz festhältst, kann ich nach drüben schwimmen, und dort das andere Ende holen!“, bot Bailey an. Eliza spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam und ihr Herz raste, als sie daran dachte, ins Wasser zu gehen, doch sie überwand ihre Angst und hielt sich an dem Netz fest.

Auf der anderen Seite des grobmaschigen Netzes konnte sie einige Fische sehen, die von der Strömung gegen das Netz gedrückt wurden, doch das waren nicht die einzigen. Dahinter konnte Eliza einen großen Schwarm schillernder Lachse entdecken, die versuchten, an dem Netz vorbeizukommen. „Ich bin drüben!“, rief Bailey. Eliza nickte und machte das Netz los. Bailey kam von der anderen Seite wieder ins Wasser und sie zogen die Enden des Netzes durchs Wasser aufeinander zu. Die Fische waren gefangen.

„Gut gemacht!“, rief Josy begeistert und warf ihnen einen Sack zu. Eliza und Bailey fingen die Fische ein und stopften sie in den Sack, der zwar ins Wasser gefallen war, doch von Eliza gefangen wurde, bevor er wegtreiben konnte.

Als sie alle Fische eingefangen hatten, war der Sack bis oben hin gefüllt. Dann hängten sie das Netz wieder zurück, sodass es den ganzen Fluss überspannte und gingen zurück.

Das zweite Netz, das in einem Bach etwas weiter entfernt hing, ließen sie unberührt – für heute hatten sie genug Fische.

Zurück im Lager stecken sie die Fische auf Stöcke und brieten sie über dem Feuer. Sobald einer fertig war, brachten sie hin einem der Kinder, die noch immer am schuften waren, und gar nicht mehr aufhören zu wollen schienen. Doch der Hunger siegte immer und im nu waren die Fische verputzt und sie arbeiteten weiter.

Als auch die drei Mädchen je einen Fisch gegessen hatten, machten sie sich wieder an daran, den Graben hinter den Bäumen auszuheben.

Inzwischen war es Joshua, Tim, Jordan, Thomas, Connor, und fünf weiteren Kindern gelungen, einen Baum an den Rand des Grabens zu rollen und ihn dort zu befestigen. Die Bäume auf der Seite zum Lager ihrer Feinde bildeten nun einen Schutzwall, der unüberwindbar schien.

Eine Stelle – in der entgegen gesetzten Richtung wollten sie eine gut zwei Meter breite Öffnung frei lassen. Die konnten sie im Notfall gut verteidigen und außerdem wollte sie nicht immer die Bäume wegräumen, um nach draußen in den Wald zu gehen.

Als es dunkel war, hatten sie einen Graben ausgehoben, der sich um das halbe Lager zog. „Gute Arbeit!“, lobte Lia sie begeistert und Eliza konnte Josy ansehen, wie sehr sie sich über das Lob ihrer großen Schwester freute.

Sie gingen gemeinsam in die Höhle und legten sich schlafen, während die anderen Kinder noch weiterarbeiteten, doch Lia hatte sie, Quinn Josy, und Bailey ins Bett geschickt, damit sie morgen gut ausgeruht waren.

 

 

 

 

 

 

Der nächste Tag begann genauso, wie der davor – Bailey half beim Graben, dann ging sie mit Eliza und Josy die Netze überprüfen, sie machten das Essen und nach dem Essen arbeiteten sie weiter.

„Aber das verrückteste war immer noch, als Mark versucht hat, eine riesige Kaugummiblase zu machen!“, erzählte Kyle gerade. „Sie war dann nämlich zum Schluss wirklich riesig, und als sie geplatzt ist, waren sein ganzes Gesicht und seine Haare voller Kaugummi!“, lachte er. „Er hat sich noch Wochen danach Kaugummi aus den Haaren gepult!“

Auch die anderen lachten, während Kyle weiterredete.

Bailey konnte inzwischen sehen, wie ihre Verteidigungsanlage wuchs. Gerade, als Kyle von einem jungen Fuchs erzählte, der ihnen immer von der Schule nach Hause gefolgt war, hörte Bailey aufgeregte Rufe an der anderen Seite des Lagers. Sie horchte auf und sah sich um. „Was ist das?“, fragte auch Kyle. „In Deckung!“, schrie Wendy plötzlich und riss Bailey und Kyle mit sich zu Boden. Keine Sekunde später zischte ein Pfeil über ihnen vorbei und schlug ins Holz eines Baumes ein.

„An die Waffen!“, hörte Bailey Kira brüllen, dann sprangen Wendy und Kyle auf, um ihrem Befehl Folge zu leisten.

„Eliza! Schnapp dir Josy, Quinn und Bailey und bring sie hier raus!“, hörte Bailey Henry Eliza zu schreien. Sie sah sich um, und dann entdeckte sie Henry und Eliza, die ein paar Schritte von ihm entfernt stand, und energisch den Kopf schüttelte. „Das ist ein Befehl!“, schrie der Junge und drehte sich um, um gegen einen Jungen zu kämpfen, der sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte. Jetzt sah Bailey, dass von überall um sie herum Jasmyns Bande auf sie zuströmte. Zwar konnten sie sie nun wegen den Bäumen nicht mehr von allen Seiten angreifen, doch genauso wenig konnten die Kinder jetzt zurückweichen oder fliehen. „Weg hier!“, schrie Bailey, packte Eliza, di wohl nicht ganz wusste, was sie tun sollte, und zog sie mit sich. Sie suchten Josy und Quinn und fanden beide nur wenige Meter von sich entfernt, wie sie im Schmutz kauerten und sich schutzsuchend gegen die Wand aus Erde in ihrem Rücken drückten.

„Mitkommen!“, schrie Eliza die drei an und zu viert hetzten sie durch das Lager, in dem es schon von den Feinden wimmelte. Bailey schrie erschrocken auf, als ein Messer nur wenige Zentimeter an ihrem Ohr vorbeischoss. „Nicht stehenbleiben!“, brüllte Conny, die jetzt neben ihnen war und Josy neben sich herzog. „Wohin? Wohin?“, überlegte Bailey. „Zur Höhle? Nein, da würden sie als erstes nach uns suchen! Aber wohin dann? Wohin nur?!“, dachte sie verzweifelt, während sie sich ins Laub fallen ließ, um einem Pfeil auszuweichen.

Dann sah sie Jasmyn. Mit gezielten Schritten kam das Mädchen auf sie zu. Jasmyn war gewachsen, sie überragte selbst Conny nun um einen halben Kopf. In der Hand hatte sie ein Schwert, an ihrem Gürtel stecken sechs verschiedene Messer.

Sie blieb vor Mädchen stehen und baute sich vor ihnen auf. „Wen haben wir denn da?“, fragte sie.

Ein Mädchen mit wilder Lockenmähne und ein Junge, dessen Haare genauso lockig waren, wie die des Mädchens, stellten sich mit blanken Schwertern an Jasmyns Seite. Conny stellte sich schützend vor die kleineren Kinder und sah mit angstvollem Gesicht zu Jasmyn empor.

„Lass sie in Ruhe!“, sagte plötzlich eine ruhige Stimme hinter ihnen. Jasmyn drehte sich um. Hinter ihr stand Kira in Begleitung von Scarlet.

Um sie herum tobten die Kämpfe, doch Jasmyn und Kira starrten sich feindselig an. „Wieso sollte ich das?“, fragte Jasmyn und sah Kira mit hochgezogener Augenbraue an. „Die Kinder gehören zu mir! Und wenn du ihnen etwas tust, sehe ich mich gezwungen, dich zu töten!“, drohte Kira und hob das Schwert, das sie in der Hand trug.

„Wie rührend!“, verspottete Jasmyn sie und Kira ging auf sie los. Schon nach einem kurzen, aber heftigen Schlagabtausch war klar, dass Kira Jasmyn überlegen war.

Kira tauchte lässig unter Jasmyns Schwerthieb ab, doch als sie sich wieder erhob trat Jasmyn ihr so kräftig gegen die Rippen, dass sie einige Schritte nach hinten geschleudert wurde und Scarlet mit sich zu Boden riss. Jasmyn fuhr herum und drehte sich zu Conny, die vor Bailey und den anderen Mädchen stand.

Erschrocken schrie Eliza auf und rannte ein paar Schritte auf Kira zu. Bailey wollte sie festhalten, doch Eliza war zu schnell. „Eliza, nicht!“, flüsterte Bailey, doch ihre Freundin hörte nicht auf sie. „Kira!“, rief Eliza. „Lauf weg!“, schrie Kira entsetzt, als sie sah, dass Eliza auf sie zukam. Unschlüssig blieb Eliza stehen, als Jasmyn vor ihr auftauchte. Eliza schrie ängstlich auf, doch sie bewegte sich nicht von der Stelle. Bailey wollte ihr zu Hilfe eilen, doch Conny hielt sie zurück. „Nicht du auch noch, Bailey!“, sagte sie. „Wir hauen ab! Wir können ihnen nicht helfen!“ Bailey nickte. Conny hatte recht. Wenn sie hierblieben, würden sie alle sterben, und Kira hatte gesagt, sie sollten weglaufen. Die anderen mussten alleine klarkommen. „Kommt mit!“, sagte Conny und rannte los. Bailey, Quinn und Josy folgten ihr.

 

 

 

 

 

 

Eliza starrte noch immer bewegungsunfähig in Jasmyns Gesicht. „Mike!“, schrie sie schließlich und ihre Muskeln gehorchten ihr wieder. Jasmyn hob das Schwert, doch bevor sie den Hieb zu Ende führen konnte, war Kira auf den Beinen und stürmte mit wütendem Gebrüll auf Jasmyn zu, das Schwert erhoben.

Jasmyn fuhr herum, wehrte Kiras hieb ab und stach nach Kiras Schulter. Das Schwert erreichte sein Ziel, zertrennte die Haut und die Muskeln in Kiras Schulter. Eliza schrie erschrocken, als Kiras Beine unter ihr nachgaben und sie auf die Knie sank. Sie ließ das Schwert fallen und Jasmyn riss das Schwert zurück. Kira fiel auf den Boden und Eliza schrie wieder entsetzt auf.

„Nein!“

Kira drehte sich von der verletzten Schulter auf den Rücken und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Jasmyn hoch. „Tja, meine liebe Kira, das war’s dann wohl!“, lächelte Jasmyn, doch bevor sie etwas tun konnte, war Scarlet neben Kira und wehrte Jasmyns nächsten Schlag ab. Mit einem wütenden Aufschrei stieß Scarlet Jasmyn zurück. „Lauf, Eliza! Lauf!“, schrie sie ihr zu.

Eliza war vor Angst wie erstarrt, als sie die beiden Mädchen beobachtete, die unablässig mit ihren Schwertern aufeinander eindroschen. Tränen der Angst rannen ihr über die Wangen. „Ich will hier weg!“, dachte sie voller Angst. „Ich will zu Mike!“ Doch dann fiel ihr ein, dass sie eine viel wichtigere Aufgabe hatte. „Lia!“, schrie sie und rannte los.

Sie rannte durchs Kampfgetümmel und suchte Lia. „Lia! Lia!“, schrie sie. Dann endlich sah sie Lias blonde Haare. Sie focht mit einem Mädchen, doch sie schien die Oberhand zu gewinnen, obwohl sie nur ein Messer hatte und kein Schwert, wie ihre Gegnerin. „Lia!“, schrie Eliza wieder. Sie lief auf sie zu, und als Lia sie bemerkte, verpasste sie ihrer Gegnerin einen kräftigen Tritt und stieß sie zurück.

„Was machst du hier?!“, schrie Lia. „Du solltest gar nicht hier sein!“ Sie wehrte mit ihrem Schild einen Pfeil ab, bevor sie Eliza zuhörte. Schnell erzählte das kleine Mädchen, was passiert war, dann fluchte Lia wütend und lief los. Nach einigen Schritten blieb sie schlitternd stehen und fuhr herum. „Eliza! Du gehst jetzt sofort zu Conny und den Anderen und versteckst dich, hast du das verstanden?!“, fragte Lia sie eindringlich.

Eliza senkte den Blick, dann nickte sie und lief los. Sie wich den durch die Luft fliegenden Pfeilen und Messern aus.

Schließlich fand sie Conny, Quinn, Bailey und Josy eng aneinander gedrängt im Graben unter einem etwas überhängenden Ast. Die Zweige und Blätter boten ihnen Schutz und Eliza kletterte schnell zu ihnen. Sie sah, dass Conny in der rechten Hand ein kleines, dünnes Messer hielt, bereit, sich und die Kinder im Notfall zu verteidigen. „Seid still! Nicht bewegen!“, flüsterte Conny. Eliza klammerte sich an Bailey und Josy. Eine Weile hörte man nur das Atmen der Kinder.

Draußen waren die Kämpfe verstummt.

„Haben wir gewonnen?“, fragte Eliza. Im selben Moment wurden die Äste beiseite gerissen. Eliza, Josy und Bailey schrien instinktiv los, doch dann erkannten sie Wendy. „Ist gut!“, sagte Wendy mit beruhigender Stimme. „Sie sind weg! Wir haben gewonnen!“, sagte sie und nahm Josy auf den Arm.

Josy schluchzte und wischte sich die Tränen ab, während Eliza und die anderen Mädchen aus ihrem Versteck kletterten.

Eliza sah sich um. Die Kinder waren gerade dabei, die Waffen, die auf dem Boden lagen, einzusammeln.

Eliza und Bailey schlossen sich ihnen an, während Wendy, Quinn, Conny und Josy dabei halfen, ein Loch zwischen den Bäumen zu stopfen, das die feindlichen Kinder beim Versuch, ihre Schutzbarriere zu überwinden, hinterlassen hatten.

Als das Loch geschlossen und die Waffen eingesammelt waren, sagte Lia ihnen, sie sollten weiterarbeiten, doch Eliza dachte gar nicht daran. „Was ist mit Kira?“, fragte sie Lia. „Es geht ihr gut, aber du musst jetzt den anderen helfen!“, erklärte Lia ihr. „Nein! Ich will sie sehen!“ Irgendwann gab Lia nach und Eliza folgte ihr in die Höhle.

Kiras Schulter war verbunden und sie saß aufrecht in ihrem Bett aus Decken. Neben ihr lagen Scarlet und Kyle, die beide auch verletzt waren. Kyle hatte ein Messer gegen den Kopf bekommen und Scarlet hatte sich bei dem Kampf mit Jasmyn das rechte Handgelenk gebrochen.

„Wie geht es dir?“, fragte Eliza Kira. „Ganz gut“, sagte Kira und lächelte.

Eliza spürte eine Hand auf ihrer Schulter und sah zu Lia hoch. „Ich hab’s dir doch gesagt, Unkraut vergeht nicht!“, sagte Lia. „Komm jetzt, lass sie schlafen! Die Anderen brauchen deine Hilfe!“ Widerstrebend folgte Eliza Lia hinaus und half dann wieder dabei, den Graben rund um das Lager auszuheben.

 

 

 

 

 

 

Ich hielt mit der rechten Hand den Stock fest und versuchte, Tims Schlägen auszuweichen, ohne mich zu viel bewegen zu müssen. Es waren erst zwei Tage vergangen, nachdem Jasmyn mich verletzt hatte, doch Tim und auch Lia waren der Meinung, ich solle so schnell wie möglich wieder am Training teilnehmen.

„Wenn ihr in so einer Situation seit…“, sagte Tim, hielt mein rechtes Handgelenk fest und drücke es zur Seite. „… dann nutzt sie aus! Ihr könnt fast alles machen, wenn ihr schnell genug seid...“ Er hieb mit dem Stock leicht nach meinem Oberkörper, bremste den Schlag jedoch ab und hielt ihn mir unter die Kehle. „…und solange euer Gegner keine Zeit hat, das Schwert in die andere Hand zu wechseln!“ Tim gab mir ein Zeichen, es zu tun und mein „Schwert“ wanderte von der rechten in die linke Hand, wobei ich versuchte, meinen linken Arm nicht zu viel oder zu schnell zu bewegen.

„Denn jetzt habt ihr den kürzeren gezogen!“, sagte Tim. „Euer Gegner hat jetzt das Schwert in der linken Hand, eure linke Hand ist mit seinem Handgelenk beschäftigt und ihr seid in eurer Bewegungsfreiheit eingegrenzt, weil ihr nicht loslassen könnt. Und dann kann euer Gegner euch ohne große Umschweife besiegen!“

Tim nickte mir zu und ich schlug – vorsichtig, damit meine Schulter nicht wieder anfing, zu schmerzen – nach seinem Brustkorb. Er versuchte nicht, den Schlag abzufangen, sondern ließ ihn treffen.

„Habt ihr das verstanden?“, fragte er dann Eliza, Josy, Scarlet, Kyle und Bailey. Sie waren die fünf Kinder, die nicht arbeiten konnten.

Kyle und Scarlet waren wie ich beim Kampf gegen Jasmyn und ihre Meute verletzt worden, Bailey hatte sich an einem Ast die rechte Handfläche aufgerissen und Josy und Eliza waren zu schwach, um die vielen Baumstämme durch die Gegend zu schieben und sie würden nur im Weg stehen.

Daher hatten Lia und Henry beschlossen, auch noch Tim zu entbehren, damit wir wenigstens trainieren konnten. Und da Scarlet mit ihrer gebrochenen Hand nicht kämpfen konnte, war ich mal wieder das Versuchskaninchen.

„Dann versuchen wir jetzt, es anzuwenden, okay?“, fragte mich Tim. Am liebsten hätte ich den Kopf geschüttelt, doch ich wusste, dass ich da durchmusste, egal, wie schlecht es meiner Schulter ging. Außerdem wollte ich nicht wie ein Weichei vor allen dastehen und ich hoffte außerdem etwas, dass ich vielleicht schneller gesund werden würde, wenn ich jetzt schon wieder etwas trainierte.

Also ging ich trotz aller Befürchtungen mit erhobenem Stock auf Tim zu und wir begannen, zu kämpfen. Ich dachte erst, ich hätte vielleicht eine Chance gegen Tim, obwohl ich verletzt war, doch dem war nicht so.

Bereits in den ersten paar Minuten traf Tim mich sechs Mal: Zweimal am linken Oberschenkel, einmal am Kopf, auf beide Handgelenke und er erzielte einen Treffer unter meinem Kinn, der mich getötet hätte, wenn wir mit Schwertern gekämpft hätten.

So ging ich nur mit schmerzendem Gebiss wieder auf ihn zu, und wir kämpfen wieder… Und wieder… Und wieder. Immer weiter. Ich hoffte, ihn irgendwie, irgendwann nur ein einziges Mal treffen zu können, und als ich merkte, dass es mir unmöglich war, wenn ich weiterhin so verkrampft und verängstig wegen meiner Schulter war, begann ich, mich etwas zu entspannen.

Ich wollte mich nicht schon wieder von Tim besiegen lassen.

Das ging so lange gut, bis Tim einen Schlag nach meinem linken Oberschenkel antäuschte, ich mich bereit machte, ihn abzuwehren, und Tim dann im letzten Moment die Richtung änderte. Der Hieb hätte mich knapp einen Daumenbreit unter meinem Brustbein getroffen, wenn ich nicht schneller gewesen wäre und ihn abgewehrt hätte.

Tim sah seine Chance, den anderen seine Übung von gerade eben noch ein weiteres Mal zu demonstrieren und packte mit der Linken mein rechtes Handgelenk. Ich sah bereits, wie er den Stock hob, um den Kampf zu beenden und wechselte so schnell ich konnte, wie zuvor bei der Übung voller Zuversicht, dass es mir auch diesmal glücken würden, den Stock von einer Hand in die Andere.

Ich riss meinen linken Arm hoch, um den Stock zu fangen, den ich mit der rechten Hand so geworfen hatte, dass ich ihn mit der Anderen fangen konnte und überlegte mir bereits, wie immer, meinen nächsten Schlag, als ein stechender Schmerz durch meine linke Schulter fuhr.

Ich spürte, wie die alte Wunde, die Jasmyns Schwert hinterlassen hatte, wieder aufriss. Ich schrie vor Schmerz auf und der Stock prallte gegen meinen Oberarm, als Tim, der merkte, dass etwas nicht stimmte, mich losließ und zurückwich. Ich hörte, wie der Stock neben mir auf dem Boden landete, und presste meine rechte Hand auf die verwundete Schulter, dann gaben meine Beine unter mir nach und ich sank zu Boden, bevor es schwarz um mich herum wurde.

 

 

Ein Schwall kaltes Wasser holte mich zurück ins Bewusstsein. Um mich herum saßen Wendy, Tim und unsere fünf „Schüler“, die mich allesamt besorgt ansahen.

„Alles okay?“, fragte Scarlet und sie und Bailey halfen mir hoch. Ich fasste mir an den Kopf, der gewaltig brummte, dann an die Schulter, in der ich noch immer ein stechendes Ziehen verspürte.

„Geht schon!“, murmelte ich und setzte mich auf. Tim runzelte die Stirn. „Du solltest dich hinlegen!“, meinte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich schaff das! Machen wir weiter!“ Taumelnd richtete ich mich auf, während ich mich auf Scarlets Schulter abstützte, und machte ein paar Schritte, bevor ich das Gleichgewicht verlor und gegen Tim prallte, der mich festhielt. „Du gehörst ins Bett!“, meinte er, doch ich schüttelte den Kopf und riss mich von ihm los.

Tim packte meinen Arm wieder und drehte mich unsanft zu ihm herum, wobei ich vor Schmerz wieder Sterne vor meinen Augen tanzen sah, dann sagte er: „Entweder du bist in fünf Minuten im Bett, oder ich schleppe dich eigenhändig dort hin!“

Ich spürte, dass ich vor Anstrengung, mich überhaupt auf den Beinen zu halten, zitterte, daher beschloss ich, nachzugeben, und mich wieder hinzulegen. „Vielleicht hast du recht“, sagte ich und versuchte, mich auf eine kleine, gelbe Blume zu meinen Füßen zu konzentrieren, doch statt einer sah ich drei, die ganze Welt um mich herum drehte sich, und ich sah seltsam verschwommen.

Wendy brachte mich zurück und ich war froh, als ich endlich im Bett lag.

Mir war noch immer schwindelig, doch durch das Dach aus Laub und Ästen wurde das Sonnenlicht etwas gedämpft und schon bald tat mein Kopf nicht mehr weh und ich konnte endlich einschlafen.

 

 

 

 

 

 

„Okay, jetzt den Ast hierhin!“, rief Mikey und sprang über einen Baumstamm, um Connor, Joshua und Jordan bei einem großen Ast zu helfen. „Passt auf die Zweige auf!“, wies er sie an und stemmte sich gegen den Ast.

Gemeinsam zogen sie den Ast an die richtige Stelle. „Gut so! Jetzt noch ein Stück drehen!“, sagte Mikey und sie drehten den Ast noch etwas, bis er perfekt die Lücke in ihrem Verteidigungswall versperrte. An dieser Stelle war die Mauer aus Ästen und Baumstämmen fast unüberwindbar.

Mikey ging ein paar schritte zurück und betrachtete ihr Werk sichtlich zufrieden. Dann warf Mikey mit Quinns Hilfe in die fertigen Abschnitte des Grabens Dornengestrüpp. „Glaub mir, das wird so klasse, wenn das Ding erst einmal fertig ist!“, versicherte Mikey ihr.

Irgendwann gegen Abend hatten sie den Graben bis zu Hälfte gefüllt – er war jetzt fertig und umspannte das ganze Lager.

Nun mussten nur noch die Bäume außen herumgelegt werden. „Das schaffen wir auch noch“, versicherte Mikey Quinn, als er sich den Schmutz von den Fingern wischte und auf das Resultat ihrer Arbeit sah.

Dann wuschen sie sich die Hände und gingen nach einem ausgiebigen Abendessen schlafen.

 

 

Zwei Tage später ging Mikey mit zwölf weiteren Kindern in den Wald, um weitere Bäume heranzuschaffen. „Wir teilen uns auf!“, befahl Henry. „Chloe und Jordan, ihr sucht dort, Mikey und Connor, Thomas und Tim…“ So ging es immer weiter, bis jeder einen Partner hatte. Connor und Mikey zogen los. Wenn jemand einen Baum gefunden hatte, sollte er die Anderen rufen.

Connor und Mike marschierten durch die Landschaft, doch einen guten Baum fanden sie nirgends.

Als sie gegen Abend müde und frustriert das Lager erreichten, sahen sie, dass die anderen scheinbar mehr Erfolgt hatten: Der Schutzwall war beinahe fertig gestellt, Lia und die vier kleinen Mädchen stopften gerade die Löcher zwischen den Baumstämmen und Ästen.

Mikey gesellte sich sofort zu ihnen und half ihnen dabei. Er schnitt und stach sich oft an den Dornen und auch sonst sahen seine Hände dank der letzten Tage ziemlich mitgenommen aus. Doch er ignorierte verbissen den Schmerz. „Je früher wir fertig sind, umso besser!“, dachte er sich. „Dann sind wir wieder sicher. Und Eliza auch.“

Er hatte in der letzten Zeit nicht genug mit ihr unternommen, und er fühlte sich deshalb nicht gut. Als ihr großer Bruder war er für sie verantwortlich.

Als hätte Eliza seine Gedanken erraten, fragte sie ihn: „Mikey, bin ich dir egal geworden?“ Mikey sah erschrocken auf. „Nein! Nein, das bist du natürlich nicht.“

„Warum hast du dann keine Zeit mehr für mich?!“

Mike überlegte und atmete dann tief durch. „Das tut mir wirklich sehr, sehr Leid. Ich muss so viel erledigen! Ich muss hier helfen, wir müssen gegen Jasmyn kämpfen, ich muss Streitereien schlichten, an denen du im Übrigen auch nicht immer unschuldig bist. Da bleibt mir nun mal kaum Zeit!“ Eliza sah zu Boden. „Aber wir sind doch Geschwister!“, sagte sie dann.

„Das weiß ich doch, aber ich hab nun mal Pflichten, die ich erledigen muss, wenn ich will, dass wir hier sicher sind. Und ich will vor allem, dass du sicher bist! Das will ich und das ist mir wichtig! Ich mach das alles für dich, damit du keine Angst zu haben brauchst!“, versuchte Mikey ihr seinen Standpunkt klarzumachen.

Er hatte aufgehört zu arbeiten und sah Eliza in die Augen. „Also interessierst du dich immer noch für mich?“, fragte Eliza ihn zweifelnd. „Natürlich! Du bist doch meine Schwester! Wir müssen nun mal zusammenhalten!“, sagte Mikey und grinste, doch Eliza schien nicht ganz überzeugt.

„Können wir in der nächsten Zeit mehr zusammen machen?“, fragte Eliza ihn. Mikey nickte. „Ganz bestimmt! Das verspreche ich dir sogar!“, antwortete er seiner kleinen Schwester.

In dem Moment rief Lia: „Mike, kannst du mal bitte kommen?“ Mikey stand auf und wollte loslaufen, doch Eliza stellte sich ihm wütend in den Weg. „Ich will nicht, dass du jetzt gehst! Wir reden gerade!“, sagte sie trotzig. „Ich muss!“, sagte Mikey. „Lia braucht mich kurz, dann bin ich ja wieder da!“ Er schob sie zur Seite und ging an ihr vorbei. Er konnte Elizas Blick förmlich an sich kleben spüren und er wusste, wie sie sich fühlte. „Es tut mir Leid!“, sagte er über die Schulter.

„Warum sagst du mir, du interessierst dich für mich, wenn du nicht hierbleibst?“, rief Eliza mit Tränen in der Stimme.

Mike blieb stehen. „Eliza, ich muss Lia nur ganz kurz helfen!“, versuchte er sie zu beruhigen, doch er sah bereits, wie die Tränen überliefen. Mikey konnte den Anblick seiner Schwester nicht mehr ertragen, daher tat er das wahrscheinlich schlimmstmögliche, was er in dieser Situation hätte tun können – er rannte los, zu Lia, die wieder nach ihm rief.

 

 

 

 

 

„Mike, ich möchte, dass du Kira suchst!“, sagte Lia kurz, ohne umschweife, um weiterarbeiten zu können. „Ich kann hier nicht weg! Machst du das bitte?“ Lia sah aus den Augenwinkeln, wie Mikey nickte und loslief.

Lia stöhnte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann packte sie den Baumstamm, der vor ihr lag, wieder und lehnte sich mit aller Kraft dagegen. Sie merkte, wie der Baumstamm ihrem Gewicht kurz standhielt, dann jedoch nachgab und ein Stück weiterrollte.

„Josh, hilf mir!“, rief sie Joshua zu und gemeinsam drehten sie den Baum ein Stück und zogen ihn dann neben an ein Ende der Mauer aus Dornengestrüpp, Ästen und Zweigen.

Dann holte Lia ein paar Zweige, die Wendy, Bailey, Quinn, Conny und Billie unablässig aus dem Wald brachten und auf einen Haufen legten. Damit schloss sie die entstandenen Lücken zwischen den Baumstämmen. Es war eine lange, ermüdende Arbeit, und als Kira schließlich kam, war Lia vollkommen ausgelaugt. „Wir müssen reden!“, sagte sie zu Kira.

Kira nickte und die Mädchen setzten sich ein Stück entfernt auf den Boden. Lia packte Bryan, der an ihnen vorbeilief, am Ärmel und trug ihm auf, Scarlet, Tim, Henry und Chloe zu holen.

Als auch die anderen vier Kinder erscheinen waren, begann Lia zu reden. „Wir können und dürfen nicht noch einmal zulassen, dass Jasmyn uns überrascht!“, sagte sie. „Kira wäre dabei fast getötet worden, und auch Quinn, Bailey, Eliza, Josy und Conny waren in großer Gefahr.“ Sie sah alle der Reihe nach an und ihr Blick blieb schließlich an Kira haften, die sich inzwischen wieder ohne Schmerzen bewegen konnte.

Die Wunde an ihrer Schulter war nicht tief gewesen und inzwischen verheilt.

„Das darf nicht noch einmal vorkommen. Wir schicken jemand, nu ja, wie soll ich sagen… Undercover, zu Jasmyn und ihren Leuten.

Wir brauchen jemanden, der das kann. Der ein guter Kämpfer und ein guter Schauspieler ist.“ Ihr Blick blieb an Kira hängen. „Wir brauchen dich!“ Lia sah, wie Kiras zuvor forschender und aufmerksamer Blick sich mit Überraschung und schließlich Verzweiflung mischte.

„Vergiss es! Niemals!“, sagte sie. „Nimm Tim! Der ist besser als ich, in allen Punkten!“ Auch Scarlet und Tim mischten sich jetzt ein. „Lia, wie kannst du das von ihr verlangen?“, fragte Scarlet sie und auch Tims Blick war jetzt feindselig Lia gegenüber. „Ich gehe, wenn du willst! Ich mach das!“, sagte Tim. Lia schüttelte den Kopf. „Du bist zu groß und fällst zu schnell auf. Kira, wenn du nicht willst, dass ich Eliza schicke, geh du!“

Kira senkte den Blick. „Das ist nicht fair!“, sagte sie dann. „Du weißt, wie viel Angst ich davor hab, noch einmal gefangen genommen zu werden!“, sagte sie und ihre Ehrlichkeit überraschte Lia. „Mein letzter Besuch war nicht gerade angenehm! Stell dir mal vor, du müsstest wieder zurück!“

Lia nickte. „Das verstehe ich. Deshalb hab ich dich ausgewählt!“ „Wie meinst du das?“, fragte Kira sie. „Ich glaube, dass du die Einzige außer mir bist, die sich dort auskennt und vor allem, die sich mit allen Mitteln dagegen wehren wird, sich noch einmal schnappen zu lassen!“

Kira schüttelte noch immer den Kopf. „Das kannst du nicht von mir verlangen!“ Lias Blick wurde wütend. „Ich kann und ich werde! Vergiss nicht, dass ich eure Anführerin bin. Früher wurdest man wegen Befehlsverweigerung aufgehängt oder zumindest ausgepeitscht!“, sagte Lia trocken. Dann wurde ihr Blick wieder weicher. „Aber ich fände es besser, wenn du dich von allein dazu entscheiden würdest, als wenn ich dich dazu zwingen müsste!“

Kiras Blick war fest auf den Boden gerichtet. „Ich kann gerade wieder ohne Schmerzen laufen, und schon soll ich für euch den Lockvogel spielen! Sonst noch einen Wunsch? Soll ich vielleicht noch was mitbringen? Ihre Zelte, oder ihre Waffen, oder wie wär’s mit Jasmyn höchstpersönlich?“, fragte Kira und eine Spur Bitterkeit lag in ihrer Stimme. „Kira, bitte!“, sagte Lia.

„Was, wenn ich weglaufen muss?“, fragte Kira. „Dann komm ich nicht weit!“ „Du musst nicht weglaufen! Nicht, wenn du tust, was ich dir sage!“, meinte Lia und lächelte Kira ermutigend an.

Kira seufzte. „Na gut, lass hören!“ Dann erklärte Lia ihr ihren Plan. „Also, was sagst du?“, fragte sie Kira.

 

 

 

 

 

Ich fixierte unentschlossen ein Gänseblümchen zwischen den verschiedenen Gräsern auf dem Boden. „Dafür bist du mir was schuldig! Und zwar ganz gewaltig!“, keifte ich sie an. Lia nickte lächelnd. „Schon klar. Kriegst einen Keks!“, meinte sie und kicherte.

„Und wenn sie mich schnappen erklärt ihr mich diesmal gefälligst nicht für tot, kapiert?“, fuhr ich Scarlet, Henry und Chloe an. „Versprochen!“, sagte Henry. „Hoch und heilig!“, fügte Scarlet hinzu.

Ich stand auf, ohne die fünf noch eines weiteren Blickes zu würdigen und ging davon. Schließlich hörte ich Schritte hinter mir und drehte mich zu Lia um, die zu mir aufgeholt hatte.

„Was?“, keifte ich sie wütend an. Mir war gar nicht wohl bei dem Gedanken, zurück in das Lager meiner Feinde zu müssen.

„Da du dich so bereitwillig für uns opfern wirst…“ Lia legte mir den Arm um die Schultern, „…schlage ich vor, dass du so schnell wie möglich aufbrichst!“ Ich stieß ihren Arm weg und schubste sie einige Schritte von mir weg. „Ich werde mich nicht für euch opfern!“, spie ich geradezu heraus. „Wenn mir die ganze Sache zu heiß wird, hau ich ab, selbst wenn du mich dafür vierteilen lässt!“, sage ich und ließ sie hinter mir zurück. „Gute Idee!“, sagte sie und holte wieder zu mir auf.

„Also, was nimmst du alles mit?“, fragte sie mehr sich selbst, als mich. „Schade, dass wir keine Aufspürer und Mikrophone haben… Kleine Kameras wären auch supertoll, in einer Sonnenbrille oder so, ganz der große Special Agent… und wenn wir dann eventuell noch ein Headset…“ „Verdammt, kannst du dich nicht darauf konzentrieren, mich mit dem auszustatten, was wir haben?“, fuhr ich sie gereizt an.

„Schon gut, bleib cool!“, sagte sie und lachte. „Du bist ja ganz schön angespannt!“ „Ach nee, warum auch nicht? Denkst du etwa, ich gehe aus Spaß an der Freude dorthin zurück? Weil ich es dort so wunderschön finde, oder um die Aussicht zu genießen?“ Ich schrie jetzt fast. Ich zwang mich, mich zu beruhigen, denn ich war kurz davor, einen Schreikrampf oder eine Panikattacke zu bekommen. Und falls nichts davon passieren würde, war ich mir sicher, dass ich Lia zumindest ganz übel verprügeln würde.

Ich bemerkte, dass mein Puls und meine Atmung für das Tempo, indem ich gelaufen war, viel zu schnell gingen.

Ich atmete tief durch. „Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht anschreien“, murmelte ich mit gesenktem Blick. „Ich verstehe dich“, sagte Lia grinsend. „Und ich bewundere dich dafür, dass du so mutig bist und dich das traust. Ich glaube, ich würde das nicht tun!“ Ich wich einen Schritt vor ihr zurück. „Warum verlangst du dann etwas von mir, was du nicht tun würdest?“, wollte ich wissen.

Lias Grinsen wurde breiter: „Weil Jasmyn in einem Punkt recht hatte: Du bist mutig, stark und gefährlich! Wenn jemand das kann, dann du!“ Dann ließ sie mich völlig verdutzt zurück. Das war eine ganz andere Seite, die ich in den letzten Sekunden von ihr kennen gelernt hatte.

 

 

 

 

 

 

Mit Liams, Connors, Mikeys und Joshuas Hilfe rüsteten Lia, Tim und Scarlet Kira für ihre Mission aus. Lia bekam ein schlechtes Gewissen, als ihr das Wort in den Sinn kam. „Mission… Das, wogegen wir uns alle immer gewehrt haben, und nun bin ich selbst zu so einem… so einem Monster geworden“, dachte sie.

Sie drückte Kira einen Dolch in die Hand. „Steck dir den an den Gürtel!“, sagte sie. „Und verlier ihn nicht! Der ist mir wichtig!“, sagte sie.

Dann gab sie Kira noch ein Schwert, das Kira sich unter dem Kettenhemd, das sie trug, um die Hüfte band und sie versteckten ein Messer in Kiras Schuh. Diese Situation erinnerte Lia stark daran, wie Kira zu dem Zweikampf gegen Finn aufgebrochen war und erinnerte sie daran, welcher Gefahr sie das Mädchen aussetzte. „Pass auf dich auf!“, sagte Lia.

Kira nickte. „Immer doch!“, antwortete sie, während sie den Köcher schulterte, den Joshua ihr reichte und die rechte Hand fest um den Bogen schloss, den Tim ihr entgegenhielt.

Scarlet kam auf Kira zu und umarmte sie, und auch Kira drückte das jüngere Mädchen fest an sich. Es war kaum ein Altersunterschied zwischen den beiden, doch man sah eindeutig, dass Kira für Scarlet eine Vorbildfunktion hatte, und die beiden sich sehr mochten.

„Wenn Kira etwas passiert muss ich nicht nur mit meinem schlechten Gewissen und Tims Racheversuchen klarkommen, sondern dann wird vermutlich auch Scarlet versuchen, mich umzubringen!“, dachte Lia.

Als Scarlet wieder zurücktrat und sie und Kira sich noch einen Moment lang ansahen, umarmte Lia Kira kurz entschlossen. Sie spürte, wie Kira kurz zögerte, sie dann allerdings auch in die Arme schloss. Eine Weile drehten Lias Gedanken sich im Kreis: Warum tat sie das? Sie hatte Kira immer für etwas eingebildet und aggressiv gehalten. Warum lag ihr plötzlich so viel an ihr? Vielleicht, weil sie die Einzige unter ihnen war, die außer ihr wusste, was sie damals erlebt hatten?

Lia war plötzlich über sich genauso überrascht, wie Kira es über sie sein würde. Als Lia Kira losließ, sah sie tatsächlich ein etwas überraschtes Lächeln um ihren Mund aufblitzen.

„Ich will nicht noch einen Freund verlieren!“, sagte Lia so leise, dass es nur Kira mitbekommen konnte. Das Lächeln in Kiras Gesicht verschwand und machte einem traurigen Gesichtsausdruck Platz, doch Kira schien ihr die Worte nicht übel zu nehmen. Im Gegenteil, sie sah Lia mit neu erwachtem Vertrauen an. „Ich werde es mir merken!“

Kira atmete tief durch, dann lief sie los und war bald darauf im Wald verschwunden.

Lia sah ihr noch einen Augenblick nach, dann drehte sie sich zu den Kindern hinter ihr um. „Was ist los? Habt ihr nichts zu tun? Ab an die Arbeit!“, sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht, das jedoch nur gespielt war, denn während die Kinder sich eilig daran machten, ihre Befehle zu befolgen, merkte sie, wie schwer ihr auf einmal ums Herz war.

 

 

 

 

 

In dem zügigen Jägergang, den ich einige Stunden lang durchhalten konnte, brauchte ich kaum länger als eine halbe Stunde, um den Weg zwischen unserem und Jasmyns Lager zu bewältigen.

Ich verschanzte mich hinter einem Baum und sah hinab auf das Lager meiner Rivalen. In einiger Entfernung konnte ich einen Jungen – vermutlich Danny oder Nathan – sehen, der durch das Lager ging, immer mit gespanntem Bogen, bereit, zu schießen.

Wenige Meter vor mir konnte ich aus einem Zelt laute Stimmen hören und irgendwo zwischen den Zelten sah ich den Rauch eines Lagerfeuers, welches sicher auch nicht unbeaufsichtigt war. „So komm ich da niemals durch!“, dachte ich. Ich lehnte mich gegen den Baum, um zu verschnaufen und mir eine gute Taktik zu überlegen. Ich wartete eine Stunde, doch nichts tat sich. Absolut nichts. Der Junge drehte gemächlich seine Runden durch das Lager, die Stimmen verstummten nicht…

Schließlich sah ich ein, dass ich keine andere Wahl hatte, als auf gut Glück loszulaufen und zu hoffen, dass ich unentdeckt bleiben würde, bis ich Informationen gesammelt hatte.

Ich sprang so schnell es mir möglich war den Hang hinab und sprintete dann auf die Zelte zu. Hinter dem ersten Zelt ging ich in Deckung, einen Pfeil in der Bogensehne eingelegt. Ich spürte das Schwert an meinem linken Oberschenkel – es gab mir ein Gefühl von Sicherheit.

Ich pirschte weiter bis an das Zelt, aus dem die Stimmen drangen. „…einfach keine Ahnung! Zwischen den Dingern sind wir praktisch unsichtbar!“, hörte ich eine wütende Stimme, vermutlich die von William oder Dylan. „Du bist doch das Dümmste, das ich kenne!“, rief Finn. „Dort werden die uns sofort sehen und mit Pfeilen spicken wie einen Schweizer Käse!“

„Halt die Klappe, Finn!“, sagte ein Mädchen. Ich erkannte Rubys Stimme. „Wer war hier die Umgebung auskundschaften, du oder wir?“

„Ich muss schon zugeben, das war eine schlaue Idee von ihnen, dieser Schutzwall!“, sagte eine Jungenstimme. Ich war mir diesmal sicher, dass es die von William war, also musste die davor wohl Dylan gehört haben. „Vielleicht sollten wir so was auch machen, Jassy?“ Ich hörte ein scharfes Klatschen, dann einen empörten Aufschrei – vermutlich hatte Jasmyn William soeben eine geklebt.

Ich musste bei der Vorstellung grinsen. „Sonst noch eine Idee?“, fragte Jasmyn. „Ich sage, wir greifen sie an! Wir überraschen sie!“, sagte Finn. „Laber doch keinen Käse!“, fuhr Ruby ihn an. „Schweizer Käse!“, lachte Dylan, dann hörte ich ein Händeklatschen – möglicherweise Dylan und William.

Eine Weile war es still, dann redete Ruby weiter. „Ich bin dafür, wir warten auf ihren nächsten Zug. Sie werden nicht ewig warten, nachdem du ihre zwei Freundinnen so zugerichtet hast!“ Ich war mir sicher, dass sie Scarlet und mich meinten.

Wieder schwiegen die Kinder. „Ich finde Rubys Idee gut!“, stimmte William schließlich zu.

„Ich auch!“, sagte Dylan. „Wir lassen sie sich auspowern, hier aufmarschieren und dann… BOOM!“ Er lachte. „Ende. Wie wir es mit diesem Jungen gemacht haben. Jannis oder so, so hieß er doch, oder?“

Ich packte meinen Bogen fester. Waren die so naiv zu glauben, dass wir leicht zu besiegen waren? Das mit Jannis war eine absolute Ausnahmesituation gewesen! Er wäre niemals getötet worden, hätte er sich nicht für mich geopfert.

Jasmyn murmelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. „Gut, dann ist es beschlossene Sache!“, sagte sie dann nach einer weiteren Pause.

Wütend legte ich einen Pfeil in die Sehne ein. Das hatte mich zutiefst verletzt, besonders ihr Kommentar über meinen toten Freund Jannis. „Dein Leben ist auch beschlossene Sache. BOOM! Ende!“, flüsterte ich und lehnte mich nach vorne. Ich zielte ins Zelt, direkt auf Jasmyns Hinterkopf.

Meine Augen konzentrierten sich auf den kleinen Wirbel in ihren Haaren, dort, wo mein Pfeil sie treffen würde.

Ich war bereits im Begriff, den Pfeil loszulassen, als Finns Blick zu mir herum schoss. „Vorsicht!“, schrie er. Ich ließ den Pfeil los und sprang auf. Der Pfeil verfehlte Jasmyn, allerdings auch nur, weil sie durch Finns Ruf gewarnt auf die Seite gesprungen war. Ich hatte bereits den nächsten Pfeil eingelegt und zielte damit auf Dylan, der auf mich zulief. Ich ließ die Sehne vorschnellen und der Pfeil bohrte sich in seine Hand. Er sank auf die Knie und hielt schreiend seine Hand umklammert, doch die Anderen stürmten an ihm vorbei auf mich zu. Ich wusste, dass ich sie nicht alle besiegen konnte, daher schoss ich einen letzten Pfeil auf Jasmyn ab und drehte mich um.

Ich blickte in die Augen von sechs Bogenschützen, deren Pfeile alle auf mein Herz gerichtet waren.

Ich verzog etwas gequält das Gesicht. „Warum mag mich hier keiner?“, fragte ich, warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Jasmyn und die drei anderen Kinder mich fast erreicht hatten. „Feuer!“, brüllte Jasmyn in meinem Rücken und die Bogenschützen ließen die Pfeile los.

Ich rollte mich über den Boden, entkam den Pfeilen, sprang auf und hetzte in den Wald.

Ich hörte, wie mich die Kinder verfolgten, doch ich rannte Haken schlagend durch die Bäume.

Die Welt sauste an mir vorbei, doch ich beachtete sie nicht. Mein Fuß verfing sich in einer Wurzel und ich wäre beinahe gestolpert, doch ich fing mich im letzten Moment und lief keuchend weiter.

Dornen zerkratzten mir die Arme und Beine. Ich ignorierte den Schmerz, denn ich wusste, wenn ich jetzt stehen blieb, würde mich noch größerer Schmerz erwarten. Nur diese Tatsache gab mir die Kraft, durchzuhalten und weiterzulaufen,

Ich wusste, wie hoffnungslos meine Lage war, denn die Kinder hinter mir waren mir hoch überlegen, selbst wenn nur Jasmyn, Ruby, Finn, Will und die Bogenschützen mir auf den Fersen waren, außerdem war meine Kondition seit meiner Verletzung nicht mehr die Beste. Ich wusste, dass ich diese Verfolgungsjagd so schnell wie möglich beenden musste. Ich lief von unserem Lager weg – ich durfte sie auf keinen Fall dorthin führen.

Ich wusste, dass ich nicht damit rechnen konnte, sie abzuhängen, also beschloss ich, zu improvisieren.

Ich blieb stehen, riss meinen Bogen herum und richtete den Pfeil auf die näher kommenden Angreifer.

Als sie nur noch knapp zehn Meter von mir entfernt waren, blieben sie stehen. Ich bemerkte erleichtert, dass die Bogenschützen noch keine Pfeile eingelegt hatten, doch sie griffen bereits nach ihren Köchern.

„Halt!“, brüllte ich. „Keine Bewegung!“ Tatsächlich erstarrten die sechs Kinder mitten in der Bewegung und sahen zu mir. „Der erste, der einen Pfeil berührt oder eine andere Waffe zieht, ist des Todes!“, sagte ich gefährlich ruhig. „Wie willst du das machen, Kira?“, fragte Finn mich ebenso ruhig. „Du hast nur einen Pfeil und wir sind zu zehnt!“

Ich zuckte mit den Schultern. „Einer muss der Erste sein.“ Ich sah meinen Angreifern in die Augen. „Also! Macht schon! Ich warte!“, sagte ich schwer atmend und spannte den Bogen fester. Noch immer bewegte sich keiner von ihnen. „Worauf wartet ihr?“ Ich zitterte und zielte hektisch abwechselnd auf alle Kinder.

Wahrscheinlich sah ich ziemlich verzweifelt aus, daher versuchte ich, mich etwas zu entspannen.

Eine ganze Weile wartete jeder darauf, dass der Andere etwas tat, und als ich dachte, mir würden jeden Moment die Muskeln von den Armen reißen, rief Jasmyn: „Abmarschieren!“

Wie ein Mann setzten sich die zehn Kinder in Bewegung und verschwanden zwischen den Bäumen.

Noch immer angespannt ließ ich den Bogen etwas sinken, auf irgendeine Falle oder einen anderen Hinterhalt gefasst, doch nichts geschah.

Der Wald blieb ruhig, nur in weiter Ferne schrie ein Vogel einen schrillen Warnruf, der mich aber nicht beunruhigte. Jasmyn und die anderen waren weg.

Ich zwang mich, erst einmal tief durchzuatmen, dann machte ich mich auf den Rückweg, auf dem ich mich die ganze Zeit fragte, ob sie ihre Pläne nun geändert haben mochten, oder ob meine Informationen noch immer wertvoll waren.

 

 

 

 

Eliza flickte mit Baileys und Josys Hilfe ein Loch im Netz. „Wirf mal das Seil rüber!“, rief Bailey ihr zu. Eliza nickte und warf ihr das Seil zu. Die letzten Stunden hatte sie damit verbracht, Schwimmen zu üben und es klappte bereits ganz gut.

Gemeinsam flickten Bailey und Eliza jetzt das Netz, während Josy am Rand saß und das Netz über Wasser hielt, damit sie daran arbeiten konnten.

Als die Arbeit erledigt war, gingen sie zurück zum Lager, das inzwischen vollkommen gesichert war.

Sie gingen durch die kleine Lücke im Schutzwall und meldeten Lia, dass sie das Netz repariert hatten. „Gute Arbeit!“, sagte das Mädchen. „Ihr könnt den restlichen Tag machen, was ihr wollt!“

In dem Moment sahen sie Kira, die gerade durch den Eingang kam. Sie sah sich um und pfiff bewundernd durch die Zähne. „Nett…“, sagte sie und ließ den Köcher auf den Boden fallen. Die drei Mädchen liefen auf sie zu und begrüßten sie. „Was ist passiert?“, wollte Bailey wissen. „Du musst uns alles genau erzählen!“, rief Josy.

Kira nahm sich die Zeit gerne und setzte sich mit ihnen ans Feuer, um ihnen ihr Abenteuer zu erzählen. „Und sie sind echt einfach wieder gegangen?“, fragte Eliza ungläubig, als sie geendet hatte. „Ob du’s glaubst oder nicht, das sind sie! Wie verschreckte Kaninchen“, lachte Kira.

„Krass!“, sagte Josy. Kira stand auf. „Ich muss jetzt zu Lia, ihr meine Informationen überbringen!“, meinte sie.

Eliza und Bailey holten sich Stöcke und trainierten lange. Es war bereits dunkel und sie hatten beide mehr blaue Flecken als jemals zuvor in ihrem Leben, als sie aufhörten. „Morgen machen wir weiter!“, sagte Bailey und grinste. „Und ob!“, versprach Eliza. „Und dann kannst du dich auf was gefasst machen!“

 

 

Der nächste Tag kam und verging schnell. Eliza und Bailey trainierte den gesamten Tag und machten nur Pausen zum Essen.

Am Abend schnappte Eliza auf, dass Lia Mikey die Aufgabe gegeben hatte, sich mit fünf weiteren Kindern auf die Lauer zu legen, und jemanden von Jasmyns Truppe zu schnappen. Eliza hatte das Gefühl, Mikey hätte das Wort „Mission“ mit Absicht gemieden, als er ihr davon erzählt hatte, doch Eliza wusste, dass es genau auf dasselbe herauskam.

„Aber du hast mir versprochen, dass wir mehr zusammen machen!“, rief sie wütend und stellte sich Mikey in den Weg, als dieser sich an ihr vorbeischummeln wollte. „Das werden wir, Eliza! Ganz sicher! Nur noch diese eine Mission! Äh, ich meinte Aufgabe!“, verbesserte Mikey sich schnell. „Das sagst du immer!“ Eliza spuckte wütend aus. Mikey seufzte. „Ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, dass wir nach dieser… Aufgabe, einen langen, langen Ausflug machen! Nur wir beide, okay?“ Eliza überlegte. „Okay!“, sagte sie dann.

Mikey lächelte sie glücklich an.

Dann ging er an ihr vorbei und ging zu Joshua, Billie und Bryan.

Eliza sah ihm eine Zeit lang traurig nach. In dem Moment kam Josy weinen auf sie zu. „Was ist denn?“, fragte Eliza sie. Josy schluchzte, dann rückte sie mit der Sprache heraus. „Lia hatte… nie Zeit für mich! Immer hat sie…“ Sie schluchzte wieder. „Immer hat… andere Aufgaben!“ Dann begann sie wieder zu weinen und Eliza nahm sie in den Arm.

„Nicht traurig sein!“, sagte sie. „Sie haben nur zur Zeit alle viel so um die Ohren!“, versuchte sie sie zu beruhigen. „Sie müssen doch auf uns alle aufpassen! Das machen die nicht mit Absicht! Bestimmt nicht!“ Eliza streichelte leicht Josys Kopf. „Sie haben uns noch immer lieb!“ Inzwischen merkte Eliza, wie auch ihr die Tränen kamen, und dass sie mit ihren Worten nicht nur Josy, sondern auch sich selbst beruhigen wollte.

Bailey war hinter Josy getreten. „Sie wollen uns wirklich nicht vernachlässigen! Glaub mir!“, sagte sie jetzt. „Scarlet hat auch wenig Zeit für mich, aber das macht doch nichts! Wenn das hier alles vorbei ist, sind wir alle eine große Familie!“

„Das wird schon wieder!“, versicherte Eliza Josy. Josy schluchzte noch etwas vor sich hin, bevor sie sich beruhigen konnte. „Aber warum… Warum…“ Sie redete nicht weiter, sondern begann wieder zu weinen. „Warum…“ „Was warum?“, fragte Bailey sie.

„Ich will mitkämpfen!“, sagte Josy, jetzt mit Wut in der Stimme. Sie riss sich von Eliza los. „Wir alle sollten das dürfen! Es geht auch um uns!“

Bailey nickte. „Da hat sie recht!“ Sie sah zu Eliza. „Ich denke genauso!“, sagte Eliza. „Wir sollten mit Lia reden!“

Zu dritt machten sie sich auf den Weg zu Lia.

 

 

 

 

 

Mit Billie, Bryan, Joshua, Jordan und Thomas im Schlepptau untersuchte Mike die Fußspuren zu ihren Füßen. „Sie sind vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen!“, sagte er und sah gen Osten.

Die Spur im Gebüsch war unübersehbar. Wahrscheinlich waren die Jäger einem Reh oder anderem Wild auf der Spur gewesen und hatten nicht mehr viel auf ihre Umgebung geachtet.

„Vorwärts!“, befahl Mikey und sie liefen los. Mike behielt die Spur immer im Auge. „Wir müssen sie einholen!“, rief er über die Schulter seinen Gefährten zu.

Die Sonne blitzte durch die Blätter der Bäume und zauberte verrückte Bilder auf den Waldboden, doch Mikey ließ sich davon nicht beeindrucken. Er konzentrierte sich nur verbissen darauf, weiterzulaufen. Er durfte die Spuren jetzt nicht aus den Augen verlieren.

„Weiter! Nicht schlappmachen!““, rief er, als Billie hinter ihm zu keuchen begann. Er rannte immer weiter, um die Kinder hinter ihm zu zwingen, mit ihm Schritt zu halten. „Wir haben sie bald eingeholt!“, machte er ihnen Mut, und tatsächlich – noch bevor der Abend dämmerte konnten sie unter sich im Tal eine kleine Gruppe von der Jägern sehen. „Na also!“, flüsterte er. „Hab ich euch zu viel versprochen?“ Sogar aus dieser Entfernung konnte Mikey unten im Tal Finn und zwei weitere Jungen erkennen.

„Los, weiter!“, rief er leise. „Bevor die Nach hereinbricht, haben wir sie!“

 

 

 

 

 

Zufrieden lag ich im Gras, die Augen geschlossen und versuchte, etwas zu schlafen. Ich hörte Krach am anderen Ende des Lagers und öffnete die Augen, um in den klaren Sternenhimmel zu blinzeln.

„Wenn sie bei zehn nicht alle mucks Mäuschen still sind…“, dachte ich, „Spring ich auf und dreh ihnen allen den Hals um!“ Dann begann ich leise für mich zu zählen, doch noch bevor ich bei sieben angekommen war, wurde das Geschrei lauter und aus dem Stimmengewirr löste sich die Stimme eines kleinen Mädchens, das meinen Namen schrie.

„Kira!“ Ich rollte mich auf den Rücken und sah Eliza auf mich zu rennen. „Kira! Sie haben Finn gefangen! Sie… Sie wollen ihn umbringen!“, keuchte sie verzweifelt. Tränen rannen ihr aus den Augen. „Was?“, fragte ich. „Tu etwas! Mikey kann Lia nicht überzeugen! Sie werden ihn töten!“, schrie Eliza und ich sprang auf. „Von wegen, das werde ich ihnen gründlich versauen!“, knurrte ich und lief los.

Sie sah bereits, wie sich um Mikey und Lia, die heftig diskutierten, eine Traube aus Kindern angesammelt hatte. Tim, Henry, Chloe und Scarlet standen hinter Lia und schienen auch sonst voll und ganz auf ihrer Seite zu sein.

Hinter ihnen stand Finn, dessen hellbraunes Haar blutverkrustet war. Ich wusste nicht, warum, doch in diesem Moment ähnelte er Jannis so sehr, dass mir unwillkürlich die Tränen in die Augen stiegen. Billie und Bryan hielten Finn fest, vor ihnen standen Joshua, Connor, Jordan und Thomas und zielten mit Pfeil und Bogen auf Finn.

„Lasst ihn in Ruhe!“, brüllte ich und stieß mir einen Weg durch die Menge frei. „Lasst ihn los! Und zwar schnell!“, ging ich die Zwillinge an, die mir eilig Platz machten. „Lasst ihn in Ruhe!“, sagte ich noch mal. „Kira, was…?“, fragte Finn mich. „Sei still!“, knurrte ich ihn an. Dann wandte ich mich an Lia. „Wenn du ihn töten willst, musst du erst an mir vorbei!“, sagte ich und stellte mich schützend vor Finn. Augenblicklich richteten sich die vier Pfeilspitzen auf mich.

„Kira!“, sagte Lia fassungslos.

„Finn war immer unser Freund! Er kann nichts dafür, dass er gefangen wurde! Dass wir ihn damals nicht gerettet haben!“, sagte ich.

Die Pfeile waren noch immer auf mich gerichtet, obwohl ich hoffte, dass meine Freunde nicht auf mich schießen würden. Doch sicher konnte ich mir in dieser Situation nicht sein. Lia kam ein paar Schritte auf mich zu. „Kira, du kannst dich doch nicht auf die Seite unseres Feindes schlagen!“, sagte sie leise.

„Doch, das kann ich. Und das hab ich schon getan!“, sagte ich laut. Dann wandte ich mich an alle Kinder, die um mich herum standen. „Wenn ihr Finn töten wollt, müsst ihr erst mich töten!“

Ich sah in bestürzte, erschrockene, unentschlossene, aber zum Großteil wütende Gesichter. Um mich herum wurden Vorwürfe laut. „Verräter!“ Dieses Wort hallte durch den Wald. Ja… Ich war ein Verräter. Ich hatte mich soeben auf die Seite des einen Jungen geschlagen, der neben Jasmyn der Anführer unserer Gegner war und wahrscheinlich auch jetzt nur darauf wartete, uns zu töten. Doch ich konnte nicht zulassen, dass sie Finn töteten.

„Na super, jetzt können sie uns beide umbringen!“, knurrte Finn mich an. Ich sah ihn an und packte seinen Unterarm. „Hiermit schwöre ich dir, so wahr ich hier stehe, dass sie dich nicht töten werden, oder ich werde hier und jetzt an deiner Seite sterben!“, sagte ich, so laut, dass es alle hören mussten.

Dann wandte ich mich zu den vier Jungs, die noch immer auf mich zielten, doch man sah ihnen an, dass sie sich äußerst unbehaglich fühlten. „Also. Wer von euch wagt es, zu schießen?“, fragte ich. Einen Moment lang hingen meine Worte in der Luft.

„Lasst die Bogen sinken!“, sagte Lia dann tonlos. Die Jungen gehorchten ihrem Befehl sofort. Lia packte mich und zog mich mit sich. Die anderen Kinder machten sofort Platz, als Lia mich aus dem Gewimmel herauszog. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, dass du dem da“, sie wies auf Finn, „das Leben retten musstest!“ sagte sie eiskalt, bevor sie mich weiter mit sich riss.

Etwas weiter von den anderen Kindern entfernt gab sie mir einen kräftigen Stoß, und ich ging zu Boden. „Was sollte das?“, fragte sie mich aufgebracht, als ich auf die Beine kam. „Er hat unsere Leute verletzt! Er ist Schuld am Tod deines besten Freundes! Er wollte uns alle umbringen! Und du stellst dich auf seine Seite!“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf, dann packte sie mich am Kragen.

„Verdammt noch mal!“, schrie sie mich an, „Die Kinder da draußen haben ihre Freunde verloren, ihre Geschwister wurden verletzt! Sie wollen sein Blut sehen und, ja, ich will das auch!“ Noch immer aufgebracht ließ Lia mich los. Sie ließ den Kopf sinken. „Was soll ich jetzt nur tun?“

Ich hob den Kopf. „Was immer du für richtig hältst. Ich war immer bereit, für meine Taten einzustehen, und ich bin es auch jetzt noch!“, sagte ich.

Lia scharrte mit den Füßen auf dem Boden. Sie kaute unentwegt auf ihrer Unterlippe, dann sah sie wieder wütend zu mir.

„Dein Edelmut hilft mir hier nicht weiter! Weißt du, in was für eine Lage du dich gebracht hast?“, fragte sie mich. „Diese Kinder könnten dich töten, und ich könnte es ihnen noch nicht einmal verübeln! Er ist nicht mehr unser Freund! Unsere Freundschaft hat spätestens in dem Moment aufgehört, als Jasmyn den Pfeil auf dich abgeschossen hat, der dann Jannis getötet hat, und er nichts dagegen getan hat! Er hätte ihn retten können!“

Sie sah mir in die Augen und ich erwiderte ihren Blick. In ihren Augen spiegelten sich Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. „Morgen wird hier jemand sterben müssen, um die Verbrechen, die Jasmyn begangen hat, zu bezahlen! Den Kindern da draußen ist es egal, ob das ein Feind oder ein Verräter ist!“

Ihre Miene wurde etwas weicher. „Aber mir ist es nicht egal, ob es ein Feind oder ein Freund ist. Und wenn es nach mir geht, werde ich alles tun, um zu verhindern, dass du es sein wirst!“, sagte sie. Dann schloss sie kurz die Augen. „Scarlet und Tim werden dich für den Rest der Nacht und den morgigen Tag bewachen. Ich muss nachdenken.“

Als ich keine Anstalten machte, zu verschwinden, drehte Lia sich zu mir um. „Was ist? Mach, dass du verschwindest!“

Ich nickte unglücklich, dann drehte ich mich um und ging davon.

Schon nach wenigen Schritten kam Finn auf mich zugeeilt. „Ich… ich hätte nie gedacht, dass…“ Ich schnitt ihm das Wort ab. „Halt den Mund, okay?“, wies ich ihn schroff an. Er lief ein paar Schritte neben mir her. „Ich will nur, dass du weißt, dass ich… Ich werde nicht zulassen, dass dir wegen mir etwas passiert! Nur über meine Leiche!“ Ich packte ihn genauso wütend am Kragen, wie Lia es noch gerade eben bei mir getan hatte. „Ich warne dich!“, knurrte ich. „Das würden die nämlich sofort tun, und dann war alles, was ich getan habe umsonst!“ Dann ließ ich Finn los und ging weiter, doch Finn blieb mir auf den Fersen. „Was ist jetzt?“, fragte er.

Ich drehte mich zu ihm um, einen Moment lang wich die Wut meiner Angst. „Lia hat mir ziemlich offen gesagt, dass morgen einer von uns beiden sterben wird!“, sagte ich trocken. Dann drehte ich mich um und ging weiter, bis Tim und Scarlet zu mir stießen.

„Das war das Dümmste, was du tun konntest!“, sagte Tim, nachdem die anderen Kinder außer Hörweite waren. Ich brachte ihn mit einem wütenden Blick zum verstummen. „Lia hat mir bereits gehörig die Meinung gesagt, ich kann auf deine verzichten, danke!“, zischte ich ihn wütend an. Er wollte mich festhalten, doch ich stieß ihn ziemlich unsanft weg und schlug nach ihm.

„Kira!“, sagte er traurig. Er hielt sich den Oberarm, wo ich ihn erwischt hatte. „Das hat wehgetan!“, sagte er, dann senkte er die Stimme. „Und nicht nur körperlich.“

Ich biss mir nun selbst auf die Unterlippe und sah ihn verzweifelt an, doch ich wusste, dass er mir nicht helfen konnte. Niemand konnte das, und da ich mir meine Machtlosigkeit nicht eingestehen konnte, drehte ich mich um und rauschte an Scarlet und Tim vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

 

 

 

 

 

 

Mikey und Oliver liefen durch den Wald, auf der Suche nach einem zum Kämpfen geeigneten Stock. „Wie wär’s mit dem hier?“, fragte Oliver Mikey und hob einen Ast auf. „Da sind aber noch ganz schön viele Zweige dran!“, gab Mike zu bedenken. Oliver sah auf den Stock, zuckte die Achseln und schlug den Stock so fest er konnte gegen einen Baum. Von dem Baum regneten Blätter und von dem Stock sprangen Äste und Rinde ab. Oliver wiederholte das ganze einige Male, dann ging er auf Mikey los. Mike duckte sich. „Hey! Ich hab noch keine Waffe!“, schrie er. Oliver grinste schief. „Dann renn weg!“

Oliver hob den Stock wieder und rannte mit einem ohrenbetäubenden Kampfesschrei auf Mikey zu. Mikey begann zu grinsen und lief los.

„Ich krieg dich!“, schrie Oliver und sprintete hinter Mikey durch den Wald. Mikey rannte schneller und sprang durchs Gebüsch wie ein gehetztes Reh – Oliver hatte keine Chance, ihn einzuholen.

Er packte einen Stock, riss ihn vom Boden hoch und stellte sich Oliver entgegen. Oliver führte einen Schlag gegen Mikeys Beine und dieser wich ihm mit einem gekonnten Sprung aus. In ein und derselben Bewegung schlug Mikey nach Olivers Schlüsselbein. Er traf ihn leicht, doch Oliver ignorierte es.

Eine Weile lang maßen die Beiden einander nur mit ihren Blicken und Mikey versuchte abzuschätzen, was Oliver als nächstes versuchen würde, doch trotzdem kam Olivers Angriff für ihn völlig unerwartet. Oliver schlug von oben nach Mikeys Kopf, doch Mikey hielt mit seinem Stock dagegen und stieß Oliver dann ein Stück von sich weg.

Er packte seinen Stock fester und stieß gegen Mikeys Brustbein, doch Mike drehte sich weg und der Schlag ging ins Leere. Mikey schlug nach Olivers Oberarm, Oliver wehrte den Schlag ab und Mikey führte einen Hieb gegen Olivers Kopf, während Oliver seinen eigenen Stock nur wenige Zentimeter neben Mikeys Fuß in den Boden rammte.

Mikey drückte Oliver den Stock unter das Kinn und lächelte. Oliver schüttelte den Stock ab. „Ein Punkt für dich!“ Dann gingen sie ein weiteres Mal in Kampfstellung. Nach einem weiteren kurzen, erbitterten Schlagabtausch verschanzte Mikey sich hinter einem Baum. „Komm her, wenn du dich traust!“, sagte Mikey. Oliver stürzte sich auf ihn und eine Zeit lang, schlugen sie mit ihren Stöcken aufeinander ein, dann lehnten sie sich erschöpft gegen einen Baum.

„Wir sind gut!“, sagte Mikey. Oliver nickte. „Richtig gut!“, schmunzelte er. „Jetzt kann uns niemand mehr aufhalten! Nicht einmal Jasmyn höchst persönlich!“

Mikey und Oliver sahen sich an, dann begannen sie beide lauthals zu lachen.

 

 

 

 

 

Finn scharrte unruhig mit dem Fuß im Erdreich. Er saß allein an einem Feuer, die anderen Kinder saßen um die restlichen Feuer weit entfernt von ihm. Ab und zu sahen sie zu ihm herüber und tuschelten, doch Finn versuchte, sie zu ignorieren. Im flackernden Schein des Feuers konnte er in ihren Gesichtern Abscheu und Verachtung sehen. Warum auch nicht? Er selbst hätte nicht anders von einem von ihnen gedacht, wenn sie in seinem Lager gefangen und seiner Gnade ausgeliefert wären.

Die verärgerten und verachtenden Blicke der Anderen ignorierend sah er in die Richtung, in die Kira gegangen war.

Er hing seinen eigenen Gedanken nach. Jetzt, wo Kira ihm das Leben gerettet hatte, fragte er sich, wie viel von Jasmyns Plänen er geheim halten konnte und durfte, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Er konnte ihnen mit Sicherheit einige Informationen liefern, doch sollte er dann bei ihnen in Ungnade fallen, konnte er sich nirgendwo mehr blicken lassen. So konnte er wenigstens noch hoffen, zurück zu Jasmyn und seinen Freunden zu können. Noch hatte er nichts verraten, doch wie lange würden sie es zulassen, dass er die Informationen und Pläne ihrer Feinde – seiner Freunde – geheim hielt?

Er konnte unmöglich…

„Finn?“ Er fuhr herum und griff instinktiv an die Stelle, an der normalerweise sein Messer hing, doch die Kinder hatten es ihm abgenommen. Er sprang auf und wich zurück, als Lia vor ihm stand.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte er sie. „Willst du mich töten? Als Dank dafür, dass ich Kira damals das Leben gerettet habe, als sie von dem Pfeil verletzt wurde? Ohne mich hättet ihr sie nicht retten können, das weißt du!“, sagte er und wich zurück. „Ich wollte das damals nicht, als sie euch gefangen genommen haben“, sagte er verzweifelt. „Ich wollte das alles nicht. Jasmyn hat mich dazu gezwungen! Ich wollte das nicht!“ Eine heiße Träne lief ihm über die Wange. Nicht sie waren seine Feinde – das war nur Jasmyn.

Lia hob beruhigend die Hände. „Ich werde dir nichts tun! Ich habe mit Scarlet, Henry, Chloe und Tim geredet. Wir haben beschlossen, euch am Leben zu lassen. Beide. Weil wir Kiras Meinung sind. Aber du solltest aufpassen, was du tust. Sehr sogar.“ Lia wandte sich zum gehen. „Und du solltest dich bei Kira bedanken. Sie hat ohne jeden Grund ihr Leben für dich riskiert!“ Dann verschwand Lia ohne ein weiteres Wort.

Finn ließ den Kopf sinken und seufzte. „Wie soll ich das nur jemals wieder gut machen?“, fragte er sich leise. In dem Moment ließ Kira sich neben ihn fallen. „Hast du es schon mitbekommen?“, fragte sie ihn. „Du meinst, was Lia für uns getan hat? Ja, hab ich.“ Er schwieg eine Weile. „Wie kann ich dir dafür jemals danken?“, fragte er sie.

Kira sah ihn an und lächelte. „Das kannst du nicht.“ „Wie meinst du das?“ „Es gibt keinen Grund, mir dafür zu danken. Das hätte jeder für einen Freund getan.“ Finn schwieg und starrte verwirrt auf den Waldboden, der in der dunklen Nacht nur vom Schein des Lagerfeuers erhellt wurde. „Für einen Freund… Also sind wir jetzt Freunde?“, fragte er sie. Kira nickte. „Wenn du willst.“ Finn lächelte. „Ja.“ Er hielt ihr die Hand hin, und sie schlug ein. „Freunde.“

 

 

ENDE DES Fünften BANDES

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MISSION

COMPLETED 6

 

 

„Hat jemand meinen Hasen gesehen?“, quietschte Eliza. Verschlafen, wie ich war, brauchte ich eine Weile, bis ich verstand, was sie meinte. „Hase… Hase, Hase. Was für ein Hase? Ach, der Hase!“ Sie meinte den kleinen, hässlichen Schlüsselanhänger, den sie abgöttisch liebte. „Ich glaub, ich lieg drauf…“, murmelte Kyle neben mir. „Aufstehen!“, befahl Eliza grob. Kyle rollte sich auf die andere Seite. „Och Mann, muss das sein?“, fragte er verschlafen. „Aufstehen! Ihr müsst sowieso raus, Schnee schippen!“, sagte Eliza und versuchte, Kyle wegzuschieben. „Es hat geschneit?“, fragte Liam und setzte sich auf, wobei er mit dem Kopf gegen das Dach aus Ästen und Laub stieß.

„Blitzmerker!“, sagte Eliza und stieß Kyle verärgert an. Ich beschloss, mich ihrem Streit schnellstmöglich zu entziehen und krabbelte auf allen vieren aus der Höhle. Draußen waren Lia, Josy und Scarlet bereits damit beschäftigt, den frisch gefallenen Schnee um die Lagerfeuer zu beseitigen. „Das wird ein kalter Winter!“, hörte ich Tim hinter mir sagen.

„Da scheinst du recht zu haben!“, sagte ich. „Wir sollten sammeln gehen, damit wir Frühstück machen können, bevor die anderen aufwachen!“, sagte Connor, der auch schon wach war und ich machte mich mit Tim auf den Weg, während Connor Thomas, Jordan und Joshua wecken wollte.

Tim und ich gingen Seite an Seite durch den schneebedeckten Wald. Als wir an den See kamen, ging Tim ans Ufer und sah prüfend auf die dünne Eisschicht, die das Wasser bedeckte. „Das Eis ist noch sehr dünn. Nicht ungefährlich!“, sagte er. Dann nahm er einen faustgroßen Stein und warf ihn ein paar Meter weit. Krachend schlug er auf die Eisfläche und schlug ein Loch hinein. Durch das Eis beobachteten wir, wie der Stein auf den Grund sank. „Gehen wir weiter. Ich hab Hunger und das ändert sich nicht dadurch, dass wir hier herumstehen. Außerdem ist es kalt!“, sagte Tim.

Ich nickte und wir gingen durch den verschneiten Wald, der nun seit eineinhalb Jahren mein Zuhause war.

Eineinhalb Jahre, in denen so viel passiert war. Das kleine, unbedarfte Mädchen, das vor eineinhalb Jahren zu einer Mission aufgebrochen war, in dem Wissen, seine Freunde wahrscheinlich nie, nie wiederzusehen, gab es nicht mehr. An seine Stelle war eine junge, sechzehnjährige Frau getreten, deren bester Freund von einem Mädchen getötet worden war, das nichts lieber hätte, als sie alle tot zu sehen.

Ich wusste, wie sehr meine Freunde auf mich angewiesen waren, und ich auf sie, deshalb hatte ich mich auch an diesem Morgen aufraffen können, an einem Morgen, an dem die alte Kira von früher liegengeblieben wäre, um sich umzudrehen und weiterzuschlafen.

Die Rehspur, die Tim und ich gefunden schließlich gegen Vormittag gefunden hatten, endete schließlich an einem Bach, dessen Eis zerbrochen war. „Sollen wir…?“, fragte ich. Tim schüttelte den Kopf. „Das ist der Mühe nicht wert. Sorgen wir lieber dafür, dass wir bis zum Mittag etwas gesammelt haben!“

Gegen Mittag kehrten wir mit magerer Beute zurück zum Lager. Connor und Thomas hatten glücklicherweise drei Truthähne geschossen, und auch Jordan und Joshua waren erfolgreicher als wir gewesen. Josy, Conny, Quinn und Eliza bereiteten ein leckeres Mittagessen zu. „Mann, beeilt euch doch mal, ich hab Hunger!!!“, sagte Tim ungeduldig. „Daran wirst du dich gewöhnen müssen!“, sagte Lia grimmig und stocherte in einer kleinen Wasserschale herum, in der bereits Kiefernnadeln schwammen. Es war dieselbe Hälfte der Dose, die wir vor fast genau einem Jahr gefunden hatten, doch inzwischen hatten wir die Ecken abgeschliffen und aus etwas Stoff und Schnur einen Henkel gebaut, an dem man die Dosenhälfte nun aus der Glut ziehen konnte, was sehr praktisch war.

Als das Wasser kochte, schüttete Lia den Tee in eine Flasche, und füllte erneut Wasser in die Schale, um noch mehr Tee zu machen. Wir waren inzwischen alle sehr durchgefroren und ließen die Flasche herumgehen, und obwohl sich jeder die Zunge verbrühte, nahmen wir große Schlucke, um uns aufzuwärmen.

Nach dem Essen beschlossen wir, zu trainieren, damit uns warm blieb und wir etwas zu tun hatten.

„Scarlet! Hast du Lust, mit mir zu kämpfen?“, fragte ich sie. Scarlet zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich hab Bailey versprochen, mit ihr Messer zu werfen!“, sagte sie. „Kein Problem! Deine Familie geht natürlich vor!“, sagte ich und war in dem Moment glücklich, dass ich keine kleinen Geschwister hatte, die pausenlos Aufmerksamkeit forderten.

Ich nahm meinen Bogen und schoss dann ein paar Pfeile auf einen Baumstamm ab, was nicht so einfach war, da sie oft abprallten. Irgendwann gab ich genervt auf. „Wir müssen uns noch etwas dafür überlegen!“, sagte ich zu Lia, die zu mir gekommen war. „Wofür?“, fragte sie mich. Ich legte einen Pfeil ein und schoss. Der Pfeil prallte wie geplant am Baum ab. „Dafür“, gab ich knapp zurück. „Du hast recht. Generell muss ich mit dir reden!“, sagte Lia. „Was gibt’s?“, fragte ich. Ich brachte den Bogen zurück und Lia und ich gingen zusammen durchs Lager. „Unsere Verteidigungsanlagen sind echt super!“, sagte Lia nach einer Pause, in der sie nichts gesagt hatte. „Find ich auch, und praktisch sind sie, das sollten sie ja aber auch sein! Was wolltest du mir denn sagen?“, fragte ich sie.

Lia zuckte mit den Schultern. „Na ja, weißt du… Es ist doch so, dass… Also… Scarlet, Mikey, Conny und ich… Wir haben alle jüngere Geschwister und… Es geht nicht um mich, ehrlich! Das möchte ich nur wegen Josy!“, sagte sie schnell.

„Was möchtest du denn nur wegen Josy?“, fragte ich sie. „Wir müssen mehr Zeit miteinander verbringen!“, sagte Lia. „Und warum kommst du deshalb zu mir?“, fragte ich Lia. „Also, das ist das schwierige… Ich dachte mir, ich und Josy könnten vielleicht… Irgendetwas unternehmen oder so. Mikey und Eliza könnten auch etwas machen und Quinn und Conny und natürlich Scarlet und Bailey und vielleicht auch Billie und Bryan, wenn sie möchten.“

„Und was ist daran schwierig?“, fragte ich Lia. Langsam wurde ich ungeduldig. Lia senkte den Kopf und scharrte mit den Füßen. „Das hört sich vielleicht jetzt komisch an, aber Josy und ich… Wir haben so lange nichts mehr zusammen gemacht, oder miteinander geredet, dass ich etwas… Angst habe, dass wir kein Thema zum reden finden, oder so. Dass sie mir Vorwürfe macht, oder dass sie mich ignoriert.“ „Das würde sie nie tun! Sie hat dich lieb! Du bist ihre Schwester. Du machst dir da zu viele Gedanken“, versuchte ich Lia zu beruhigen. Lia wirkte dennoch nicht erleichterter. „Vielleicht hast du recht, aber… Ich hätte ganz gern, dass du dabei bist.“ „Ich?“, fragte ich überrascht. Lia nickte. „Wieso? Ich meine… Natürlich, ich fände das toll, aber wolltet ihr zwei nicht allein… Oder irgendwie… Ich weiß nicht…“ Jetzt war es an mir, zu stottern. Ich hatte Lia nie direkt als Freundin bezeichnet, weil in der Vergangenheit einfach zu viel zwischen uns vorgefallen war. Ich war ihr natürlich dankbar, dass sie mir das Leben gerettet hatte, und ich würde jederzeit dasselbe für sie tun, doch ansonsten gingen wir uns aus dem Weg.

Wir waren einfach zu verschieden. Oder zu ähnlich, wie Jannis einmal gemeint hatten.

Ich merkte, wie verunsichert Lia plötzlich war. „Möchtest du etwa nicht?“, fragte sie mich vorsichtig. „Doch, doch natürlich!“, sagte ich schnell. „Ich bin nur… überrascht. Ach, vergiss es!“, sagte ich. „Gibt es sonst noch etwas, über das wir reden sollten?“, fragte ich sie. Lia nickte „Ja, da wäre noch eine Sache. Es geht um…“ In dem Moment hörten wir einen Schrei. Fast zeitgleich fuhren Lia und ich herum und suchten das Lager ab. „Scheiße, was ist passiert?“, fragte Lia leise.

Dann sah ich es auch. Scarlet saß auf dem Boden und presste sich die Hand aufs Gesicht. Bailey saß neben ihr und schien jeden Moment einen Panikanfall zu bekommen. „Lia! Lia, mach was!“, schrie das Mädchen jetzt, als sie Lia und mich sah. Lia sprintete los und ich musste mich erst aus meiner Starre lösen, bevor ich ihr folgen konnte. Wie konnte so was passieren? Wir hatten doch allen gesagt, sie durften nicht werfen, wenn jemand vor ihnen stand! Ich war sauer auf Bailey und hatte Angst um Scarlet.

Bevor Lia und ich bei Scarlet ankamen, war Henry bereits bei ihr und Kyle und Liam rannten auf sie zu. Bis wir da waren, standen auch noch Tim und Thomas um sie herum. „Lasst mich durch! Macht Platz!“, schrie Lia und schubste Tim auf die Seite. „Zurück!“, sagte Henry und drängte Thomas und Liam von Scarlet weg.

Als ich bei ihnen ankam, war Lia bereits dabei, eine klaffende Wunde an Scarlets Schläfe zu untersuchen.

Scarlets Hände, die sie auf die Wunde gepresst hatte, waren blutverschmiert und ich trug Thomas auf, etwas Wasser warm zu machen, um sie zu waschen.

Bailey hatte zu weinen begonnen und schluchzte nun hysterisch, während um uns herum völlig planlos zwanzig Kinder standen, bemüht, nicht im Weg zu sein, aber irgendwie zu helfen, obwohl niemand wusste, wie genau er helfen sollte.

Ich saß neben Scarlet auf dem Boden, hielt ihr die Haare aus der Stirn und streichelte ihr beruhigend über die Wangen, während Lia die Wunde reinigte und dann verband. Scarlet schrie immer wieder vor Schmerz auf, während Lia die Wunde abtupfte und ich fühlte ihre Schmerzen jedes Mal, als wären es meine eigenen. Mikey hatte einmal erzählt, Eliza fühlte mit allen Leuten mit, weil sie ein großes Herz hatte. Vielleicht war ich auch so geworden, denn ich machte mir oft mehr Sorgen um andere, als um mich.

Um etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, befahl ich Joshua, Jordan, Connor und Thomas, Jagen zu gehen – nur damit sie aus dem Weg waren.

Dann schickte ich Josy die beiden Messer aufräumen, die noch immer neben Scarlet und Bailey lagen. Eliza, Quinn und Conny sollten Bailey beruhigen, Henry und Chloe sollten bei Scarlet bleiben und Lia helfen. Dann schickte ich den Rest der Kinderschar um uns herum wieder trainieren. Nur Tim blieb neben mir stehen. „Wir sollten besser aufpassen! Das hätte echt gefährlich werden können“, sagte er. „Das musst du mir nicht sagen!“, schnaubte ich. Als ich sah, wie sehr ihn meine Worte getroffen hatten, fügte ich schnell hinzu: „Unfälle passieren nun mal! Das ist völlig normal. Und außerdem… Ach, vergiss es!“, sagte ich dann schon zum zweiten Mal an diesem Tag. „Ich red heute dummes Zeug!“

Bailey hatte sich inzwischen kein bisschen beruhigt, im Gegenteil, jetzt war auch noch Eliza am Weinen, Conny schien vollkommen überfordert und Quinn saß apathisch neben ihnen und starrte auf das Blut, das noch immer an Scarlets Schläfe herab lief. „Mikey!“, rief ich.

Er sah von seinem Zweikampf mit Kyle auf und ich winkte ihn herüber. „Komm mal!“ Als er bei mir war, zog ich Eliza auf die Füße. „Mach was dagegen, ja?“, sagte ich und deutete auf das Mädchen und schob sie auf ihren Bruder zu. Mikey nickte, und legte ihr den Arm um die Schulter, dann gingen sie weg. „Josy, machst du bitte Essen?“, bat ich das Mädchen, das inzwischen wiedergekommen war. Sie nickte und hopste davon. „Sag Oliver und Tim, sie sollen dir helfen!“, rief ich ihr nach. Tim stand noch immer neben mir. „Hast du gehört?“, fragte ich ihn und er ging murrend davor. Dann setzte ich mich neben Conny, die Quinn festhielt und sie tröstete, und Bailey ins Gras. Ich nahm Bailey in den Arm und streichelte ihr durch die Haare. Leise redete ich auf sie ein. „Alles wird gut, ist schon okay…“ Immer dasselbe sinnlose, verzweifelte Zeug. Es half nichts. Bailey schluchzte jetzt noch mehr und ich machte mir nicht mehr nur um Scarlet sondern auch um sie Sorgen.

Ich bemerkte ihn erst, als er sich neben mir ins Gras setzte. Einen Moment lang verabscheute ich mich dafür, dass ich zusammenzuckte, als sein Bein versehentlich mein Knie berührte. Aber ich erwartete von seinen Berührungen einfach nichts Gutes mehr.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte Finn mich. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, kannst du nicht“, sagte ich grob. Ich wollte nicht so gemein sein, doch es fiel mir nicht leicht, nett zu jemandem zu sein, der mitschuldig an dem Tod meines Freundes war. Auch wenn ich Finn selbst das Leben gerettet hatte.

Finn sah traurig zu Boden. „Verdammt!“, sagte ich verzweifelt. „Tut mir Leid, Finn! Das hab ich nicht so gemeint! Was ist eigentlich los? Was machen wir hier eigentlich? Wieso gibt es dauernd nur Probleme?!“

Finn schwieg und die Stille wurde nur von Baileys Schluchzten unterbrochen. „Vielleicht sollten wir sie ablenken. Das ist glaub ich bei Panikattacken das beste…“, schlug Finn vor. Ich hob eine Augenbraue. “Woher weißt du das? Du hattest doch bestimmt noch nie eine Panikattacke!“, fragte ich ihn. Finn grinste und zuckte die Achseln.

„Mona hatte so was oft. Meine Schwester, du weißt schon…“ Ich nickte. „Okay, einen Versuch ist es wert. Bailey, wir spielen jetzt was! Ich sehe etwas, was du nicht siehst und das ist… grau.“

Wir spielten lange, irgendwann schickte Lia Bailey ins Bett, damit sie sich ausruhen konnte. Scarlet ging es besser, doch sie musste noch einige Zeit mit einem Verband um den Kopf herumlaufen.

„Das wird eine ziemliche Narbe bleiben“, sagte Lia zu mir. „Kann ich mir vorstellen. Arme Scarlet. Hey, weißt du was… Scarlet… Scar… Narbe heißt auf Englisch „Scar“. Und dann Scarlet…“ Ich begann zu lachen. „Unsere Scarlet hat eine Narbe! Scar! Das wäre doch der perfekte Spitzname für sie, oder?“, fragte ich und kicherte wieder. Lia sah mich mit hochgezogenen Augen an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf und wich ein Stück zurück. „Wenn du meinst…“, sagte sie und verzog das Gesicht.

 

 

 

 

 

 

 

„Josy?“, fragte Lia vorsichtig ihre kleine Schwester. Das Mädchen saß mit dem Rücken zu ihr auf einem Baumstamm und ritzte – wie so oft – Muster hinein. „Was machst du da?“, fragte Lia und setzte sich neben sie. „Ich schnitze…“, sagte Josy konzentriert und zog mit der Spitze ihrer Klinge eine komplizierte Schlangenlinie in den Baum.

„Ich hab mir gedacht, jetzt wo es Winter wird, könnten wir mal… einen Spaziergang machen, oder so?“, erklärte Lia. Josy sah auf. „Meinst du das ernst?“, wollte sie wissen. „Natürlich!“, sagte Lia und lächelte. Auch Josy begann zu lächeln und sprang auf. „Oh, Lia!“ Das Mädchen begann um ihre Schwester herumzutanzen, sie hüpfte und lachte. Lia lachte nun auch und schloss ihre Schwester in die Arme. Wie hatte sie nur jemals denken können, zwischen ihr und ihrer Schwester hätte sich etwas verändert?

Alles war so wie früher. Ganz früher? Lia zuckte zusammen, als in ihr eine Erinnerung hochkam…

„Lia, geht es dir nicht gut?“, fragte Josy. Lia rang sich ein Lächeln ab. „Alles okay, Kleine. Wir… Ich… Ich muss noch etwas erledigen!“, sagte Lia und ging langsam davon. Kaum war sie außer Sichtweite lief sie los in den Wald. Die kalte Luft stach ihr ins Gesicht, doch die Bilder, die sie aus ihrer Vergangenheit einzuholen schienen, ließen sie weiterlaufen. „Wenn ich nur schnell genug laufe, kann ich vielleicht alles hinter mir lassen und wieder von vorne anfangen!“, dachte Lia. „Einfach weiterlaufen!“

Irgendwann blieb sie keuchend stehen. „Alles wird gut…“, sagte sie sich und kauerte sich an einen Baum. Seit langem hatte sie nicht mehr an diesen Tag gedacht. Was hatte sich geändert? Wieso jetzt?

Sie erinnerte sich wieder daran, wie Josy sich gefreut hatte. Dieser Augenblick, der nur wenige Minuten her war, doch ihr jetzt so weit und ungreifbar entfernt vorkam.

„Vielleicht habe ich mich endlich geändert…“, dachte sie. „Vielleicht muss ich nicht immer so… abweisend sein. Vielleicht kann ich es riskieren, wieder jemandem zu vertrauen… Vielleicht.“

Lia stand auf und ging zurück zum Lager. Sie zwang sich, langsam zu atmen, obwohl sie das Gefühl hatte, ihr würde die Lunge bersten. „Vergiss es…“, flüsterte sie sich zu. „Vergiss es ein für alle mal.“

 

 

 

 

 

Während Mikey an dem Truthahnfuß nagte, setzte sich Eliza neben ihn. „Wie geht’s?“, fragte Mikey sie. „Ganz gut…“, meinte Eliza. Mikey brach ein Stück Truthahnfleisch ab und hielt es Eliza hin. Sie nahm es an und steckte es sich in den Mund.

„Was machst du so?“, fragte Mikey Eliza. „Eigentlich nichts…“, bekam er zur Antwort. Immer dasselbe. „In meinem Leben muss sich etwas verändern…“, sagte Mikey sich. „Irgendetwas zwischen Eliza und mir.“ Er wischte sich den Mund ab. „Steh auf! Wir gehen was spielen!“, sagte er und reichte Eliza die Hand.

 

 

Gemeinsam mit Josy, Bailey und Conny liefen Mikey und Eliza durch den Wald. „Sie müssen hier sein…“, flüsterte er Eliza zu. „Wir kriegen sie!“, sagte das Mädchen. „Angriff!“, schrie in dem Moment Kyle hinter ihnen. Mikey fuhr herum, gerade noch rechtzeitig, um Kyle, Oliver und Quinn durch die Büsche brechen zu sehen. Mit einem wilden Kampfgeheult griffen sie an. Mit einem Stock bewaffnet stellte Mikey sich Kyle und wehrte seine Angriffe ab. „Gebt auf, wir sind in der Überzahl!“, schrie er und lachte, als Oliver mit dem Stock in der Hand auf ihn zusprang. „Niemals!“, erwiderten Quinn, Kyle und Oliver gleichzeitig.

„Vielleicht wäre das aber gar nicht so schlecht!“, hörten sie plötzlich eine fremde Stimme. Sie fuhren herum und blickten in die Augen von zwei groß gewachsenen Jungen. Mikey erkannte sie sofort. Sie gehörten zu Jasmyns Bande, dessen war er sich sicher. Doch sie waren unbewaffnet, alle beide. „Was wollt ihr?“, fragte Kyle und die Jungen und stellte sich vor Mikey und die Mädchen. Mike drängelte sich an seine Seite, um nicht übergangen zu werden. Auch Oliver stellte sich zu ihnen, um die Mädchen hinter sich zu beschützen.

„Eigentlich gar nichts, aber jetzt, da wir schon mal hier sind… Wie wär’s mit einem kleinen Kampf? Ihr gegen uns, oder habt ihr Angst?“, fragte einer der Jungen. „Verschwindet von hier!“, sagte Kyle bedrohlich. „Oder was? Verprügelt ihr uns dann?“, antwortete einer der Jungen.

„Keine schlechte Idee!“, sagte Mikey und griff den Stock fester. Die Jungen beobachteten sie Kinder vor sich, dann bewaffneten sie sich mit Stöcken, die um einiges schwerer und dicker waren, als die der Kinder.

„Ihr müsst euch ja echt toll fühlen, Kinder zu verprügeln, die kleiner und jünger sind als ihr!“, sagte Mikey und spuckte vor ihnen auf den Boden.

„Das war ein Fehler!“, knurrte einer der Jungen. Dann gingen sie auf die Kinder los. „Bleib von meiner Schwester weg!“, schrie Mikey einen Jungen an und verpasst ihm einen Stoß in den Bauch. Neben ihm schrie Kyle auf, als er einen Stock auf den Kopf bekam. Mikey sah aus den Augenwinkeln, dass dunkelrotes Blut über seine Stirn lief. „Conny! Kümmere dich um Kyle!“, rief er dem Mädchen zu. Conny nickte und Mikey und Oliver mussten allein gegen zwei Jungen kämpfen, die nicht nur größer, sondern auch älter und stärker als sie selbst waren. Doch sie mussten die Mädchen hinter sich beschützen, das wussten sie genau. „Verzieh dich, Fischfresse!“, schrie Oliver und trat nach einem der Jungen.

„Sag das noch mal, wenn du die Radieschen von unten betrachten willst!“, schrie der angesprochene Junge. „Fischfresse, Fischfresse!“, rief Oliver und als der Junge auf ihn zukam, versetzte er ihm einen weiteren Schlag mit dem Stock. „Mann, seid ihr Helden, dass ihr gegen Kinder kämpft, die kleiner und jünger sind als ihr, die noch dazu Mädchen beschützen müssen!“, sagte Mikey verächtlich, zwischen einem kurzen Schlagabtausch.

In dem Moment schlug der Junge vor ihm mit einem wütenden Angriffsschrei auf Mikeys Stock und dieser zerbrach in zwei Teile. „Scheiße…“, flüsterte Mikey und zog sich zurück. „Eliza, gib mir deinen Stock! Ich brauch deinen Stock!“, sagte er zu dem Mädchen und sie drückte ihm ohne zu zögern den Stock in die Hand.

Inzwischen wollten sich beide Jungen auf Oliver stürzen. „Bleib von meinem Kumpel weg!“, knurrte Mikey. „Das kannst du vergessen! Er hat mich Fischfresse genannt, also geh aus dem Weg!“ „Nein!“, sagte Mikey entschlossen und blieb stehen. „Ich will nur mit ihm reden und das regeln!“, sagte der Junge. „Ich glaube dir nicht!“, antwortete Mikey. Daraufhin versetzte der Junge ihm einen Schlag mit dem Stock gegen den linken Oberarm.

Sie waren den Jungen eindeutig überlegen, was ihre Stockkämpfkünste anging, doch schon bald darauf versagte Mikeys Stock ihm erneut den Dienst und zerbrach.

Mikey spürte, wie ihn eine Hand an der Schulter packte, und ballte instinktiv die Hand zur Faust. Er drehte sich um, holte Schwung und schlug dem Jungen die Faust ins Gesicht, der ihn daraufhin losließ. „Feiglinge!“, schrie Conny von hinter ihnen. „Ihr traut euch nur, auf Jüngere loszugehen, nicht wahr?“

„Und ihr traut euch auch nur, mit Stöcken auf uns einzuschlagen, oder?“, fragte einer der Jungen. „Kommt her, dann regeln wir das in einem fairen Zweikampf, nur mit Fäusten!“, bot der andere an. Mikey schnaubte. „Wie fair kann ein Zweikampf schon sein, wenn du ihn gegen einen Jungen führst, der nur halb so groß und außerdem drei Jahre jünger ist, als du?“, fragte er ihn. „Mann, ihr tut mir echt Leid! Euch kann man nur verachten!“, sagte Mikey und spuckte wieder vor den Jungs aus.

„Ja, in der Gruppe fühlt ihr euch sicher, aber so…!“, lachte der größere der Jungen. Mikey spürte, wie er noch wütender wurde. Jetzt war sein Stolz verletzt. „Gegen wen soll ich kämpfen?“, fragte er und trat ein Stück vor, die Hände zu Fäusten geballt. In dem Moment erschien hinter ihm eine Gestalt.

„Da seid ihr ja!“, sagte Kira, die ihren Bogen in der Hand und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken hatte. Sie sah auf die Jungs. „Habt ihr jetzt genug davon, kleinere Kinder zu verprügeln?“, fragte Mikey die Jungen absichtlich. „Habt ihr euch geprügelt?“, fragte Kira. Mikey nickte. „Diese Helden mussten ihren Mut an uns beweisen!“, sage Eliza und stellte sich an Kiras Seite. Die Jungen vor ihnen schienen geschrumpft zu sein, und plötzlich hatten sie es ganz eilig, wegzukommen. Von ihrem Mut war nichts mehr zu merken.

 

 

 

 

 

 

 

 

Finn saß auf dem kalten Waldboden, in eine Decke gewickelt und sah dem Wasser in der alten Blechdose beim Kochen zu. Es erinnerte ihn an den letzten Winter, wo sie zu viert hier gesessen waren und versucht hatten, ihr Überleben zu sichern und nicht zu erfrieren oder zu verhungern. Für ihr Überleben war jetzt gesichert, jedenfalls, was diese beiden Punkte anbetraf. Nur fühlte er sich diesmal so, wie Eliza damals: Er war nutzlos, die Leute konnten ihn nicht gebrauchen, er war nur hier, weil jemand anderes ihn unter seinen Schutz gestellt hatte.

Und genau diese Person ließ sich jetzt neben ihn ins Laub fallen. „Wie geht’s?“, fragte Kira ihn. Finn schnaubte verächtlich. „Rate!“, antwortete er. „Glaub mir, im Sommer ist es hier voll cool! Dann sind alle viel lockerer drauf!“, versicherte Kira ihm. „Nein, das ist es nicht…“, sagte Finn und senkte den Kopf. „Ich hab nur das Gefühl, hier vollkommen fehl am Platz zu sein, weißt du? Ich gehör hier einfach nicht hin. Ich war so lange Zeit euer Gegner und für viele wird sich das nie ändern.“ Kira antwortete nicht.

„Weißt du was? Ich mache mit Lia und Josy einen kleinen Ausflug. Wir haben beschlossen, dass das alle Geschwister einmal machen sollten. Einfach etwas Zeit nur für sich haben, aber Lia hat mich gebeten, mitzukommen. Komm doch auch mit!“, sagte sie schließlich. „Ach, ich weiß nicht…“, meinte Finn und sah auf, doch ein kleiner Funken Hoffnung kam zurück. Vielleicht konnte er hier ja doch noch Freunde finden, wenn er Kira vertraute. Doch dazu musste er sich erst wieder überwinden.

„Wir beide halten uns im Hintergrund und lassen Lia und Josy allein. Dann komme ich mir auch nicht vor, wie das fünfte Rad am Wagen!“, sagte Kira. „Wir sind für den Tag auch Geschwister! Was sagst du?“, fragte Kira Finn. Finn dachte noch kurz nach, nickte dann aber. „Aber nur wegen dir!“, sagte er. Kira schüttelte den Kopf. „Mit der Einstellung kommst du hier nicht weit. Du musst offener sein. Geh auf die Leute zu! Du bist jetzt schon fast ein viertel Jahr hier und hast noch überhaupt keinen Anschluss gefunden!“, sagte Kira. Finn schnaubte wieder. „Als ob ich das nicht selber wüsste… Aber ich hab dir doch gesagt, woran es liegt! Ich bin für viele einfach immer noch ein Feind.“

Kira stand auf und zog Finn auf die Füße. „Dann ändern wir das jetzt, okay? Wir sind jetzt Freunde, Geschwister, was auch immer. Und fürs Erste wirst du mich überall hin begleiten. Daran müssen sich die Anderen gewöhnen. Wo ich bin, bist auch du, und wenn sie mit mir befreundet bleiben wollen, müssen sie dich akzeptieren“, erklärte Kira mit Endgültigkeit in der Stimme. „Und unter uns… Eliza mag dich immer noch. Wirklich!“, sagte Kira leise.

Finn sah sie zweifelnd an. Er hatte keine Lust, nur mit den Kleinen rumzuhängen. Er war schließlich fünfzehn. Kira schien seine Abneigung gespürt zu haben. „Wenn du mit denen abhängst, hast du auch ganz schnell Kontakt zu ihren Geschwistern. So einfach ist das. Und jetzt kommst du mit!“

 

 

 

 

Ich wusste, dass ich mir mit dieser Methode nicht unbedingt Freunde machen würde, vor allem nicht, als ich Finn einfach ungefragt zu Lias und Josys Geschwisterausflug eingeladen hatte, doch das war mir egal. Irgendwann mussten die anderen mit Finn reden. Er war jetzt schließlich ein Teil unserer Bande. Mit Finn im Schlepptau marschierte ich durchs Lager auf Scarlet, die immer noch einen Kopfverband trug, und Tim zu. Die beiden waren die unproblematischsten, obwohl sie Finn auch nicht mochten.

„Hey!“, begrüßte ich die beiden, die gerade mal wieder dabei waren, mit Stöcken um sich zu schlagen. „Was macht ihr?“, fragte ich. „Sieht man doch, oder?“, fragte Scarlet, während sie sich unter Tims Stock wegduckte. „Wie dumm von mir, hast natürlich Recht, Scar, also, meine Frage: Können wir mitmachen?“, fragte ich die beiden, die Finn bis jetzt ignoriert hatten. „Neben euch liegen Stöcke, bitteschön, viel Spaß!“, gab Tim zurück, ohne aufzusehen. Ich stöhnte.

Das schien etwas schwieriger zu werden, als ich gedacht hatte. „Die Stöcke gefallen mir nicht. Wenn ich genauer nachdenke, Tim, gefällt mir deiner am besten!“, sagte ich und entwand ihm mit einem schnellen Ruck den Stock. „Hey!“, rief er empört und wollte sich auf mich stürzen, doch ich hielt ihn mit dem Stock auf Abstand. „Wieso können wir nicht was zusammen machen?“, fragte ich. Scarlet und Tim sahen sich an und zuckten mit den Schultern.

„Was möchtest du machen?“, fragte Tim mich. „Wieso fragst du mich das?“, wollte ich wissen. „Finn ist auch noch da!“ Ich konnte sehen, wie Tims Miene sich wandelte und er sich zu Finn umdrehte, als wäre er der letzte Abschaum. „Also… Finn…“ Tim spuckte den Namen aus, als wäre es ein verdorbener Fisch. „Was willst du machen?“ Finn sah mich fragend an, ich zuckte mit den Schultern, doch ich merkte, wie unangenehm Finn die Situation war, also warf ich Finn meinen Stock zu. „Fang! Und jetzt kommt mit!“, sagte ich und lief in den Wald. Ich kannte mich im Wald inzwischen echt gut aus, also hätte ich den Weg sogar mit verbundenen Augen finden können. Vor einer großen Felswand hielt ich an. Finn war als erster bei mir, dann kamen Tim und Scarlet. „Und jetzt?“, fragte Scarlet. „Na, wofür eignet sich eine Felswand denn am besten?“, fragte ich und begann zu klettern.

Ich hörte Tim lachen, dann begann auch er unter mir zu klettern und Scarlet und Finn folgten ihm.

Ich schwang mich in ungefähr sechs Metern Höhe auf einen kleinen Felsvorsprung und beobachtete die anderen bei ihrem Aufstieg. Tim kletterte direkt auf mich zu und quetschte sich neben mich auf den Felsen. „Schön hier!“, sagte er, und das war es wirklich. Von hier aus konnte man durch die lichten Baumkronen sehen, die um diese Jahreszeit keine Blätter trugen, und bis weit zu den Bergen schauen. Diese Berge, zu denen ich mich bei meiner ersten Mission hätte begeben sollen. Diese Berge, hinter denen gerade die Sonne unterging. Diese Berge, die ein Teil meiner neuen Welt geworden waren, weil ich sie jeden Tag aufs Neue sah.

Jetzt, als Tim so dicht neben mir saß, waren es einfach nur ganz normale Berge, denn ich war glücklich. Vor zwei Jahren hatte ich diese Berge nie von nahem sehen wollen, jetzt zog es mich nach dort, denn ich wusste, dass ich alle mitnehmen könnte. Ich würde niemanden zurücklassen müssen, wie ich es bei meiner Mission hätte tun sollen.

Deswegen hob ich den Arm und zeigte auf die untergehende Sonne. „Da will ich hin!“, sagte ich und ließ den Arm wieder sinken. „Zur Sonne?“, fragte Tim und zog die Augenbrauen hoch. „Nein, du Blödi!“, antwortete ich ihm und grinste. „Zu den Bergen!“ Tim legte den Kopf schief und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die geriffelte, dunkle Mauer am Ende des Horizontes.

„Da willst du hin? Das ist aber ganzschön weit!“, gab Tim zu bedenken. Ich zuckte mit den Schultern. „Ja und?“ Ich drehte mich zu Tim. „Das wäre doch was! So wie Lia und Josy einen Geschwisterausflug machen, so machen wir beide in der Zeit einen beste-Freunde-Ausflug!“

Tim und ich sahen gleichzeitig wieder zu den Bergen. „Wenn das klappen würde…“, murmelte Tim, „wäre das sehr schön.“ Ich lächelte und drehte mich wieder zu Tim. „Natürlich klappt das!“ Tim sah mich an und lächelte dann auch.

In dem Moment streckte Scarlet ihren Kopf über den Felsvorsprung. „Ihr habt’s hier ja romantisch!“, sagte sie und schwang sich neben uns. Tim und ich machten ihr Platz und kurz darauf kletterte Finn mit vor Anstrengung verzogenem Gesicht zu uns, setzte sich aber nicht neben uns. „Hi!“, sagte ich. „Du bist nicht gerade der große Kletterer, oder?“, fragte Tim. Finn schüttelte den Kopf und wurde rot.

Ich fühlte mich gezwungen, für ihn Partei zu ergreifen. „Finn ist eher der Kämpfertyp. So wie du, Tim!“, sagte ich. Tim zog die Augenbrauen hoch. „Aber ich kann trotzdem klettern!“, sagte er mit Nachdruck. „Ich kann rennen!“, sagte Finn unvermittelt. „Nicht so schnell wie Mikey, aber auf lange Distanzen bin ich besser als er!“ Ich nickte. „Stimmt wirklich!“

Tim und Scarlet sahen sich an. „Okay, das werden wir ja sehen… Wer als erster wieder am Lager ist!“, rief er dann und kletterte schnell wie ein Affe wieder nach untern. „Nicht daneben treten!“, rief er uns noch zu, während wir schon dabei waren, ihm zu folgen. Fast gleichzeitig kamen wir am Boden an – Finn nur, indem er fast zwei Meter sprang – und rannten los. Schon nach einigen Metern war ich in Führung, doch Finn war direkt hinter mir. Mir kam zu Gute, dass ich die Kleinste von uns war, und mich durch die Büsche und umgefallenen Äste schummeln konnte, doch auch Tim hatte aufgrund seiner Größe einen Vorteil: Bei Ästen, oder Dornengestrüpp konnte er einfach mit einem großen Satz drüber springen, während wir uns durchkämpfen mussten.

Als ich merkte, wie ich Seitenstechen bekam, war das Lager nur noch wenige Meter entfernt, ich konnte bereits die Stimmen hören und der Schein der Lagerfeuer erhellte den Wald, in dem es inzwischen dunkel geworden war.

Ich war noch immer in Führung, Scarlet war weiter zurückgefallen, doch Tim und Finn kämpften um den zweiten Platz. Ich zwang mich, durchzuhalten, bis wir im Lager sein würden, doch Finn wurde auf den letzten fünfzig Metern noch schneller und überholte mich schließlich. Ich und Tim kamen fast gleichzeitig an, Scarlet wenige Sekunden nach uns. Ich ließ mich auf den Boden fallen und atmete schwer. Als ich wieder Luft bekam, sagte ich: „Finn hat gewonnen!“ „Ja, das hat er!“, keuchte Tim, den das Laufen scheinbar am meisten angestrengt hat.

Scarlet, die sich ausgestreckt auf den Boden geschmissen hatte, setzte sich jetzt auf und fragte: „Und was machen wir jetzt?“ Tim stand auf und zog Finn hoch. „Ich schlage vor, da du mich jetzt im Rennen geschlagen hast, machen wir einen kleinen Stockkampf!“, sagte er und zog Finn mit sich. Ich drehte mich zu Scarlet. „Was meinst du, schauen wir den Jungs zu, wie sie sich verprügeln?“, fragte ich sie. Scarlet zuckte mit den Schultern. „Ich fände es spannend, aber wenn du was anderes vorhast…“ Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“ Scarlet wollte aufstehen, doch ich hielt sie zurück. „Was sagst du zu Finn?“, fragte ich sie leise. Sie zuckte wieder mit den Schultern. „Wie soll ich ihn schon finden?“, antwortete sie mir, doch ich merkte, dass sie von ihm nicht besonders viel hielt. Wenigstens schien Tim sich gut zu amüsieren, denn er und Finn schlugen sich schon mit den Stöcken die Köpfe ein.

Scarlet und ich sahen zu und ich war mir sicher, noch nie zwei so ausgeglichene Gegner gesehen zu haben. „Du musst deine rechte Seite nach einem Schlag besser decken!“, gab Tim Finn jetzt sogar einen Tipp. „Wenn du mich angreifst und ich zurückspringe, kann ich dich leicht treffen, während du noch den Schlag gegen mich ausführst!“, sagte Tim. Ich erinnerte mich daran, dass genau das mir bei meinem Zweikampf mit Finn vor einem Jahr das Leben gerettet hatte und mir wurde mulmig zu Mute.

Nach einer halben Stunde gaben sie das kämpfen auf. „Du bist gut!“, sagte Tim. „Du auch!“, antwortete Finn. Tim klopfte Finn auf die Schulter und nahm ihm den Stock ab, um ihn wegzubringen. Finn sah in meine Richtung, unsicher, was er davon halten sollte. Ich stand auf und ging auf ihn zu.

„Ich hab’s dir doch gesagt!“, sagte ich leise. „Die Leute werden dich mögen, wenn sie dich besser kennen lernen!“ Finn lächelte und ich pfiff Scarlet zu mir. „Also, ich weiß ja nicht, wie’s euch geht…“, begann Scarlet, als sie bei mir war, und ich wusste, dass sie hungrig war. Wenn sie hungrig war, begann sie ihre Sätze immer mit „Also, ich weiß ja nicht, wie’s euch geht…“.

Also lachte ich nur, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: „Ja, Scarlet, ich bin auch hungrig!“ Dann stupste ich ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase. Das hatte sie bei mir gemacht, als es mir schlecht ging, nachdem Lia und ich von Jasmyn gefangen gehalten wurden. Sie hatte mir damals erklärt, dass sie das immer bei ihrer Schwester gemacht hatte, wenn sie krank war.

In der ganzen Zeit war Scarlet so was wie eine Schwester für mich geworden. Sie verstand mich, auch wenn wir manchmal nicht einer Meinung waren. Außerdem war sie eine gute Kämpferin und ich fühlte mich mit ihr verbunden.

„Wieso hab ich eigentlich immer das Gefühl, du würdest mich wie eine kleine, dumme Schwester behandeln?“, fragte Scarlet jetzt mit einem säuerlichen Unterton. Okay, Scarlet war keine drei Monate jünger als ich, aber sie schien mir etwas alberner, verspielter und… unreifer. Aber das wollte ich ihr nicht unter die Nase reiben. Ich sah sie an und hatte einen Moment lang das Gefühl, sie wäre wirklich meine kleine Schwester, die ich beschützen musste, und ich hatte den Wunsch, diesen unbedarften, unwissenden und fragenden Gesichtsausdruck den Rest meines Lebens in ihrem Gesicht zu sehen. Sie war meine kleine Schwester geworden, weil ich auf sie alle aufpassen musste, auf unsere gesamte Bande, aber auf sie doch besonders.

Ich war gerne und oft mit ihr zusammen, und sie hörte auf mich, wie ein Hund, nur manchmal konnte sie anstrengend werden, und dann verkrachten wir uns auch mal richtig. Vielleicht war sie einfach zu lange mit Lia befreundet gewesen, denn dann ähnelte sie ihr sehr.

Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, wieso!“, antwortete ich ihr und ging weiter. Ich wusste, dass sie mir folgen würde. Das hatte sie bis jetzt immer getan.

Wir marschierten auf direktem Weg zu Conny und Quinn, die bereits dabei waren, ein junges Reh zu häuten. „Wann gibt’s essen?“, fragte Scarlet. „Ich sterbe vor Hunger!“ Ohne aufzublicken antwortete Conny: „Dann stirb vor Hunger, oder frag Mister Ich-komm-mit-meinem-Huhn-nicht-klar!“, sagte sie und wies auf Mikey, der versuchte, einen Truthahn zu rupfen. „Bevor der nicht fertig ist, können wir auch nicht essen!“

Neben Mikey, der diese Bemerkung mit einem Naserümpfen quittierte, Conny und Quinn saßen auch Bailey und Eliza, die geschickt ein Tier ausnahmen, das ich nicht mehr erkennen konnte. Gerade kam Josy mit einem Beutle aus gegerbtem Fell, den sie über einer Schüssel ausleerte. Eine Menge hellbrauner Pilze fielen in die Schüssel und Conny wies Quinn an, sich die Pilze anzusehen. „Alles essbar!“, sagte sie schließlich. „Na ein Glück!“, sagte Scarlet, griff in die Pilze und zog einen heraus, den sie sich in den Mund stopfen wollte. „Nein!“, schrien Mikey, Eliza, Bailey, Josy, Quinn und Conny gleichzeitig. Es war das reinste Schreikonzert und Scarlet erschrak so, dass sie den Pilz fallen ließ. „Nur essbar, wenn sie gekocht sind!“, fügte Quinn hinzu und sammelte den Pilz ein. Genau das meinte ich mit unbedarft und unwissend.

Da sagte ihr die kleine Quinn, die oft nur in halben Sätzen sprach, dass etwas essbar war und sie stopfte es in sie hinein. „Na, dann ist es ja gut, dass ihr euch alle schon so gut auskennt!“, sagte Finn und lachte. Sechs kleine Augenpaare starrten ihn an und Finn senkte den Kopf. „Mikey, lass mich das machen!“, sagte ich und nahm ihm den Vogel weg. Mikey stand auf und ging, während Finn sich unsicher neben mir niederließ und mir dabei zusah, wie ich den Vogel rupfte.

„Mehr gibt es nicht?“, fragte Conny Josy. „Nein, das ist alles.“ „Okay, danke. Du kannst die Pilze waschen!“, sagte Conny. „Okay…“, antwortete Josy und schwieg dann verlegen, dabei sah sie in Finns Richtung. „Finn…“, begann sie. Finn sah auf. „Möchtest du mir helfen?“, fragte sie leise. Finn nickte und kroch zu Josy. Ich beobachtete die beiden eine kurze Zeit lang beim Pilze waschen, dann wandte ich mich meinem Truthahn zu. Als er fertig gerupft war, nahm ich seinen Kopf in eine Hand und seine Flügel mit der anderen und ließ ihn dann zu Bailey flattern, indem ich mit den Händen die dementsprechenden Bewegungen machte. „Hallo, hallo!“, quietschte ich mit verstellter Stimme und Bailey lachte. „Du bist doof, Kira!“, kicherte sie und schubst den Vogel. Ich ließ den Vogel zu Finn flattern, dem ich damit ein kleines Lachen abringen konnte, dann nahm Josy mir den Vogel weg. „Mit dem Essen spielt man nicht!“, sagte sie. „’Tschuldigung!“, sagte ich und tat so, als ob ich ihren Tadel ernst nehmen würde.

Bis jetzt hatten nur Josy , Tim und ich richtig Kontakt zu Finn aufgenommen – ich, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte, ihm zu helfen, Josy, weil sie ihn von früher kannte und mochte, und Tim, um mir einen Gefallen zu tun – doch schließlich brach Bailey das Eis. „Hast du Hunger?“, fragte sie Finn und hielt ihm einen gekochten Pilz hin. „Du darfst probieren!“ „Oh…“, machte Finn und nahm Bailey den Pilz aus der Hand. „Danke.“ Er schielte zu mir, dann biss er in den Pilz. „Lecker!“, sagte er und aß den Pilz auf. „Beim Abendessen gibt’s noch mehr!“, sagte Eliza.

Mikey kam mit wieder aufgefüllten Wasserflaschen wieder und dann angelten Finn, Bailey und Josy die Pilze aus dem Wasser. „Du kannst Tee machen, Mikey!“, sagte Conny und Mikey goss frisches Wasser in die Blechdosenhälften, die er dann ins Feuer stellte.

Conny, Quinn, Eliza und ich stecken die Tiere auf Stöcke und hängten sie übers Feuer. „Gibt’s sonst noch was zu erledigen?“, fragte ich. Scarlet, die scheinbar wirklich hungrig und nun auch sauer war, dass ihre Schwester Finn und nicht ihr den Pilz angeboten hatte, klaute zwei Pilze aus einer Schüssel und bekam dafür von Josy eins auf die Finger. Ich musste kichern.

„Nein, ihr könnt gehen, wenn ihr wollt!“, sagte Conny. „Eliza, Quinn, Bailey, ihr helft mir noch beim aufräumen und bei den restlichen Tieren, okay?“

Ich zog also Mikey, Josy, Scarlet und Finn mit mir und wir setzten uns an ein Feuer. „Willst du nicht eine Geschichte erzählen, Mikey?“, fragte Finn. „Das kannst du doch so gut!“ Ich war mir sicher, dass es für ihn einfacher sein würde, sich wieder mit Josy, Mikey, Eliza und Lia anzufreunden, als mit völlig fremden Leuten. Da er sich allerdings auch von Scarlet nicht würde fernhalten können, wenn er mit mir unterwegs war, fand ich, dass ich fürs Erste die richtigen Leute ausgesucht hatte.

Mikey ließ sich nicht lange bitten und erzählte eine Geschichte, wie er und Oliver gemeinsam versucht hatten, einen Bienenkorb von den Bäumen zu holen, um an den wertvollen Honig zu kommen. Das Ergebnis war ein wütender Bienenschwarm, der die Beiden verfolgt hatte, und sechs Bienenstiche an Mikeys Hand, mit der er in den Bienenkorb gegriffen hatte.

„Die anderen Stiche, die die Bienen uns dann auf unserer Flucht noch zugefügt haben, hab ich gar nicht erst gezählt!“, lachte Mikey.

Wir lachten auch und ich merkte, dass Lia sich zu uns setzte. Sie war außer mir die einzige, die mit Finn ungezwungen umging. Wir hatten gehofft, eine gewisse Vorbildfunktion zu haben und Finn dadurch die Integration in unsere Gruppe einfacher zu machen, doch davon war bis heute noch nichts zu spüren gewesen.

Kaum saß Lia, kam Josy angekrochen und kuschelte sich an sie. Die Achtjährige hatte ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrer großen Schwester.

„Wann machen wir unseren Ausflug?“, fragte Josy ihre Schwester. Lia zuckte mit den Schultern. „Wenn du Lust hast, gehen wir nach dem Mittagessen los!“ Josy sprang auf und hüpfte vor Freude lachend und quietschend ums Feuer wie Rumpelstilzchen. Lia wandte sich an Bailey, Scarlet, Eliza und Mikey: „Ihr könnt heute auch was machen. Ich gebe auch Billie und Bryan und Conny und Quinn Bescheid. Dann machen wir heute unseren Geschwistertag!“ Als Lia das erwähnte, merkte ich, dass für mich zwei Probleme mit diesem Nachmittag einhergehen würden:

Ich hatte Lia noch nichts davon erzählt, dass ich Finn einfach eingeladen hatte.

Ich hatte mich mit Tim für genau diesen Tag verabredet und wir wollten zu den Bergen gehen.

Ich überlegte. Vielleicht konnte ich mit Tim reden. Der eine Nachmittag wäre sowieso zu kurz, um bis zu den Bergen zu gehen. Vielleicht könnten wir es verschieben. Was das Problem mit Finn anging, so würde ich Lia einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Sie konnte Finn ja schlecht wegschicken, wenn er schon mal dabei war. Und wir würden uns ja auch im Hintergrund halten.

„Super Idee!“, sagte auch ich. Dann stand ich auf. „Ich kann den anderen Bescheid geben!“, bot ich an. „Finn, du kommst mit!“ Ich zog ihn hoch und lief los, ohne auf seine Verwirrung und seinen Protest einzugehen. Ich hatte Angst, dass er Lia etwas von meiner Einladung erzählen würde, denn dann hätte ich Ärger.

„Was ist denn los?“, wollte er wissen und hielt mich fest. Ich seufzte. „Okay, hör zu, ich werde Lia nichts davon erzählen, dass du mitkommst, ja? Ich werde sie vor vollendete Tatsachen stellen. Das ist das Beste!“, gestand ich ihm. „Sicher?“, wollte er wissen. „Nein, nicht sicher, aber wahrscheinlich. Und jetzt hör auf zu protestieren und komm. Wir müssen noch mit Quinn, Conny, Billie, und Bryan reden.“

Also zog ich Finn hinter mir her, dem nicht Recht bei dem Gedanken zu sein schien, Lia vor vollendete Tatsachen zu stellen. Auch mich plagte ein schlechtes Gewissen, doch noch mehr machte ich mir Gedanken über Lias Reaktion, denn bei zwei Themen war Lia immer besonders aggressiv und wurde schnell wütend: Bei Finn, und wenn wir über unseren toten Freund Jannis sprachen…

 

 

 

 

 

 

„Ich freu mich ja schon so!“, rief Josy und hüpfte vor Lia auf und ab. Ihre Freude wurde auch dadurch nicht gedämpft, dass Lia ihr erzählte, dass Kira mitkommen würde. Josy hüpfte weiter, kletterte an der Wand aus Bäumen empor, die ihr Lager umgab, und sprang Lia in die Arme. „Langsam, Josy!“, lächelte Lia. „Du tust dir noch weh!“ Josy hörte nicht auf sie und begann, Lia zuzutexten, also beschloss Lia, die Ohren auf Durchzug zu stellen.

„Essen!“, rief Conny durchs Lager und Lia nahm Josy an der Hand. „Na komm!“, sagte sie und zog Josy mit sich.

Josy schwatzte noch das ganze Essen über weiter und nach dem Essen war sie noch aufgeregter. Lia befürchtete, ihre Schwester würde platzen, wenn sie nicht bald losgingen, also rief sie Kira zu sich.

„Komm, wir wollen los!“, rief sie ihr zu. Sie war erstaunt, als Kira nicht allein auf sie zukam. Sie hatte Finn und Tim dabei. „Was soll das?“, fragte Lia sie. „Ich habe beschlossen, die beiden mitzunehmen!“ „Du hast beschlossen?!“, fragte Lia sie aufgebracht. Kira legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. „Wir halten uns im Hintergrund. Wir sind für heute auch Geschwister. Außerdem habe ich Tim eigentlich schon versprochen, heute mit ihm was zu unternehmen, also dachte ich, wir verbinden das einfach!“ Kira lächelte Lia bittend an und Lia seufzte. „Na gut. Von mir aus“, sagte sie.

„Kommt jetzt!“, sagte Josy und schob Kira vorwärts, dann packte sie Finn am Ärmel und zog ihn mit sich.

Wenige Minuten später liefen sie durch den Wald und Josy hüpfte und sang und erzählte, bis Lia Finn, Tim und Kira beneidete, dass die sich einfach hatten zurückfallen lassen. „Josy. Josy!“, sagte Lia mehrmals, bis das Kind auf sie hörte. „Könntest du vielleicht ein kleines bisschen weniger reden?“, bat Lia sie. Josy sah sie mit großen Augen an, nickte dann aber. „Danke“, sagte Lia und grinste. „Komm, wer als erstes bei dem umgefallenen Baum dort ist!“, sagte Lia und lief los. Natürlich ließ sie Josy gewinnen, und als die Jungs und Kira aufgeholt hatten, setzten sie ihren Spaziergang fort.

„Der See ist um diese Zeit echt toll!“, flüsterte ihr Tim plötzlich von hinten ins Ohr. Lia wandte sich an Josy. „Na, hast du Lust zum See zu gehen?“ Natürlich hatte Josy Lust, sie bestand sogar darauf, zu rennen, also rannten die fünf los. Als sie am See angekommen waren, sah Lia, dass eine dicke Eisschicht den See überzog. „Ist das Eis dick genug, um drauf zu laufen?“, fragte sie Tim. Das würde ihrer kleinen Schwester sicher gefallen.

Tim testete das Eis am Rand des Sees. „Hier schon, aber ich würde nicht zu weit auf den See raus laufen!“, erklärte er. „Und nicht zu viel trampeln!“ Lia nahm Josy an der Hand und lief mit ihr auf das Eis. „Nicht zu weit raus!“, rief Tim ihnen noch hinterher, dann hörte Lia das Geräusch von mehreren Füßen, die sich hinter ihnen auf das Eis begaben.

Sie sah aus den Augenwinkeln Kira, Tim und Finn, die etwas näher am Rand waren und sich über das Eis schubsten. Josy machte es einen Riesenspaß, über das Eis zu schlittern. Mit lautem Lachen und Geschrei krachte sie in Lia und die beiden fielen hin. „Au!“, sagte Lia, als sie auf dem Eis aufkam. Sie hatte ihren und Josys Sturz vollkommen mit ihrem linken Ellenbogen abgefangen. „Das gibt wohl einen blauen Fleck!“, dachte sie.

Josy sprang schon wieder auf und schlitterte mit Anlauf auf den See raus. „Josy!“, rief Lia und wollte ihr hinterher laufen, doch das Eis unter ihr begann, bedrohlich zu knacken. „Josy, komm zurück!“, schrie Lia ihrer Schwester zu. Josy drehte auf dem See ihre Kreise und hörte nicht auf Lia. „Josy!“, schrie Lia. „Komm her!“ Endlich kam das Mädchen zurückgeschlittert. „Was ist denn?“, fragte sie. „Du darfst nicht so weit raus!“, sagte Lia. „Wieso nicht? Das Eis ist ganz dick!“, sagte Josy und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf das Eis.

„Hier vielleicht, aber schon ein bisschen weiter draußen hält das Eis mich nicht mehr!“ „Du bist auch größer und dicker als ich!“, kicherte Josy und schob Lia rückwärts über das Eis.

Irgendwann setzte Lia sich an den Rand und begutachtete ihren Ellenbogen. Kira, Finn und Tim setzten sich neben sie. „Was hast du denn gemacht?“, fragte Finn und deutete auf den blauen Fleck, der sie langsam auf Lias Unterarm bildete. „Bin hingefallen“, sagte sie und drückte auf den Fleck, obwohl es wehtat. „Josy, nicht so weit!“, rief Kira und Lia sah auf. Josephine war schon wieder in der Mitte des Sees. „Kira, du bist die Leichteste von uns. Kannst du bitte noch mal auf den See, und ihr sagen, dass sie zurückkommen soll?“, fragte Lia. Kira stand auf und schlitterte auf den See.

„Ich soll dir sagen, dass du herkommen sollst!“, richtete Kira Josy aus. „Hol mich doch!“, lachte Josy und quietschte vor Vergnügen, als Kira noch ein paar Schritte auf sie zukam. „Das ist nicht witzig!“, rief Kira. „Das Eis hier ist zu dünn für mich. Komm jetzt, wir wollen weiter!“

„Josy, komm her!“, rief Lia jetzt. „Aber es ist so schön hier!“, antwortete Josy und rutschte auf dem Bauch über das Eis. „Das Wasser unter dem Eis ist aber nicht schön!“, erklärte Tim dem Kind. „Das ist ziemlich kalt!“ „Du kommst jetzt besser zurück, Josy!“, sagte Kira. „Sonst sind wir nämlich alle ziemlich wütend!“

„Na gut!“, sagte Josy, stand auf und kam mit großen Schritten auf Kira zu. Lia senkte wieder den Kopf und sah ihren Unterarm an, der langsam begonnen hatte, anzuschwellen. „Oh Mist, jetzt hab ich mir doch ganz schön übel den Unterarm geprellt!“, sagte Lia leise. „Zeig mal!“, sagte Tim und Lia drehte ihren Ellenbogen so, dass Tim ihn sehen konnte. Tim pfiff durch die Zähne. „Ja, das Eis ist ganz schön hart!“

Finn lachte. „Dann wird es auch deine Schwester aushalten!“, beruhigte er Lia. „Die ist so ein Fliegengewicht!“ Sie sahen alle drei gleichzeitig zu Josy, gerade noch rechtzeitig, um das splitternde Eis zu hören, Josys Schrei und wie Josy zwischen den Eissplitter ins kalte Wasser fiel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich fühlte einen Ruck, als ein paar Meter vor mir das Eis aufbrach und Josy ins Wasser fiel. Einen Moment war ich erstarrt vor Schreck, dann legte ich mich auf den Bauch und robbte zu der Stelle, wo Josy im Wasser verschwunden war. Sie kam hustend an die Wasseroberfläche und versuchte, zu mir heranzuschwimmen, doch in ihrer Panik schaffte sie es nicht, sich vom Fleck zu bewegen.

„Josy! Gib mir deine Hand!“, schrie ich sie an und streckte ihr meine Hand entgegen. „Nimm meine Hand!“ Am Ufer waren inzwischen alle aufgesprungen, doch Tim und Finn schafften es, Lia zurückzuhalten, die sich verzweifelt gegen sie wehrte und auf das Eis laufen wollte.

„Josy!“, schrie ich, als das Mädchen wieder unterging. „Josy!!!“ Sie kam noch einmal hoch. „Kira!”, hustete sie und streckte ihre Hand nach mir aus. „Kira, hilf mir! Hilf mir!“ Ich griff nach ihrer Hand, bekam sie aber nicht zu fassen. „Kira!“ Josys Kopf verschwand zwischen dem Eis und ich griff ins Wasser, um sie zu halten, doch ich erwischte sie nicht. Mit beiden Beinen strampelnd schaffte sie es wieder an die Luft. „Ich kann nicht mehr!“, schrie sie schrill.

„Bleib ruhig! Josy, hör mir zu! Nimm meine Hand!“, sagte ich und streckte ihr wieder meine Hand entgegen. Das eiskalte Wasser platschte mir ins Gesicht und ich wusste, dass sie erfrieren würde, wenn ich sie nicht bald hier rausholte. Endlich erwischte ich ihre vor Kälte steifen Finger und versuchte, sie zu mir zu ziehen.

„Ich hab dich!“, sagte ich beruhigend. „Keine Angst, ich hab dich!“ Als ich Josy aus dem Wasser heben wollte, hörte ich hinter mir ein gefährliches Knacken und kurz darauf fand ich mich im Wasser wieder.

Das Eis hinter mir war gebrochen und ich war ins Wasser gefallen, und nun kämpften wir beide, Josy und ich, in den kalten Wellen ums Überleben. Josy trat um sich, um über Wasser zu bleiben und erwischte mich dabei ein paar Mal mit ihren Füßen. Ich war mir sicher, dass wir jeden Moment erfrieren oder ertrinken würden, als plötzlich Finn vor uns auftauchte. Er musste sich schon vorher auf den Weg gemacht haben, um mir zu helfen. „Pass auf, das Eis ist ganz dünn!“, schrie ich ihn an, dann musste ich husten.

Ich schob Josy zu ihm und hielt sie über Wasser, während er ihren Arm nahm und sie vorsichtig aus dem Wasser hievte.

Als Josy neben ihm auf dem Eis lag und Finn meine Hand packte, war ich mir nicht ganz sicher, ob ich das überleben würde. Finn war kräftiger als ich, doch er hatte schon Schwierigkeiten gehabt, Josy aus dem Wasser zu holen, und ich war viele Kilo schwerer als sie.

„Ich hab dich!“, rief er mir zu. „Halt dich fest!“ Ich packte seinen Arm und versuchte, mich an dem Eis festzuhalten, doch ich rutschte immer wieder ab. Ich hatte kein Gefühl mehr in meinen Fingern und zitterte am ganzen Körper. Ich wusste, dass ich innerhalb der nächsten Minute erfrieren könnte, wenn ich hier nicht raus kam. Das dunkle Wasser unter mir war tief und kalt, nirgendwo konnte ich mit meinen Füßen Halt finden, um aus dem Eisloch zu klettern. „Ich schaff das nicht!“, sagte ich und hustete. „Und ob du das schaffst, hörst du?!“, schrie Finn mich an. „Du bist die Einzige hier, der ich vertraue, und du hast bis jetzt alles geschafft! Alles!“ Während er so auf mich einredete, packte er mich unter den Armen und zog mich hoch, dann plötzlich fanden meine taub gefrorenen Finger halt auf dem Eis. Hustend und keuchend zog ich mich mit Finns Hilfe aufs Eis.

 

 

 

 

 

Als Finn Kira endlich auf das Eis gezogen hatte, hörte er hinter sich Tim aufschreien. Er drehte sich um und sah Tim, der mit einer blutenden Nase am Ufer stand, und Lia, die sich aus seinem Griff entwand und auf das Eis rannte.

„Lia, bleib zurück!“, rief Tim und lief ihr hinterher. Finn half Kira und Josy hoch, dann war Lia bei ihnen. „Ich hab dir gesagt, du sollst zurückkommen!“, schrie sie Josy an und drückte das zitternde Kind an sich. „Wieso kannst du nicht hören, wenn man dir was sagt?“

Josy antwortete nicht und klammerte sich an Lia. „Wir sollten zurück!“, sagte Finn und zog seine Jacke aus, die er Kira um die Schultern legte. „Sie können sich erkälten oder erfrieren, und du, Tim, brauchst jemanden, der sich um deine Nase kümmert!“ Aus Tims Nase floss das Blut inzwischen und tropfte auf das helle Eis. „Sollten wir ihnen nicht die Klamotten ausziehen?“, fragte Tim und deutete auf Kira und Josy. Finn sah die beiden an. „Vermutlich!“

Kira schlüpfte bereitwillig aus ihrer tropfenden Jacke, auch bei ihrem Hemd machte sie weniger Anstalten, als noch vor gut einem Jahr – sie hatten sich alle an nackte Mädchen- und Jungenkörper gewöhnt.

Dabei erhaschte Finn eine Sekunde einen Blick auf alte Narben: Dort, wo Kira von dem Pfeil getroffen wurde, Jasmyns Schwert, das sich ihr ins Brustbein gebohrt hatte, als sie Kira gefangen genommen hatten und einige andere Narben, von denen Finn nicht wusste, woher sie stammten.

Er wickelte Kira in seine Jacke und legte ihr den Arm um die Schulter, um sie etwas zu wärmen. Tim und Lia hatten Josy mittlerweile bis auf die Unterwäsche ausgezogen und in Tims Jacke gehüllt. Jetzt trug Lia sie wie ein Baby und Josy kuschelte sich an sie.

„Mir ist kalt!“, wimmerte Josy. „Frag mich mal!“, antwortete Kira, doch sie schien nicht wütend zu sein.

Nachdem sie ein Stück gelaufen waren, setzte Kira sich hin und kugelte sich zusammen. „Ich kann nicht mehr!“, murmelte sie und schloss müde die Augen. „Mir ist so kalt!“

Finn zog sie grob wieder auf die Beine. „Du darfst jetzt nicht stehen bleiben!“, sagte er eindringlich. „Du hast es gut!“, sagte Kira grimmig. „Du bist trocken, hast einen Pulli an und vor allem eine Hose!“ Sie wies auf ihre nackten Beine. Was Finn dann tat, schien sie zu überraschen.

Er schlüpfte aus seiner Hose und hielt sie ihr hin. „Hier!“, sagte er. „Aber jetzt hör auf zu jammern!“ Kira starrte fassungslos die Hose an. „Aber jetzt frierst du doch!“, sagte sie. „Ich hab eine Boxershorts an. Die ist länger und wärmt mehr, als deine Unterwäsche!“, sagte Finn und betrachtete frech Kiras spärlich bekleidete Beine und dann den Rest ihres Körpers.

„Aber wehe, du machst sie kaputt!“, sagte Finn und dann lachten sie beide. „Das letzte Mal hab ich das zu dir gesagt!“, erinnerte Kira sich und zog die Hose an.

Josy jammerte, wie kalt ihr war, während Lia sich eindeutig nicht wohl dabei fühlte, dass nur die Jungs ihre Klamotten abgegeben hatten, Finn begann nun auch zu zittern, Kira stolperte alle paar Schritte und Tim sah besorgt zu ihr herüber.

„Soll ich dich tragen?“, bot er schließlich an. Kira lachte. „Das kannst du nicht!“ „Ich hab dich schon einmal getragen!“, sagte Tim und hob sie hoch. „Komm her!“ Er trug Kira jetzt so, wie Lia Josy hielt und Kira kuschelte sich an seine Brust.

„Aber inzwischen bist du schwerer geworden!“, sagte Tim irgendwann. Kira antwortete nicht, sie hatte aber aufgehört, zu zittern. „Wie geht es dir, Josy?“, fragte Lia ihre Schwester. „Müde…“, gähnte Josy. „Nicht einschlafen, hörst du!“, sagte Lia und schüttelte Josy. „Du darfst schlafen, wenn du was Warmes anhast!“ Josephine nickte, schien jedoch nicht ganz überzeugt zu sein, dass sie so lange durchhalten würde.

Finn lief etwas voraus und suchte den einfachsten Weg aus, damit Lia und Tim durch möglichst wenig Gebüsch laufen mussten.

Als sie schließlich im Lager angekommen waren, zogen sie Josy und Kira warme Klamotten an. Die Klamotten hatten Jordan und Thomas einmal von der Jagd mitgebracht und gemeint, sie hätten einen Fuchs dagegen eingetauscht, und irgendjemandem würden sie schon passen. Seither hatten sie öfter solche Geschäfte mit fahrenden Händlern oder anderen Leuten gemacht, wodurch sie sich zwei Schüsseln und für jeden eine Ersatzgarnitur Klamotten verdient hatten. Die Jüngeren bekamen außerdem die Klamotten, aus denen die Älteren herausgewachsen waren, und so kam es, dass Josy jetzt in Mikeys alter Hose herumlief, die ihr jedoch noch etwas zu groß war.

Lia steckte Kira und Josy sofort ins Bett und ordnete Oliver an, Tee zu machen, damit Kira und Josy was trinken konnten. Josy kuschelte sich an Kira und murmelte mit einem fast entschuldigendem Unterton: „Mir ist immer noch kalt!“ „Mir auch“, sagte Kira und kuschelte sich an Josy. Finn, der immer noch neben ihnen stand, deckte sie zusammen noch mit einer Decke zu, dann verschwand er.

 

 

+

 

 

 

 

 

Mikey und Eliza rannten um die Wette durch den Wald. Als sie sich beide erschöpft fallen ließen, kicherte Eliza plötzlich. „Was ist denn?“, fragte Mikey. „Da!“, lachte Eliza und zeigte auf seinen Kopf. Mikey betastete seine Mütze und seine Fingerspitzen berührten plötzlich etwas Warmes, Feuchtes. „Eliza, was ist da?“, wollte Mike angeekelt wissen. Eliza lachte jetzt lauter.

„Ich nehme mal an, da hat sich auf deinem Kopf ein Vogel erleichtert!“, lachte sie und setzte sich auf, um sich die dunklen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Mikey zog sich dich Mütze vom Kopf. „Igitt!“, sagte er und wischte die Mütze an einem Baum ab. „Das war aber lustig!“, sagte Eliza noch immer lachend, und als sie Mikeys angeekeltes Gesicht sah, hielt sie sich vor Lachen den Bauch und ließ sich wieder ins Laub fallen. Der Dreizehnjährige betrachtete seine zehnjährige Schwester. Sie hatte sich verändert, aber sie war noch immer für jeden Spaß zu haben.

„Also, was machen wir als nächstes?“, wollte Eliza wissen. Mikey zuckte mit den Schultern. „Du wolltest doch so gerne was unternehmen. Also, schlag was vor!“ Eliza dachte nach. „Man kann im Wald doch so viel machen!“, sagte sie und sah sich um. Plötzlich hob sie einen Stock auf.

„Verteidige dich!“, sagte sie und ging auf Mikey los. Mike sprang zur Seite und wich ihrem Schlag aus, dann schnappte er selbst sich einen Ast, der jedoch nach zwei Schlägen zerbrach und Eliza konnte ihm ohne Mühe den Stock auf den Kopf hauen. „Au!“, sagte Mike und hielt sich den Kopf. Eliza kicherte wieder und piekste Mikey mit dem Stock in den Bauch.

„Komm schon, lass uns was spielen!“, lachte Eliza. „Was denn?“, wollte Mikey wissen. „Wir sind zwei Kinder, die von zu Hause abgehauen sind, und jetzt im Wald leben!“ „Sind wir doch!“, meinte Mike. Eliza verdrehte die Augen. „Du hast so überhaupt keine Fantasie! Ich heiße jetzt Lilly und du musst dir auch einen Namen aussuchen.“ „Mikey!“, sagte Mike ohne zu zögern. „Einen anderen!“, antwortete Eliza. „Von mir aus…“ Mikey überlegte. „Ben.“

„Okay, Ich bin Lilly und du Ben. Und jetzt läufst du in die Richtung…“, Eliza zeigte mit ihrem Stock nach rechts, „Und ich in die Andere!“ „Und dann?“, wollte Mikey wissen. „Wenn wir uns nicht mehr sehen können, drehen wir um, laufen auf uns zu, und lernen uns kennen!“, erklärte Eliza ihrem Bruder. „Und dann kämpfen wir.“ „Gegen wen?“, fragte Mikey. „Gegen den bösen Zauberer, oder sonst jemanden!“, sagte Eliza.

Mikey zuckte mit den Schultern. „Na gut, versuchen können wir es ja mal.“ Also lief er einige Minuten nach rechts. Als er Eliza nicht mehr sehen konnte, drehte er sich um und ging wieder auf sie zu. Er bezweifelte, den Sinn des Spiels verstanden zu haben, aber er wollte seiner Schwester eine Freude machen.

 

 

 

 

 

 

Eliza rannte ein gutes Stück von Mikey weg, als er hinter den Hügeln und Bäumen verschwunden war, drehte sie sich wieder in seine Richtung und lief los. Sie kletterte über einen umgefallenen Baumstamm, der über einem kleinen graben lag und sprang dann in der Mitte der Baumstammes herunter.

Sie federte ihren Sprung geschickt ab und lief los, den Stock fest in der Hand. Als sie in der Ferne Mikey sah, tat sie so, als würde sie sich erschrecken und versteckte sich hinter einem Baum. Sie beobachtete ihren Bruder eine Weile, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Mike stellte sich ziemlich ungeschickt an, trampelte durch den Wald, als hätte er nichts zu befürchten. Eliza schüttelte den Kopf. „Das muss er noch lernen!“, dachte sie. Dann schlich sie sich näher an Mikey heran, blieb stehen und rannte in die entgegen gesetzte Richtung davon. „Hoffentlich hört er mich, und folgt mir!“, dachte Eliza und kicherte.

Sie liebte es solche Dinge mit ihren Freunden zu spielen. Sie rannte durch den Wald und fühlte sich völlig frei. Um sie herum hätte der Winter die Welt fast zum Stillstand gebracht – das hätte jedenfalls ein ungeübter Beobachter gesagt, doch die eineinhalb Jahre, die Eliza hier lebte, hatten sie etwas ganz anderes gelehrt.

Sie lief weiter, spürte jedoch plötzlich, wie der Boden unter ihren Füßen nachgab. Mit einem schrillen Schrei stürzte sie einen Abhang hinunter. Während sie fiel, schrie sie weiter, sie schlug sich den Kopf an einem Stein an, dann war plötzlich der Boden unter ihr. Sie prallte auf den Boden und einen Moment lang blieb ihr die Luft weg, dann setzte sie sich auf. Ihr war schwindelig, ihr Kopf tat weh, und sie konnte ihr Handgelenk nicht bewegen.

Als sie aufstehen wollte und ihren linken Fuß belastete, knickte sie um. Sie schrie vor Schmerz und ließ sich wieder zu Boden gleiten.

„Was soll ich jetzt nur machen?“, fragte sie sich, während ihr warme Tränen über die Wangen rannten. Sie versuchte, sich wieder etwas aufzurichten und suchte den Wald nach ihrem Bruder ab. Sie konnte ihn nirgends sehen. „Mike?“, rief sie und lauschte. Nichts.

„Mike!“ Sie wusste nicht, ob es klug war, zu schreien, schließlich waren ihre Feinde nicht weit weg und könnten sie hören, doch sie hatte Angst, nie gefunden zu werden, wenn sie nicht schrie.

„Mikey! Hilfe!!!“, schrie sie, dass es im Wald nachhallte. Mikey musste es gehört haben. „Eliza?“, schrie er. Oder bildete sie sich das ein? „Mikey!“ Ihre Stimme überschlug sich, dann wurde ihr wieder schwindelig. Ihr war kalt und sie kuschelte sich in ihre Jacke. „Mikey…“, flüsterte sie und hielt ihr linkes Handgelenk umklammert. „Mike, wo bist du?“, fragte sie leise. Sie schloss einen Moment lang die Augen, doch ihr war immer noch schwindelig.

Als sie wieder aufzustehen versuchte, stolperte sie, aber dann trug ihr verletzter Fuß ihr Gewicht, auch wenn sie das Gefühl hatte, vor Schmerz ohnmächtig zu werden. „Mikey!“, schrie sie noch einmal. Einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, doch sie blieb stehen.

Sie hob vorsichtig ihren verletzten Fuß und humpelte einen Schritt nach vorne. Sie keuchte vor Schmerz und ließ sich wieder auf den Boden fallen. „Das geht so nicht…“ Irgendwo musste doch ihr Bruder sein! Wo war er nur? Sie beschloss, hierzubleiben, und zu warten, bis jemand sie fand.

„Hoffentlich findet Mikey mich bald!“, dachte sie, dann fielen ihr die Augen zu.

 

 

 

 

 

Im Lager saß Finn neben Scarlet an einem Feuer und erklärte ihr, was vorgefallen war. „Noch mal…“, bat Scarlet ihn langsam. „Josy war auf dem Eis, und ist dann eingebrochen?!“, fragte sie schrill. Finn nickte. „Genau.“ „Sie war richtig im Wasser?“ Wieder nickte Finn. „Und sie ist am Leben?“, hakte Scarlet nach. Finn nickte ein drittes Mal. „Da hat sie aber Glück gehabt!“, meinte Scarlet und stocherte in der Asche des Feuers herum. Die Zweige knacken im Feuer uns Scarlet legte ein paar Zweige nach. „Wir haben kaum noch trockenes Holz und der Winter hat erst angefangen!“, gab sie zu bedenken.

Finn seufzte. „Was ist?“, fragte Scarlet. Finn zuckte mit den Schultern und schüttelte dann den Kopf. „Keine Ahnung.“ Scarlet stand auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. „Eine Frage noch. Du hast gesagt, ihr hättet Josy rausgezogen?“ Finn nickte. „Und warum ist Kira dann klitschnass?“, hakte Scarlet nach. Finn erstarrte. Er hatte ausgelassen, dass auch Kira ins Wasser gefallen war, und er die beiden rausgezogen hatte, aus Angst, die anderen würden behaupten, er würde sich in den Mittelpunkt stellen. Und eigentlich hatte er nie vorgehabt, es jemandem zu erzählen, doch anlügen wollte er Scarlet erst recht nicht. Irgendwann würde sie ja doch die Wahrheit erfahren, und dann war er schon wieder der Böse. Der Lügner. Der Verräter…

„Sie ist auch reingefallen. Und dann haben wir eben beide rausgeangelt!“, sagte Finn und stand auch auf. Scarlet nahm sich einen Bogen und ging davon. Finn holte sie ein.

„Was hast du vor?“, wollte er wissen. „Ich gehe Jagen und schaue, was ich sonst noch Brauchbares finde!“, antwortete Scarlet. Finn stand unschlüssig neben ihr und traute sich nicht, zu fragen, ob er mitkommen könne. Scarlet schien das zu bemerken. „Schau nicht so!“, sagte sie grob und stieß ihn an. „Frag mich, ob du mitkommen kannst!“ „Darf ich mitkommen?“, fragte Finn. „Klar! Und dann erzählst du mir das alles noch mal, ja?“, bat Scarlet.

 

 

 

 

 

 

Schon seit einer geschlagenen halben Stunde lief Mikey auf der Suche nach seiner Schwester durch den Wald. Wo war Eliza jetzt nur? War das Teil des Spiels? Wenn ja, dann fand er das Spiel nicht besonders lustig.

„Die üblichen Kleinkinderspiele eben!“, dachte Mikey wütend. Seine Schwester vergnügte sich irgendwo im Wald und er war der große blöde Bruder, der sie suchte.

Mikey suchte weiter. „Eliza, wo bist du?“, rief er. Eliza antwortete nicht. „Ich hab keine Lust mehr, zu spielen! Wir treffen uns ja gar nicht!“

Er kletterte über einen umgefallenen Baumstamm und suchte die Umgebung ab. „Eliza, das ist nicht mehr witzig! Komm jetzt, lass uns gehen!“ Er lief weiter, doch seine Schwester war wie vom Erdboden verschluckt.

„Eliza!“, rief er noch mal. Er lauschte, und hoffte, sie würde sich endlich durch ein Kichern oder so verraten, doch nichts geschah. „Wo steckt sie bloß?“, fragte er sich und schüttelte wütend den Kopf. „Eliza, ich weiß, dass du hier irgendwo bist! Ich geh jetzt nach Hause, wenn du nicht kommst!“

Er wartete, doch seine Schwester antwortete wieder nicht. Einen Moment lang machte Mikey sich Sorgen um sie, doch er wischte die Bedenken schnell zur Seite. „Sie war schon immer albern und wusste nicht, wann Schluss mit Lustig ist!“, beruhigte er sich. „Wenn sie erst einmal sieht, dass ich es ernst meine, kommt sie schon!“ Er stellte sich noch einmal auf einen Baumstumpf und überblickte den kahlen Winterwald.

Er sah ein Reh, das in einiger Entfernung an einem verdorrten Grasbüschel knabberte und ärgerte sich, dass er keinen Bogen dabei hatte. Er sah einige Vögel, die in den kahlen Bäumen ihre Lieder sangen, dann jedoch eilig wegflatterten, als Mikey die Suche nach seiner Schwester aufgab und von dem morschen Baumstumpf sprang.

„Verdammt, wo versteckt sie sich nur?“, fragte er sich im Stillen. „Eliza, ich gehe jetzt, hörst du? Wenn du nicht bei drei hier bist, gehe ich allein nach Hause!“, schrie er durch den Wald. „Dann kannst du sehen, wie du zurückkommst! Eins…!“ Er lauschte, darauf gefasst, dass Eliza jeden Moment auftauchen würde, und sich kaputtlachen würde, doch nichts passierte. „Zwei!“

Mikey seufzte, als seine Schwester noch immer nicht auftauchte. „Na gut, sie wird schon nach Hause finden!“, dachte er und sagte laut: „Drei!“

Dann drehte er sich um und ging wieder Richtung Lager, ohne sich noch einmal umzusehen.

 

 

 

 

 

 

Lia saß an einem Feuer und überlegte mit Wendy, was sie für Josy und Kira tun konnten. „Ich glaube, es ist das Beste, wenn wir sie erst einmal schlafen lassen!“, sagte Wendy. „Sie werden sich etwas unterkühlt haben.“ „Sollte sich dann nicht jemand zu ihnen legen, um sie zu wärmen?“, fragte Lia. „Du hast recht… Aber wir können momentan niemanden entbehren. Die sind doch alle jagen oder sammeln, oder suchen trockenes Holz und…“ „Aber wenn Josy oder Kira sterben, weil sie erfrieren?“, fragte Lia. „Das ist es doch nicht wert.“ Wendy zuckte mit den Schultern. „Ich hab nichts zu tun. Wenn du nichts für mich hast, dann lege ich mich zu ihnen!“, schlug sie vor.

Lia lächelte erleichtert. „Danke.“ Wendy stand auf, ihre blonden Korkenzieherlocken wippten auf und ab, als sie sich auf den Weg zu ihrer Schlafhöhle machten, wo Josy und Kira lagen.

Lia drehte sich um, als sie ein Geräusch hörte. Mikey stand hinter ihr und ließ sich grad am Feuer nieder. „Hey!“, begrüßte er sie. „Na, war es schön mit Josy?“ Lia schnaubte. „Von wegen! Josy und Kira wären fast beide ertrunken, oder erfroren!“, sagte sie und schilderte Mikey kurz, was passiert war. „Na, dann war das ja eine blöde Idee, mit den Familienausflügen“, antwortete er. „Wieso? Was ist denn bei euch vorgefallen?“, wollte Lia wissen. „Eliza ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich dachte, sie ist vielleicht schon wieder zurück, aber sie ist nicht hier!“, sagte er. Lia zuckte mit den Schultern.

„Ich hab sie nicht mehr gesehen, seid ihr gegangen seit!“, sagte sie. Mikey sah sich um. „Wer ist denn alles da?“, fragte er. „Nur Wendy, ich, Bailey, Kira, und Josy. Und du natürlich. Finn und Scarlet waren bis gerade eben noch da, sind dann aber mit einem Bogen bewaffnet in den Wald gegangen. Alle jagen oder suchen Holz…“, antwortete Lia ihm. Mikey seufzte. „Keine Sorge, die taucht schon wieder auf!“, beruhigte Lia den Jungen. „Ich rede Mal mit Bailey. Vielleicht hat die sie gesehen!“, sagte Mikey und stand auf. „Gute Idee. Wenn sie heute Abend noch nicht da ist, gehen wir sie suchen!“, sagte Lia und legte etwas Holz ins Feuer. „Und wenn ihr etwas passiert ist?“, fragte Mikey. „Bis heute Abend könnte sie tot sein! Vielleicht hat Jasmyn sie gefangen!“

„Dann hätte Jasmyn uns das doch schon längst in allen Einzelheiten unter die Nase gerieben!“, sagte Lia. „Jetzt mach die keine Sorgen. Eliza ist schon fast zehn, sie kann gut auf sich selbst aufpassen!“ „So wie Josy?“, fragte Mikey, und Lia bemerkte den bitteren Unterton in seiner Stimme. In Lia kam Wut hoch.

„Dann mach doch, was du willst. Ich wollte dir nur helfen und dich beruhigen. Aber ich sag dir was: Wie oft waren die Kleinen schon weg, und sind am Abend unversehrt zurück gekommen?“, fragte Lia. „Wir leben hier seid einem Jahr. Eliza kennt sich hier aus!“

Mikey ließ den Kopf hängen. „Du hast vermutlich Recht.“ „Natürlich hab ich Recht!“ Lia stand auf und legte Mikey einen Arm um die Schulter. „Aber du kannst ja mit Bailey reden.“ „Mach ich“, nickte Mike und lief los.

Lia schaute nach Kira und Josy, die friedlich rechts und links von Wendy lagen und schliefen, dann ging sie wieder nach draußen und schürte die fünf Feuer, die immer brannten, bis sie das ganze Lager erhellten und schön gemütlich machten. Dann schnappte Lia sich eine Decke, machte Wasser für Tee heiß und starrte in die Flammen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Also, jetzt red!“, sagte Scarlet und blieb unvermittelt stehen. „Was ist passiert? Und erzähl mir jede Kleinigkeit. Wer hat Josy und Kira aus dem See gezogen?“ Finn zuckte mit den Schultern. „Ich. Als ich gemerkt habe, dass Kira Josy nicht erwischt, bin ich zu ihnen gekrochen, das Eis ist kurz vor mir gebrochen und Kira ist ins Wasser gefallen. Also war ich als Erster da“, sagte Finn kurz angebunden. „Und wieso ist Kira in deiner Hose nach Hause gekommen?“, fragte Scarlet, während sie in die Bäume zielte.

„Dir entgeht auch keine Kleinigkeit, oder?“, fragte Finn sie lachend. „Nein“, antwortete Scarlet und ließ die Sehne los. Der Pfeil schoss in die Baumkronen und traf einen Vogel, der tödlich getroffen zu Boden fiel.

„Ich hab sie ihr geliehen. Weil sie so gefroren hat.“ „Du magst sie, oder? Und sie mag dich!“, erklärte Scarlet Finn, als der sie überrascht ansah.

„Nur, weil ich ihr geholfen hab. Das ist rein freundschaftlich. Ich hab ihr oft das Leben gerettet und sie mir…“ „Dass sie dir das Leben gerettet hat, habe ich mitbekommen. Aber du ihr?“ Erst jetzt fiel Finn ein, dass Scarlet ihn überhaupt nicht gekannt hatte, bis er dazu gezwungen worden war, sich Jasmyn anzuschließen. Für sie war er nur ein ganz gewöhnlicher Junge aus Jasmyns Bande. Ein ganz gewöhnlicher Feind, dem sie zu nichts verpflichtet war. „Woher kennt ihr euch?“, fragte Scarlet jetzt. „Genau gesagt, habe ich das nie begriffen. Erzählst du es mir?“

Finn zuckte mit den Schultern. „Okay.“ Scarlet schnippte mit den Fingern. „Jetzt weiß ich, woher ich die gekannt habe!“, sagte sie. „Du bist mit ihr auf eine Mission geschickt worden, oder?“

Finn nickte.

„Wir waren sozusagen die Anführer. Mit uns waren noch Eliza, Mikey und Jasmyn gekommen. Jasmyn hat uns verraten, und dann sind wir mit Mikey und Eliza im Wald alleine gewesen, bis ein gutes viertel Jahr später Lia, Josy, Jasmyn und… und Jannis aufgetaucht sind.“

Es fiel Finn nicht leicht, den Namen auszusprechen, denn er wusste natürlich, dass der Junge tot war. Und er selbst war mitschuldig an seinem Tod. Am Tod eines zwölfjährigen Jungen. Am Tod seines Freundes…

„Und wie hast du ihr das Leben gerettet?“, fragte Scarlet. „Na ja, eigentlich war es Lia, aber ohne mich hätten sie das nicht geschafft!“, meinte Finn und erzählte die ganze Geschichte mit dem Pfeil, der Kira getroffen hatte. Scarlet zog pfeifend die Luft ein, als Finn es beschrieb und verzog das Gesicht. „Was das angeht, hat Kira schon eine Menge durchgemacht!“, sagte sie und hob den Vogel auf, der vor ihren Füßen im Laub lag. Sie entfernte den Pfeil und säuberte ihn vom Blut des Vogels an ein paar Blättern. Finn nickte. „Allerdings.“ „Wahrscheinlich ist ihr ganzer Körper von Narben übersät!“, fügte Scarlet hinzu und schauderte. „Stell dir mal vor, das muss doch schrecklich für sie sein!“

„Können wir bitte das Thema wechseln?“, fragte Finn Scarlet verkrampft. Er wusste, dass er an vielen der Narben mitschuldig war, genauso, wie an dem Tod von Kiras Freund. „Wie sie mich hassen muss!“, dachte Finn. „Warum hat sie mir geholfen?“, fragte er sich.

Scarlet riss ihn aus seinen Gedanken. „Was ist denn mit dir?“, wollte sie wissen. „Ach, nichts, nichts…“, stotterte Finn. Er wollte das Gespräch jetzt wirklich nicht auf solche Dinge zurücklenken. Scarlet sah ihn nicht ganz überzeugt an, dann zuckte sie mit den Schultern. „Na gut.. Hey, schau dir das an, Finn!“, sagte sie und zeigte auf etwas. „Das ist doch eine Jacke! Wer hat die denn da vergessen?“ Scarlet lief los und Finn folgte ihr.

„Was…“ Scarlet erstarrte. „Was ist denn los, Scarlet?“, wollte Finn wissen. Dann sah Finn es auch. Das war nicht nur eine Jacke. Da war ein kleines Kind! Es lag zusammengekauert im Laub und bewegte sich nicht. Es war Eliza.

Scarlet war als Erste bei ihr und schmiss den Bogen zur Seite. „Eliza! Eliza, hörst du mich? Eliza!“ Sie klopfte Eliza auf die Wange, doch das Mädchen rührte sich nicht, von ihrer Stirn lief Blut. „Eliza! Finn, tu doch was!“, fuhr sie den Jungen an. Finn setzte sich neben Scarlet und nahm Elizas Hand. Sie war eiskalt.

Er zog seine Jacke aus und legte sie Eliza um die Schultern. „Sie atmet!“, sagte er und hauchte Elizas Finger an.

„Eliza!“ Scarlet redete leise mit ihr. „Wir müssen sie sofort zurückbringen!“, sagte sie. „Kannst du sie tragen? Dann nehme ich den Bogen!“ Finn nickte und hob Eliza hoch. Scarlet hielt Finn fest, der schon loslaufen wollte und deckte Eliza mit noch einer Jacke zu. Plötzlich bewegte sich Eliza. „Finn…“, stöhnte sie. „Alles wird gut!“, sagte Finn und Scarlet streichelte Eliza über de Haare. „Wir bringen dich nach Hause, aber versprich mir, dass du nicht einschläfst, ja? Sonst wachst du nicht mehr auf!“ „Mein Fuß…“, flüsterte Eliza. „Lia kriegt das schon hin, mach dir keine Sorgen!“, sagte Finn, ohne weiter darauf einzugehen.

Als Finn ihr Gewicht etwas verlagerte, schrie sie auf. „Was? Was ist los?“, fragte Finn erschrocken. „Meine Hand tut so weh. Und mir ist so schlecht…“ Eliza verdrehte die Augen und keuchte vor Schmerz. „Bleib wach, okay? Hörst du, Eliza, bleib wach!“, sagte Scarlet.

„Oh Mann, wie viele Leute haben heute noch vor, vor Unterkühlung zu sterben?“, stöhnte Finn und lief los. „Wir müssen uns beeilen! Sie ist ganz kalt!“, sagte Finn und legte Eliza die Hand auf die Stirn. Das Mädchen war bei Bewusstsein, aber nur leicht. „Halt durch, okay, Eliza?“, flüsterte Finn ihr zu. „Wir helfen dir!“

 

 

 

 

 

 

Ich wachte erst am nächsten Tag wieder auf. Ich öffnete die Augen und da saß Finn vor mir. Als ich mich etwas bewegte, um ihm in die Augen schauen zu können, spürte ich einen Ellenbogen in meinem Rücken, der nicht von Josy stammte. Als ich mich umdrehte, sah ich Eliza, die mit einem geschienten Handgelenk und einem Kopfverband neben mir lag. Mikey lag neben ihr und schlief, hatte jedoch ihre Hand fest in seiner. Ich sah Finn fragend an. „Sie ist wohl gestürzt und hat sich dabei das Handgelenk gebrochen und den Fuß verstaucht. Außerdem hat sie eine Gehirnerschütterung und ist unterkühlt!“, sagte er, als er meinen fragenden Blick bemerkte.

Ich seufzte und setzte mich auf, dann erzählte Finn mir, was passiert war. Er und Scarlet waren jagen gewesen und hatten plötzlich Eliza entdeckt, die mit einer blutverschmierten Stirn zusammengekauert auf dem Boden gelegen war. Also hatten sie sie zurück gebracht und unterwegs Billie und Bryan getroffen. Die Zwillinge schienen sich prächtig zu amüsieren, doch als sie Elizas Zustand sahen, hatten sie sich bereiterklärt, mit zurückzukommen. Dann hatten Bryan und Finn Eliza abwechselnd getragen und hier im Lager hatte Lia sich um sie gekümmert.

„Scheint so, als wäre heute einiges schief gegangen…“, meinte ich dann und wollte aufstehen, doch Finn hielt mich zurück. „Ich weiß nicht, ob das so gut ist!“, sagte er. „Glaub mir, es geht mir bestens!“, antwortete ich. Finn zögerte. „Wenn du mir versprichst, hier zu bleiben, gehe ich zu Lia und frage sie, ob das okay ist!“ Ich zuckte mit den Schultern. „Na gut.“ „Versprich es mir!“, wiederholte Finn. Ich verdrehte die Augen. „Schon gut, okay, ich verspreche es dir!“

Als Finn verschwunden war, spielte ich mit dem Gedanken, aufzustehen, doch ich hatte Finn versprochen, liegen zu bleiben. Als Finn schließlich wiederkam zuckte er mit den Schultern. „Lia sagt, wenn du dich gut genug fühlst, darfst du aufstehen.“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich schälte mich aus der Decke und lief nach draußen. „Komm schon!“, drängte ich Finn.

Er folgte mir und ich suchte das Lager nach Tim ab. Ich nahm meine Aufgabe, Finn mit den anderen bekannt zu machen, sehr ernst, also beschloss ich, dass Tim und Finn beste Freunde werden sollte. Vielleicht würde ich auch Scarlet noch dazu bringen, Tim zu mögen. Das wäre doch perfekt. Sie waren die drei besten Schwertkämpfer hier, und wenn ich dann ab und zu mit ihnen trainierte… Das wäre echt toll.

Ich sah Tim und rannte auf ihn zu. Ich hielt ihm von hinten die Augen zu, so wie er es immer bei mir gemacht hatte. „Hey, Kira!“, sagte er und grinste. „Dir geht es ja wieder besser!“ „Mir geht’s nicht nur besser, mir geht’s so gut wie nie! Ich bin voller Energie und kann es gar nicht abwarten, in den Wald zu kommen. Also, kommst du mit?“, fragte ich Tim. „Klar mach ich das!“

Tim und ich nahmen unsere Bogen mit, Finn hatte nur sein Schwert. „Damit wirst du keine Tiere erlegen!“, sagte Tim. Finn zuckte mit den Schultern. „Ich hab keinen Bogen!“ Tim überlegte. „Das ändern wir!“ Er ging ohne zu zögern zu Jordan, der am Feuer saß und klopfte ihm von hinten auf die Schulter. „Hey, Jordan. Darf Finn einen Bogen haben?“, wollte Tim wissen. Jordan sah erst zu Tim, dann zu Finn und dann zu mir. „Ich weiß nicht… Kann er denn damit umgehen?“ Man sah ihm an, dass es ihm nicht recht war, doch er traute sich nicht, zu widersprechen. „Klar kann er das!“, sagte Tim und Finn sah mich unsicher an. Ich setzte meinen Versau-es-nicht-Blick auf und Finn blieb still. Schließlich stand Jordan auf, reichte Finn Köcher und Bogen und flüsterte Tim etwas ins Ohr. Der nickte. „Also, lasst uns gehen!“, sagte Tim und lief voraus.

Schließlich ließen die Jungs mich den Weg bestimmen. „Ich hab keine Lust, auf jagen!“, erklärte ich ihnen und ging los, als sie gleichgültig mit den Schultern zuckten. Vor der Felswand hielt ich an, legte meinen Bogen weg und kletterte drauf los. „Kira!“, rief Tim mir zu und blieb unter mir stehen. „Kommt schon, Jungs!“, rief ich runter. „Kira, du solltest vielleicht noch nicht klettern! Du könntest runterfallen!“, meinte Finn, doch ich lachte ihn aus. „Das kann ich doch immer. Jetzt macht euch keine Sorgen, mir passiert schon nichts!“ Seelenruhig kletterte ich weiter und ignorierte die Rufe und Meckereien meiner Freunde.

Als ich mich auf den Felsvorsprung schwang, standen Finn und Tim immer noch unten. „Kira, wir wollen, dass du runter kommst!“, schrie Tim zu mir hoch. „Wir kommen nicht hoch! Komm runter, okay?“ Ich verdrehte die Augen. Wieso mussten Finn und Tim so übervorsichtig sein? Das machte doch so alles gar keinen Spaß! „Lass uns jagen gehen!“, rief Finn bittend.

Also gab ich nach und machte mich auf den Abstieg. Ich sah nach unten zu meinen Freunden. Es war nicht tief, doch mir wurde schlecht.

Ich klammerte mich an den Fels und versuchte, meine Sinne zu sammeln, dann kletterte ich weiter runter. Als ich nur noch drei Meter vom Boden entfernt war, rutschte unter meinem linken Fuß ein kleiner Stein weg und einen Moment lang glaubte ich, ich würde fallen. Mir blieb die Luft weg, dann klammerte ich mich wieder an die Felswand. Als ich mit meinem Fuß nach Halt tastete, fand ich keinen. Die Felswand unter mir war glatt wie ein Babypopo. „Verdammt!“, fluchte ich.

„Was ist los?“, rief Finn. „Ich sitze fest!“, sagte ich und machte mich dran, wieder ein Stück nach oben zu klettern. „Keine Sorge, ich komm schon wieder runter, ich muss nur an eine andere Stelle!“ Unter mir tuschelten die Jungs, dann rief Tim: „Nein, Kira! Ich komm zu dir hoch und helfe dir!“ „Vergiss es, du lenkst mich nur ab!“, schrie ich ihm zu, während ich mich mit Händen und Füßen geschickt wieder an der Felswand hocharbeitete. „Lass mich das machen, ja? Ich kann das!“

„Bist du dir sicher?“, wollte Finn wissen. Ich wurde wütend. „Wieso seid ihr eigentlich so ängstlich?“, fragte ich genervt. „Ich bin sechzehn Jahre alt! Ich werd wohl noch wissen, welchen Hang ich rauf- und runterklettern kann!“ „Bis jetzt war dein Urteilsvermögen nicht unbedingt vertrauenerweckend!“, sagte Tim leise, doch ich konnte es hören. „Besten Dank!“, rief ich und begann, etwas seitwärts zu klettern. „Du bist in drei Monaten volljährig und hast manchmal selbst keine Ahnung davon, was du tun musst!“, meckerte ich.

Ich sah nach unten und ertastete ein kleines Stück Felswand, auf das ich meinen Fuß stellen konnte. Ich sah den Boden unter mir und mir wurde schlecht. Vielleicht hatte Finn recht gehabt. Ich hätte nicht klettern sollen. Mir war heiß, ich begann zu schwitzen und meine Hände wurden rutschig vor Schweiß. Aber das konnte ich den Jungs fünf Meter unter mir jetzt nicht sagen. Das hätte sie nur unnötigerweise in Panik versetzt, und helfen konnten sie mir nicht.

Also machte ich genauso wütend weiter, wie bisher. „Jetzt zum Beispiel wäre ein guter Zeitpunkt, den Mund zu halten und mich einfach klettern zu lassen!“, schrie ich und im selben Moment wusste ich, dass ich das selbst am nötigsten gehabt hätte. Hätte ich den Mund gehalten, und wäre nur geklettert, dann hätte ich den losen Stein unter meinem Fuß bemerkt und wäre nicht ausgerutscht. Ich schrie auf, griff mit der linken Hand ins Leere und fiel. Ich hörte Finn und Tim unter mir erschrocken schreien. „Scheiße!“, dachte ich, als ich zu Boden krachte.

 

 

 

 

 

„Oh mein Gott!“, stieß Tim hervor, als Kira auf dem Boden aufkam und reglos liegen blieb. Einen Moment wagte keiner der beiden, sich zu rühren. Dann rannte Tim zu Kira. „Kira! Kira!“, schrie er panisch und schüttelte sie. „Kira, sag doch was! Kira!“ „Hör auf!“, sagte Finn. „Du darfst sie nicht schütteln. Vielleicht hat sie sich was gebrochen!“ „Sie hat sich ganz sicher was gebrochen, wenn sie überhaupt noch am Leben ist, du Idiot!“, brüllte Tim ihn an. „Kein Grund mich so anzuschreien!“, sagte Finn, dann wandte er sich an Kira. Er wusste nicht, was er zu tun hatte, doch er hatte einmal gehört, dass man bei solchen Fällen den Verletzten ansprechen müsste. „Kira, hörst du mich?“, fragte er sie sanft.

Tim liefen die Tränen über die Wangen. „Wieso müssen sich die Leute immer verletzen, wenn ich dabei bin?“, fragte Finn sich. Er konnte überhaupt nichts tun. Plötzlich bewegte Kira sich. „Sie lebt!“, flüsterte Finn. „Kira?“, fragte Tim. Kira stöhnte, ihre Augenlieder bewegten sich, doch sie öffnete die Augen nicht.

„Wir müssen sie zurückbringen!“, sagte Finn. „Du musst sie tragen, und sorg dafür, dass sie sich möglichst wenig bewegt!“ Tim nickte. „Bist du dir sicher, dass du weißt, was du tust?“, fragte Tim, als er Kira hochhob. „Das hoffe ich“, sagte Finn und schluckte schwer.

Tim hatte Schwierigkeiten damit, Kira so sanft wie möglich zu tragen, dann das Gelände war uneben und der Boden gefroren. Unter seinen Stiefeln knirschte es und immer wieder stolperte Tim. Finn hätte ihn am liebsten angeschrien, er solle vorsichtiger sein, doch er wusste, dass das auch nichts bringen würde. Tim gab sich schon alle Mühe, das wusste Finn, und es ging Tim bestimmt im Moment am schlechtesten von ihnen allen dreien, denn Kira war nach wie vor bewusstlos und Tim war ihr bester Freund. Sie wussten nicht, wie schlecht es Kira ging. „Sie könnte sterben, wenn wir uns nicht beeilen!“, wurde Finn klar.

Als sie endlich nach einer gefühlten Ewigkeit das Lager erreicht hatten, legte Tim Kira an ein Feuer und Finn lief los, um Lia zu holen. Als er wieder zurückkam, hatte Tim Kira mit einer Decke zugedeckt und saß neben ihr.

„Was ist passiert?“, wollte Lia wissen, und so erzählte Finn in knappen Worten alles, was geschehen war. Lia untersuchte währenddessen Kiras Nacken und tastete ihre Rippen ab. „Kann einer von euch bitte Wendy holen?“, fragte sie Tim und Finn, ohne von Kira aufzusehen. Finn stand bereitwillig auf, als Tim keine Anstalten machte, sich von Kiras Seite zu bewegen. „Danke. Und du, Tim hilfst mir inzwischen, ihr das T-Shirt auszuziehen!“, befahl Lia ihm.

Finn fand Wendy nur nach langem Suchen, erklärte ich schnell, was vorgefallen war, und dass Lia sie bräuchte. Wendy zögerte nicht eine Sekunde, sprang auf, trat dabei versehentlich auf Henrys Hand, und lief dann los. „Und ihr bleibt bitte, wo ihr seid!“, rief sie Henry zu, der das mit einem genervten, aber auch eindeutig beunruhigten „Ja, ja“, quittierte.

Als Wendy und Finn bei Kira, Lia und Tim angekommen waren, hatten Tim und Lia ihr bereits das Hemd ausgezogen und Tim hatte ihren Kopf auf seinen Schoß gelegt. Jetzt streichelte er ihr beruhigend über die Haare, während Lia weiter Kiras Oberkörper abtastete. „Hast du was gefunden?“, fragte Wendy sie und setzte sich neben Lia. „Ich glaube, sie hat Rippen gebrochen!“, sagte Lia und Finn sah zu, wie ihre Finger geschickt und vorsichtig über Kiras Schulterblatt wanderten.

„Hoffentlich hat sie keine inneren Blutungen!“, sagte Wendy und wies Finn an, eine Flasche Wasser und ein Tuch zu holen. Finn reichte Wendy die Flasche und das Tuch und Wendy machte das Tuch nass. Dann befahl sie Tim, es auf Kiras Stirn zu legen. Wendy und Kira unterhielten sich eine kurze Zeit lang leise mit einigen, seltsamen Medizinfachworten, die Finn nichts sagten, dann sagte Lia. „Ich muss mir ihren Rücken ansehen!“

Zu viert versuchten sie Kira so langsam wie möglich auf den Bauch zu drehen, damit Lia Kiras Rücken untersuchen konnte.

Inzwischen waren einige Leute gekommen, und sahen zu. „Können wir helfen?“, fragte Kyle. Wendy schüttelte den Kopf. „Aber wenn ihr nicht im Weg steht, könnt ihr hierbleiben, und warten, ob ihr irgendwie helfen könnt!“, sagte sie und konzentrierte sich dann wieder auf Lias Anweisungen.

Kira stöhnte vor Schmerz, als die vier sie auf den Bauch gedreht hatten und Lia beeilte sich, ihren Rücken abzutasten. „Eindeutig!“, sagte Lia. „Hier, fühl mal!“, wies sie Wendy an und tastete an einem Punkt an Kiras Rücken herum. „Die Rippe hier ist mit Sicherheit gebrochen!“, sagte auch Wendy. „Und vermutlich nicht nur die!“, murmelte Lia und sie legten Kira wieder auf den Rücken.

Dann untersuchte Lia Kiras Arme und Beine. „Wendy? Was sagst du dazu? Gebrochen oder nicht gebrochen?“, fragte sie Wendy und hielt ihr Kiras Ellenbogen hin. Wendy tastete vorsichtig den Ellenbogen ab. „Ich glaube nicht, aber dafür würde ich mir ihren Unterarm genauer anschauen!“, meinte sie und zeigte ihr eine Stelle an Kiras rechtem Unterarm. Finn sah die Abschürfungen auf Kiras ganzem Körper, wo sie bei ihrem Absturz mit der Felswand in Kontakt gekommen war, und verzog das Gesicht. „Hoffentlich wacht sie so schnell nicht auf!“, dachte er, doch sein Wunsch wurde nicht erfüllt, denn kaum hatte er das zu Ende gedacht, bewegte Kira ihren Kopf und öffnete die Augen.

 

 

 

 

 

Ich spürte, wie mir der Schmerz durch alle Glieder schoss, dann blinzelte ich ein paar Mal, um klar zu sehen. „Tim…?“, flüsterte ich schwach. „Ist schon gut“, antwortete Tim und ich spürte seine Hand auf meiner Stirn. „Ich bin da! Alles okay…“ Ich keuchte vor Schmerz, als jemand meine Rippen berührte und einen Moment war mir schwarz vor Augen. „Kira?“, fragte mich dann eine bekannte Stimme, „Hörst du mich?“ Ich blinzelte und sah Lia vor mir. „Ich glaub schon…“, sagte ich und versuchte, mich zu bewegen. „Nicht bewegen!“, sagte Lia und hielt mich fest. Ich stöhnte und schloss die Augen.

Blonde Locken fielen mir ins Gesicht und ich wollte die Hand heben, um sie wegzuwischen, doch ich konnte mich vor Schmerz nicht genug bewegen. „Entschuldigung!“, sagte Wendy und strich ihre Haare aus meinem Gesicht, dann beugte sie sich wieder über mich, um mein Schulterblatte zu betasten, wobei die Haare wieder in mein Gesicht fielen. Ich schrie vor Schmerz auf, als Wendy eine empfindliche Stelle an meinem Schulterblatt berührte. „Tut das weh?“, fragte sie mich und ich nickte vorsichtig.

Wendy drehte sich zu Lia um. „Vielleicht sollten wir aufschreiben, was sie sich alles gebrochen hat!“, meinte sie und lachte gezwungen. Tim strich mir die Haare aus dem Gesicht und ich hörte eine verängstigte Stimme, dann näherkommende Schritte und als ich den Kopf etwas drehte, sah ich Scarlet durch den Kreis brechen, den die anderen Bandenmitglieder um uns gebildet hatten.

„Kira!“, flüsterte sie und ließ sich neben mir zu Boden fallen. „Alles okay?“, fragte sie leise und nahm meine Hand. Ich sah ihren gequälten Gesichtsausdruck, der mich so sehr an Bailey erinnerte, und der sie so viel jünger aussehen ließ. Instinktiv wollte ich sie beschützen. Ich nickte, dann jedoch schoss mir der Schmerz durch den ganzen Körper. „Ich kann sie nicht immer beschützen!“, dachte ich mir und schüttelte langsam den Kopf.

Scarlet seufzte und machte es sich neben mir bequem.

Die nächste halbe Stunde tasteten Lia und Wendy an meinen Armen, Beinen, meiner Hüfte, meinen Schultern und meinen Rippen herum, während Tim und Scarlet versuchten, mich zu beruhigen und mir einzureden, alles sei okay. Dabei war nichts okay!

Ich konnte mich vor Schmerzen von dem ganzen Herumgedrücke auf gebrochenen und vielleicht gebrochenen Knochen nicht bewegen, hatte Wendy und Lia öfter „Gebrochen“ als „Nicht gebrochen“ murmeln hören, ich konnte kaum atmen und vor allem hatten Tim und Finn Recht gehabt. Und ich hatte ihnen gesagt, ich wäre alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.

Als Lia und Wendy endlich damit fertig waren, mich abzutasten, stellte Lia mir einige unnötige Fragen, von denen ich scheinbar die Hälfte falsch beantwortete: Wann mein Geburtstag war fiel mir nicht mehr ein, und bei der Frage welche Farbe ihre Augen hatten stritten wir uns, weil sie nicht akzeptieren konnte, das ihre Augen für mich eindeutig blau waren. Tim war schließlich der Meinung, sie wären grau, Lia behauptete steif und fest, sie wären grün.

Wendy saß neben uns, kicherte und murmelte dann was von „Gehirnerschütterung“.

„Ich kann doch wohl blau von grün unterscheiden!“, sagte ich irgendwann genervt und bereute es sofort, denn mein Kopf brummte schmerzhaft und die Welt begann sich immer schneller um mich zu drehen.

„Du bist grad sechs Meter tief gefallen!“, sagte Tim ernst und sah mir in die Augen. „Mich würde nicht wundern, wenn du überhaupt nichts mehr unterscheiden könntest!“

Dass er so an mir zweifelte ärgerte mich dann doch etwas. Vor allem, weil es mich wieder daran erinnerte, dass er Recht gehabt hatte, und ich nicht!

Schließlich bandagierten Lia und Wendy mir meinen rechten Unterarm und stabilisierten ihn provisorisch mit einem Ast, damit der Bruch gut heilen konnte, dann wickelte Wendy einen weiteren Verband um mein rechtes Knie, das großflächig abgeschürft und stark geprellt war. Schließlich überlegten die Beiden, was sie mit meinen Rippen, von denen anscheinend drei gebrochen waren, und meinem Schulternblatt, bei dem sie sich nicht sicher waren, tun sollten.

Scarlet sah mich voller Mitleid an, dann beugte sie sich zu mir und tippte mir mit dem Finger auf die Nasenspitze. Trotz aller Schmerzen die ich in dem Moment hatte, konnte nichts diesen kleinen Moment verderben. Ich musste einfach lächeln.

Schließlich verband Lia vorsichtig meine Rippen und befahl mir, mich nicht zu bewegen.

„Wenn du dich bewegst, kann sich der Bruch verschieben und dann wachsen die Rippen nicht mehr richtig zusammen!“, erklärte sie mir. „Dachte ich’s mir doch!“, knurrte ich sarkastisch. Lia zog mit spitzen Lippen die Luft ein. „Oha, schlecht drauf heute, was?“, fragte sie mich genauso sarkastisch. „Was glaubst du denn? Ich habe erst deiner dämlichen Schwester das Leben gerettet und bin ihretwegen in einen zugefrorenen Fluss gefallen, dann bin ich auf eine Felswand geklettert und weil mir dort oben urplötzlich schlecht geworden ist, runtergefallen!“, sagte ich bissig. „Und ich bin absolut schwindelfrei! Dass mir schlecht geworden ist, kommt nur von dem Zwischenfall auf dem Fluss! Und warum bin ich in den Fluss gefallen? Wegen Josephine!“, redete ich genauso bissig weiter.

Lias Miene verfinsterte sich immer mehr, und sie sah aus, als wollte sie mir den Kopf abreißen, aber vermutlich hatte sie sich jetzt eine Menge Arbeit beim zusammenflicken meiner Knochen gemacht und die Mühe war ihr zu Schade, um sie zu zerstören. Einen Moment lang fühlte ich mich besser. Der Schmerz und die Wut auf mich selbst hatten sich zu einem unerträglichen Kloß in meinem Magen gestaut, und jetzt hatte sich das alles etwas gelockert. Jedenfalls so lange, bis eine schwache, zitternde Stimme hinter mir sich meldete. „Aber das war doch nicht meine Schuld!“, stammelte Josy.

Scheiße…

„Natürlich nicht!“, sagte Scarlet. „Kira ist nur grad etwas wütend, weil wir Recht hatten, und sie nicht!“, erklärte sie und drückte Josy beruhigend an sich. „Ich glaube, du solltest dich entschuldigen!“, sagte Lia. Das war doch nicht zu fassen! Waren jetzt etwa alle gegen mich?! „Lass mich doch in Ruhe! Hau einfach ab, und nimm deine Schwester mit!“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen stand Lia auf, nahm ihre Schwester auf den Arm und verschwand. „Das war nicht besonders geschickt!“, sagte Scarlet leise. „Weißt du was?“, fuhr ich sie an. „Ich kann dein blödes Gelaber jetzt echt nicht brauchen!“ „Entschuldige, dass ich meine Meinung gesagt habe!“, knurrte Scarlet mich an. „Leben wir hier jetzt in einer Diktatur, dass jeder deiner Meinung sein und dich mit Samthandschuhen anfassen muss?“, fragte Scarlet mich wütend.

„Leute!“ Wendy versuchte schlichtend in den Streit einzugreifen. „Kira hat Schmerzen und ist deshalb unausstehlich!“, sagte sie. Das hatte gesessen. „Ich bin unausstehlich?!“, schrie ich sie an. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Kopf platzen. „Ich hab keine Schmerzen, ich will euer blödes Gemecker nicht mehr hören! Haut ab! Alle! Ich will niemanden sehen!“

Scarlet stand ohne zu zögern auf und auch der Kreis aus Bandenmitgliedern um mich herum lichtete sich. „Wenn du dich entschuldigen willst, du weißt, wo du mich findest!“, sagte Scarlet und ging. Ich wollte ihr noch etwas hinterher brüllen, doch mein Kopf tat so weh und mir wurde schlecht, als ich mich aufsetzen wollte, also ließ ich es bleiben. Schließlich waren alle weg, nur Wendy, Tim und Finn saßen noch bei mir. „Was ist mit euch?“, fragte ich sie.

„Willst du nicht, dass wir bei dir bleiben?“, fragte Tim und strich mir besänftigend durch die Haare, doch ich hob meinen unverletzten Arm und wehrte ihn ab, obwohl ich mich so nach seiner Berührung sehnte. „Bitte, lasst mich in Ruhe…“, sagte ich. „Okay“, antwortete Wend und zog Finn und Tim von mir weg. „Ich bring dir eine Decke, okay? Dann kannst du hier schlafen“, sagte sie und verschwand mit den Jungen im Schlepptau.

Es war so kalt und ich hätte mich so gern zu einem kleinen, kuscheligen Ball zusammengerollt, doch ich wusste, dass mir jede Bewegung wehtun würde. Ich blieb liegen und wartete auf die versprochene Decke. Kurz darauf kam Finn wieder und deckte mich zu. „Hier“, sagte er. „Wenn noch was ist, dann…“ „Es ist nichts!“, unterbrach ich ihn barsch. „Lass mich jetzt bitte in Ruhe.“ Doch Finn blieb. Ich zog abrupt den Kopf unter die Decke, wobei meine Rippen und mein Kopf vor Schmerzen zu schreien schienen, doch ich ignorierte den Schmerz genauso, wie die leichte Berührung von Finns Hand auf der Decke. „Kira…“

Vorsichtig kroch ich unter der Decke hervor. Wie gerne hätte ich mich an ihn gekuschelt und den Schmerz vergessen, oder ihn gebeten, Tim zu mir zu schicken. Ich sehnte mich so nach Geborgenheit und Wärme, wie ich sie das letzte Mal vor vierzehn Jahren von meinem Eltern erfahren hatte, und vor allem sehnte ich mich nach… Warum sollte ich es nicht zugeben? Ich sehnte mich nach Liebe. Ich wusste nicht, welche Liebe ich meinte, denn wenn ich an Tim dachte, verbot ich mir, weiter zu denken, als freundschaftliche Liebe. Ich kannte keinen Jungen, bei dem ich weiter denken würde, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich je einen Jungen kennen wollte, bei dem ich es tun würde.

„Kira…“, wiederholte Finn. „Hm?“, fragte ich und drehte mich von ihm Weg. Ich war mit den Gedanken wieder abgeschweift. Ich wollte jetzt nicht über freundschaftliche Liebe oder Beziehungen wie sie zwischen Jungen und Mädchen vorkommen konnten nachdenken, oder darüber, was… Ach, ich war schon wieder ganz verwirrt. „Finn, bitte…!“, flehte ich ihn regelrecht an. „Ich will einfach allein sein!“ Finn nickte. „Na gut, ich lass dich allein. Aber wenn etwas ist, sind wir für dich da. Das weißt du doch, oder?“ „Ich brauche eure Hilfe nicht!“, sagte ich grober, als ich es gewollt hatte. „Na schön, dann brauchst du sie eben nicht. Gute Nacht.“ Finn stand auf und entfernte sich ein paar Schritte.

„Du wärst jetzt gerne tot, nicht wahr?“, fragte er mich und blieb stehen. „Lass mich in Ruhe, Finn!“, schrie ich ihn an, doch er redete weiter. „Hör mal, wenn du willst kann ich dir hier und jetzt die Kehle durchschneiden, das würde für mich keinen Unterschied machen, und vermutlich würde ich dir auch einen Gefallen tun, aber weißt du was? Ich werde es nicht tun! Und warum nicht? Weil du endlich lernen musst, mit dir selbst klar zu kommen!“, sagte Finn eindringlich. Was meinte er? Plötzlich spürte ich wieder seine Hand auf meiner Schulter. „Hör zu!“, sagte er leise und ich spürte seinen warmen Atem auf meiner kalten Haut. „Du bist nicht tot. Aber du hast dich lebendig begraben!“ Dann verschwand Finn endgültig und ließ mich mit dem Nachhall seiner Worte in meinem schmerzenden Kopf und meinen verwirrten Gedanken zurück.

 

 

 

 

 

Eliza lag in eine Decke eingekuschelt da. Lia hatte gesagt, sie dürfte mindestens eine Woche nicht aufstehen, wegen ihrem Fuß. Eliza langweilte sich schrecklich, denn nicht immer war jemand da. Außerdem hatte Kyle ihr erzählt, dass Kira sich schwer verletzt hatte, deswegen galt jetzt wohl die meiste Aufmerksamkeit ihr. „Hey, Eliza!“, sagte Liam und setzte sich neben sie. „Na, langweilst du dich?“, wollte er wissen und wuschelte ihr durch die Haare. „Ja…“, sagte sie und drehte sich zu ihm. „Liam, erzähl mir was!“ Liam sah sie einen Moment lang überrascht an. „Was denn? Ich kann das nicht so gut. Da solltest du deinen Bruder fragen!“ „Aber Mikey hat keine Zeit für mich!“, sagte Eliza. Liam seufzte. „Dafür kann er nichts. Aber wenn du willst, schick ich ihn her! Dann geh ich an seiner Stelle jagen“, bot er an.

Eliza betrachtete den Fünfzehnjährigen einen Moment lang. „Das würdest du tun?“, fragte sie ihn. „Klar!“, sagte Liam und krabbelte auf allen vieren aus der Höhle. Bevor Liam aus der Höhle kroch rief Eliza ihm noch hinterher: „Du hast keine Geschwister, oder?“ Liam erstarrte und sah denn über die Schulter zurück. „Nein, Eliza. Nicht mehr.“ Seine Stimme klang dabei schwach und zitterte und Eliza hatte das Gefühl, ein falsches Thema angesprochen zu haben, doch Liam war schon aus der Höhle gekrochen und jetzt hörte Eliza, wie sich seine Schritte schnell entfernten.

Als Mikey wenige Minuten wiederkam und sich neben sie setzte, sah er erschöpft und niedergeschlagen aus. „Was ist denn passiert?“, wollte Eliza wissen. „Das ist eine lange Geschichte…“, sagte Mikey. „Ich liebe lange Geschichten!“, antwortete Eliza. „Und ich hab viel Zeit!“ Also erzählte Mikey ihr, dass Kira bei einem Kletterversuch abgestürzt und sich einige Rippen, das Schulterblatt und den rechten Unterarm gebrochen hatte.

„Aber das ist noch nicht mal das Schlimmste…“, sagte Mikey. „Was kann denn noch schlimmer sein?“, fragte Eliza und überlegte sich, wie es wohl wäre, wenn sie sich die Rippen und nicht das Handgelenk gebrochen hätte. Sogar der Schmerz in ihrem Fuß war enorm, obwohl er nicht einmal gebrochen war.

„Du kennst Kira doch, sie ist ziemlich kratzbürstig!“, sagte Mikey und Eliza nickte. „Na ja, und du weißt auch, was passiert, wenn Lia und Kira auf engerem Raum zusammen sind. Kira war schon ziemlich wütend, und damit hat sie dann natürlich auch Lia etwas genervt, und als Lia dann etwas Falsches gesagt hat, haben die beiden angefangen, sich richtig zu fetzen. Und schließlich… Irgendwie ist das Gespräch auf Josy gekommen und ihre dämliche Aktion auf dem See, und Kira hat gemeint, ihr alles in die Schuhe schieben zu müssen. Dass sie wegen Josy unterkühlt war, und sich deshalb beim Abstieg von der Felswand nicht richtig konzentrieren konnte. Jedenfalls hat Josy das mitbekommen…“

„Oh nein!“, flüsterte Eliza. Mikey nickte. „Lia ist danach gegangen und hat Josy mitgenommen. Und leider… Irgendwie hat sich zwischen denen auch ein Streit entwickelt, weil Josy sich schuldig gefühlt hat, und Lia es ihr ausreden wollte und jetzt ist sie verschwunden.“

„Wer, Lia oder Josy?“, fragte Eliza alarmiert, obwohl sie natürlich wusste, dass es sich nur um Josy handeln konnte. Sie kannte ihre Freundin gut genug um zu wissen, wie temperamentvoll sie sein konnte. „Ich muss sie sofort suchen!“, sagte sie und warf die Decke von sich. „Eliza nein!“, sagte Mikey und drückte sie zurück. „Aber sie kann sich verletzen! Der Wald ist bei dieser Jahreszeit kein Ort für ein achtjähriges Mädchen!“

„Du kannst ihr nicht helfen!“, sagte Mikey eindringlich. „Du kannst dich doch selber kaum bewegen!“ Eliza ließ sich zurück in die Decke sinken. „Aber wenn ihr was passiert…“ „So leid es mir tut, Eliza, dann wirst du es nicht ändern können! Connor, Kyle und Henry sind losgegangen um sie zu suchen. Und Chloe, Jordan und Billie sind auch losgezogen. Wir werden sie vor dem Abend finden, wenn wir Glück haben!“ „Und wenn wir Pech haben?“, fragte Eliza bitter. Mikey senkte den Blick. „Dann haben wir Pech.“

Eine lange Zeit war es zwischen ihnen still. „Wenn du dir so Sorgen um sie machst, und auf mich verzichten kannst, schnappe ich mir Oliver und Bryan und gehe mit ihnen nach Josy suchen“, bot Mikey an. „Aber nur, wenn du auf mich verzichten kannst.“ „Geh sie suchen!“, bat Eliza. „Okay.“ Eliza sah ihrem Bruder nach, wie er aus der Höhle kroch und dachte dann lange nach. „Wo würde ich mich verstecken, wenn ich Josy wäre?“, fragte sie sich. Sie kannte einige schöne Stellen, die sie zusammen mit Josy, Bailey und Quinn oft besucht hatte, doch da würde Josy sich wohl kaum verstecken.

„Sie braucht Wasser und etwas zu essen, und das weiß sie auch…“, dachte Eliza. In Gedanken suchte sie den Fluss ab. Wo anders konnte Josy sich nicht aufhalten. Einige Stellen konnte Eliza sofort ausschließen: Die Stelle, wo ihre Netze zum Fischen hingen, stellen, wo steile Felsklippen den Wald von dem weiter unten fließenden Fluss abschirmten. In Gedanken folgte sie Josy, erlebte den Streit zwischen Lia und Josy mit und sah Josy vor sich, wie sie davonlief. „In welche Richtung würde ich gehen?“, fragte Eliza sich. Sie musste zum Fluss gegangen sein. Eliza erinnerte sich daran, wie gerne Josy sich in einer kleinen Mulde zusammenrollte, wenn es kalt war.

Selbst wenn sie abends hier drinnen in ihrer Höhle waren, bestand Josy darauf, immer an derselben Stelle zu liegen, weil sie sich dort ihrer Meinung nach in eine kleine Vertiefung kuscheln könnte.

Eliza fielen ein dutzend gute Stellen in der nähe des Baches en, dann wurde ihr plötzlich alles klar: Josy brauchte Wasser, Essen und ein gemütliches Fleckchen, war vermutlich überstürzt und weinend aufgebrochen – sie konnte nicht weit gekommen sein. Und es gab nur eine einzige Stelle im ganzen Wald, die genau Josys jetzigen Bedürfnissen entsprach: Wenn man dem Fluss eine viertel Stunde folgte, kam man an eine mit Moos bewachsene Stelle. Joshua hatte Eliza einmal erklärt, dass es dort so viel Moos gab, weil es immer recht feucht und warm war.

Dort gab es eine kleine Mulde, direkt hinter den Wurzeln eines umgefallenen Baumstammes. Und rings um sie herum wuchsen Pfifferlinge. Das wusste Eliza, weil es die einzigen Pilze waren, die sie ganz sicher überall erkannte. Und Josy tat das auch.

„Ich muss da hin!“, dachte sie. Sie krabbelte zum Ausgang der Höhle und spähte hinaus. In einiger Entfernung lag Kira an einem Lagerfeuer, der Rest war weg. Vermutlich waren sie jagen oder auf der Suche nach Holz – oder Josy. Vorsichtig versuchte Eliza ihren Fuß zu belasten. Es tat weh. Ziemlich sogar.

Doch bei der Vorstellung, Josy könnte verletzt oder tot sein, oder vielleicht sogar gefangen von Jasmyn, überwand sie den Schmerz und humpelte los. Kira hörte sie nicht – sie war zu weit weg. Trotzdem wusste Eliza, dass sie niemandem in die Arme laufen durfte und deshalb besonders vorsichtig sein musste.

Sie rannte so schnell ihr verletzter Fuß es zuließ, auf den Eingang des Lagers zu, spähte hinaus und lief dann, als niemand zu sehen war, in den Wald.

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Wald war bis auf die Geräusche ihrer Schritte völlig still. Nicht einmal ein Vogel sang, nicht ein einziges Tier kreuzte ihren Weg. Es war gruselig. Mikey fröstelte und schlang die Arme um sich. „Wieso ist es so still?“, fragte er sich. „Totenstill…“ Er sah sich um, doch nicht ein einziger Farbklecks hob sich von der grau-braunen Landschaft um sie herum ab. Der Waldboden war erbarmungslos gefroren und verriet um keinen Preis, wer oder ob hier jemand gewesen war.

„Was ist hier nur passiert?“, fragte Mikey sich. Er konnte sich an keinen Augenblick in seinem Leben erinnern, wo ihn seine Umgebung so im Stich gelassen hatte. Es war, als würde der Wald ihnen Drohungen zuflüstern. Das dunkle Grau, das feuchte Braun überall verstärkte die triste und traurige Stimmung über Josys Verschwinden noch mehr. Fast fühlte Mike, wie der kalte Wind nach ihm Griff. „Jetzt hör aber auf!“, schalt er sich. „Du bist ja völlig verrückt!“

Trotzdem zwang er sich, schneller zu Gehen. Er wollte nur noch zurück, zurück zu Eliza, mit Josy an seiner Seite, zurück in ihr Warmes Lager, das vom Schein der Lagerfeuer erhellt wurde.

Zwar hatte Bryan eine Taschenlampe dabei, doch sie benutzten sie noch nicht – es war noch nicht dunkel genug, um von ihr zu profitieren, die Batterien waren schwach, und neue Batterien waren teuer.

Mikey stolperte und fiel hin. „Alles okay bei dir?“ Oliver half ihm hoch. „Schon okay. Ich bin nur müde und mache mir Sorgen um Eliza. Ich habe Angst, sie könnte eine Dummheit begehen, weißt du?“, fragte er Oliver. „Wie denn?“, schaltete sich Bryan ein. „Ich denke, sie kann nicht laufen?“ „Da hat er allerdings recht!“, meinte Oliver. Etwas beruhigter folgte Mikey den Jungs. Zwar würde Eliza sich von ihrem Fuß nicht aufhalten lassen, doch er würde sie auf jeden Fall behindern und sie würde es sich zweimal überlegen, ob sie losging, oder nicht.

Mikey seufzte.

Sie hatten Josys Spur beim Fluss verloren und danach nicht wiedergefunden. Über den dünn zugefrorenen Fluss, da waren sich alle sicher, wer sie nach ihrem Erlebnis vor zwei Tagen, nicht gegangen. Der Bach war an dieser Stelle zu breit, als dass die kleine Josephine darüber springen könnte und auf das Eis würde sie sich nicht trauen. Es würde sie auch gar nicht halten, es war nicht einmal einen halben Zentimeter dick. „Josy!“, schrie Bryan durch den Wald. Die Jungs horchten auf eine Antwort, doch der Wald blieb bis auf das Echo von Bryans Stimme und ein paar Rufen der über den Winter hiergebliebenen Vögel absolut still. „Josephine!“, schrie Oliver, doch auch auf seinen Ruf folgte keine Antwort.

In Gedanken war Mikey jedoch nur bei Eliza. Er trottete den Jungen hinterher und blieb die ganze Zeit über still.

„Josy, wo bist du?!“, schrie Mikey und lauschte dem Echo seiner Stimme. Sie mussten sie finden, sie mussten einfach… Das war alles, woran Mike denken konnte. Dieser eine Wunsch füllte seinen gesamten Kopf aus, und wurde nur von dem Gedanken an Eliza zur Seite gedrängt, der sich mit jeder vergangenen Minute weiter ausdehnte, bis er schließlich seinen gesamten Kopf auszufüllen schien.

Einmal glaubten sie, Josy gefunden zu haben, doch was sie dann fanden war nur ihre Jacke. Bryan kletterte in ein Dornengestrüpp und angelte die dunkelblaue Jacke heraus „Sie kann doch unmöglich ihre Jacke ausgezogen haben!“, schrie Bryan fassungslos und schleuderte wütend die kleine Jacke von sich. „Will sie denn erfrieren?“

„Vielleicht hat sie die Jacke gar nicht ausgezogen!“, gab Oliver zu bedenken. „Vielleicht hat sie sie verloren.“ „Wie soll man denn bitte schön seine Jacke verlieren, wenn man sie anhat?“, fragte Bryan. „Egal, ob sie sie verloren hat, oder nicht, wir müssen sie jetzt schnell finden!“, sagte Mikey.

„Mike hat recht.“ Bryan holte die Jacke wieder. „Die Jacke ist schon kalt. Das bedeutete, sie liegt schon lange hier.“ „Bei dem eisigen Wetter kann es sein, dass Josy erst vor zwei Minuten die Jacke hier verloren – oder ausgezogen – hat“, sagte Oliver zu Bryan und beobachtete, wie sein Atem in kleinen, weißen Wölkchen durch den Wald zog.

Mikey bückte sich und untersuchte den Boden, doch er war fest gefroren und man konnte keine Fußabdrücke erkennen. Aber er sah etwas anderes. Er hob einen kleinen, lilafarbenen Gegenstand auf und betrachtete ihn. Er war nicht festgefroren, also war Josy hier vor höchstens einer Stunde gewesen.

„Mike, der Boden ist zugefroren, du findest hier keine Fußabdrücke!“, sagte Bryan und zog den Jungen wieder auf die Füße. Mike lachte. „Nein, aber ich sehe etwas was du nicht siehst, und das ist lila!“, sagte er und zeigte Bryan und Oliver, was er gefunden hatte. „Das ist eine ihrer Haarklammern!“, sagte Bryan.

„Genau. Sie war nicht am Boden festgefroren, und ist von ein paar alten Blättern verdeckt worden. Das bedeutet, sie war vor höchstens einer Stunde noch hier und in der Zwischenzeit…“ Mikey schluckte. „…war jemand anderes hier“, schlussfolgerte Oliver.

„Genau. Und wir waren es nicht. Wir sind nicht im Kreis gelaufen. Die anderen sind nicht in unsere Richtung gegangen. Also kann es nur einer gewesen sein. Oder besser gesagt, eine.“ Mikey sah Oliver und Bryan an. „Wer?“, fragte Oliver fast angriffslustig. Die Vorstellung, dass Jasmyn hier gewesen war, behangte niemandem von ihnen. „Es muss nicht Jasmyn gewesen sein! Es könnte auch einer von uns gewesen sein! Schließlich sind noch mindestens zehn von uns auf der Jagd irgendwo im Wald unterwegs. Und es könnte auch ein Tier gewesen sein…“, meinte Oliver.

„Oder auch nur einer von Jasmyns Bande!“, witzelte Bryan. „Das ist nicht lustig!“, fuhr Mikey die beiden älteren Jungen an. „So oder so, sie ist vermutlich in Lebensgefahr. Wenn wir sie nicht finden, findet Jasmyn sie oder sie erfriert, stürzt, oder ihr passiert sonst was!“, machte Mikey den beiden anderen Jungen klar.

Bryan und Oliver nickten betrübt und Bryan warf sich Josys Jacke über den Arm. „Irgendeine Idee, in welche Richtung wir gehen sollten?“, fragte Oliver Mikey. „Dort entlang!“, sagte Mikey und zeigte in die Richtung, in die der Fluss floss.

„Josy weiß, dass sie Wasser braucht, also wird sie sich dort in der Nähe aufhalten. Da bin ich mir sicher. Sie ist nicht dumm, und außerdem bestätigt die Tatsache, dass wir hier Josys Haarspange gefunden haben, meine Vermutung!“, sagte Mikey und ging los, immer am Fluss entlang.

Die Jungen beschleunigten ihr Tempo jetzt etwas und bemühten sich, dennoch alle Kleinigkeiten in ihrer Umgebung zu sehen.

 

 

 

 

 

„Ahhh!“ Mit einem Aufschrei knickte Eliza um und fiel hin. „Aua…“ Sie zog ihren Fuß zu sich und hielt sich den Knöchel. „Ich hätte nicht weggehen dürfen!”, wurde ihr klar. „Vielleicht finde ich Josy gar nicht, und dann erfriere ich hier!“

Sie kuschelte sich an einen umgefallenen Baumstamm und versuchte, die Tränen zu unterdrücken, doch es wollte nicht klappen. Sie begann lauthals zu schluchzen, während ihr heiße Tränen über die Wangen liefen. „Keiner weiß, wo ich bin! Mikey macht sich bestimmt Sorgen um mich! Ich hätte nicht weggehen dürfen!“, dachte sie wieder und weinte vor sich hin.

Plötzlich hörte sie ein fremdes Schluchzen. Sofort war sie still, und lauschte. Sie glaubte, es sich nur eingebildet zu haben, doch da war es wieder. Nur leise, aber eindeutig das Weinen eines kleinen Kindes. Vielleicht das Weinen einer kleinen, achtjährigen Josephine, die weggelaufen war, und jetzt nicht wusste, wohin sie gehen sollte?

„Josy?“, fragte Eliza leise und krabbelte am Baumstamm entlang. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie weit sie schon gekommen war, denn das war tatsächlich der umgefallene Baumstamm, den sie gemeint hatte – und da lag tatsächlich Josy in der kleinen Mulde, zusammengerollt, frierend und vollkommen allein. „Josy!“ Josephine sah auf.

„Was machst du hier?“, schniefte sie und wischte sich die Nase am Ärmel ihres Pullovers ab. „Ich hab dich gesucht! Ist dir nicht kalt?“, fragte Eliza Josy und zog sie zu sich. „Doch…“, antwortete Josy. „Wo ist deine Jacke?“, wollte Eliza wissen und zog gleichzeitig ihre Jacke aus, um sie der zitternden Josy umzulegen.

„Ich bin gerannt… Da waren so Geräusche, überall! Und dann bin ich hingefallen… Ich bin mit der Jacke in einem Dornengestrüpp hängen geblieben. Ich hab sie nicht losbekommen! Und da hab ich sie einfach ausgezogen und bin weiter gerannt!“, schluchzte Josy.

Als Eliza ihr die Jacke um die Schultern legte, schüttelte Josy sie ab. „Du darfst mir deine Jacke nicht geben! Du brauchst sie selbst! Du bist doch verletzt.“ „Du aber auch!“, antwortete Eliza und wickelte Josy in die Jacke ein. „Außerdem bringt Lia mich um, wenn dir was passiert. Du bist immer noch unterkühlt, von deinem Eislaufversuch!“, meinte Eliza.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Josy Eliza nach einer Weile. „Wir müssen zurück nach Hause! Die anderen machen sich Sorgen!“ „Ich gehe nicht zurück!“, schrie Josy und schubste Eliza von sich. „Nie mehr! Lia ist so gemein, und Kira auch! Sie hat behauptet, es wäre alles meine Schuld!“ Josy begann wieder zu weinen. „Du musst einfach lernen zu tun, was man dir sagt!“, wies Eliza sie zurecht. „Schau mal, ich bin schon zehn, und mein Bruder dreizehn. Er ist nur drei Jahre älter als ich, aber ich tue trotzdem, was Mikey mir sagt. Weil ich ihn lieb habe. Und du bist sogar erst acht und Lia schon sechzehn!“ „Ich hab Lia auch lieb“, sagte Josy leise. „Siehst du? Dann tu doch, was sie möchte“, sagte Eliza.

Kurze Zeit lang hörte man nur das Pfeifen einiger Vögel, die beschlossen hatten, über den Winter hier zu bleiben und das heulen des Windes. „Lass uns nach Hause gehen!“, sagte Josy schließlich. Eliza lächelte. „Gute Idee!“ Die beiden standen auf, doch als Eliza ihren Fuß belastete, zuckte sie vor Schmerz zusammen. „Was ist denn? Eliza, was ist?“, fragte Josy erschrocken, als ihre Freundin vor Schmerz kurz aufschrie. „Mein Fuß…“, jammerte Eliza und ließ sich auf den Boden sinken. Sie zog ihren Fuß an sich heran, und umklammerte das Gelenk mit beiden Händen. Ihre Zehen waren bereits steif und taub vor Kälte.

„Kannst du laufen?“ „Nein…“, sagte Eliza. „Was soll ich machen?“, fragte Josy sie verunsichert. „Lauf nach Hause!“, wies Eliza sie an. „Lauf nach Hause und hol Hilfe, Josy!“ Josy zögerte keinen Moment und lief los.

Eliza blieb allein in der Kälte zurück.

 

 

 

 

 

Jasmyn hatte ein Messer in der Hand, drei weitere hingen an ihrem Gürtel. Sie war allein im Wald, um sich ihren nächsten Zug zu überlegen. „Wir müssten sie trennen, oder so einkreisen, dass sie nicht fliehen können!“, dachte sie und schleuderte ihr Messer in einen Baum. Im letzten viertel Jahr hatte sie versucht, sich endlich den perfekten Plan zu überlegen, um ihre Gegner ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen.

„Wie oft habe ich mir schon einen Plan überlegt und gedacht: „Damit räume ich sie ein für alle Mal aus dem Weg“?“, fragte Jasmyn sich. „Wenn ich es nur endlich schaffen würde! Dann könnte ich zurück, vielleicht könnte ich meine Familie wiedersehen!“

Jasmyn dachte an ihre Eltern, ihren Zwillingsbruder…

Sie holte ihr Messer wieder und betrachtete die Kerbe im Baum. „Das Messer ist zu stumpf!“, dachte sie. „Ich muss es schleifen.“

Als sie sich von dem Baum wegdrehte, rannte plötzlich jemand in sie hinein und warf sie um. Sie sprang auf, das Messer in Angriffsposition, als sie das kleine Kind erkannte, das sie umgerannt hatte: Blonde Haare, helle Haut, ein rundes Gesicht. „Wie witzig!“, sagte sie und packte Josy. „Lass mich los!“, schrie Josy und trat nach Jasmyn. „Ich soll dich loslassen? Du bist immerhin die Schwester des Mädchens, das nach Kira meine größte Feindin geworden ist!“, lachte Jasmyn.

Vor ihr schien das Mädchen zu einem winzigen Haufen zusammenzuschrumpfen. „Also, wohin des Weges?“, fragte sie Josy. „Sag ich nicht“, meinte Josy und presste die Lippen aufeinander. „Soso… Du bist ja eine ganz Mutige, meine kleine Josephine, nicht wahr?“ Jasmyn lachte. Sie würde schon noch alles aus der Kleinen herausbekommen, was sie wollte.

„Ich hab eine Idee… Wir spielen jetzt ein Spiel“, schlug Jasmyn vor. „Wir gehen jetzt genau der Weg zurück, den du gekommen bist, und schauen uns an, wo du so schnell weggerannt bist. Vielleicht finden wir ja einen deiner Freunde, nicht wahr?“, sagte Jasmyn und packte das Kind am Kragen.

„Hey, Jassy!“, rief eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und verpasste Dylan einen Kinnhaken. „Wie heiße ich?“, fragte sie ihn. „Jasmyn…“, antwortete der kleinlaut. „Guter Junge… Schau mal, wen ich gefunden hab!“, sagte Jasmyn und schubste Josy auf Dylan zu. „Cool, und was machen wir mir ihr? Hey, ist das nicht die kleine… wie heißt sie noch mal? Die Schwester von Lia?“, fragte Dylan sie.

„Josephine“, antwortete Jasmyn. „Und sie hatte es eilig für irgend jemanden Hilfe zu holen, so wie sie aussah, als sie in mich eingerannt ist“, meinte Jasmyn und maß Josephine mit einem bösen Blick.

„Gar nicht wahr! Ich bin allein!“, sagte Josephine schnell. Viel zu schnell, und außerdem verzog sich ihr Mund zu einem leicht nervösen Grinsen und ihre Ohren wurden rot. Sie log eindeutig.

„Dann hast du ja nichts zu befürchten, oder?“, fragte Dylan das Mädchen. „Kommt jetzt. Meine kleine Josephine, du bist unsere Gefangene“, teilte Jasmyn ihr mit und zog das Mädchen und Dylan hinter sich her.

 

 

 

 

 

Mike sah Olivers Stiefel vor sich, Bryan schlug ihnen mit einem Stock den Weg frei. Mikey achtete schon lange nicht mehr darauf, wo er hinlief, so war es nicht verwunderlich, dass er noch nicht sonderlich viel dazu beigetragen hatte, Josy zu finden. Er war mit seinen Gedanken bei Eliza, die sich sicher Sorgen um Josy machte. Er kannte sie doch so gut. Und er wusste, wie schnell sie eine Dummheit beging. Einfach, weil sie nicht nachdachte, oder das Wohl der anderen über ihr eigenes Stellte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich allein auf die Suche nach Josy machen würde, da war sich Mikey sicher. Und das, obwohl es mindestens fünf Grad unter Null hatte, ein leichter Nebel aufgezogen war, der sich immer weiter verdichtete und Eliza verletzt war.

Der Nebel verdichtete sich und die Sonne wurde schwächer. Mikey schätzte, dass es vier Uhr Nachmittags war. In einer Stunde würde es stockdunkel sein und die Temperaturen würden noch weiter sinken.

Wenn Eliza jetzt losging, würde sie nicht vor dem späten Abend zurückkommen, wenn sie den Weg überhaupt noch fand. Und dann würde sie erfrieren… Andererseits würde Josephine wahrscheinlich auch sterben, wenn die Jungs sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit fanden. Die Überlebenschancen für ein achtjähriges Kind, das ohne Essen, Trinken oder Decken hier herumstreunte, waren nicht groß, auch wenn es sich bei diesem Kind um die zähe Josy handelte, die schon einige gefährliche Situationen gemeistert hatte.

Doch gegen die Naturgewalten würde auch sie nichts ausrichten können. Des Weiteren lauerten außer der Kälte noch mehr Gefahren im Wald: Hungrige Wölfe, die seit einigen Wochen wieder hier unten im Tal herumstreunten und auf der Suche nach Tieren und anderem Futter schon mehrfach ihren Weg gekreuzt hatten, Geröllstürze, der Nebel, der es einem unmöglich machen würde, weiter als ein paar wenige Schritte zu sehen… Josy könnte in der Dunkelheit einen steilen Hang hinabstürzen und sich das Genick brechen… Doch so könnte es auch Eliza ergehen, sollte sie sich auf die Suche nach ihrer Freundin Josephine machen.

Mikey folgte immer weiter dem Fluss, doch je weiter er kam, umso mehr hatte er das Gefühl, dass Eliza seine Hilfe brauchte. „Jungs, es tut mir echt leid, aber ich geh zurück!“, sagte er zu Oliver und Bryan. „Eliza ist allein und ich hab so das Gefühl, sie braucht mich! Ich hab ein echt schlechtes Gefühl bei der Sache!“ Bryan und Oliver versuchten zwar, Mikey zu überreden, zu bleiben, doch als sie merkten, dass Mike nicht umzustimmen war und ihm außerdem wirklich unwohl zu sein schien, ließen sie ihn gehen und drängten ihn nicht weiter, ihnen bei der Suche nach Lias kleiner Schwester zu helfen.

Mikey drehte sich um und rannte durch den Winterwald zurück zum Lager. Er knickte zwar immer wieder auf dem gefrorenen Boden um, doch stehen blieb er nicht – er machte sich wirklich Sorgen um seine kleine Schwester. Nach gut einer halben Stunde war er wieder am Lager.

„Hey, Eliza! Wir haben eine Spur, was Josephine angeht!“, rief er seiner Schwester zu und krabbelte in die Höhle. Er erstarrte. „Oh nein…“, flüsterte er. Seine Schwester war verschwunden. „Eliza!“ Mikey rannte nach draußen und lief zu Kira. „Kira, Eliza ist verschwunden! Hast du sie gesehen?“, fragte er sie. Kira fuhr hoch. „Eliza ist verschwunden? Wieso? Ich… Nein, ich hab sie nicht gesehen. Habt ihr Josy gefunden?“, fragte Kira verstört. „Nein. Ich glaube, Eliza ist Josy auf eigene Faust suchen gegangen! Verdammt, ich muss sie finden!“ Mikey sprang auf und rannte aus dem Lager.

„Eliza! Wo bist du? ELIZA!!!“

 

 

 

 

 

Eliza tat das einzige, was ihr einfiel, um sich warmzuhalten: Sie hauchte immer wieder ihre Hände an, rollte sich zu einem kleinen, festen Ball zusammen und kuschelte sich so dicht an das feuchte Holz des Baumstammes, wie sie nur konnte. Dann schloss sie die Augen und versuchte, sich die Zeit mit verschiedenen Sinnesübungen zu vertreiben.

Sie achtete zuerst nur darauf, was sie hörte: Irgendwo kläffte ein Fuchs, ein Rascheln neben ihr im Laub verriet ein Kleintier, eine Maus oder ähnliches, der Bach in einiger Entfernung plätscherte halblaut, auch wenn das Geräusch durch die dünne Eisschicht darüber gedämpft war, in den Ästen über ihr sprang ein Tier von einem Ast zum anderen.

Eliza öffnete die Augen, um zu sehen, was es war. Trotz der Dunkelheit um sie herum konnte sie hoch über ihr in den kahlen Kiefern ein Eichhörnchen, das wohl aus dem Wintersschlaf geschreckt war, von einem Ast zum anderen springen sehen. Irgendwo blieb es sitzen, schlug mit einer Nuss gegen den Ast, auf dem es saß, horchte kurz, und ließ die Nuss dann fallen.

„Kein Abendessen für dich, mein kleines!“, flüsterte Eliza leise und sah dem Tierchen hinterher, wie es weiter sprang. Sie wusste, wie sich sein leerer Magen anfühlte, denn auch sie bekam Hunger, was ihr Magen ihr gleich mit einem lauten Grummeln unterbreitete.

Plötzlich hörte Eliza gedämpfte Schritte, dann sah sie eine Gestalt auf sie zukommen. „Josy?“, fragte sie. Das war Josy, eindeutig, und sie war nicht allein. „Josy!“

Eliza atmete erleichtert aus. Josy hatte Hilfe geholt und sie hatte sie wieder gefunden. Doch ihre Freude trübte sich sofort, als sie die Gestalten erkannte. Da war zwar Josy, doch die anderen beiden waren Jasmyn und Dylan ein Junge aus ihrer Bande. Eliza drückte sich eng an den Baumstamm, obwohl Jasmyn sie natürlich schon längst gesehen hatte. „Eliza. Was für eine Überraschung. Wir haben uns ja ziemlich lange nicht mehr gesehen, nicht wahr?“, fragte Jasmyn sie. „Das hätte meinetwegen auch so bleiben können!“, sagte Eliza, dann packte Dylan sie und zog sie hoch. „Au! Pass doch auf! Du tust mir weh!“, schrie Eliza, als sie unglücklich ihren verletzten Fuß belastete. „Hilfe!!!“, schrie Eliza und jetzt begann auch Josy zu schreien. „Mike! Mikey! Hilf mir!“

Jasmyn und Dylan gingen mit ihrer Schreierei jedoch vollkommen gelassen um. „Haltet den Mund, verstanden? Ihr wollt doch eure Zunge behalten, nicht wahr?“, fragte Dylan und hielt Eliza drohend ein Messer an die Wange. Josy quiekte vor Angst, doch Eliza zwang sich, für Josy stark zu sein, und ihre Angst nicht zu zeigen, doch sie wagte nicht, noch einmal zu schreien.

Jasmyn und Dylan berieten, was sie machen wollten, dann kamen sie zu dem Entschluss, die beiden auf kürzestem Weg in ihr Lager zu bringen.

 

 

 

 

 

 

Finn setzte sich neben Henry, Connor und Oliver, die vor weinigen Minuten wiedergekommen waren, an ein Feuer. Sie hatten Josy nirgendwo gefunden und schließlich die Suche aufgegeben. „Hey, Jungs!“, sagte er ein bisschen zu fröhlich. „Was willst du?“, fragte Henry grob. Finn seufzte. Er wusste, dass die Jungs allen Grund hatten, sauer auf ihn zu sein, aber er hatte jetzt wirklich alles getan, was er konnte, um sich zu entschuldigen.

Es war nicht seine Schuld gewesen, dass er zu Jasmyn in die Bande gesteckt worden war. Natürlich, er hätte fortlaufen können, doch was hätte ihm das gebracht? Die ersten Tage hatten sie ihn gefangen gehalten, danach war er so ausgehungert, dass er bereitwillig bei ihnen geblieben war, und dann hatte sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Vielleicht hatte er auch zu viel Angst gehabt, wegzulaufen. Was, wenn sie ihn gefunden hätten? Ihm graute davor, diesen Gedanken weiterzudenken. Nicht nur Jasmyn hätte ihn dann bestraft – auch in der Kampfschule hätte ihn eine gewaltige Strafe erwartet. Nicht nur, dass er rausgeflogen wäre, und dann auf der Straße ums Überleben hätte kämpfen müssen, vorher hätten sie ihn vermutlich halb tot geprügelt, oder sogar wirklich umgebracht!

Trotzdem versuchte Finn jetzt wieder, sich vor Henry, Oliver und Connor zu rechtfertigen. „Ich wollte das doch nicht!“, sagte er etwas genervt, doch er versuchte, in seiner Stimme auch die Verzweiflung mitklingen zu lassen, die er empfand. „Ich bin doch nicht freiwillig zu Jasmyn in die Bande! Henry, wir waren früher so gute Freunde. Was ist nur los mit euch?“

Die Jungen antworteten nicht. „Wie geht es Kira?“, fragte Finn. „Schau doch selbst nach!“, antwortete Connor knapp. Finn schüttelte fassungslos den Kopf. Er konnte einfach nicht glauben, dass seine früheren Freunde sich jetzt plötzlich so bereitwillig gegen ihn gestellt hatten. „Ich war vorhin bei ihr, aber sie will niemanden sehen!“, sagte Henry. „Also bleib besser weg von ihr.“

Finn stand auf und nahm einen Bogen, der am Feuer lag, und den niemand zu brauchen schien. „Ich kann einfach nicht glauben, dass das alles sein soll“, sagte er. „Was?“, fragte Henry ihn und er, Connor und Oliver sahen gleichzeitig auf. „Na ihr! Und ich! Wir waren früher Freunde, wir haben zusammen die Kampfschule unsicher gemacht. Wisst ihr das nicht mehr? Wie wir uns gegenseitig das Kämpfen beigebracht haben? Und wie du, Connor, uns unterricht im Schießen gegeben hast?“, fragte Finn.

Henry drehte sich wieder weg und sah in die Flammen. „Ich will nicht, dass unsere Freundschaft hier einfach aufhört!“, sagte Finn energisch. „Tut mir Leid, Finn“, sagte Connor. „Du hast deinen Weg gewählt, als du dich Jasmyn angeschlossen hast!“ „Ich habe mich ihr nicht angeschlossen!“, schrie Finn und betonte dabei jedes einzelne Wort. „Ich wurde gezwungen! Was hättet ihr an meiner Stelle getan?“ Finn sah, dass ihn jetzt nicht nur Henry, Oliver und Connor ansahen, sondern auch andere Bandenmitglieder. „Sagt mir das! Was hättet ihr getan?!“ Finn zitterte vor Wut. Keiner der Jungen machte sich die Mühe, ihm zu antworten. Ausdruckslos sahen sie ihn an. „Verdammt, lasst mich doch in Ruhe!!!“, schrie er, dann drehte er sich um und lief davon. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und sah sich um. Alle sahen ihn an. Alle… „Und nur damit ihr es wisst!“, schrie er und sah sie jeden der Reihe nach an. „Ich habe Kira und Josy auf dem Eis das Leben gerettet!“ Dann drehte er sich um und verschwand im Wald.

 

 

 

 

„Ist das wahr?“, fragte Henry Lia, die jetzt zu ihnen gekommen war. Lia senkte den Kopf. „Lia! Stimmt das, was Finn gesagt hat?“, fragte auch Scarlet, die ihr Gespräch mit angehört hatte.

„Ja, das tut es. Aber was soll’s?“, wollte Lia wissen und sah sie an. Dann wandte sie sich an ihre Bande. „Ich wollte, dass ihr ihn akzeptiert, so wie er ist, und nicht weil ihr euch dazu verpflichtet fühlt!“, sagte Lia. „Ja, er hat Kira und Josy das Leben gerettet! Aber ganz ehrlich: Hättet ihr ihn eher akzeptiert, wenn ich zu euch gekommen wäre und euch nebenbei gesagt hätte: „Übrigens, Finn hat Kira und Josy das Leben gerettet, also wäre es nett, wenn ihr euch nicht mehr so fies ihm gegenüber benehmen würdet!“? Nein, hättet ihr nicht, da bin ich mir sicher“, sagte Lia und nahm Henry das Messer weg, das neben ihm lag.

„Ich leih mir das!“ Dann rannte sie los. „Was hast du vor, Lia?“, rief Kyle ihr hinterher. „Ich suche Finn. Und ich werde mich bei ihm für euch entschuldigen.“ Kurz bevor sie das Lager verließ, kam sie noch einmal zurück: „Ich schäme mich echt für euch! Ihr seid richtig peinlich!“

Lia machte auf dem Absatz kehrt und rannte durch den Wald. Jemand rief ihren Namen, und sie hörte Schritte, die ihr folgten, doch sie blieb nicht stehen. „Lia!“, schrie jemand wieder. Es war Bailey. Lia wusste, dass Bailey nicht mit ihr Schritt halten konnte, und sich verirren oder verletzen konnte, wenn sie allein im Wald war, denn obwohl sie inzwischen fast zwölf war, war sie kein bisschen trittsicherer im Wald geworden. Also blieb Lia stehen und wartete auf Bailey, doch das Mädchen tauchte nicht allein auf. Scarlet war ihr gefolgt. „Was ist?“, fragte Lia giftig. „Wir möchten dir helfen, Finn zu suchen…“, sagte Bailey außer Atem. „Oh Mann, ich glaub ich ersticke!“, keuchte sie und ließ sich zu Boden fallen. „Steh auf!“ Scarlet zog sie hoch und hielt sie fest. „Warum wollt ihr mir helfen?“, fragte Lia. „Weil wir Finn unrecht getan haben! Ich habe mit ihm gesprochen, und glaube, dass er echt okay ist. Ich mag ihn auch…“, sagte Scarlet. „Und wenn Kira ihm vertraut, dann tue ich das auch!“, fügte sie hinzu. „Und ich auch!“, sagte Bailey und sah zu ihrer großen Schwester auf.

„Na gut, dann kommt!“, sagte Lia und rannte wieder los. „Müssen wir denn echt wieder rennen?“, fragte Bailey, deren Atem noch immer unregelmäßig war, doch Scarlet und Bailey folgten Lia sofort.

Lia wusste, dass sie die Nadel im Heuhaufen suchte, denn sie konnte lange nicht so gut Spuren lesen, wie Mikey, oder Kira und die anderen Jäger, doch sie musste es versuchen.

Schließlich blieb sie abrupt stehen. „Hört ihr das?“, fragte sie, als Bailey und Scarlet bei ihr angekommen waren. „Du hast Recht, da ist etwas!“, sagte Bailey. „Nicht etwas!“, antwortete Scarlet. „Das sind Schritte!“ „Das muss er sein!“, sagte Lia und lief wieder los.

Sie sah erst, wer es war, als derjenige sie schon erblickte. Oder besser gesagt, diejenige und ihre drei Begleiter, denn es war Jasmyn. Neben ihr lief ein Junge, der Eliza festhielt, Jasmyn zog Josy hinter sich her.

Lia hatte keine Chance, zu reagieren, denn kurz darauf brach Finn aus dem Gebüsch, einen Bogen in der Hand, in dem ein Pfeil eingelegt war, einen zweiten hatte er in der rechten Hand. „Da bist du ja Finn…“, sagte Jasmyn. „Wir haben dich vermisst, aber jetzt bist du ja zum Glück wieder da.“ Lia sah von Josy über Jasmyn zu Finn. „Was meint sie?“, fragte sie wütend.

Jasmyn lächelte. „Lia, gut, dass du da bist. Sieh mal, wen wir haben. Eigentlich wollte ich es euch anders mitteilen, dass wir eure beiden Küken gefangen haben, aber so geht es auch. Also, es gibt folgende Bedingungen: Entweder ihr verschwindet ein für alle Mal aus diesem Wald, oder diese Kinder hier werden die Sonne nie wieder aufgehen sehen. Und dann werden wir euch alle nach einander umbringen. Was sagst du?“, fragte Jasmyn.

Lia zückte ihr Messer, doch Jasmyn war schneller. In einer einzigen Bewegung zerrte sie Josy vor sich und hielt der Kleinen ihr eigenes Messer an die Kehle. „Nicht so voreilig!“, sagte Jasmyn. „Du willst doch nicht, dass jemand verletzt wird, oder?“ Lia sah zu Scarlet, die sah genauso hilfesuchend zu ihr.

Finn kam herum und stellte sich zu Lia, Scarlet und Bailey. „Jasmyn, lass die Kinder los!“, sagte er langsam. Jasmyn sah überrascht aus. „Was hast du gesagt?“, fragte sie. „Ich nehme mal an, ich hab mich da grade verhört!“ „Nein, hast du nicht!“, sagte Finn drohend. „Ich werde nie wieder für dich kämpfen. Nie wieder hörst du? Ich habe den Fehler ein einziges Mal begangen, ich habe ein einziges Mal daran gezweifelt, wer im Recht ist. Ich dachte, es wäre besser, auf eurer Seite zu stehen, doch das war, bevor ich begriffen habe, wie niederträchtig ihr seid. Schau dich doch an!“, sagte er verächtlich. „Du bedrohst ein achtjähriges Mädchen! Wie alt bist du jetzt? Fünfzehn?“, fragte Finn.

Jasmyn drückte Josy das Messer fester an den Hals. „Halt den Mund, wenn du willst, dass sie überlebt!“, sagte Jasmyn leise. „Lass sie los, Jasmyn!“, wiederholte Finn. „Jetzt bräuchten wir Kira!“, dachte Lia. „Nur ein einziger Pfeil von Kira, und unser Problem wäre zu Ende! Kira könnte das!“

In dem Moment ging alles ganz schnell. Dylan zückte sein Messer, doch statt Eliza etwas zu tun, schleuderte er es nach Finn, Finn riss seinen Bogen hoch, jedoch nicht, um damit zu versuchen, das Messer abzuwehren – er zielte auf Jasmyn. „Nein!“, schrie Scarlet, als sie das Messer auf Finn zugeflogen kommen sah und wollte losrennen, um ihn zu schützen, doch Bailey hatte in dem Moment denselben Gedanken. Die Beiden rannten auf Finn zu, Scarlet sah Bailey, die zwei Schritte schneller bei Finn war. Lia war nicht in der Lage, sich zu bewegen, als Finn sich zu Dylan drehte, Jasmyn Josy nach vorne stieß, von dem Pfeil am Arm getroffen wurde, und das Messer, das Dylan geworfen hatte, die kleine Bailey traf.

„Nein!“, schrien Scarlet und Finn gleichzeitig, während Finn den zweiten Pfeil einlegte und ihn auf Dylan schoss. Dylan wurde am Brustkorb von dem Pfeil getroffen und fiel rückwärts zu Boden, doch er war nicht tot. Jasmyn zog den Pfeil aus ihrem Arm, dann kroch sie zu Dylan, der vor Schmerzen schrie, half ihm auf und zerrte ihn hinter sich her in den Wald.

Während all das passierte, war Lia nicht in der Lage gewesen, sich zu bewegen, jetzt stolperte sie nach vorne und nahm Josy in die Arme. Eliza rannte zu Bailey, Scarlet und Finn.

„Nein, lass mich los!“, schrie Josy ihre Schwester an. „Du musst dich um Bailey kümmern!“ Erst jetzt realisierte Lia, was passiert war.

Sie lief zu den anderen, Bailey lag auf dem Boden, den Kopf in Scarlets Schoß gebettet, die kleine Hand in Scarlets Hand, Finn und Eliza saßen neben ihr und Eliza weinte mindestens so sehr, wie Bailey.

„Alles okay, Bailey!“, flüsterte Lia ihr zu. „Alles okay, dir passiert nichts!“ Dann sah Lia sich die Stelle an Baileys linken Rippen an, wo das Messer sie getroffen hatte. Das Messer steckte tief in ihrem Körper, schien jedoch Lunge und Herz verfehlt zu haben. „Bleib ganz ruhig, okay?“, sagte Lia beruhigend. „Das tut jetzt weh.“ „Es tut schon die ganze Zeit weh!“, schrie Bailey sie an. „Tut mir Leid…“, sagte Lia und zog vorsichtig das Messer raus, wobei Bailey noch lauter schrie.

Plötzlich hörte sie Schritte, Finn fuhr herum und legte bereits einen Pfeil ein, als Mikey schrie: „Ich bin’s!“

Finn ließ den Bogen sinken und Mike rannte zu ihnen. „Eliza, was hast du dir nur dabei gedacht! Ich hab mir Sorgen gemacht! Bist du verletzt?“, fragte er seine Schwester und nahm sie in die Arme. „Nein, aber Bailey!“, schluchzte Eliza und entwand sich weinend aus Mikeys Griff.

„Oh Gott, was ist passiert?“, fragte Mikey, als er das viele Blut auf Baileys Jacke sah. „Sie ist von einem Messer getroffen worden!“, sagte Finn. „Helft mir, ihr die Jacke auszuziehen!“, befahl Lia und Scarlet half ihr, Bailey aufzusetzen, und dem Kind die Jacke auszuziehen. Bailey trug nur ein dünnes Hemd darunter, also schnitt Lia es kurzerhand auf, damit Bailey nicht noch mehr Schmerzen hatte. Dann untersuchte sie die Wunde. „Du hast Glück gehabt!“, teilte sie der noch immer schluchzenden Bailey mit. „Du wirst es überleben.“ Bailey schien das ziemlich egal zu sein, ihr ging es nur im die Schmerzen, die sie momentan hatte, und Lia wusste das auch, also zog sie ihre Jacke aus, obwohl sie fröstelte, und wollte sie Bailey um den Oberkörper wickeln, doch Finn hielt sie zurück. „Ich hab eine bessere Idee!“, sagte er und zerschnitt Baileys kaputtes Hemd in einen langen Streifen. „Hier!“, sagte er und gab den Stoffstreifen Lia, die damit die Wunde verband.

Dann hob Scarlet sie vorsichtig hoch und trug sie nach Hause.

 

 

 

 

 

 

In der Nacht wachte ich immer wieder auf. Ich konnte einfach nicht schlafen. Ich war noch immer so wütend und auch aufgewühlt. Scarlet hatte sich nicht mehr bei mir blicken lassen, und ich hatte auch den Kontakt zu den Anderen gemieden.

„Nein!“, schrie ich, als ich vor mir sah, wie Jannis vor mich sprang, um mich vor dem Pfeil zu schützen. „Nein!!! Jannis! Jannis!“ Ich fuhr hoch, der Schmerz durchzuckte meinen ganzen Körper, und ich fiel wieder zurück in mein Bett aus Decken und Fellen.

„Jannis…“, flüsterte ich. Es war nur ein Traum gewesen. Natürlich. Aber er war so real… Ich schloss die Augen, ignorierte alles um mich herum, und zwang mich, zu schlafen. Ich wünschte, Tim währe hier, oder Scarlet, oder Lia, oder zumindest Finn… Doch sie würden nicht kommen. Niemand. Sogar zu Henry war ich so unglaublich gemein und kratzbürstig gewesen, obwohl der mit der ganzen Sache absolut nichts zu tun hatte. Und trotzdem hatte ich meine Wut über mich selbst an ihm ausgelassen. Kein Wunder, dass mich niemand schreien hörte, oder sich die Mühe machte, nach mir zu sehen.

Ich hatte mitbekommen, was mit Bailey passiert war. Es war meine Schuld. Josy war meinetwegen weggelaufen, Eliza hatte sie meinetwegen gesucht, meinetwegen waren Lia, Scarlet, Finn und Bailey ihr gefolgt… Meinetwegen. Es war alles eine Verkettung von Ereignissen gewesen, mit der keiner gerechnet hätte… Doch letzten Endes war es meine Schuld.

 

 

Ich musste wieder eingeschlafen sein, denn in meinem nächsten Albtraum, stand ich im Wald, Jasmyn zielte mit einem Bogen auf mich, hinter ihr, und um mich herum stand ihre Bande. Ich hatte keine Waffen, nichts, um mich zu verteidigen… Jasmyn ließ den Pfeil los. „Nein!“, das war nicht meine Stimme… Es war Scarlets. Es waren Scarlet, und Bailey, und da war Tim, und hinter ihm standen Lia und Josy, da waren auch Mikey und Eliza, Oliver, Henry, Chloe, sie waren alle da. Und alle rannten sie gleichzeitig los, um mich zu retten. „Bleibt weg, Leute!“, schrie ich sie an. Ich durfte sie nicht in Gefahr bringen. Es durfte nicht wieder einer meiner Freunde für mich sterben.

Josy war die schnellste. Sie erreichte mich als Erste. Sie stieß mich weg, wurde von dem Pfeil getroffen, und fiel zu Boden. „Nein!!!“, schrie ich. Ich fuhr herum, griff an meine Schulter, doch ich hatte keine Waffen… Jetzt zielte nicht nur Jasmyn auf uns – alle zielten auf uns. Ihre ganze Bande hatte plötzlich Bogen in der Hand, und sie alle zielten auf meine Freunde, meine Bande, meine Familie!

Dann zischten die Pfeile los, und ich sah, wie meine Freunde getroffen wurden, ich sah sie alle der Reihe nach sterben, Tim, Scarlet, Lia, Mikey… Alle!

Mich traf der Pfeil als letzte.

 

„Nein! Oh nein, bitte nicht!“, keuchte ich, als ich aufwachte. Mir liefen die Tränen aus den Augen. „Nein…“ Am liebsten wäre ich aufgestanden, um nachzusehen, ob bei den anderen alles okay war, ob sie am Leben waren, doch als ich mich aufsetzte, drückte mich jemand zu Boden. „Alles okay bei dir?“, fragte Bryan mich. Er war okay… Es ging ihm gut. Natürlich ging es ihm gut. Es war nur ein Traum gewesen.

Ich antwortete ihm nicht. Stattdessen vergrub ich mein Gesicht in der Decke und begann, richtig zu weinen. Bryan setzte sich neben mich, nahm meine Hand und redete beruhigend auf mich ein, bis ich wieder einschlief.

 

 

 

 

 

Eliza hatte sich Kiras Bogen geliehen und schoss nun mit Bailey um die Wette. Es waren zwei Wochen vergangen, seit Bailey verletzt worden war, und es ging ihr wieder besser. „Schau mal, Bailey!“, sagte Eliza und spannte ihren Bogen. Sie zielte auf einen Baum und schoss. Der Pfeil traf den Baum und blieb stecken. „Das ist doch gar nichts!“, lachte Bailey, dann hob sie den Bogen, den sie sich von Jordan geliehen hatte. Sie zielte auf einen Ast hoch oben in den Bäumen, ließ den Pfeil los, und der Pfeil riss den Ast mit sich hinunter. „Ich bin besser als du!“, gab Eliza an. „Ich hab ja auch Kiras Bogen!“ Bailey lächelte sie von oben herab an. „Weiß Kira, dass du ihn hast? Ich bezweifle, dass sie dich damit schießen lassen würde!“

„Kira hat ihn mir ausgeliehen!“, sagte Eliza und legte den nächsten Pfeil ein. „Ich kann besser schießen als du, wollen wir wetten?“, fragte sie. „Mit dir?“, fragte Bailey. „Jederzeit!“

„Ich kann das Seil da treffen!“, sagte Eliza und zeigte mit dem Bogen auf ein Seil, an dem die Kinder einen gerupften Truthahn aufgehängt hatten. Eliza spannte den Bogen, doch Bailey riss ihr den Pfeil aus der Hand. „Das ist zu gefährlich, Conny ist dort drüben! Und Quinn ist dort auch irgendwo!“, sagte Bailey. „Bla, bla, bla!“, machte Eliza und streckte Bailey die Zunge raus. „Du hast nur Angst, dass ich besser bin, als du!“

„Das glaubst auch nur du!“, sagte Bailey. „Das ist echt unter meinem Niveau…“ Bailey wollte sich umdrehen und gehen, doch Eliza riss ihr einen ihrer Pfeile aus der Hand und zielte. „Eliza, nein!“, sagte Bailey und wollte ihr den Pfeil wegnehmen, doch sie fasste zu spät danach. Eliza hatte die Sehne schon losgelassen und der Pfeil sirrte auf das Seil zu.

In dem Moment tauchte Quinn auf. Eliza wollte ihr eine Warnung zu schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Quinn sah den Pfeil nicht kommen und konnte sich nicht in Sicherheit bringen. Kurz bevor sie von dem Pfeil getroffen wurde, packte Liam sie, der die Gefahr erkannt hatte und schmiss sie zu Boden. Wie durch ein Wunder wurde keiner der beiden verletzt.

Liam sprang wütend auf und packte den Pfeil, der sich kurz neben dem Seil in den Baum gebohrt hatte. „Bailey!“, schrie er.

„Ich war das nicht!“, schrie Bailey und schmiss ihren Bogen weg. Liam rannte auf sie zu und packte sie am Kragen. „Lüg nicht! Das sind Jordans Pfeile! Ich hab doch selbst gesehen, wie er sie dir gegeben hat!“

Conny und Quinn standen jetzt um sie herum und auch Scarlet, Jordan und Mikey waren auf sie aufmerksam geworden. „Sind das deine Pfeile, Jordan, ja, oder nein?“, wollte Liam wissen. „Ja, das sind meine!“, sagte Jordan und nahm Liam den Pfeil aus der Hand. „Bailey, ist das wahr?“, fragte Scarlet. „Nein! Das stimmt nicht! Ich war es nicht!“, verteidigte Bailey sich.

„Wer hätte denn sonst auf Quinn schießen sollen?“, fragte Mikey. „Ich hab nicht auf sie geschossen!“, sagte Bailey wütend.

„Willst du jetzt etwa behaupten, Eliza wäre es gewesen?“, fragte Jordan. „Ich erkenne doch meine Pfeile wieder!“ „Aber sie war es!“, schrie Bailey. „Das war Elizas Schuld! Sie hat geschossen, nicht ich!“

„Stimmt nicht!“, sagte Eliza schnell. Sie traute sich nicht, die Wahrheit zu sagen. „Wieso sollte ich auf Quinn schießen?“, fragte Eliza und sah zu Bailey. „Du hättest uns beide töten können!“, fuhr Liam Bailey zornig an.

„Aber ich war es doch nicht!“, schrie Bailey unter Tränen. „Bailey, hör auf! Gib es wenigstens zu! Du weißt doch, wie gefährlich es ist, zu schießen, wenn jemand vor dir steht!“, sagte Scarlet.

„Aber…“ Bailey wollte widersprechen, doch plötzlich stand Kira hinter ihr. „Was ist hier los?“, fragte sie. „Ist nicht so wichtig!“, sagte Scarlet. „Wieso bist du überhaupt auf? Du solltest dich hinlegen!“ „Ist schon okay“, sagte Kira und kam um Bailey herum. „Was ist passiert?“ Liam sah zu Kira. „Bailey hat auf Quinn geschossen… Aus versehen. Und ich hab Quinn gerettet.“ Er wurde wieder wütend. „Sie hätte uns töten können!“ „Stimmt das?“, fragte Kira. „Natürlich stimmt es!“, sagte Eliza. „Ich hab’s doch genau gesehen!“ Eliza starrte Bailey an, Kira Mikey, Jordan, Liam, Conny, Quinn und Scarlet taten dasselbe. „Stimmt das, Bailey?“, fragte Kira noch mal. Sie schien nicht richtig zu glauben, was Eliza erzählte. „Das ist doch egal! Es glaubt mir doch sowieso niemand!“, schrie Bailey, hob ihren Bogen auf, und lief dann weg.

„Bailey, komm sofort zurück!“, brüllte Scarlet sie an, sodass Bailey tatsächlich stehen blieb. „Lass den Bogen hier! Du darfst zwei Wochen nicht mehr trainieren, und den nächsten Monat nur noch unter Aufsicht schießen!“, sagte Scarlet und Kira nickte. „Das ist so gemein! Ich war es nicht!“, schrie Bailey sie wieder an. „Wer war es dann?“, wollte Kira wieder wissen.

Eliza sah zu ihrem Bruder, doch der fixierte Bailey. Bailey ließ den Kopf hängen, dann kickte sie den Bogen weg. Jordan holte seine Waffe wieder und sortierte seine Pfeile.

Eliza ging zu Quinn und Conny, um ihnen beim Essen machen zu helfen, hörte jedoch noch, wie Kira zu Scarlet sagte: „Irgendetwas sagt mir, dass sie die Wahrheit sagt!“

Eliza senkte den Blick und hoffte nur, dass niemand je hinter die Wahrheit kommen würde, und alle das ganze schnell vergessen würden.

 

 

 

 

 

„Wie meinst du das?“, fragte Scarlet. Ich zuckte mit den Schultern, obwohl es weh tat. Meine Rippen waren immer noch verletzt, ebenso wie mein Schulterblatt, doch ich konnte Lia überreden, mich aufstehen zu lassen. Mein Arm war in einen Verband eingewickelt und Lia und Wendy hatten ihn mit einigen Stöcken stabilisiert. Ich konnte nur humpeln, da die Haut über meinem verletzten Knie sich noch immer spannte.

Lia meinte, das würde schon wieder in Ordnung kommen. Im Moment machten mir meine Rippen die meisten Probleme, denn wenn ich lief oder tief einatmete taten sie noch immer stark weh, also lehnte ich mich jetzt an einen Baum – jedenfalls so, dass ich mein Schulterblatt nicht zu sehr belasten musste, denn das tat auch immer wieder weh.

„Na ja, ich kenne dich und Bailey jetzt schon lange, und ich weiß, wie ihr ausseht, wenn ihr lügt!“, sagte ich und grinste. „Ihr bekommt beide rote Ohren und eure Augen werden ganz klein. Und bei Bailey war das nicht der Fall.“ „Und deswegen glaubst du, sie würde die Wahrheit sagen?“, fragte Scarlet mich. Ich zuckte wieder mit den Schultern, bereute es jedoch sofort. „Im Zweifel für den Angeklagten!“, meinte ich nur. „Sie hatte Jordans Pfeile, und Quinn wurde fast von einem von Jordans Pfeilen verletzt. Du weißt doch, wie ungeschickt Bailey ist, und wie unaufmerksam! Mir gefällt es ja auch nicht, aber findest du nicht, dass alle Beweise gegen sie sprechen?“, fragte Scarlet.

„Eliza jedenfalls hat ziemlich eifrig abgestritten, daran Schuld zu sein. Etwas zu eifrig, wenn du mich fragst!“, antwortete ich und zwinkerte Scarlet zu. Sie wusste, was ich meinte.

„Ich glaub das nicht…“, sagte Scarlet und kratzte sich nachdenklich am Nacken. „Wirklich nicht!“ „Ich jedenfalls werde Eliza mal auf den Zahn fühlen!“, sagte ich und ging weg. „Vielleicht kümmerst du dich in der Zwischenzeit mal so schön um deine Schwester, wie du dich um mich gekümmert hast, als ich verletzt war!“, sagte ich und lächelte. „Das hat sie nämlich verdient!“ Plötzlich packte mich Scarlet unerwartet von hinten, wobei ich vor Schmerz aufschrie, weil sie mein gebrochenes Schulterblatt streifte. Grob stieß sie mich gegen einen Baum. Der Schmerz zuckte mir durch den ganzen Körper und ich schrak zusammen, als ich sah, wie wütend Scarlet war. Was war los?

„Du hast gesagt, du kannst dich an nichts erinnern!“, sagte Scarlet zornig und drückte mich mit einer Hand gegen den Baum, sodass ich mich nicht wegbewegen konnte. Ja, das hatte ich. Lia hatte daraufhin gesagt, die Erinnerung würde zurückkommen, wenn ich bereit dafür wäre. Das wäre ein Schutzmechanismus des Körpers, da ich so schlimme Schmerzen gehabt hatte.

Ich grinste Scarlet frech an. „Ich hab gelogen.“ Scarlet packte mich an den Schultern und stieß mich noch mal unsanft gegen den Baum, wobei ich wieder vor Schmerz aufschrie. „Vielleicht wollte ich ja Mitleid“, sagte ich und sah ihr in die Augen. „Du bekommst schon genug Mitleid!“, meinte Scarlet kalt. „Ja, aber nicht von dir. Von den Anderen, aber von denen will ich gar kein Mitleid“, sagte ich. „Aber du kümmerst dich nur um mich, wenn es mir schlecht geht. Bei dir und mir ist es wie bei Eliza und Mikey. Nur, dass ich die Ältere bin. Und noch dazu die Vernünftigere“, provozierte ich.

Scarlet hob die Faust, als wollte sie mir ins Gesicht schlagen. „Mach doch!“, sagte ich. Sollte sie halt einen Sandsack aus mir machen. Das war mir egal. Aber das hatte ich ihr sagen wollen. Und ich hatte Recht. Scarlet war immer da gewesen, wenn es mir schlecht ging, aber ich wollte, dass sie auch mal da war, wenn es mir gut ging. Dass wir mal etwas gemeinsam unternehmen könnten. Normalerweise war es genau andersherum: Man wünschte sich, dass die Freunde für einen da waren, wenn es einem schlecht ging. Nun, ich wünschte mir, dass ich Scarlet helfen konnte, dass sie mehr Vertrauen zu mir hatte, und dass wir zusammen so viel Spaß haben könnten, wie ich es auch mit den Anderen hatte.

Ich wollte, dass wir wie Schwestern waren.

Scarlet stand immer noch mit erhobener Faust da, doch dann ließ sie sie sinken, und stupste mir stattdessen mit dem Finger auf die Nase. Dann ließ sie mich los und wich zurück. Ich drehte mich um und ging davon, ohne auf sie zu achten. Schließlich blieb ich stehen. „Ich hab gelogen!“, sagte ich. „Das hast du mir schon gesagt!“, knurrte Scarlet.

„Nein, ich meine… Ich konnte mich wirklich nicht mehr daran erinnern. Ich wollte nur wissen, was du machst, wenn du denkst, ich hätte dich angelogen!“, sagte ich und lachte, obwohl mir meine Knochen immer noch wehtaten. „Und hab ich gemacht, was du gedacht hast?“, fragte Scarlet. „Nein“, antwortete ich, dann drehte ich mich zu ihr um. „Du hast sogar noch was Besseres gemacht!“ Sie hatte mir gezeigt, wie sauer sie war, wenn sie dachte, ich wäre nicht ehrlich zu ihr. Sie hatte mir gezeigt, dass ich ihr wichtig war. Doch das sagte ich nicht.

Ich drehte mich um und ließ sie allein stehen. Dann machte ich mich auf die Suche nach Eliza.

 

 

 

 

 

Bailey lag auf ihrer Decke und weinte. Sie konnte einfach nicht fassen, dass Eliza so gemein gelogen hatte. Sie hatte immer gedacht, sie wären Freunde! Doch was sie noch mehr ärgerte, war, dass niemand ihr geglaubt hatte. Nicht einmal Scarlet, ihre eigene Schwester. Okay, sie war in der Vergangenheit etwas unvorsichtig gewesen, doch sie hatte das immer eingesehen, und nicht einmal hatte sie die andere angelogen. Sie hatten keinen Grund, ihr nicht zu vertrauen! Wieso glaubten sie Eliza, und nicht ihr? „Das ist doch so gemein!“, schluchzte Bailey und vergrub den Kopf unter der Decke.

„Wieso sind die nur so? Warum glauben sie mir nicht? Was hab ich denn falsch gemacht?“, fragte sie sich. „Ich hab doch sogar noch versucht, Eliza aufzuhalten!“ Bailey schluchzte wieder laut, doch keiner kümmerte sich um sie.

Niemand glaubte ihr. Niemand interessierte sich für sie. Niemand war für sie da. „Das ist so gemein!“, schluchzte sie wieder. Kira hatte ihr geglaubt. Jedenfalls hatte es einen Augenblick so ausgesehen. Kira hatte ihr immer geglaubt… Kira hatte immer versucht, allen zu helfen. Sie war immer für sie alle da. Bailey mochte Kira.

Aber das half ihr jetzt auch nicht viel. Selbst, wenn Kira ihr einen kurzen Moment geglaubt hatte… Jetzt war es sowieso zu spät. Jetzt würde ihr keiner mehr glauben. Vielleicht sollte sie mit Kira reden und ihr die Wahrheit erzählen, aber was würde das nützen? Eliza erzählte eine Geschichte, und sie eine andere. Keiner würde ihr glauben. Niemand. Nicht einmal ihre eigene Schwester hatte ihr geglaubt. Warum sollte es dann jemand anderes tun?

Wieder vergrub Bailey das Gesicht in der Decke und schluchzte weiter. „Ach, ist mir doch egal, was die denken!“, redete sie sich ein. „Sollen die doch von mir denken, was sie wollen! Ist mir egal!“ Dann kuschelte sie sich unter die Decke und schloss die Augen.

 

 

 

 

 

Eliza saß auf einem Baumstamm außerhalb des Lagers. Plötzlich stand Kira hinter ihr. „Hey, Eliza“, sagte sie und setzte sich neben sie. „Alles okay?“ „Jep…“, sagte Eliza. Kira legte ihr den Arm um die Schulter und sah in den Wald. „Willst du mir nicht erzählen, was wirklich passiert ist?“, fragte Kira. Eliza schluckte, dann antwortete sie: „Ich habe nichts anderes zu sagen… Die anderen haben schon alles gesagt.“

Kira nickte. „Wie war den Tag?“, fragte sie Eliza dann. „Ganz gut. Bailey und ich haben um die Wette geschossen“, erzählte Eliza. „Geht es Bailey wieder besser?“, fragte Kira Eliza. „Ja, ich glaub schon.“

„Sie wird sicher sauer sein, jetzt, wo sie nicht trainieren darf!“, meinte Kira und sah Eliza seltsam an. Eliza wich ihrem Blick aus. Sie war Schuld. Bailey wollte sie doch sogar noch davon abhalten! Wieso traute sie sich nicht, es zuzugeben? Es war doch ein Unfall gewesen.

Eliza sah in den Winterwald, der langsam immer dunkler wurde. Der Abend kam. Elizas Bauch knurrte. „Ach, egal, wollen wir was essen gehen?“, fragte Kira Eliza und stand auf. Eliza ließ den Kopf hängen, dann rutschte sie von dem Baumstamm runter. Kira hielt ihr die Hand hin, und Eliza nahm sie, doch als Kira loslaufen wollte, blieb Eliza stehen.

„Kira… Ich war es. Ich hab geschossen. Es war nicht Bailey. Ich wollte angeben. Mit deinem Bogen…“, sagte Eliza leise und senkte den Blick wieder. „Aha“, antwortete Kira. „Und warum sagst du das erst jetzt?“

„Ich weiß nicht…“, antwortete Eliza. „Erzählst du es den anderen?“ „Das muss ich wohl!“, meinte Kira. „Wir wollen Bailey ja nicht bestrafen, obwohl sie gar nichts gemacht hat, oder?“

„Ja…“, sagte Eliza. Kira kniete sich vor sie auf den Boden. „Hör mal, Eliza“, begann sie. „Du darfst nie zulassen, dass ein anderer für das bestraft wird, was du gemacht hast, ja? Das ist nicht fair. Und wir sind doch hier, weil wir wollen, dass es endlich fair wird, oder? Weil wir nicht unfairer Weise immer auf diese Missionen geschickt werden wollen. Nicht wahr?“ Eliza nickte. „Komm jetzt.“ Kira zog Eliza in ihre Arme und umarmte sie einmal kurz. „Wir gehen zurück und sagen den anderen, was wirklich passiert ist!“

„Kannst du es ihnen sagen?“, fragte Eliza. Kira schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid, da hast du dich selbst reingeritten. Da musst du auch selbst wieder rauskommen! Aber wenn du willst, geh ich mit dir zu Bailey, wenn du dich entschuldigst.“ „Muss ich mich bei Bailey persönlich entschuldigen?“, wollte Eliza wissen. „Auf jeden Fall. Was du getan hast, war nicht richtig. Und Bailey musste darunter leiden.“ „Darunter, dass ich zu feige war…“, sagte Eliza. „Ich mach es nie wieder! Versprochen!“, sagte Eliza.

Kira lächelte sie an. „Du bist richtig erwachsen geworden!“

 

 

ENDE DES Sechsten BANDES

 

 

 

 

 

 

 

 

Mission completed 7

 

 

 

 

 

 

 

Ich sah auf. Die Erde fühlte sich kühl und feucht an unter meinen Fingerspitzen. Der Hirsch war hier gewesen. Vor nicht allzu langer Zeit. Ich stand auf und folgte den Spuren.

In zwei Wochen war Tims achtzehnter Geburtstag, und ich hatte beschlossen, ihm ein Festmahl zu servieren. Deswegen war ich jetzt schon auf der Jagd. Wenn ich diesen Hirschen nur schießen würde… Bald waren wieder Händler in der Gegend. Wir tauschten seit letztem Winter viel öfter mit ihnen. Sie stellten keine Fragen und machten uns gute Angebote. Ich würde für diesen Hirsch einen tollen Preis gezahlt bekommen. Was ich davon kaufen könnte! Ich könnte davon frische Kartoffeln kaufen – das Kartoffelfeld, von dem wir das letzte Jahr heimlich gestohlen hatten, war brachgelegt worden – und ich könnte Feldsalat dazu machen, richtig zarten, jungen Feldsalat. Salat war eine Seltenheit.

Es gab hier in der Umgebung nur dieses eine Kartoffelfeld, und das war beinahe einen Tagesmarsch entfernt. Letzten Herbst waren Connor, Tim und ich zwar in einem Dorf gewesen, doch das war zu gefährlich. Sie suchten uns, wir waren jetzt überall bekannt. Jeder kannte mich und Lia, und viele kannten auch die Gesichter von Tim, Scarlet, Mikey, Henry und Chloe. Und viele andere waren auch schon erkannt worden. Deswegen trieben wir nur mit den fahrenden Händlern Handel: Sie hielten sich nie lange an einem Ort auf und kannten uns deshalb nicht.

Ich lief weiter und sprang über einen Baumstamm. Es war schön hier, doch ich musste bald wieder zurück. Um diese Jahreszeit wurde es nachts noch sehr kalt und ich hatte mich weit vom Lager entfernt. Hier in der Wildnis aus dem nichts ein Feuer anzuzünden war nicht nur gefährlich, da Jasmyns Bande hier irgendwo herumstreifte; Ich besaß außerdem auch keine Streichhölzer und wäre vermutlich gar nicht in der Lage, ein Feuer zu entzünden.

Ich war nicht der geborene Feuermacher, das war eher meine Schwester Scarlet. Ich dachte an sie und musste grinsen. Sie war nicht wirklich meine Schwester, doch wir sahen uns ähnlich und hatten das Gefühl, wir wären Schwestern. Ich nannte alle Kinder aus unserer Bande meine Geschwister. Wir waren eine Familie. Das war einfach so. Niemand würde daran je etwas ändern. Scarlet war meine Schwester, genauso, wie alle anderen Mädchen unserer Bande, Tim war mein Bruder, genauso, wie alle anderen Jungen unserer Bande. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen. Ich liebte alle auf dieselbe Art und Weise und konnte mir nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern würde. Wozu auch? Ich kam ohne festen Freund zurecht. Ich hatte meine Familie und brauchte keine Andere.

Meinen Bogen in der linken Hand, einen Köcher mit fünfzehn Pfeilen auf dem Rücken, lief ich locker durch den Wald. Meine Sinne waren allesamt gespannt. Aufmerksam betrachtete ich meine Umwelt. Die Bäume trugen junge, hellgrüne Blätter. Ich lief an einem Baum vorbei und riss einen jungen Zweig ab. Es war eine Buche. Ich liebte Buchen. Es waren meine Lieblingsbäume. Ich liebte ihren Duft, ihre hellen Blätter, den Geruch, den die Blätter in sich trugen… Ich zupfte ein Blatt von dem Zweig und hielt es mir unter die Nase, dann sog ich genüsslich den frischen Duft in mich auf. Ich zerfetzte das Blatt und rieb meine Hände mit den Überresten ein. Ich könnte in diesen Blättern baden.

Dann kaute ich auf dem Zweig herum. Ich wusste nicht, ob er essbar war, doch ich konnte diesen wunderbaren Bäumen gar nicht nahe genug sein, und bisher hatte es mir nie geschadet, auf den Zweigen zu kauen.

Ich folgte einem kleinen Trampelpfad, den wohl auf der Hirsch eingeschlagen hatte, denn überall waren seine Hufspuren. Wie ich diesen Wald liebte. Er war mein Zuhause und ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein würde, nicht mehr hier zu leben. Ich würde hier nie wieder weggehen. Ich begann zu lachen, als ich so dachte. Ich war so glücklich. Völlig in meinem Element rannte ich einen Hang hinab und sprang den Rest. Ein kleiner Bach querte meinen Weg und ich rannte hindurch, ohne mir Sorgen um meine Füße zu machen, die klitschnass wurden.

Als ich auf der nächsten Anhöhe war, hörte ich in der Ferne Geraschel und sprintete los. Das konnte nur mein Hirsch sein. Ich würde ihn bald eingeholt haben. Als ich endlich das hellbraune Fell des Tieres sah, legte ich einen Pfeil in die Sehne ein und zielte.

Kurz darauf flatterte über mir alarmiert ein Vogel hoch und stieß einen schrillen Warnruf aus. Ich folgte dem Vogel einen Moment mit dem Blick, sah den Hirsch, der mich witterte und sein heil in der Flucht suchte, und riss den Bogen nach oben, um wenigstens den Vogel zu treffen, damit ich nicht mit völlig leeren Händen zurückkommen würde. Mein Pfeil verschwand in den Baumkronen, traf jedoch den Vogel nicht.

Ich wartete einen Moment und hoffte, der Pfeil würde herunterfallen, doch mein Wunsch blieb unerhört. Ich sah den Pfeil, der sich in den Ästen verfangen hatte und fluchte. Jeder Pfeil war wichtig. Die Pfeile, die die Händler anboten, waren verdammt teuer. Also hatte ich keine andere Wahl, als Bogen und Köcher abzulegen und in die Wipfel zu meinem Pfeil zu klettern. Der Baum war dünn und jung, dafür aber umso höher. Die jungen Äste waren dicht am Stamm noch sehr stark, weiter oben wurde es jedoch gefährlicher. Ich dachte an meinen letzten Kletterausflug, bei dem ich gestürzt und beinahe gestorben wäre, doch ich verdrängte den Gedanken daran und kletterte.

Schließlich erreichte ich meinen Pfeil und zog ihn aus den Zweigen. Geschafft. Ich kletterte wieder zurück auf den Boden und beschloss, die Jagd für heute aufzugeben. Es hatte keinen Sinn. Ich würde Tim wohl etwas anderes schenken müssen.

Ich machte mich also auf den Rückweg, während ich mir eine neue Geschenkidee für meinen besten Freund überlegte.

Als ich an einen Bach kam, schaute ich mich um. Hier waren wieder Spuren. Es musste ein Hirsch gewesen sein, oder ein Reh. Mein Jagdinstinkt trieb mich weiter, immer den Spuren nach, doch mein Verstand sagte mir, dass ich sowieso schon sehr spät dran war. Lia wollte, dass ich noch heute zurück war, das hatte sie mir gesagt. Ich würde es nicht schaffen, wenn ich jetzt den Hirsch jagen ginge. Also wandte ich mich ab und machte mich auf den Heimweg.

 

 

 

 

 

Mikey hob den Kopf, als Eliza seinen Namen rief. „Lia hat gesagt, wir sollen die Netze einholen!“, teilte sie ihm mit. Mikey legte seinen Stock beiseite, an dem er geschnitzt hatte und stand auf.

Dann folgte er Eliza, Bryan, Billie und Bailey bis zu ihrem Fluss. Dort schwammen Bryan und Billie auf die andere Seite und zogen die Netze zu ihnen herüber. Schon von Weitem konnte Mikey sehen, wie die gefangenen Fische im Netz herum sprangen.

Als sie fertig waren, waren sie alle durchnässt. Sie brachten die Fische zurück und dort machten sich Josy, Conny und Quinn sofort ans Mittagessen. Mikey saß mit Eliza daneben und sah zu. Josy warf den beiden immer wieder böse Blicke zu. „Was denn?“, fragte Eliza schließlich. „Wollt ihr nicht helfen?“, fragte Josy. Mikey zuckte mit den Schultern und schüttelte dann grinsend den Kopf. Josy warf ihm dafür einen Fisch an den Kopf. „Mit dem Essen spielt man nicht!“, quietschte Quinn empört.

Mikey fing den Fisch und schmiss ihn mit voller Wucht zurück. Josy bekam ihn gegen den Hinterkopf, da sie sich nichtsahnend wieder ihrer Pilzsuppe gewidmet hatte, und starrte Mikey jetzt voller Hass an. „Wenn Blicke töten könnten…!“, lachte Conny, als sie Josys Blick sah. „Und ich könnte mich nicht mal wehren!“, sagte Mikey. „Wenn ich Josy was tun würde, würde ich es nicht mehr lang machen! Da würde Lia mich sofort in meine Bestandteile zerlegen!“ Jetzt musste auch Josy wieder grinsen.

„Vielleicht beeilt ihr euch mit dem Essen!“, schrie Henry ihnen zu. „Ich sterbe nämlich vor Hunger!“ „Viel Spaß!“, schrie Mikey zurück, dann half er Quinn jedoch beim Ausnehmen der Fische.

Irgendwann wurde er von hinten angestupst. „Die Fische könnt ihr doch jetzt auch allein braten, oder?“, fragte Thomas. „Ich brauche Mike nämlich mal!“

Mikey stand auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und folgte Thomas. Er führte Mikey aus dem Lager heraus, dann sahen sie Kyle, Jordan, Billie, Bryan, Connor und Oliver. „Was macht ihr hier, Jungs?“, fragte Mikey. Dann warf er einen Seitenblick auf Billie. „Und Mädels…“ „Lia wollte, dass wir uns mal nach Jasmyn umschauen. Jetzt war ja fast den ganzen Winter über Funkstille zwischen uns. Nicht, dass die nach Hause gegangen sind, oder so…“, lachte Oliver.

Also machten sie sich auf den Weg zum Lager ihrer Feinde. Als sie ankamen, konnte Mikey drei Jungen machen, die scheinbar Wache hielten. „Wo sind die andern?“, fragte Oliver. „Keine Ahnung!“, flüsterte Connor. „Sollen wir um das Lager herum?“, fragte Billie. „Müssen wir wohl!“, antwortete Kyle. Gemeinsam schlichen die Kinder um das Lager herum.

„Da!“, flüsterte Kyle plötzlich. „Seht ihr das?“ „Was?“, wollte Mikey wissen. „Dort drüben!“, sagte Bryan. „Sie sind alle da. Was machen sie da?“ Mikey sah den Abhang hinab ins Lager ihrer Feinde. Dort standen sie in einem Kreis und schienen etwas zu bereden. „Was glaubt ihr, worüber die sprechen?“, wollte Billie wissen. „Das wüsste ich ja auch nur zu gern!“, sagte Oliver. „Soll einer von uns dort runter und sie belauschen?“, fragte Thomas. „Von mir aus gerne!“, lachte Connor. „Freiwillige vor!“ Keiner rührte sich. „Seht ihr. Das hat keinen Sinn!“, meinte Mikey und wandte sich wieder dem Geschehen im Tal zu. Er konnte Jasmyn ausmachen, die mit einem Messer spielte, während fünf Jungen auf sie einredeten. Sie schenkte ihnen nicht sonderlich viel Beachtung. Als die Jungen verstummten, zuckte sie mit den Schultern, schnipste mit den Fingern und Dylan und Ruby postierten sich neben ihr. Dann sagte sie etwas zu Ruby, die daraufhin in die Richtung auf den Wald zuging, in der sich das Versteck von Billie und den Jungen befand. „Was machen wir jetzt?“, fragte Kyle und sah Mikey an. „Rückzug!“, sagte Mikey lautlos, doch Ruby änderte ihre Richtung und wandte sich nach links. Dann sah sie sich kurz um, zog ein Messer und lief los.

„Kyle, Oliver, Connor, hinterher!“, sagte Mikey. „Die anderen bleiben hier!“ Sofort entfernten sich die drei Jungen und folgten dem Mädchen. Mikey sah wieder hinab ins Tal. Dort hatte sich inzwischen Dylan von der Gruppe entfernt. „Billie, Bryan, Thomas, verfolgen!“, befahl Mikey. Jetzt waren nur noch Jordan und er selbst übrig. Jetzt sah er, dass auch Jasmyn und Will sich von den anderen Kindern entfernten. Jeder der vier Kinder hatte das Lager in eine andere Richtung verlassen. „Will oder Jasmyn?“, fragte Mikey Jordan. „Will…“, meinte Jordan. „Okay!“, sagte Mikey. Dann sprangen die Jungen auf und liefen los.

Mikey musste aufpassen, dass er Jasmyn nicht aus den Augen verlor. Jasmyn ging lange einfach nur gerade aus durch den Wald, und als Mikey schon dachte, sie würde vielleicht nur einen Spaziergang machen, begann sie plötzlich, ihr Tempo zu erhöhen. „Okay, Jasmyn, wie du willst!“, dachte Mikey und erhöhte auch sein eigenes Tempo. Er würde ohne Probleme mit ihr Schritt halten können. Er konnte mit jedem Schritt halten.

 

 

 

 

 

 

Sie dachte nach. Schon so lange, doch sie kam zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Vorschläge waren gut, alle. Sie sah sich um und lauschte. Hinter ihr raschelte es, doch das war ihr egal. Wenn sie jemand verfolgte, würde er sich früher oder später zeigen. Wenn es ein Tier war, war es ihr egal. Sie war nicht auf der Jagd. Jedenfalls nicht auf der Jagd nach Tieren…

Hoffentlich würden Ruby, Will und Dylan etwas finden, was ihnen hilfreich sein könnte. „Jedes noch so kleine Detail kann hilfreich sein!“, dachte Jasmyn und hieb wütend gegen einen Baum. Irgendeine Verteidigungslücke, irgendeine noch so unwichtig erscheinende Stelle im Wald, die sie zu ihrem Vorteil ausbauen könnten... Was auch immer es war, sie würden es finden und diesen Kampf ein für alle Mal zu ihren Gunsten entscheiden. „Wir haben schon zu lange gekämpft!“, meinte Jasmyn zu sich selbst. „Viel zu lange. Es wird Zeit, diese Störenfriede endlich zu beseitigen.“ Sie hatte beschlossen, den Wald zwischen ihrem Lager und dem der Anderen gründlich zu untersuchen. Will und Dylan hatte sie in die andere Richtung geschickt, um den Wald nach Besonderheiten abzusuchen, die ihr vielleicht die ganze Zeit entgangen waren.

Jasmyn sah sich wieder um. Der Wald um sie herum war so, wie jeden Tag. Die Vögel sangen, die Blätter raschelten im Sommerwind. Über ihr zog ein Vogel seine Kreise. Was das wohl für einer war? Sie konnte nicht klar nachdenken. „Irgendetwas… Irgendetwas!“, dachte sie und schrie vor Wut. Wieder schlug sie gegen einen Baum, so heftig, dass sich ein Regen aus Tau und kleinen Zweigen auf sie herabsenkte. Sie schlug nach den kleinen Rindenstückchen, die durch die Luft wirbelten und ihr in die Augen flogen. Sie konnte nichts mehr sehen. Sie stolperte einen kleinen Schritt nach vorne, und in dem Moment hatte sie die Idee. „Das ist es!“, dachte sie und es durchfuhr sie wie ein Blitz. „Das ist es!“, schrie sie und schlug ein drittes Mal gegen den Baum. „Damit kriegen wir sie! Das wird klappen! Es muss klappen!“ Die Freude in ihr war so groß, dass sie zu Lachen und Jubeln begann. „Dieses Jahr wird sich alles entscheiden!“, dachte sie.

 

 

 

 

 

Mikey hatte Jasmyn die ganze Zeit nicht aus den Augen verloren und begann nun zu zittern. „Das hört sich nicht gut für uns an!“, murmelte er. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, sprintete aus den jungen Büschen, hinter denen er Zuflucht gesucht hatte und lief zurück. Er lief zurück zum Lager und hoffte, die andere würden so schlau sein, dasselbe zu tun, wenn sie etwas herausgefunden hatten. Als er am Lager angekommen war, überlegte er, was er mit diesen Informationen anfangen sollte. Er beschloss, auf jeden Fall Lia alles zu erzählen, was er gehört hatte.

Kurz nach ihm trafen Kyle, Oliver und Connor ein. „Was habt ihr herausgefunden?“, fragte Mikey. „Dieses Mädchen… Ruby…“, keuchte Kyle, der wohl gerannt war. „Sie war lange unterwegs, dann ist sie plötzlich durch einen Bach gelaufen. Wir natürlich hinterher, und dann ist sie losgerannt, immer am Bach entlang. Irgendwas hat sie gesucht, da sind wir uns alle sicher. Aber wir wissen nicht, was. Irgendwann haben wir sie verloren. Sie war so schnell…“ Kyle sah fast etwas verstört aus.

„Okay…“ Mikey nickte. „Kyle, du berichtest Lia alles, was ihr gesehen habt, und sagst ihr, dass Jasmyn irgendeinen üblen Plan hat! Connor, Oliver, ihr kommt mit mir. Wir gehen essen.“

Beim Essen quetschte Lia Mikey über alle möglichen Einzelheiten aus. „Keine Ahnung!“, rief Mikey. „Ich hab nicht in ihr Gehirn sehen können! Da ist leider ne Schädeldecke dazwischen gewesen!“

Mikey nagte an einem Truthahnbein. „Jedenfalls…“, meinte er und schluckte. „War sie sich ziemlich sicher, dass wir nicht überleben werden. Oder nur wenige von uns!“

Lia seufzte, dann war sie still. Mikey bedauerte zutiefst, nicht in ihren Kopf oder in den von Jasmyn schauen zu könne. „Den Rest meines Mittagessens für deine Gedanken!“, sagte Mikey und schob Lia einen halben Truthahnfuß, fünf Pilze, eine Hand voll Brombeeren und eine halbe Flasche Wasser zu. „Kannst sie auch so wissen!“, meinte Lia. „Ich hab mir grad gedacht, dass es schade ist, dass ich anderen Leuten nicht in den Kopf schauen kann.“ Mikey lachte. „So ein Zufall, das hab ich grad auch gedacht.“ Er schlang einen Pilz herunter, dann noch einen. „Und was hast du jetzt vor?“, fragte er Lia. „Lass mich nachdenken, okay?“, antwortete das Mädchen. Sie sah sich um. „Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber ich fühl mich hier eingesperrt. Ich kann hier nicht denken.“ Lia stand auf und ging. Mikey sah ihr verdutzt nach. „Okay!“, rief er. „Äh… Was auch immer du vorhast, ich hoffe, du hast eine gute Idee!“

Dann wandte er sich seinem Essen zu, um seinen Magen, der laut knurrte, zu befriedigen.

Als Lia zurückkam, lag Mikey neben Bailey, Conny, Kyle und Liam auf dem Boden und sah in den Himmel. „Wisst ihr…“, begann Kyle. „Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich für immer hierbleiben.“ „Du kannst es dir aussuchen!“, sagte Liam und drehte den Kopf. „Wir bleiben hier. Für immer!“

„Weißt du, Liam, immer ist eine sehr lange Zeit. Liam schnaubte. „Auf die kann ich verzichten. Sie haben uns allein gelassen, mich und meine Schwester. Mich und…“ Liam verstummte. „Du hast eine Schwester?“, fragte Bailey. „Ich… hatte. Ich will jetzt nicht darüber reden“, antwortete Liam und drehte den Kopf wieder weg.

Mikey starrte wieder in den Himmel. Die grünen Zweige über seinem Kopf wiegten sich im Sommerwind, in der Ferne schrie ein Adler. Dann traten ein paar Stiefel in sein Blickfeld. „Mike. Steh auf und komm mit!“, sagte Lia. „Ich brauche dich.“

Mikey hatte in all der Zeit hier so etwas wie eine Sonderstellung bekommen. Er war nicht so wie Kira, Scarlet, Tim, Chloe, Henry und Lia. Er hatte eigentlich nichts zu entscheiden. Weder Kira noch Lia hatten ihn zu ihrem Stellvertreter gewählt. Und trotzdem berieten sie ihre Pläne oft mit ihm, er hatte seine eigenen Leute, mit denen er auf die Jagd ging, die taten, was er ihnen sagte, und jedem seiner Befehle bedingungslos gehorchten.

Jetzt stand Mike auf und folgte Lia, die auch noch Kira, Scarlet, Tim, Chloe und Henry suchte. „Ich habe eine Aufgabe für jeden von euch!“, sagte Lia und sah sie alle der Reihe nach an. „So wie es aussieht plant Jasmyn einen entscheidenden Angriff auf uns, und so wie es aussieht, haben wir keine Ahnung, wann, wie oder was genau. Das bedeutet, dass wir das ändern müssen.“ Lia wandte sich an Mikey.

„Mike. Du hast genau drei Tage Zeit, um mit Thomas, Kyle, Oliver, Connor und Jordan herauszufinden, ob es in ihrer Verteidigung irgendwelche Lücken gibt. Was auch immer es ist, findet es heraus. Wann sie Wache halten, wann sie sich ablösen, wo sie uns nicht sehen können, wir sie aber ohne Probleme beobachten können. Denn wenn wir ihren Angriff nicht verhindern können, werden wir ihnen zuvorkommen.“

Mikey nickte. „Also, los. Am besten gehst du sofort!“, sagte Lia. Mikey lief los und suchte die Jungs, die Lia ihm zugeteilt hatte.

 

 

 

 

 

 

Lia folgte Mikey ein paar Augenblicke lang mit den Augen. Dann wandte sie sich zu Chloe. „Chloe, du nimmst Conny, Quinn, Bailey, Josy und Eliza und überarbeitest mit ihnen unsere Verteidigungsanlage. Bis Morgen früh soll hier nicht einmal eine Spitzmaus ungesehen hineinkommen.“ Chloe nickte auch und ging davon.

„Henry, du wist mit Jordan, Bryan, Billie, Liam und Joshua sämtliche Waffen überprüfen, aufschreiben, was wir haben, und mir das dann hier abliefern, damit ich mir einen genaueren Überblick machen kann.“ Auch Henry verschwand ohne zu zögern oder Rückfragen zu stellen.

„Scarlet, Tim. Ihr beide füllt mit Wendy alle Wasserflaschen, sagt mir, wie viel Vorräte wir noch haben und danach geht ihr trainieren. Alle, die nichts zu tun haben, sollen auch trainieren.“ Scarlet und Tim nickten gleichzeitig und gingen ab.

„Was ist mit mir?“, fragte Kira. „Du gehst zu Finn“, sagte Lia. Kira zog die Augenbrauen zusammen. „Und was soll ich bei ihm?“

Lia seufzte. Jetzt kam der schwierigste Teil ihres Plans. „Du holst ihn einfach nur her, okay?“

Kira nickte zögerlich, dann verschwand sie. Lia wusste, dass ein perfektes Zusammenleben nur dann möglich war, wenn sie sich alle gegenseitig vertrauten. Auch Finn, egal, was er getan hatte. Deswegen musste sie ihn in ihre Planung mit einbeziehen. Außerdem hatte er vielleicht Informationen, die wichtig für sie seien könnten.

Als Kira und Finn zurückkamen, saß Lia auf dem Boden. Henry hatte ihr bereits eine Liste mit den Waffen gebracht, die sie nun alle durchging. Sie hatten viele Waffen verloren – vor allem Pfeile, aber auch Speere und Messer – hatten jedoch bei Angriffen auf ihre Gegner oder durch cleveren Tauschhandel mit fahrenden Händlern ihre Verluste fast wieder wettmachen können.

„Schaut euch diese List an!“, befahl Lia Kira und Finn. „Jetzt wird es nämlich ernst. Wir werden jeden so gut bewaffnen, wie es nur irgendwie möglich ist. Dieses Mal lassen wir sie nicht entkommen!“, sagte Lia.

Kira überflog die Liste, dann dachte sie nach. „Also, wenn ich das Richtig sehe, haben wir fünf Bogen, und dazu dreiundsechzig Pfeile…“, begann Kira. „Das sieht ziemlich übel aus. Das wären nicht mal fünfzehn Pfeile pro Bogenschütze.“

Lia nickte. „Kannst du neue Pfeile machen?“, fragte sie Kira. Kira zog fast verzweifelt die Augenbrauen zusammen. „Keine guten. Sie würden nicht gerade fliegen und auch nicht weit, geschweige denn jemanden töten. Aber wie wäre es, wenn wir einen Bogen mit drei Pfeilen hier im Lager lassen? Conny soll damit trainieren, und kann sich dann im Notfall damit kurzzeitig verteidigen. Dann lassen wir sie, Quinn, Bailey, Josy und Eliza hier.“

„Gute Idee...“, meinte Lia. „Das würde dann also bedeuten, dass jeder der Bogenschützen fünfzehn Pfeile bekommt.“ „Immer noch nicht viele!“, meinte Kira. „Aber wir müssen die Bogenschützen ja nicht ausschließlich mit einem Bogen bewaffnen.“ „Genau darum geht es!“, sagte Lia und lächelte. „Nehmen wir mal an, du bekommst einen Bogen und fünfzehn Pfeile. Und nehmen wir mal an, du kommst nicht dazu, die Pfeile wieder einzusammeln. Dann hast du fünfzehn Schüsse, dann bist du wehrlos. Also bekommst du noch ein Schwert“, sagte Lia und strich einen Bogen, fünfzehn Pfeile und ein Schwert von der Liste. „Das hängen wir dir an den Gürtel, dann kannst du es ziehen und den Bogen einfach fallen lassen. Das ist auch kein Drama, wenn alles so läuft, wie wir wollen.“

Lia dachte weiter. „Nehmen wir mal an, Tim und Scarlet bekommen auch jeder ein Schwert, dann sind die Schwerter schon einmal weg.“ Lia strich auch die restlichen beiden Schwerter von der Liste.

So gingen sie die ganze Liste durch. Schließlich hatten sie für Lia fünf verschiedene Messer und Dolche aufgeschrieben, für Kira ein Schwert, einen Bogen und die fünfzehn Pfeile, noch dazu zwei lange Messer, mit denen sie notfalls beidseitig kämpfen konnte, sollte sie auch das Schwert verlieren, oder es nicht rechtzeitig ziehen können. Conny sollte einen Bogen und drei Pfeile nehmen, die restlichen Mädchen, die im Lager bleiben sollten, bekamen je ein bis zwei Messer.

„Das sieht ganz gut aus“, meinte Lia und sah sich das voll gekritzelte Stück Papier an. „Hoffentlich ist jeder zufrieden. Ich jedenfalls bin es!“, lachte sie.

„Dann verteilen wir jetzt die Waffen!“, sagte Lia. Kira sah Lia einen Moment lang fragend an. „Ist was?“, fragte Lia. Da erhob Finn die Stimme. „Was ist mit mir?“, fragte er. Lias Blick schoss zu ihm herüber. „Kämpfe ich mit?“, fragte Finn. „Ich hab keine Waffe.“ „Natürlich kämpft er mit!“, sagte Kira. „Das tut er doch, oder?“ Lia schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Waffen mehr.“ „Soll er etwa im Lager bleiben, und getötet werden?“, fragte Kira. „Er hat mir das Leben gerettet, und Josy sogar gleich zweimal! Willst du dich so bei ihm bedanken?“ Kira drehte sich zu Finn um. „Du bekommst natürlich mein Schwert!“, sagte sie. „Danke…“, antwortete Finn. „Aber ist das auch für dich okay, Lia?“, fragte er dann. Lia zuckte mit den Schultern. „Wenn Kira einverstanden ist, bin ich es auch.“

 

 

 

 

 

 

Ich verteilte die Waffen an die Kinder unserer Bande. Als Tim drankam, drückte ich ihm ein Schwert, einen Rundschild und ein kleines Messer in die Hand. „Hey Tim, in zwei Wochen ist dein achtzehnter Geburtstag!“, lachte ich. „Und weißt du, was dann ist? Dann haben wir unsere Wette gewonnen.“ Lia hatte letzten Frühling behauptet, Tim und ich würden uns noch vor seinem achtzehnten Geburtstag verlieben, doch dem war nicht so.

Tim lachte, nahm mir das Schwert aus der Hand und ging weiter. Ich gab Connor einen Bogen und die fünfzehn Pfeile, ein kleines Messer und außerdem drei Wurfsterne. Die hatten wir irgendwann bei einem Angriff gewonnen. Einer davon hatte sich Wendy ins Bein gebohrt, die glücklicherweise noch geistesgegenwärtig genug war, die beiden anderen, die neben ihr in der Erde steckten, aufzuheben und mitzunehmen. Connor war der einzige, der damit wirklich umgehen konnte.

Als alle Waffen verteilt waren, nahm ich meinen Bogen und ging in den Wald. Ich brauchte noch immer ein Geschenk für Tim. Als ich auf einen Vogel, der in den Zweigen einer großen Eiche saß, anlegte, tauchte ausgerechnet Tim auf. „Hey Kira!“, sagte Tim. Der Vogel flog just in diesem Moment auf und ich senkte den Bogen wieder. „Was machst du hier?“, fragte ich. „Ich dachte, du bist dabei, dich mit Scarlet oder Finn grün und blau zu schlagen.“

Tim zuckte mit den Schultern. „Ohne dich macht das keinen Spaß!“, sagte er. „Wollen wir ein bisschen quatschen?“, fragte er. „In der letzten Zeit warst du so viel unterwegs.“ Ich grinste ihn an, dann rannte ich weg. „Wenn du mich fängst, vielleicht!“, rief ich. Schon bald hatte Tim mich eingeholt, stürzte sich auf mich und wir kullerten zu zweit durchs Laub. Tim kitzelte mich, und ich versuchte mich aus seinem Klammergriff zu befreien. Als er endlich von mir abließ und von mir runterrollte, setzte ich mich auf seinen Bauch und starrte ihn an. Tim lächelte zurück. „Weißt du noch, was du vorhin gesagt hast?“, fragte er mich. „Wegen der Wette?“ Ich nickte. „Was ist damit?“ „Wieso ist dir das so wichtig? Diese Wette? Weil Lia sonst recht hätte, oder weil du keine Beziehung mit mir willst?“ Diese Frage traf mich absolut unvorbereitet.

„Oh Gott, Tim… Hast du darüber jetzt echt nachgedacht? Genau jetzt?“, fragte ich ihn verblüfft. Tim zuckte mit den Schultern. „Selbst wenn… So was beschäftigt mich eben. Und ich möchte es gerne wissen.“ Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und setzte mich auf. „Ich… Ich weiß nicht. Klar, es ist eine Wette, natürlich will ich sie gewinnen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht will, dass Lia Recht hat, auch wenn das natürlich ein positiver Nebeneffekt ist!“, lächelte ich. „Aber ich meine… Wir sind doch Freunde, oder? Nur Freunde. Du… Du bist wie mein Bruder. Wieso sollte da je etwas anderes zwischen uns sein? Klar, ich liebe dich, aber eben nur auf… Diese spezielle Art und Weise, wie ich auch die anderen liebe. Scarlet, Mikey, und Lia, und Finn. Josy, Eliza, und die anderen eben.“

„Also stellst du mich mit Josy und Finn auf eine Stufe?“, wollte Tim fast etwas beleidigt wissen. „Mein Gott, natürlich nicht! Josy ist für mich wie eine kleine Schwester und Finn… Wie ein normaler Kumpel, ein guter Freund. Vielleicht auch wie ein Bruder. Himmel noch mal, Tim, ich weiß es nicht! Aber du… du wirst für mich einfach immer der beste große Bruder sein, den es gibt. Vielleicht mag ich dich noch ein kleines bisschen mehr, als die anderen. Aber eben nicht so… nicht so kompliziert.“

„Nichts mit Liebe?“, fragte Tim. Ich schüttelte den Kopf. „Nicht mit dieser Liebe, die du jetzt meinst.“

Tim nickte. „Wie kommst du darauf?“, fragte ich. Tim zuckte wieder mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ist mir grad so durch den Kopf gegangen, als ich dich gesehen hab.“ „Wünschst du dir denn was anderes?“, fragte ich. Tim lachte. „Glaubst du das denn?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Wir sind Freunde. Und bleiben Freunde, für immer!“, sagte ich. „Bis in den Tod.“ Ich hob die Hand und Tim schlug ein. „Und noch länger!“ Dann hob Tim mich hoch und stand auf. „Willst du mal Kinder?“, fragte er mich unvermittelt. Ich dachte nach, dann schüttelte ich den Kopf. „Nein. Ich liebe es, für Josy, Eliza und die anderen wie eine große Schwester zu sein, und ich glaube, ich bekomme das alles ganz gut hin, aber… Ich glaube, ich wäre eine schlechte Mutter.“ Wieso fragte er mich das alles jetzt?

„Und du?“, überspielte ich meine Verwirrung.

„Vielleicht… ich weiß es noch nicht. Wenn ich einmal das richtige Mädchen kennen lerne.“

„Das wirst du!“, lachte ich. „Wer kann dir schon widerstehen?“ Tim kicherte albern, kam ganz nah an mich ran, schlang seine Arme von hinten um mich und pustete mir in den Nacken. „Na du!“, lachte er. Ich schubste ihn spielerisch von mir, dann lief ich los. „Fang mich!“, rief ich.

 

 

 

 

 

 

 

 

Eliza kletterte ganz oben auf den Ästen herum und rief Bailey zu: „Okay, jetzt das Seil!“ Bailey warf ihr von unten das Seil hoch und Eliza zurrte damit zwei Ästen fest, die auseinandergerutscht waren. „Das dürfte halten“, murmelte sie und rutschte wieder runter. „Bist du da oben fertig, Josy?“, fragte Conny und sah zu Josy, die einen halben Meter über ihren Köpfen auf einem Baumstamm stand, und einen Ast zu sich zog. „Fast!“, rief Josephine und streckte fordernd die Hand nach unten. Quinn reichte ihr ein Stück Seil und Josy band die Äste fest. „Jetzt!“, rief sie und sprang herunter. Chloe und Bailey arbeiteten jetzt an dem Graben, holten das alte Dornengestrüpp heraus und schickten Eliza, Quinn, Conny und Josy neue Sträucher zu holen.

Zu viert liefen die Mädchen zum Fluss, wo Conny Brombeersträucher schnitt und die dornigen Äste auf einen Haufen legte. Dann band Eliza die Bündel zusammen und Josy und Quinn brachten die Bündel zu Chloe und Bailey, die damit den Graben wieder füllten. Wendy hatte sich zu ihnen gesellt und half, den Graben leer zu räumen und die vertrockneten, verschrumpelten Dornenzweige zu entsorgen. Da sie sie nicht wegwerfen wollten, beschlossen sie, sie einfach oben auf die Mauer aus Stämmen und Ästen zu legen, damit niemand darüber klettern konnte. Schließlich kamen auch noch Finn, Kira und Tim, um ihnen zu helfen, und am Ende des Abends hatte jeder seine Waffen zugeteilt bekommen und half beim Wiederaufbau ihres Schutzwalls oder trainierte.

Als sie fertig waren, bekam Eliza mit, dass Lia Kira, Tim, Chloe, Henry und Scarlet zu sich rief. Sie fragte sich, was sie besprachen, doch sie wagte nicht, irgendjemanden danach zu fragen. „Sie werden es uns schon noch rechtzeitig sagen!“, dachte sie.

Also half sie Quinn und Conny beim Essen machen. Nach dem Essen spielten Eliza, Josy, Bailey und Quinn ein Spiel: Sie schnappten sich Stöcke, legten sie auf einen Haufen, und stellten sich darum herum auf. Auf ein Zeichen mussten sie alle loslaufen, sich einen Stock holen, oder wegrennen, und dann kämpften sie gegeneinander. „Wollen wir Teams machen?“, fragte Eliza und sah die andere an. „Wieso denn?“, fragte Quinn, die die schnellste und kräftigste der vier war. „Ist doch blöd, wenn wir in Teams kämpfen!“ „Finde ich gar nicht!“, mischte sich Bailey ein. „Ich und Eliza sind ein Team, und du und Josy!“, sagte sie. „Aber mit nur zwei Teams ist das langweilig!“, sagte Josy. „Dann fragen wir lieber noch ein paar andere, ob sie mitspielen!“ „Wer ist dafür?“, fragte Quinn. „Demiokaratische Abstimmung!“, sagte Josy. „Das heißt „demokratische Abstimmung“!“, korrigierte sie Bailey. „Ist doch egal, es ist eine Abstimmung!“

Da aber sowieso alle dafür waren, dass das Spiel zu viert langweilig war, liefen sie los, um sich noch ein paar Mitspieler zu besorgen. „Kira!“, rief Eliza und lief auf sie zu. „Kira, hast du Lust mit uns zu spielen?“ „Was spielt ihr denn?“, fragte Kira. Schnell erklärte Eliza die Spielregeln. „Okay von mir aus!“, dann besorgten sie noch ein paar Stöcke und sogar einen Bogen. Den Bogen hatte Kira selbst gemacht, für die Kleineren, damit sie ohne Gefahr trainieren konnten. Auch die Pfeile waren nicht spitz und die Sehne hatte kaum Zugkraft. Daher flogen die Pfeile auch nicht besonders schnell.

„Den können wir nehmen, dann müssen wir aber aufpassen!“, meinte Kira. Dann fragten sie weiter herum. Schließlich waren sie zwölf Leute: Liam, Kyle, Thomas, Kira, Finn, Tim, Eliza, Mikey, Josy, Bailey, Conny und Quinn.

„Also…“, begann Eliza und erklärte noch mal alle Spielregeln, „Wir haben hier die Stöcke…“ Eliza legte zehn Stöcke zu Seite. „Mit denen kann man kämpfen, das sind Schwerter. Dann sind hier noch drei Stöcke, das sind Speere. Und hier ist ein Bogen und wir haben auch noch zwei Schilde. Mit den Speeren darf man nur auf die Beine werfen, und wenn man getroffen ist, ist man verletzt. Dann muss man diese Pflanze hier suchen…“ Eliza hielt ein paar Blätter Spitzwegerich in die Höhe, „Und muss die zehn Sekunden lang auf die Wunde halten. Dann darf man weitermachen. Wenn man am Bein verletzt ist, kann man nicht mehr laufen, wenn man am Arm verletzt ist, kann man mit dem Arm nicht mehr kämpfen. Man darf auch Teams bilden. Wenn man am Rücken oder am Bauch getroffen wird, ist man tot. Jeder hat drei Leben. Wenn jemand keine Leben mehr hat, darf er weiterspielen, aber er kann nicht mehr der Gewinner werden. Wenn nur noch einer übrig ist, hat der gewonnen.“ Eliza sah in die Runde. „Am Anfang stehen wir alle um die Stöcke rum, und rennen dann gemeinsam los. Ach, und hier sind noch acht Wurfdolche!“ Sie hielt ein paar kleinere Stöcke hoch. „Mit denen kann man nicht töten, nur verletzen. Es gibt auch immer Tag und Nacht, und wenn jemand zwei Tage verletzt ist, und keine so komische Pflanze…“ „Das heißt Spitzwegerich!“, rief Liam rein. „Von mir aus…“, murmelte Eliza.

„Wenn er die nicht auf die Wunde gehalten hat, ist er auch tot. Okay?“, fragte sie. Alle nickten. „Wenn jemand tot ist, ist er nicht mehr in dem Team und muss sich ein Neues suchen. Außerdem muss er alle Waffen fallen lassen und bis zehn zählen, dann darf er weitermachen, wenn er noch Leben hat. Haben das alle verstanden?“, fragte Eliza. Wieder nickten alle. „Irgendjemand muss immer rufen, wenn es Tag und Nacht wird!“, meinte Bailey. „Ich kann das machen!“, bot Kira an. „Okay, dann ist Kira unser Tag-Nacht-Ansager!“, sagte Eliza. „Das Spielfeld ist begrenzt: Es geht von hier bis zum Lager, aber nicht ins Lager!“, sagte Eliza. „Nach links bis zum Fluss, und rechts bis zur Felswand. Nach dort hinten geht es nur bis zu dem umgefallenen Baumstamm. Wisst ihr, welchen ich meine?“, fragte Eliza. Alle nickten. „Dann können wir ja anfangen!“

Dann legten sie alle Waffen auf einen Haufen, Kira, Tim und Finn schritten zwölf Mal zwanzig Schritte ab, und sie stellten sich auf.

Eliza zählte. „Auf die Plätze…“ Sie stellte ihre Füße in Startposition. „Fertig…!“ Sie sah sich um und fing kurz Josys Blick auf. „Los!“ Eliza stieß sich vom Boden ab und lief los. Auch die anderen sprinteten alle auf die Waffen zu. Sie sah aus den Augenwinkeln, dass Liam, Tim, Mikey und Kyle schon bei den Waffen angekommen waren, jetzt erreichten Kira und Thomas die Stöcke. Eliza rannte schneller, und griff nach einem Stock. Sie riss ihn in die Höhe, gerade noch rechtzeitig, um Thomas’ Schlag abzuwehren. Dann packte sie sich noch einen Wurfdolch und rannte davon.

 

 

 

 

 

Ich sah, dass sich Eliza aus dem Staub machte und folgte ihr. Ich hatte mir natürlich als allererstes den Bogen und den Köcher mit den fünf Pfeilen geschnappt, außerdem noch einen Dolch, den ich mir in die Hosentasche gesteckt hatte.

Die anderen rannten in verschiedene Richtungen davon, doch ich sah, dass Mikey, Kyle, Liam und Quinn sich wohl zusammengetan hatten, denn sie liefen in dieselbe Richtung. Auch Tim und Finn schienen ein Team zu sein, bei den andere ließ sich noch nichts erkennen. „Gut, dass Finn jemanden als Partner hat!“, dachte ich, dann folgte ich Eliza weiter. Sie rannte ein paar Meter, blieb dann stehen und erhob den Stock, um mich abzuwehren. „Wie wär’s, wenn wir ein Team bilden?“, fragte ich sie. Sie ließ den Stock sinken, zuckte mit den Schultern und sagte: „Okay!“ Also gingen wir zu zweit weiter.

„Weißt du, wo die anderen hin sind?“, fragte Eliza mich. „Nein, aber so groß ist das Spielfeld ja nicht.“ Kaum hatte ich das gesagt, sprang Josy mit einem Aufschrei auf mich zu, blieb aber stehen, als sie meine Pfeile entdeckte. „Wollen wir ein Dreierteam sein?“, fragte Eliza und ich nickte. „Gute Idee! Ich hab gesehen, dass sich Mikey, Kyle, Liam und Quinn zusammengetan haben. Gegen die müssen wir ankommen können.“ Josy hatte einen Speer und einen Stock. „Also, was sagt ihr, auf wen gehen wir zuerst?“, fragte ich.

„Ich habe gesehen, dass Bailey ganz allein weggerannt ist!“, sagte Josy. „Wie wär’s, wenn wir auf sie gehen?“ „Fair ist das nicht, aber okay. Sie kann ja wegrennen, außerdem müssen wir sie erstmal finden!“, meinte Eliza.

Also machten wir uns auf die Suche nach Bailey. Währenddessen versuchten wir, uns einen Überblick über unsere „Feinde“ zu verschaffen. „Also, wir haben einmal diese Vierergruppe mit Mike, Quinn, Kyle und Liam“, sagte ich. „Hat einer von euch beiden gesehen, welche Waffen sie haben?“ „Nein, aber sicher eine Menge!“, sagte Eliza. „Thomas und Bailey scheinen Einzelgänger zu sein, genauso wie Conny. Tim und Finn sind zusammen weggerannt, und wir sind ein Dreierteam“, fügte ich hinzu. Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, als Kyle, Liam, Mikey und Quinn aus den Büschen sprangen. Sie versuchten uns zu umzingeln, doch ich packte meinen Bogen und schoss einen Pfeil auf Kyle ab, der ihn aber locker mit seinem Schild abwehrte. Ich zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher auf meinem Rücken, spannte den Bogen und sah mich um. Josy hatte ihren Speer an Mikey verloren und Eliza kämpfte mit Liam und Quinn. „Rückzug!“, rief ich und trieb die beiden Mädchen zurück. Ich sah, dass Eliza von Liams Stock getroffen wurde. „Du bist tot!“, rief Quinn. „Du musst alles fallen lassen!“ Gleichzeitig warf Josy einen Wurfdolch und „verletzte“ Mikey damit am Arm. Nun stand sie ganz ohne Waffe da. Quinn erwischte sie mit ihrem Stock am Bauch und auch Josy hatte jetzt ein Leben verloren. Ich packte schnell einen Stock, der auf dem Boden lag, und lief davon. Wie es aussah, war ich jetzt ohne Team. „Ich und Josy haben nur noch zwei Leben!“, rief Eliza hinter mir. Ich lief weiter und suchte Schutz hinter einem Baum. Plötzlich stand Tim wie aus dem Boden gewachsen vor mir. „Ich bin grad ohne Team, hast du Lust, dich mit mir zu verbünden?“, fragte er mich. Ich sah mir seine Waffen an: Er hatte einen Speer, einen Schild und einen Stock. „Was ist mit Finn?“, fragte ich. „Thomas hat uns angegriffen und ich hab jetzt nur noch zwei Leben. Also bin ich nicht mehr mit Finn in einem Team.“ „Okay, von mir aus!“, stimmte ich seinem Vorschlag zu. „Eliza, du und Josy habt nur noch zwei Leben!“, sagte ich. „Thomas auch!“ fügte Tim hinzu. „Finn hat ihn erwischt.“ „Wie es bei den anderen aussieht, weiß ich nicht.“ „Mikey war verletzt, jetzt aber wahrscheinlich nicht mehr!“, sagte ich. Tim und liefen weiter durch den Wald. Irgendwann schrie ich laut: „Es wird Nacht!“ Ich hoffte, dass das alle gehört hatten. Tim und ich setzten uns ins Laub und lehnten uns an einen Baum. „Weißt du Kira…“; begann Tim. „Ich muss immer noch daran denken… An deinen Wette mit Lia.“ „Wieso denn?“, fragte ich. Tim zuckte mit den Schultern. Ich legte meinen Bogen ab, den Köcher behielt ich jedoch auf. „Josy hat nur noch ein Leben!“, hallte Mikeys Stimme durch den Wald.

Ich nahm meinen Wurfdolch in die Hand und spielte damit herum. Da hörte ich ein Geräusch. „Psst!“, machte ich, dann stand ich leise auf, legte einen Pfeil in meinen Bogen und schielte in die Ferne Ich konnte Kyles dunkelbraune Jacke erkennen. Dann waren auch Quinn, Mikey und Liam hier irgendwo. „Es ist die Vierergruppe!“, sagte ich.

Ich rannte auf Kyle zu, der sofort aus seinem Versteck sprang, doch er konnte meinen Pfeil nicht mehr abwehren. Er traf ihn unterhalb der linken Schulter. Jetzt hatte auch er nur noch zwei Leben. Er ließ alle Waffen fallen, und begann auf zehn zu zählen. Ich schnappte mir meinen Pfeil wieder, außerdem einen Wurfdolch, den Kyle fallen gelassen hatte, den Rest ließ ich liegen. In der Zwischenzeit hatte sich auch der Rest der Gruppe gezeigt. Ich legte einen weiteren Pfeil ein und schoss ihn auf Quinn, die mir den Rücken zudrehte. Sie wurde getroffen, sah sich um und ließ dann die Waffe fallen. Tim kämpfte gegen Mikey und Liam. Er „verletzte“ Liam am Bein, dann am anderen und piekste ihn dann mit der Stockspitze in die Rippen. Auch Liam hatte jetzt nur noch zwei Leben und Mikey ergriff die Flucht.

„Also… Josy hat noch ein Leben, Eliza, du, Quinn, Kyle, Thomas und Liam noch zwei. Der Rest hat noch alle drei Leben!“, zählte ich auf. Tim nickte. „Du hast recht.“ Ich steckte die fünf Pfeile zurück in den Köcher und strich über den Bogen. Ich war stolz auf meine Arbeit, doch gefährlich war der Bogen nicht. Ich drückte dem Bogen einen Kuss auf den oberen Wurfarm, sah Tim an, der mich angrinste und ging dann weiter.

Im Laufe der nächsten zehn Minuten verloren Bailey und Eliza noch je ein Leben, Conny zwei. Ich war jetzt die einzige mit drei Leben. Der Rest hatte zwei, Eliza und Josy hatten noch eins.

Vom dauernden rennen, Tag-Nacht schreien und Leben zählen war ich müde geworden, also setzten Tim und ich uns auf den Boden unter ein paar Äste einer Buche. „Weißt du, du hast mir immer noch keine Antwort gegeben!“, sagte ich zu Tim. „Worauf?“, erkundigte sich Tim. „Auf meine Frage, warum dir noch immer diese Wette von mir und Lia hinterher hängt!“, sagte ich. Tim zuckte mit den Schultern und machte ein Gesicht, als hätte er sauren Quark im Mund, er zögerte. Dann geschah alles ganz schnell. Tim lehnte sich zu mir herüber, stützte sich an meiner Schulter ab und drückte seine Lippen auf meine. Er küsste mich!

Ich war zu überrascht, um ihn wegzustoßen, doch hätte ich in diesem Moment meine Sinne alle beisammen gehabt, hätte ich es getan. Als er mich losließ, war ich einen Moment zu verwirrt, etwas zu sagen. Wie konnte er nur?! Wieso hatte er das getan? Wieso hatte er mich geküsst? Er war doch mein bester Freund!!! „Tim…!“, keuchte ich entsetzt. Tim wandte den Kopf ab und senkte traurig den Kopf. „Du wolltest ja eine Antwort!“, sagte er. Also war es meine Schuld?! Nein! Auf keinen Fall! Er hatte mich doch geküsst!

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Ich konnte hier nicht sitzen bleiben, nicht neben ihm. Sein Knie berührte meins, die Berührung schien sich durch meine Hose in mein Bein zu brennen, ich wollte nur noch weg…

„Ich… Ich muss…“ Ich redete nicht fertig, sondern stand auf und rannte weg. Genau vor eins von Jasmyns Messern.

 

 

 

 

Finn hatte sich mit seinem Team – Josy und Mikey – an Tim und Kira herangeschlichen und hatte auch den Kuss mitbekommen. „Seltsam!“, hatte er gedacht. „Ich dachte, sie wären nur Freunde!“ Kira schien sehr überrascht, denn sie stand auf und rannte weg. Plötzlich sah er etwas fliegen und dachte, Mikey und Josy hätten einen Angriff gestartet, doch Josy saß fünf Meter von ihm entfernt hinter einem Busch und Mikey kauerte gegenüber von ihnen an einem Baumstamm. Das Messer traf Kira, die versuchte auszuweichen, am Kopf und sie fiel zu Boden. Finn sah auf und packte seinen Stock fester, darauf gefasst, sich gegen einen der anderen Kinder zu verteidigen, doch da stand Jasmyn, keine fünf Meter von Kira entfernt.

„Alle herkommen!“, brüllte Finn ohne zu zögern. „Schnell!“ Jasmyn packte inzwischen ein weiteres Messer und schleuderte es nach Mikey, der jetzt mit einem Stock bewaffnet auf Jasmyn zustürmte, und im letzten Moment in der Lage war, das Messer mit dem Stock abzuwehren.

Kurz darauf versammelten sich sechs weitere Kinder um Jasmyn, doch hinter Finn tauchten jetzt Liam, Conny, Quinn, Bailey und Eliza auf. Auch Thomas und Kyle ließen nicht lange auf sich warten. Tim war inzwischen aufgesprungen und stellte sich kampfbereit vor Kira hin, Kira zückte ihren Bogen, ihre rechte Hand schnellte an ihre Schulter und griff nach einen Pfeil, den sie auf Jasmyn schoss, die dem Geschoss jedoch ohne Mühe auswich. Selbst wenn der Pfeil getroffen hätte, hätte sie keinen erheblichen Schaden davongetragen. Jasmyn und ihre sechs Leute waren in der Unterzahl, doch sie besaßen Waffen – richtige Waffen, nicht nur Stöcke.

Finn schielte eine Sekunde zu Kira und wartete auf einen Befehl, doch Kira war damit beschäftigt, sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, das ihr übers ganze Gesicht lief. Das Messer hatte sie an der Stirn getroffen und einen tiefen Schnitt hinterlassen, aus dem dunkelrotes Blut quoll.

Also musste Finn die Initiative ergreifen. „Rückzug!“, ordnete er an, ohne Fragen zuzulassen. Er packte Josy am handgelenk und zog sie mit sich, immer wieder warf er kurze Blicke über seine Schulter, um zu sehen, ob die anderen mitkamen. Alle folgten ihm.

Er rannte weiter, bis Josy nur noch neben ihm herstolperte, schließlich das Gleichgewicht verlor, und zu Boden ging. „Finn!!!“, hörte er eine Stimme in der Ferne. Sie hatten die Anderen verloren. Finn setzte sich neben Josy und versuchte, wieder Luft zu bekommen. „FINN!!!“, schrie noch mal jemand seinen Namen, diesmal leiser. „Ich bin hier!“, schrie Finn so laut er konnte, doch niemand antwortete.

Josy keuchte, setzte sich auf und sah sich um. „Ich glaub, ich hab eine Fliege geschluckt!“, keuchte sie und hustete. „Wo sind die Anderen?“, fragte sie dann. „Ich weiß es nicht“, antwortete Finn. „Kira!!!“, schrie er. „KIRA!!!“ Keine Antwort. Der Wald um sie herum blieb stumm. „Glaubst du, du findest den Weg nach Hause, Finn?“, fragte Josy. „Sicher!“, sagte Finn und sah sich um. „Gut… Ich nämlich nicht!“, gestand Josy. „Ich mache mir nur Sorgen um die Anderen. Wenn sie uns suchen, und Jasmyn sie findet…“, sagte Finn. „Sie haben keine Waffen, nichts, um sich zu verteidigen.“

„Vielleicht müssen wir… einfach zurück, und hoffen… dass sie auch zurückgehen!“, keuchte Josy und stand wackelig auf. „Was anderes können wir nicht tun!“, meinte Finn. „Sie zu suchen, wäre zu gefährlich, jetzt, wo Jasmyn hier herumstrolcht, und wir keine Waffen haben. Notfalls müssen wir bewaffnet noch mal los, und sie suchen.“ Dann nahm Finn Josy an die Hand und sie machten sich auf den Rückweg.

 

 

 

 

 

Lia sah Josy und Finn zurückkommen. „Hey ihr zwei!“, sagte sie, strich Josy über das Haar und kniete sich vor ihr auf den Boden, um ihr in die Augen zu sehen. „Na, hattet ihr Spaß?“, fragte sie. „Josy nickte, schien jedoch erschöpft. „Wo ist der Rest?“, fragte Lia Finn. „Sind sie noch nicht zurück?“, fragte Finn verwirrt. „Nein…“, sagte Lia. „Was ist los? Ist etwas passiert?“ „Jasmyn hat unerwartet unser Spiel gestört und wir wurden getrennt. Sie haben keine Waffen! Was, wenn ihnen etwas passiert?“, fragte Finn. „Wir sollten sie suchen!“, sagte Lia. Dann rief sie Scarlet, Henry, Chloe, Joshua, Wendy und Jordan zu sich. „Wir müssen Kira und die Anderen suchen!“, sagte sie und Finn erklärte kurz, was sich zugetragen hatte.

Dann wandten sich die acht Kinder in verschiedene Richtungen. Josy sollte hier bleiben und warten, falls die anderen zurückkamen. Sie teilten sich auf, und Lia ging allein in den Frühlingswald.

Sie suchte die Umgebung nach irgendeinem Zeichen ab, das ihr verriet, welchen Weg ihre Freunde– oder ihre Feinde – genommen hatten, doch es gab keine. Sie musste aufs gerade Wohl drauflos laufen, und hoffen, dass das Glück ihr hold war.

Und das war es.

Plötzlich hörte sie eine Stimme. „Finn!“, schrie jemand. Das war Kira. „Kira! Wo bist du?!“, schrie Lia. Dann hörte sie schnell näherkommende Schritte. „Lia! Bist du das?“, rief jemand. Lia lief auf die Stimme zu, und schon bald standen Kira, Eliza, Mikey und Thomas vor ihr. „Da seid ihr ja!“, sagte Lia erleichtert. „Wo ist der Rest?“, wollte sie wissen. „ich weiß es nicht!“, sagte Kira und senkte den Kopf. „Wir haben uns verloren. Jasmyn…“ „ich weiß, was passiert ist!“, unterbrach Lia sie. „Wir müssen die anderen finden, bevor ihnen etwas passiert! Wer fehlt noch?“, fragte sie. „Bailey, Liam, Kyle, Conny, Quinn und Tim!“, sagte Eliza. „Okay, dann müssen wir uns schnell auf den Weg machen!“, sagte Lia. „Sollten wir nicht zurück?“, fragte Kira. „Vielleicht sind sie schon wieder im Lager!“ „Das glaube ich kaum!“, meinte Lia. „Dann hätte ich sie vermutlich gesehen.“ „Aber wir haben keine Waffen!“, sagte Thomas. „Nichts, um uns zu verteidigen!“

„Das ist egal! Wenn wir sie schnell genug finden, werden wir uns gar nicht verteidigen müssen!“, sagte Lia und unterband damit jeglichen Widerspruch.

„Jetzt kommt!“

 

 

 

 

 

Mikey wusste, dass es keinen Sinn hätte, Lia zu widersprechen. Kira schien das nicht so zu sehen. „Aber wir können doch nicht einfach…!“, begann sie. „Wir können, und wir werden!“, sagte Lia gefährlich leise. „Ich bin eure Anführerin, und was ich sage, ist Befehl. Das gilt. Darauf haben wir uns geeinigt. Jede Gruppe, jede Mannschaft, jede Armee oder wie auch immer du uns nennen willst, braucht jemanden, der sie anführt und ihnen sagt, was sie zu tun haben. Sonst würde die Welt im Chaos versinken!“, sagte Lia. „Deswegen wird gemacht, was ich sage, verstanden?“, hakte sie nach. „Lia, du kannst auf keinen Fall…“ „Ich will nichts mehr hören, verstanden?!“, schrie Lia sie an. „Während du hier diskutieren möchtest, sind die anderen womöglich in Lebensgefahr, also halt einen Mund und komm mit!“

Kira biss sich auf die Lippe, um nicht wieder einen Widerspruch zu erheben, und folgte Lia dann mit hängendem Kopf. „Habt ihr mitbekommen, in welche Richtung sie gerannt sind?“, fragte Lia. „Irgendwo dorthin!“, sagte Thomas und zeigte nach rechts. „Gut, dann sollten wir dort als erstes suchen!“

Sie gingen eine gute viertel Stunde, dann hörten sie plötzlich einen Schrei. Wie auf Kommando blieben sie alle wie angewurzelt stehen. „Das war Bailey!“, schrie Eliza und rannte los. „Eliza, bleib hier!“, schrie Mikey ihr hinterher und rannte ihr nach. „Eliza, Mikey, nein!“, schrie Kira. Mikey hörte Schritte, die ihnen folgen, doch er blieb nicht stehen. Dann sah er sie. Dort standen Bailey, Conny, Liam, Tim und Quinn, Tim stand vor ihnen, Liam direkt neben ihm. Beide hielten mit ihren Stöcken die fünf Angreifer von den Mädchen fern. Mikey konnte nicht erkennen, warum Bailey geschrien hatte, doch er rannte weiter. „Lasst sie in Ruhe!“, brüllte er und überholte Eliza, dann stellte er sich neben Tim und Liam, zückte sein Messer, das er immer dabei hatte und hielt es abwehrend vor sich. Er maß die fünf Feinde mit kurzen Blicken: Es waren Ruby, Dylan, Will und zwei Jungen, die er nicht kannte. Sie alle hatten je zwei Messer, Dylan hatte zusätzlich noch einen dicken Stock und ein Schwert, Will ein kurzes Schwert und zwei Dolche.

Wenige Sekunden später erreichten Thomas, Kira und Lia sie. Eliza blieb im Schutz einer großen Buche stehen und beobachtete das Geschehen. Ruby schleuderte ein Messer nach Tim, das er in letzter Sekunde mit dem Stock abwehren konnte. „War das Glück oder bis du so gut?“, fragte Kira ihn flüsternd und Tim zuckte mit den Schultern.

Dann griffen Dylan und Will an. Kira hob ihren Bogen und schoss einen Pfeil auf einen der Jungen, der ihn am Bein traf, jedoch keinen Schaden anrichtete. Der Junge lachte nur, dann zielte Kira noch mal. Mikey stach mit seinem Messer nach Wills Bein und tauchte unter seinem Schwert hindurch. Dabei schaffte er es, ihm einen Dolch abzunehmen, den er Thomas zuwarf. Lia hatte ein halbes Dutzend Messer an ihrem Gürtel. Eines in der linken, eines in der rechten Hand ging sie jetzt auf Dylan los. Kiras Pfeil traf den Jungen unterhalb des linken Auges, was doch schon etwas mehr Erfolg hatte, als der letzte Pfeil.

Einen Moment lang hörte man nur Waffengeklirr, das dumpfe Geräusch, als Dylans Stock auf Tims traf, und dann Elizas Ruf. „Kommt her, schnell!“, rief sie Conny, Quinn und Bailey zu. Die Mädchen flohen. „Lauft, Eliza! Lauft zurück!“, sagte Mikey und warf Ruby ein Messer nach, als sie den Mädchen folgen wollte.

Das Messer traf sie an der linken Wade, hinterließ jedoch nur einen Schnitt und blieb nicht stecken. Das Mädchen schrie auf, dann packte sie ihr Messer uns schleuderte es auf Mikey. Mikey wollte sich wegducken, doch dazu kam es nicht. Tim stolperte einen Schritt zurück, als er einen harten Schlag von Dylan gegen seine Rippen bekam. Er stolperte genau in die Flugbahn des Messers.

„Tim!“ Kiras Schrei hallte durch den Wald, als das Messer Tim an der rechten Seite traf und er aufschrie. Dylans nächster Schlag traf ihn am Kopf und Tim stürzte. Kira spannte ihren Bogen ein weiteres Mal und schoss einen Pfeil auf Dylans Hinterkopf ab, als dieser das Schwert hob, um Tim zu töten.

Dylan fuhr herum, als der Pfeil ihn traf, Kira hob den Bogen und schlug mit aller Kraft zu. Der Junge fiel vor ihr zu Boden, als wolle er nie wieder aufstehen, Kira machte einen Satz über ihn drüber, und lief auf Tim zu. „Tim!“

Lia hatte derweil Will in die Flucht geschlagen, und auch die beiden andere Jungen zogen sich jetzt zurück. Dylan erhob sich stöhnend, und lief davon, doch niemand hielt ihn auf. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt jetzt Tim.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Tim! TIM!!!“, schrie ich so laut, dass sich meine Stimme überschlug. „Oh Scheiße!“ Ich hob Tims Kopf hoch und legte ihn meinen Schoß. „Tim! Tim hörst du mich?“ Tim bewegte den Kopf, als er meine Stimme hörte, doch er schien kaum bei Bewusstsein zu sein. „Mach doch was!“, schrie ich Lia an, die neben Tim kniete, und die Wunde untersuchte. „Ich bin doch schon dabei!“, sagte sie wütend. Tim keuchte vor Schmerz, als Lia die Wunde berührte. „Hör auf, du tust ihm weh!“, schrie ich sie an.

„Beruhig dich, okay?“, fuhr Lia mich wütend an. „Ich tu, was ich tun muss.“ „Das ist alles deine Schuld! Du wolltest nicht auf Verstärkung warten! Du bist schuld!“, schrie ich sie an. „Kira!“, wies Liam sie zurecht. „Halt die Klappe, hörst du?“, schrie ich ihn an. „Es ist allein ihre Schuld! Sie wollte nicht zurück und die anderen holen. Sie ist schuld daran, wenn er stirbt!“ Tim keuchte vor Schmerz und klammerte sich an meinen Arm. „Ist schon okay…“, versuchte ich ihn zu beruhigen, während mir die Tränen über die Wangen rannen. „Ihr fünf…“ Lia wies auf Mikey, Eliza, Conny, Quinn und Bailey, „Geht zurück ins Lager. Einer von euch schickt mir jetzt sofort Wendy und Finn her, und zwar schnell, verstanden? Sagt Wendy, was passiert ist, und dass sie verbände mitbringen soll“, sagte Lia. Die fünf nickten gleichzeitig und liefen los. „Thomas, Liam, Kyle, ihr drei haltet Wache. Ihr müsst uns warnen, wenn sie zurückkommen, und uns gegebenenfalls verteidigen.“ Offensichtlich hatte Lia begriffen, dass es keinen Sinn hatte, mir eine Aufgabe zu geben, denn mich ließ sie bei Tim bleiben.

„Was willst du von Finn?“, meldete sich mein Beschützerinstinkt für den Jungen wieder, für dein ich mein Leben gegeben hätte. „Irgendjemand muss Tim tragen. Und du oder ich werden das wohl kaum können.“ „Was ist mit Joshua?“, fragte ich sie misstrauisch. „Der könnte Tim tragen!“ „Ja, wahrscheinlich. Aber ich bin der Meinung, es hat mehr Sinn, wenn Finn das macht“, sagte Lia und sah mir in die Augen. Natürlich. Sie wollte Finn noch mehr integrieren, und das ging in solchen Notsituationen am besten. „Jetzt stör mich nicht weiter, ja?“

Ich war also still und wartete. Etwas anderes konnte ich nicht tun. Lia zog immer wieder die Augenbrauen zusammen, als grüble sie über etwas nach. Ich musste mich beherrschen, um sie nicht immer wieder anzuschreien, und ihr zu sagen, sie solle endlich etwas machen, denn Tims Atem schien schwächer zu werden, und ich bekam immer mehr Angst um ihn. Stattdessen fragte ich ruhig und beherrscht: „Und was hast du jetzt vor?“

„Ich werde dir gewaltig eine überziehen, wenn du jetzt nicht endlich deine verdammte Klappe hältst!“, sagte Lia gefährlich leise.

Ich blieb stumm und hielt Tims Hand, während Lia das Messer entfernte. Als sie fertig war, zog sie ihre Jacke aus und drückte sie auf die Wunde. Tim klammerte sich an meinen Arm, Tränen liefen mir aus den Augen, doch er hob vorsichtig die Hand und wischte sie weg. „Alles okay…“, sagte Tim leise zu mir. „Mir geht’s gut…“ „Mir auch…“, schluchzte ich. „Jetzt bleib ruhig liegen, und beweg dich nicht, dann wird alles gut!“, sagte ich beruhigend. Meine Stimme zitterte.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Mikey mit Wendy und Finn im Schlepptau zurückgekommen war.

Wendy hatte ein paar Verbände in ihrer Tasche, also zogen sie Tim das Hemd aus und verbanden die Wunde. Dann trug Finn Tim zurück, ich lief hinterher und trug die Waffen.

Als wir zurück waren, nähte Lia Tims Wunde und Wendy half ihr dabei. Mich schickte Lia die Waffen aufräumen, und dann trainieren.

Ich wollte protestieren, doch Lia schnitt mir mit einem kurzen Blick das Wort ab. Für heute hatte ich ihr oft genug widersprochen.

Als sich Jordan zum Bogenschießen neben mich stellte, schickte ich ihn schlechtgelaunt weg. „Geh woanders schießen!“, sagte ich. „Lass mich allein.“

Jordan beobachtete mich kurz, ob ich es ernst meinte. „Geh schon!“, sagte ich mit Nachdruck, dann verschwand er. Ich sah ihm nach. „Scheiße, was ist nur los mit mir…“, murmelte ich. Dann zog ich die Pfeile aus dem Baum, steckte sie in meinen Köcher und lief los. Ich rannte aus dem Lager und lief einfach weiter, solange ich konnte. Ich wusste nicht, wohin, oder wozu. Ich wollte nur so viel Entfernung wie möglich zwischen mich und diesen Tag und seine Ereignisse bringen. Als ich nicht mehr rennen konnte, ging ich. Ich wusste nicht, ob ich zurückgehen würde. Ich wusste überhaupt nichts mehr.

 

 

 

 

 

 

Bailey stromerte durch den Wald, als sie plötzlich ein Schluchzen hörte. Sie schlich sich langsam an die Quelle dieses Geräusches heran, und entdeckte Kira, die auf dem Boden saß und weinte. „Kira!“, rief sie und lief auf das Mädchen zu. „Kira, was ist denn?“ „Nichts… ist schon egal!“, sagte Kira und wischte sich die Tränen ab. Bailey setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Dann umarmte sie Kira fest. Auch Kira legte ihr zögerlich den Arm um.

„Geht es dir gut?“, fragte Kira Bailey. „Ja. Alles okay bei mir. Und bei dir?“ „Passt schon…“, meinte Kira. „Tim geht es besser!“, erzählte Bailey. „Er ist wach und hat nach dir gefragt.“ „Ist mir egal“, meinte Kira kraftlos. „Ich will nicht mit ihm reden.“ „Was ist bloß mit dir los?“, fragte Bailey Kira wütend und sprang auf. „Wir sind doch alle eine Familie! Das hast du selbst gesagt! Und du uns Scarlet, ihr beide seid meine Schwestern! Und ihr seid euch sogar ähnlich! Ihr könnt Ungerechtigkeit beide nicht ausstehen. Was ist also los mit dir? Wieso bist du nicht für deinen besten Freund da, wenn er dich braucht? Er ist doch auch dein Bruder! So, wie ich deine Schwester bin, und Scarlet auch, und Lia und die anderen alle!“

„Er war mein Bruder. Und er war mein bester Freund. Genau das ist hier das Problem!“, schnaubte Kira. „Er hat etwas ganz Dummes gemacht, weshalb ich ihn nie wieder so sehen kann, wie er einmal war, und wie ich ihn einmal gesehen habe. Ich kann ihn nie wieder so lieben, wie ich es getan habe, weil… Es einfach nie wieder möglich sein wird, diesen Moment zu vergessen. Und deshalb hasse ich ihn. Alles war so gut, alles war total okay, bis er das gemacht hat!“

„Was hat er denn gemacht?“, fragte Bailey und setzte sich wieder. „Ist egal. Ich will nicht drüber reden!“, sagte Kira. „Vor allem nicht mit einer Zwölfjährigen.“ „Hey, jetzt wirst du gemein!“, sagte Bailey und boxte Kira in die Schulter. „Hör auf damit!“, sagte Kira verdrossen und wandte sich von Bailey ab. „Das hat Tim immer bei mir gemacht.“ „Ja und?“, fragte Bailey. „Darf dich jetzt nie wieder jemand berühren, weil Tim das vielleicht auch mal gemacht hat?“, fragte Bailey.

Dann schwiegen sie kurz.

„Ich versteh nicht, was ein Mensch machen kann, dass man ihn plötzlich so hassen kann.“ „Das ist ganz einfach!“, sagte Kira wütend. „Er kann einem das Herz brechen. Wenn sich ein Mädchen total in einen Jungen verliebt hat, und der Junge dann plötzlich nichts mehr von dem Mädchen will, hat er ihm das Herz gebrochen.“ „Also bist du in Tim verliebt?“, fragte Bailey. „Nein, eben nicht. Das ist das Problem. Das gerade eben war nur ein Beispiel. Es geht nämlich auch anders rum!“, sagte Kira und sah Bailey an. „Wenn das Mädchen denkt, alles wäre in Ordnung, und nichts würde sich je verändern, wenn das Mädchen glücklich ist, so wie alles ist. Wenn sich nichts an der Freundschaft zu ihrem besten Freund, zu ihrem Bruder ändern soll… Und genau dieser Junge sich dann in das Mädchen verliebt, und sie küsst!“

„Er hat dich geküsst?“, fragte Bailey. Kira nickte. „Oh…“, meinte Bailey. Dann war sie still. „Wenn ich mal älter bin, heirate ich einen netten Jungen. Aber nicht meinen besten Freund.“ „Das hatte ich auch nicht vor!“, meinte Kira. „Obwohl, eigentlich wollte ich gar nicht heiraten. Jedenfalls fürs erste nicht, auch wenn ich mir darüber öfters Gedanken gemacht habe.“

„Ich schon!“, sagte Bailey. „ich möchte auch Kinder haben.“ „Ich nicht“, sagte Kira. „Ich hab jetzt erstmal genug Kinder, um die ich mich kümmern muss. Außerdem hab ich doch die beste kleine Schwester, die es auf der ganzen Welt gibt!“, sagte sie und piekste Bailey in die Rippen. Bailey musste lachen und kuschelte sich dann an Kira. „Findest du wirklich, dass ich die beste kleine Schwester der Welt bin?“, fragte sie. „Mindestens. Wenn nicht sogar im ganzen Universum!“, sagte Kira überzeugt.

„Und ich finde, du bist du bist die große Schwester, die es gibt. Und Scarlet natürlich auch.“ „Klar!“, sagte Kira. „Scarlet gehört überall dazu. Die ist immer all-inclusive, wenn ich von kleinen Schwestern rede, außer, wenn ich schlecht von ihnen rede! Aber das tue ich sowieso nicht. Und wenn, dann darf man mich nicht ernst nehmen, denn dann hab ich sie grad nicht alle“, sagte Kira und lächelte. „Und wenn ich mal richtig Mist gebaut hätte?“, fragte Bailey Kira. „Was wäre dann? Hättest du mich dann immer noch lieb?“ „Soll das ein Scherz sein?“, fragte Kira. „Ich verschenke meine Liebe nicht einfach. Wer sie hat, der hat sie bekommen, weil er sie verdient. Und dann wird er sie auch nicht mehr los, egal, was er tut. Ich liebe meine Freunde und Geschwister bedingungslos“, sagte Kira sanft und drückte Bailey an sich. „Und was ist mit Tim?“, wollte Bailey wissen.

Darauf wollte sie von Anfang an hinaus. Kira atmete tief ein. „Den auch“, sagte sie dann und gab Bailey einen kleinen Kuss auf den Kopf.

Bailey schwieg eine Weile lang. „Was ist dein größter Wunsch auf der ganzen Welt?“, fragte sie Kira. Kira lächelte sie an. „Ich wünsche mir, dass du glücklich bist. Ihr alle!“, sagte sie. Bailey umarmte sie. „Dann bleib immer bei mir, okay?“, fragte Bailey. „Ich bin immer glücklich, wenn du in meiner Nähe bist. Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden. So wie es ist, ist es perfekt!“, sagte Bailey leise und lächelte. „Wirklich?“, fragte Kira. „Ja…“, sagte Bailey. „Solange du bei mir bist, bin ich glücklich!“ „Wenn das so ist…“, meinte Kira. „Dann werde ich bei dir bleiben. Für immer!“

„Ich hab dich lieb“, sagte Bailey. „Ich hab dich viel mehr lieb!“, meinte Kira. „Das geht gar nicht!“, sagte Bailey und lächelte auch.

 

 

 

 

 

 

„Finn!“, rief Lia ihn. Finn sah auf. Das Mädchen kam auf ihn zu. „Finn, hör mir zu. Bitte sei nicht sauer, aber ich muss mit dir jetzt einfach darüber reden.“ Finn hatte ein ungutes Gefühl, wenn Lia so sprach. „Was ist?“, fragte Finn. Seine Stimme bebte leicht, doch er hoffte, dass Lia davon nichts mitbekam. „Es ist folgendes: Wir haben heute gesehen, wie gefährlich Jasmyn ist, und dass wir hier nicht leben können, solange sie mit ihrer Bande hier ist. Deshalb müssen wir sie angreifen. Und da kommst du ins Spiel.“ Lia sah Finn lange und fest in die Augen. „Du warst einer von ihnen, jetzt gehörst du zu uns. Ich muss jetzt wissen, ob du mit uns, oder gegen uns kämpfst. Bist du bereit, mit und für uns zu sterben? Oder möchtest du, dass wir dich zu deiner eigenen Sicherheit hier im Lager lassen?“, fragte Lia. „Wenn du dich gegen uns wendest, werden wir mit dir verfahren, wie man mit Verrätern verfährt. Wenn dich Jasmyn in die Finger bekommt, kannst du froh sein, wenn sie dich nur töten. Es ist deine Entscheidung.“

Finn senkte den Kopf. Er musste für sie kämpfen. Es waren auch seine Interessen, die sie vertraten, es waren auch seine Freunde, auch seine Familie, die sterben würde, wenn er ihnen nicht half. Er würde mit ihnen sterben, wenn es sein musste. Wie konnte er sie jetzt noch im Stich lassen?

„Ich werde für euch kämpfen“, sagte Finn mit fester Stimme. Dann sah er Lia lange und intensiv in die Augen. „Ich werde immer auf eurer Seite sein. Egal, was passiert, ich werde mit euch kämpfen, und mit euch sterben. Ihr könnt mir vertrauen. Ihr seid jetzt meine Familie.“

Lia nickte ernst mit dem Kopf. „Ich hatte gehofft, dass du das sagen wirst.“ Dann stand sie auf, ohne ihm auch nur ein kleines Lächeln zu schenken. Plötzlich blieb sie stehen. „Finn… Du sollst wissen, dass, egal, wie gemein, oder ungerecht wir je zu dir waren, jeder einzelne von uns bereit ist, dasselbe für dich zu geben, wie du für uns. Wenn du für uns stirbst, werden wir dich rächen, und wenn wir dabei alle sterben. Dafür erwarten wir dasselbe auch von dir.“ Finn nickte. „Ihr könnt auf mich zählen. Ich werde euch nicht enttäuschen.“

Lia antwortete nicht. Dann stand sie wortlos auf, und ging, doch Finn blieb nicht lange allein. Kira setzte sich zu ihm. „Hey…“, sagte Kira. Immer dieselbe Begrüßung zwischen ihnen. Immer derselbe Wortwechsel.

„Ich weiß, was du sagen willst!“, meinte Finn. „Du willst mir jetzt auch noch erzählen, dass ich zu euch gehöre, und dass ich dir wichtig bin, du bereit bist, für mich zu sterben und so weiter…“, sagte Finn und schnaubte wütend. „Aber das alles zählt nichts. Nicht für mich, nicht für dich, und auch nicht für die anderen.“

„Vielleicht…“, meinte Kira. „Aber eigentlich wollte ich nur bei dir sein. Die anderen würden Fragen stellen, aber ich will jetzt einfach nicht allein sein“, sagte Kira und sah ihn an. „Hast du etwas?“, fragte Finn. Kira nickte, doch Finn hakte nicht nach. „Komm schon, so schlimm kann es doch gar nicht sein!“, sagte Finn nach einer Pause. Er drehte sich zu ihr und piekste sie in die Schulter.

„Du hast es doch echt gut hier! Du hast Leute, die alles für dich tun würden…“ Finn drehte sich wieder weg und ließ sich zurück ins Laub fallen. „Weißt du, manchmal würde ich so gern einfach loslaufen, immer weiter, und weiter, und noch weiter. So weit ich kann, nur um wegzukommen. Einfach mal raus aus meinem Leben. Nur für einen Tag. Einen einzigen Tag. Aber allein würde das keinen Spaß machen.“ Finn sah zu Kira. „Du hingegen könntest alle hier einfach mitnehmen. Keiner würde Fragen stellen. Bedingungslose Freundschaft, nennt man das. Die würden einfach mitkommen!“, sagte Finn und lächelte. „Aber würden sie das auch für mich tun? Ich habe ihr vertrauen nicht verdient. Wer würde schon mit mir mitkommen?“

Kira ließ sich neben ihn fallen und drehte sich zu ihm. „Ich würde das! Das weißt du!“ „Oh ja, super!“, lachte Finn. „Kira Mathlock und Finn Bareen auf großer Wanderschaft!“ Dann mussten sie beide lachen. „Das würde nicht gehen. Das würde sofort auffliegen und sie würden uns finden“, lächelte Finn. Die Vorstellung war zwar schön, auch wenn die Umsetzung unmöglich war. „Aber ich würde mitkommen!“, grinste Kira. „Und vor allem – kann uns doch egal sein, ob die uns finden. Wir sind nicht so, wie die anderen alle. Wir hier sind etwas Besonderes… Wir sind anders. Immer gegen die Strömung, weißt du“, philosophierte Kira.

„Die Leute wollen ja rebellisch sein!“, meinte Finn und lachte. „Sie warten nur drauf, dass es ihnen jemand erlaubt.“

„Jep… Und wenn wir den Anfang machen, ziehen die anderen nach!“, sagte Kira und dann lachten sie wieder beide.

„Und wenn wir hier fertig sind, wird sich alles ändern. Dann können wir unser Leben führen, wie wir wollen. Dann sind wir frei!“ Kira und Finn sahen sich an. „Und dann nehmen wir unser Leben selbst in die Hand!“, fügte Kira hinzu. „Dann sind wir wieder eine große Familie, die keine Angst haben muss, dass sie angegriffen werden. Wir sind das, was wirklich wichtig ist!“

„Du hast Recht!“, stimmte Finn zu. „Und ich bin mir sicher, dass wir das schaffen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lia war froh über Finns Antwort, und sie vertraute ihm. Doch sie fragte sich, ob es vielleicht unverantwortlich war, ihn in so eine Situation zu bringen. Sicher hatte er auch Freunde in Jasmyns Bande gefunden. Finn war ein netter, aufgeschlossener Junge, den jeder mochte – solange man keine schlechten Erfahrungen mit ihm gemacht hatte. Es war für Lia undenkbar, dass er dort vielleicht keine Freunde gefunden haben könnte.

„Lia?“, hörte sie plötzlich eine zarte Stimme hinter sich. „Josy“, sagte sie und hob ihre Schwester hoch. „Wie geht’s dir, meine Kleine?“ „Ich bin nicht mehr klein!“, sagte Josy vorsichtig. „Und, Eliza, Bailey, Conny und Quinn auch nicht. Deshalb bin ich hier.“ Lia ahnte, dass ihr das nächste unangenehme Gespräch bevorstand. „Wir möchten mitkämpfen. Wir sind gut. Wir haben trainiert, und können kämpfen. Wir wollen bei euch sein!“, sagte Josy. Lia konnte ihren Wunsch verstehen. „Ich verstehe dich!“, sagte Lia. „Aber du musst auch mich verstehen. Du bist meine kleine Schwester, und ich habe dich lieb. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ „Und du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben!“, sagte Josy und Lia setzte sie ab. „Und deswegen musst du auch mich verstehen, wenn ich dir sage, dass ich dich nicht alleinlassen werde. Lia, bitte! Es gibt einen Grund, warum man mich mit euch auf eine Mission geschickt hat!“, sagte Josy.

Lia nickte. „Okay.“ Sie konnte kaum glauben, dass sie das tat. „Ihr habt eine einzige Chance, uns zu überzeugen. Jeder zeigt das, was er am besten kann, und wenn wir passende Waffen übrig haben, dürft ihr mitkommen. Ansonsten bleibt ihr hier, und rührt euch nicht vom Fleck, verstanden?“ Josy nickte mit großen, runden Augen. Sie war noch so klein. Sie war erst acht, und trotzdem setzte Lia sie dieser Gefahr aus. Lia verstand sich selbst nicht mehr, aber sie konnte ihrer kleinen Schwester diesen Wunsch nicht verweigern, denn so sehr sie sich auch dagegen sträubte – sie verstand Josy so gut.

„Versprich es mir!“, sagte Lia leise und streckte Josy die Hand hin. Josy schüttelte den Kopf, dann nahm sie ihre Hand. „Ich schwöre es dir. Wenn du mir die Chance gibst, dir zu beweisen, was ich kann, dann werde ich alles tun, was du sagst.“ „Egal, was es ist?“, fragte Lia. „Ganz egal“, versprach Josy ihr.

„Danke“, sagte Lia. „Nein“, sagte Josy. „Ich muss dir danken“, meinte sie geschäftsmäßig und ließ Lias Hand los. „Ich erzähle es den Anderen. Wann sollen wir es euch beweisen?“ „Lasst euch ruhig Zeit“, sagte Lia mit fast tonloser Stimme. Sie wollte nicht, dass ihre Schwester so schnell erwachsen wurde. Sie wollte sie nicht dieser Gefahr aussetzen. Und dennoch tat sie es.

„Nein, nein!“, sagte Josy schnell. „So bald wie möglich! Noch heute? Geht das?“, fragte Josy. Lia seufzte. „Von mir aus.“ „Du musst mir aber versprechen, fair zu sein, Lia! Auch wenn ich deine Schwester bin! Versprich mir, dass du mir sagst, wenn ich gut bin, und dass du mich kämpfen lässt!“

„Ja, ja…“, sagte Lia schnell. Diesmal hielt Josy ihrer großen Schwester die Hand hin. „Versprochen?“ Lia zögerte, bevor sie einschlug. Sie musste schlucken, dann schüttelte sie den Kopf, so wie Josy es vorhin gemacht hatte. Sie nahm die kleine, gebräunte Hand ihrer Schwester und sah dem Kind in die wasserblauen Augen. „Ich schwöre es dir.“

Dann ließ Josy ihre Hand los. Lia hätte sich gewünscht, ihre kleine, warme Hand noch ein paar Augenblicke länger in ihrer zu fühlen. Doch jetzt war dieser Augenblick vorbei.

„Jetzt lauf schon! Wenn du dich so freust, dann erzähl es jetzt deinen Freunden! Lauf schon“, sagte Lia und gab Josy einen kleinen Schubs. Josy lachte vor Vergnügen, dann rannte das Kind davon. Kurz danach liefen Lia die Tränen aus den Augen.

 

 

 

 

 

Kaum hatte Josy ihnen Lias Entschluss mitgeteilt, holten Bailey, Conny, Quinn, Josy und Eliza ihre Waffen. Bailey hatte sich entschlossen, genauso wie Eliza, zu schießen. Josy würde Messer werfen. Sie wollte so gerne in die Fußstapfen ihrer großen Schwester treten. Conny war eine wirklich begabte Speerwerferin geworden und Quinn war muskulös und stark geworden, stark genug, um einen Gegner mit einem einzigen Schwertschlag kampfunfähig zu machen.

Als sich alle eingefunden hatten, und sie die Reihenfolge ausdiskutiert hatten, stellten sich alle Kinder auf und machten sich für ihren großen Auftritt bereit. Es war nicht nur Lia zum Zuschauen gekommen. Die halbe Bande war um sie versammelt. Bailey hatte nicht den Mut gehabt, Scarlet von ihrem Vorhaben zu berichten. Eliza war es genauso ergangen. Umso mehr bewunderte sie Josys Mut, mit Lia so offen darüber zu reden.

Und das Verschweigen vor ihren großen Geschwistern machte sich jetzt bemerkbar. „Eliza!“, sagte Mikey und packte seine Schwester an den Schultern. „Eliza, ich will nicht, dass du kämpfst, hörst du? Du wirst nicht kämpfen! Du bist…“

Eliza riss sich los. „Was bin ich? Zu klein? Ein Mädchen? Zu schwach?“ Man sah, wie wütend sie war. „Was bin ich? Ich sag dir, was ich bin! Ich bin zehn Jahre alt, ich bin mit acht Jahren auf eine Mission geschickt worden und habe seither mindestens genauso viele lebensgefährliche Situationen gemeistert, wie jeder Einzelne von euch, wenn nicht sogar noch mehr!“ Sie sah Mikey genau in die Augen. „Schau mich an, Mikey! Denkst du, ich bin ein Kind? Dann sieh jetzt genau hin!“

Eliza zog einen Pfeil aus dem Köcher aus ihrem Rücken und legte ihn in den Bogen ein. Das alles hatte sie sich von Kira geliehen.

Eliza zielte auf einen Baum in zwanzig Metern Entfernung, aus dem sie ein knapp zwei Daumen breites Stück Rinde herausgeschnitten hatten. Sie wusste, dass sie jetzt treffen musste, sonst dürfte sie nicht nur nicht kämpfen, sondern hatte sich auch noch vor Mike und ihren anderen Kameraden blamiert.

Sie fixierte eine halbe Sekunde lang die Pfeilspitze, atmete tief ein, spannte die Sehne und zielte. Sie atmete wieder aus, dann ließ sie den Pfeil los. Das alles hatte nicht eine Sekunde gedauert. Der Pfeil zischte so schnell los, dass man ihm kaum mit den Augen folgen konnte. Eliza hielt den Atem an, dann schlug der Pfeil nur einen halben Zentimeter vom Zentrum entfernt in den Baum ein.

Eliza begann siegessicher und erleichtert zu grinsen. „Machs besser!“, sagte sie zu ihrem Bruder und stolzierte an ihm vorbei.

Jetzt war Quinn dran. „Ich brauche jemanden, der mit mir kämpft…“, sagte sie nervös und sah sich um. „Finn!“, sagte Lia, der Junge kam auf Quinn zu und sie gab ihm einen Stock. „Also dann…“, sagte Finn, und Quinn griff an. Sie wich unter jedem von Finns Schlägen weg, doch natürlich wusste sie, dass sie ihn nicht besiegen konnte. Sie wich Finns Schlag im letzten Moment aus, der sie sonst am Brustbein getroffen hätte, duckte sich unter einem Schlag auf ihre Schulter weg, und erkannte schließlich ihre Chance, die einzige, wollte sie jemals beweisen, was sie konnte.

Sie schlug nach Finns Beinen. Finn sprang hoch, doch nicht hoch genug. Quinns Stock streifte seine Füße, Finn kam ungeschickt wieder auf und Quinn konnte ihm mit ihrem Stock die Beine wegziehen. Finn stürzte und Quinn saß so schnell auf seinem Bauch, dass er kaum Zeit hatte, seinen Stock zu heben. Quinn wollte ausholen und den Kampf beenden, doch Finn war schneller und erwischte sie an den Rippen. „Tot!“, keuchte er. Quinn ließ traurig den Kopf sinken. „Aber du bist gut. Decke deine linke Seite besser, dann kannst du es schaffen. Ich weiß, dass sie es kann, Lia“, sagte er zu Lia und stand auf. „Sie kann gegen die andere ankommen.“ Quinn begann bis über beide Ohren zu grinsen.

Dann war Conny dran. „Gut gemacht, Schwesterchen!“, sagte sie zu Quinn. „Jetzt zeig du ihnen, was du draufhast!“, sagte Quinn zu ihrer großen Schwester und Conny nickte. Sie hatte sich zwei Speere von Joshua geliehen, die sie behalten durfte, wenn sie es heute schaffte, zu überzeugen. Joshua hatte dann immer noch vier und Conny würde zusätzlich noch ein Messer bekommen. Conny stellte sich hin, holte aus und warf. Der Speer flog grade und hatte so viel Wucht, dass er sich gut fünf Zentimeter in den Baum bohrte und stecken blieb. Auch Conny hatte das Ziel nur um einen knappen Zentimeter verfehlt. Beim zweiten Wurf traf sie genau in die Mitte. Die jüngeren Kinder hinter ihr jubelten, die älteren blieben still. Keiner von ihnen wollte, dass sich die Kleinen in Gefahr brachten, doch sie konnten es nicht ändern. Und bis jetzt waren alle gut. „Du bist dran!“, flüsterte Bailey Josy zu und schob sie nach vorne. „Ich weiß, dass du es kannst! Und du weißt es auch.“ Josephine zitterte, dann ging sie ein Stück weiter, bis sie circa fünfzehn Meter von dem Baum, der ihnen allen als Ziel diente, stand. Sie zog ein Messer aus ihrem Gürtel und nahm es so in die Hand, dass sie werfen konnte. Bailey wusste, dass ihnen allen wichtig war, jetzt zu zeigen, wie gut sie waren, doch sie wusste, dass es Josy am allerwichtigsten war. Und deshalb wünschte sie sich für sie aus tiefstem Herzen, dass Josy den besten Wurf ihres Lebens machen würde.

Innerhalb einer Sekunde zielte Josy und warf. „Bitte lieber Gott, lass sie treffen, bitte, bitte, bitte!“, bettelte Bailey. Und Josy traf. Ohne ihr Ergebnis anzusehen zog sie das nächste Messer und warf es. Dann ein weiteres. Erst dann sah sie auf. Die drei Messer steckten so nah aneinander im Baum, dass sie sich zu einem einzigen Messer zusammenzufügen schienen. Und sie alle hatten das Ziel genau getroffen. Das Messer in der Mitte hatte die rindenlose Stelle genau in der Mitte getroffen. Eliza, Bailey, Quinn und Conny jubelten Josy zu und Josy ließ sich auf die Knie fallen, riss die Arme in die Luft und schrie ihre Freude zum Himmel hinauf. Selbst die anderen Kinder applaudierten jetzt, denn das waren verdammt gute Wurfe gewesen, und Josy war erst acht. Vermutlich hatte nicht einmal Lia je so gut geworfen. Vielleicht nicht einmal Jasmyn.

Nur Lia klatschte nicht. Sie starrte das kleine Mädchen an, das dort auf dem Boden saß und sich vor Freude die Seele aus dem Leib schrie.

Dann holte Josy ihre Messer wieder und rannte zu Lia. „Lia! Lia, ich hab’s geschafft! Ich hab getroffen! Ich bin gut!“ Lia nickte stumm und fing Josy auf, die ihr in die Arme gesprungen war. Dann drückte sie die Kleine an sich und lächelte. „Ich bin stolz auf dich!“, sagte sie so leise, dass Bailey das Gefühl hatte, sie hätte es sich nur eingebildet, doch Lia hatte es tatsächlich gesagt. „Und ja, du darfst kämpfen. Weil ich weiß, dass ich dich nicht immer und überall beschützen kann, und weil ich weiß, dass du es schaffen kannst!“, sagte sie und setzte Josephine wieder ab.

Jetzt war Bailey dran. Sie warf einen Blick zu Scarlet und sah zu ihrer Freude, dass Scarlet lächelte und ihr dann ein Daumen-Hoch-Zeichen gab. Bailey nahm einen Pfeil aus ihrem Köcher und ignorierte die anderen vollkommen. Sie stellte sich vor, sie würde wieder einmal mit Eliza um die Wette schießen. Doch jetzt musste sie daran denken, wie gemein Eliza damals gelogen hatte und jetzt verlor sie die Konzentration.

„Verdammt, nein!“, murmelte sie wütend. Ihr Pfeil würde nicht treffen, das wusste sie schon jetzt. Sie versuchte, sich wieder auf das Jetzt und Hier zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. „Komm schon, bitte, bitte, bitte!“, flehte sie sich selbst an. „Konzentrier dich doch, Bailey Brainton! Du musst das jetzt schaffen!“, redete sie sich selbst Mut zu. „Ich schaff das schon! Ich kann schießen!“, flüsterte Bailey. „Jetzt zeig ich’s euch! Euch allen!“, dachte sie und schielte zu den Kindern um sie herum. Sie bemerkte die gespannten Blicke der Anderen und begann zu schwitzen. Immer wieder hörte sie Eliza, wie sie die andere anlog, sie sah, wie Eliza den Pfeil abschoss, und sie selbst dafür bestraft wurde. Sie konnte sich nicht konzentrieren. „Ich muss das schaffen!“, sagte sie.

Dann ließ sie den Pfeil los, und wusste sofort, dass er nicht treffen würde. Noch bevor der Pfeil den Baum erreichte, hatte sie einen weiteren Pfeil herausgezogen und eingelegt. Sie brauchte keine halbe Sekunde, um zu zielen, ließ die Sehne los und der Pfeil flog los. Dann hörte sie zweimal ein leises Klack, als die Pfeile in den Baum schlugen. Der erste Pfeil war gut zehn Zentimeter über dem Ziel ins Holz eingedrungen, der zweiten ein bis zwei Zentimeter vom Ziel entfernt.

Bailey traute ihren Augen kaum. Das waren gute Schüsse. Sie riss den Bogen in die Luft und jubelte. „Scarlet, ich hab’s geschafft!“, brüllte sie. „Kira, Scarlet, schaut euch diesen Schuss an!“ Dann rannte sie auf die beiden Mädchen zu und umarmte sie. „Geht wieder an die Arbeit!“, sagte Lia. „Mikey, Eliza, Conny, Quinn, Scarlet, Kira, Josy und Bailey, ihr kommt bitte mit mir.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eliza und die anderen folgten Lia ein Stück vom Rest der Gruppe weg. „Ihr habt euch heute gut geschlagen. Alle!“, sagte Lia. „Und ich bin stolz auf euch.“ Dann sah sie Quinn an.

„Conny, ist es für dich okay, wenn Quinn kämpft?“, fragte Lia Conny, ohne ihren Blick von Quinn abzuwenden. Conny nickte zaghaft. Eliza konnte spüren, wie alle um sie herum die Luft anhielten und auf Lias Urteil warteten. Kira sah Lia von der Seite an, und Eliza sah, dass ihre Blicke sich kurz streiften und Kira fast unmerkbar nickte. Dann sah Lia wieder zu Quinn. „Gut. Für mich ist sie nämlich unbezahlbar, nachdem ich gesehen habe, was sie heute geleistet hat. Und du auch, Conny!“, sagte Lia. „Ihr alle seid das.“ „Also dürfen wir alle kämpfen?“, fragte Eliza. Lia schüttelte den Kopf. „W-Was meinst du, Lia? Wieso denn nicht?“, fragte Josy. „Wir… Wir sind doch gut, hast du gesagt!“ Josys Stimme nahm einen bittenden, verzweifelten Klang an.

„Wir haben nicht genug Waffen“, sagte Lia. „Wir haben kein Schwert, das wir für Conny abtreten können, und keine zwei Bögen, auf die wir verzichten können.“ Eliza konnte es nicht fassen. Sie sah zu Mike, der sie nur traurig ansah, ansonsten aber derselben Meinung zu sein schien, wie Lia und der Rest um sie herum. „Das habt ihr doch von Anfang an gewusst!“, rief Eliza. „Eliza!“, wies Mike sie zurecht. „Aber es ist doch wahr!“, sagte Eliza und spürte, wie ihr vor Wut die Tränen kamen. „Eliza hat recht!“, sagte Kira. „Und das war nicht fair von uns. Wir wollten uns nur nicht eingestehen, dass ihr wirklich so gut seid.“ Lia, Scarlet und Mikey nickten gleichzeitig.

„Aber… Aber wir sind doch wichtig für euch! Wir können doch kämpfen! Ihr habt es alle gesehen!“, rief Bailey. „Scarlet? Sag doch auch mal was!“ Scarlet schüttelte den Kopf. Elizas letzte Stützte brach weg. „Wieso machen sie das?“, fragte sie sich. „Wieso machen sie uns Mut, wieso geben sie uns Hoffnung, nur um sie dann wieder zu zerschlagen? Wieso?!“, dachte sie. Eine Weile lang hörte Eliza nur das Rascheln des Windes in den grünen Blättern über ihnen. Die warme Frühlingsluft um sie herum nahm sie nicht wahr. Alles kam ihr seltsam sinnlos vor. Unwirklich. Sie konnte nicht fassen, dass die anderen so gemein waren.

„Aber…“, begann Bailey wieder. „Sei still, Bailey!“, befahl Scarlet ihrer Schwester. „Wir versuchen doch gerade, das zu regeln.“ Dann entstand eine kurze Pause, bevor Lia wieder anfing, zu sprechen. „Conny, du kannst drei Speere von Joshua haben, das ist vollkommen in Ordnung. Du kannst jetzt wieder trainieren gehen und dir die Speere abholen.“ Conny nickte und verschwand.

„Was euch angeht…“, begann Lia. „Josy, du bist gut, und so sehr es mir widerstrebt, es zu sagen, Messer haben wir mehr als genug. Du kannst dir vier aussuchen und dann mitkämpfen. Geh.“ Josy hielt einen Moment die Luft an. „Wirklich?“, fragte sie. Dann nickte Lia. „Oh danke, Lia! Danke, danke, danke!“ Josy hüpfte vor Freude auf und ab wie ein Gummiball. „Ist schon gut. Jetzt geh trainieren, und pass gut auf dich auf, ja? Du bist meine Schwester“, sagte Lia, und Eliza konnte sehen, wie sehr Lia mit sich selbst kämpfte. Josy nickte eifrig und rannte jauchzend davon.

„Was ist mit uns drei?“, fragte Bailey. „Was dich und Eliza angeht, habe ich es ja schon gesagt: Ihr könnt nicht mitkämpfen. Wir haben weder Bogen noch Pfeile!“ „Doch, haben wir!“, sprang Kira ihnen plötzlich zur Seite. „Eliza nimmt meinen Bogen“, sagte Kira. „Und Bailey…“ Kira schluckte einen Moment. „Du nimmst Jannis’ Bogen.“ „Wirklich?“, fragten Bailey und Eliza wie aus einem Mund. „Wirklich“, antwortete Kira den Mädchen. „Und womit willst du kämpfen?“, fragte Lia Kira aufgebracht. Eliza zuckte zusammen, als sie merkte, wie wütend Lia war. Natürlich konnte sie verstehen, wie es Lia ging: Schließlich war Lia dafür zuständig, die Waffen zu verteilen, dafür zu sorgen, dass sie alle den Tag überlebten, und ihnen ständig die schlechten Nachrichten zu überbringen. „Du bist unser bester Schütze. Ohne dich können wir gleich aufgeben!“, sagte Lia zu Kira und schüttelte den Kopf. „So Leid es mir tut, Bailey, du kannst nicht mitkämpfen. Wir brauchen Kira als Bogenschützen und Eliza hat besser geschossen als du.“ „Ich war abgelenkt!“, rief Bailey. „Gib mir noch eine Chance, Lia, bitte!“

Eliza sah Baileys flehenden Gesichtsaudruck und wusste plötzlich genau, woran sie im Moment der Entscheidung gedacht hatte. Ihr blöder Streit damals, als Eliza Mist gebaut hatte, und Bailey es ausbaden musste. Eliza hatte geschossen, nicht Bailey. Und trotzdem hatte Eliza genau das behauptet. Und jetzt hing das Bailey immer noch nach, und Eliza war schuld daran, dass Bailey den Baum verfehlt hatte. „Lasst Bailey kämpfen!“, sagte Eliza. „Sie kann meinen Bogen haben!“

„Nein, Eliza!“, sagte Bailey. „Du kannst nichts dafür.“ „Doch…“, sagte Eliza und senkte den Kopf. „Eliza, wir brauchen dich als Schütze. Bailey hat nicht getroffen, du schon“, sagte Lia. Bailey sah Lia flehend an. „Bitte, Lia, gib mir eine letzte Chance! Lass mich dir zeigen, was ich kann! Ich kann es schaffen!“

„Selbst wenn du es schaffst, Bailey!“, sagte Scarlet. „Lia hat recht, Kira muss den Bogen behalten, und mehr Bogen haben wir nicht.“

„Bitte! Lia, Scarlet! Kira!“, sagte Bailey. „Bitte!“

„Es wäre den andere gegenüber nicht fair, dir eine zweite Chance zu geben!“, sagte Scarlet. „Ich möchte auch, dass du hierbleibst. Du bringst dich einfach immer in Schwierigkeiten. Tut mir Leid.“ „Soll ich etwa als einzige hierbleiben?“, schrie Bailey aufgebracht. Ihre Stimme überschlug sich vor Wut und Enttäuschung. „Das wäre nicht schlau!“, sagte Mikey und sah zu Lia. „Allein kann sie sich nicht gut genug wehren. Stellt euch vor, jemand schleicht sich an uns vorbei, und läuft allein zum Lager!“, nahm Mike Bailey in Schutz. Eliza bewunderte ihren großen Bruder dafür, dass er so für Bailey einsprang.

„Genau!“, rief Bailey.

Lia senkte etwas genervt den Kopf. „Lasst mich darüber nachdenken, okay? Jetzt steht erstmal fest, dass Eliza, Josy und Conny auf jeden Fall kämpfen dürfen.“ Dann schickte Lia sie alle bis auf Quinn, Scarlet, Kira und Bailey weg.

Eliza hüpfte aufgeregt um Mikey herum. „Mikey, ich darf endlich kämpfen! Und ich bekomme einen Bogen. Einen richtig guten Bogen! Jannis’ Bogen!“ Mikey lächelte sie an und auch Eliza war überglücklich. Sie konnte es nicht fassen, dass sie es endlich geschafft hatte, zu zeigen, was sie konnte.

Endlich war sie mehr als nur eine Last für die anderen. Jetzt konnte sie mithelfen, mitkämpfen, jetzt gehörte sie richtig dazu.

„Ich frage mich nur, was sie mit Quinn und Bailey machen…“, meinte Eliza dann. „Die finden schon eine Lösung!“, beruhigte Mikey sie. Eliza war sich da zwar nicht sicher, doch sie zwang sich, optimistisch zu sein.

„Das hoffe ich!“, meinte Eliza. Ihre Freude dämpfte sich, als sie daran dachte, dass vielleicht nur sie, Conny und Josy kämpfen dürften. „Arme Bailey!“, dachte sie. „Und arme Quinn! Sie haben sich so viel Mühe gegeben, und jetzt?“ Mikey schien ihre Gedanken zu bemerken und legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. „Sie finden schon eine Lösung! Ganz sicher! Du kennst Kira doch. Die lässt nicht zu, dass jemand ungerecht behandelt wird!“, meinte Mike und lächelte.

Eliza nickte. Sie wusste, dass Kira sich für Bailey und Conny einsetzen würde. Wenn es auch nur die geringste Möglichkeit für die beiden geben würde, mit ihnen zu kämpfen, würde Kira es möglich machen.

 

 

Später kam Bailey zu ihr und erzählte ihr alles: Quinn würde Scarlets Schwert bekommen, und Scarlet würde stattdessen mit Messern kämpfen. Bailey sollte ein Messer bekommen, wenn sie damit umgehen konnte, und diejenigen aufhalten, die sich an ihnen vorbeischmuggeln konnten, um sie von hinten anzugreifen. Außerdem schien Kira noch eine Idee zu haben.

„Wann gehen wir denn los?“, fragte Eliza. „In drei Tagen. Dann sollte es Tim wieder gut gehen. Und er kann wieder kämpfen.

 

 

 

 

 

 

Ich stand vor Bailey und drückte ihr ein kleines Fläschchen in die Hand. Es gefiel mir nicht, dass sie sich mit einem Messer verteidigen sollte. Ich wäre dafür gewesen, dass sie ganz hierbleiben würde. Doch Lia konnte ihr Versprechen nicht brechen. Deshalb hatte ich mir die Idee mit dem kleinen Fläschchen einfallen lassen. „Das ist Gift!“, erklärte ich Bailey. „Ich hab es selbst gemacht. Schmier es dir auf deine Messerspitze, dann kannst du dich besser verteidigen.“ Ich umarmte Bailey. „Ich hab dich lieb!“, sagte ich.

„Ich hab dich viel mehr lieb!“, sagte Bailey. „Das geht gar nicht!“, sagte ich. Ich ließ sie los, als Scarlet mir von hinten auf die Schulter tippte. „Komm, wir müssen gehen.“, sagte sie. „Mach keine Dummheiten, Bailey!“, sagte ich zu ihr. „Mach ich nicht!“, sagte Bailey, dann ging ich, obwohl ich ein sehr schlechtes Gefühl hatte. Ich vertraute ihr zwar, doch sie war unvorsichtig und der Wald mit seinen Bewohnern gefährlich.

Ich versuchte, ruhiger zu atmen, denn ich atmete für das Tempo, in dem ich ging, viel zu schnell. „Ihr wird schon nichts passieren!“, sagte Scarlet, die meine Unruhe bemerkte. „Natürlich wird ihr nichts passieren!“, sagte ich etwas schroff. „Sie ist doch unsere Schwester, und wenn sie auch nur halb so schlau ist, wie wir es sind, dann kann ihr gar nichts passieren!“, sagte ich und lächelte. Auch Scarlet lächelte, doch ihr Lächeln war traurig, und ihre Augen sahen mich abschätzend und suchend an. Sie merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte, und ich merkte das auch, auch wenn ich nicht sagen konnte, was es war.

Wir sammelten uns alle und gingen gemeinsam los. Ich hatte immer ein Auge auf Eliza und Josy. Eliza konnte gut mit dem Bogen umgehen. Ich hatte ihr viel beigebracht und sie war wissbegierig und konnte sich die Tipps, die ich ihr in den letzten zwei Jahren gegeben hatte, gut merken. „Sie schaffen das schon!“, beruhigte Tim mich. Ich schaute ihm nicht in die Augen. Ich konnte es einfach nicht.

„Kira, es tut mir unendlich Leid, was ich getan habe. Ich weiß, es war dumm von mir, aber bitte ignorier mich nicht. Wir sehen uns vielleicht nie wieder“, sagte Tim zu mir und hielt mich sanft am Arm fest.

Ich wusste nicht, was in diesem Moment mit mir passierte. Ich drehte mich zu ihm um. Eigentlich wollte ich ihm eine Ohrfeige verpassen und ihm sagen, er solle endlich die Klappe halten, und mich in Ruhe lassen, doch ich tat etwas anderes.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Ich wusste nicht, warum ich es tat, vielleicht wollte ich ihn beruhigen, vielleicht war ich einfach nur verwirrt. Ich wusste jedenfalls irgendwie, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Also küsste ich ihn.

Dann ließ ich ihn los und ließ ihn verdutzt stehen. Schnell ging ich weiter, bis zu Lia nach vorne an die Spitze.

„Alles okay bei dir?“, fragte Lia. „Du bist ganz blass.“ „Schon okay“, meinte ich, dann lief ich stumm neben ihr her. „Es ist wegen Bailey, oder?“, fragte Lia. Ich schüttelte den Kopf. „Ihr wird schon nichts passieren. Wir lassen einfach niemanden vorbei, dann wird das schon!“, sagte Lia. „So einfach ist das!“ Lia legte mir den Arm um die Schultern und plötzlich wollte ich ihr alles erzählen, was zwischen Tim und mir passiert war.

„Lia… Was würdest du machen, wenn sich dein bester Freund in die verliebt hätte und dich geküsst hätte? Wenn du aber nicht wollen würdest, dass sich an eurer Freundschaft etwas verändert?“ Lia sah mich perplex an. „Und wenn du ihn dann plötzlich selbst geküsst hättest?“ „Wieso hast du Tim geküsst?“, zählte Lia eins und eins zusammen. „Ich weiß es nicht!“, sagte ich wütend. „Genau das ist das Problem.“ „Ich weiß es nicht…“, sagte Lia. „Ich hab keine Ahnung, ich war noch nie in so einer Situation.“ „Warst du schon mal verliebt?“, fragte ich sie. Lia nickte. „Das ist schon ein bisschen her. Ich war zwölf. Und dann hab ich mich in diesen Jungen verliebt… Er war vier Jahre älter als ich! Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Was viel wichtiger ist…“, sagte Lia und lächelte mich frech an. „Du hast deine Wette verloren!“ „Ja, ja, ich weiß…“, sagte ich missmutig. „Lass uns da nachher drüber reden, ja?“, bat ich Lia und sie nickte. „Klar. Du hast jetzt sicher andere Gedanken. Wenn ich dir helfen kann, dann lass es mich wissen!“

Ich lief schweigend hinter ihr her und dachte nach.

 

 

 

 

 

 

Bailey saß mit dem Messer in der Hand auf der Außenseite ihres Lagers. Sie sollte ihnen in einiger Entfernung folgen, damit sie nicht im Lager war und eingekreist werden konnte. Es rechnete auch niemand damit, dass sich wirklich viele an ihnen vorbei stehlen konnten. Und gegen einen kam Bailey an, denn niemand wusste von ihr, und dass sie hier war, mit einem Messer und einem tödlichen Gift. Sie musste ihren Gegner nur schneiden und der Kampf war gewonnen.

Bei Kira hörte sich das so einfach an, doch Bailey dachte jetzt an die vielen Jungen, die so viel größer und stärker waren, als sie, und an die Mädchen, die verbissen

Kämpfen konnten, die ihre Messer schneller werfen konnten, als man überhaupt registrierte, dass sie da waren.

Ja, das Leben war gefährlich. Und ihr eigenes Leben war besonders gefährlich. Und Bailey hatte Angst davor, zu sterben. Sie hatte doch erst mit Kira über ihre Zukunft geredet. Sie wollte diesen Kampf beenden, damit ihre Kinder einmal ein glückliches Leben führen konnten, und Scarlets Kinder, und Kiras Kinder, wenn Kira doch vielleicht einmal welche haben sollte, auch wenn sie sich noch so sicher war, dass sie jetzt keinen Jungen wollte, und genug zu tun hatte.

„Sie hat sich immer so toll um mich, Eliza und Josy gekümmert, Kira muss einfach Kinder bekommen!“, dachte Bailey. „Das wäre sonst echt schade…“

Eine Zeit lang träumte Bailey noch so ein bisschen vor sich hin, dann packte sie der Tatendrang. Sie wollte mithelfen, diese neue Welt zu erschaffen.

Kira und Scarlet und sogar Lia hatten ihr ausdrücklich gesagt, sie sollte hierbleiben und sich nicht von der Stelle rühren, außer, jemand sollte sie angreifen. „Hätte ich doch nur einen Bogen!“, dachte Bailey. „Dann könnte ich jetzt kämpfen, Seite an Seite mit meinen Freunden, mit den Leuten, die mir wirklich wichtig sind!“ Wut packte Bailey und sie sah sich um. Irgendetwas musste sie tun hier und jetzt, egal, was Kira, Scarlet und Lia gesagt hatten. Mit deren Wut würde sie sich dann auseinandersetzen, wenn es soweit war.

„Ich hab eine Idee!“, sagte sie und drehte das Fläschchen in der Hand herum. Sie tunkte vorsichtig das Messer in die Flasche, denn Kira hatte ihr gesagt, sie solle das Gift nicht mit der bloßen Haut berühren.

Dann steckte sie sich die Flasche in die Hosentasche. „Wenn ich sie vergifte, dann haben die anderen nur halb so viel zu tun!“, dachte sie. Dann sprang sie vom Lager und lief los.

 

 

 

 

 

Lia hielt ein Messer in der rechten Hand, ein weiteres in der linken, sechs weitere hingen an ihrem Gürtel. Sie strich vorsichtig mit dem Daumen über die Klinge des Messers und wartete darauf, dass sich der Rest der Kinder um das ganze Lager verteilt hatte. Direkt neben ihr stand Josy, die aufgeregt mit den Messern spielte. Die Befehle, die Lia gegeben hatte, waren klar und deutlich: Sie sollten das Lager umstellen. Danach sollte der Leiter jeder Gruppe zu Lia kommen, und ihre weiteren Befehle abwarten.

Die Gruppen sollten auf Lias Zeichen loslaufen.

Lia sah zu Henry, der ihr zunickte. Seine Leute waren bereit. Lia hätte die Gruppe wieder einmal in sechs kleine Gruppen unterteilt. In ihrer Gruppe waren außer ihr noch Josy, Connor und Joshua. In Kiras Gruppe waren Finn, Eliza und Mikey, die jetzt auch bereit waren. Lia bemerkte mit einem seltsamen Gefühl, dass Tim und Kira sich so weit auseinandergestellt hatten, wie möglich. Jetzt war auch Tims Gruppe mit Oliver und Kyle bereit. Scarlet schob Thomas ein Stück nach rechts, dann drehte sie sich zu Quinn um, die bereit war, und Scarlets Schwert in den Händen hielt. Scarlet fing Lias Blick auf und nickte ihr zu. Lias Blick wanderte weiter zur letzten Gruppe, die von Chloe geführt wurde. Chloe redete kurz mit Jordan, Conny und Liam, dann nickte auch sie Lia zu.

Alle waren bereit. Dann versammelten sich Chloe, Henry, Scarlet Tim und Kira um Lia.

„Kommt mit!“, sagte Lia und lief voraus. Sie schlich sich bis an den Rand der Baumgruppe, die das Lager umgab, und winkte Kira zu sich. „Dort!“, sagte sie und zeigte auf einen Jungen, der Wache hielt. „Schaff den aus dem Weg!“ Kira nickte, hob ihren Bogen und zielte. Dann schoss der Pfeil los und traf den Jungen. Ohne einen Laut sank der Getroffene zu Boden. „Weiter!“, sagte Lia. Sie rannten beinahe lautlos den Hang herab und gingen hinter dem ersten Zelt in Deckung. Hinter sich hörte Lia ein Geräusch und sah ein Mädchen um das Zelt kommen. Das Mädchen entdeckte sie und holte Luft, um die anderen zu alarmieren, doch dazu kam sie nicht mehr. Lias Messer traf sie unterhalb der Kehle.

Henry ging und holte das Messer wieder, dann gab er es Lia, die es an ihrem Hemdsaum vom Blut säuberte und sich dann wieder umsah. Kira rannte geduckt zu ihrem Pfeil und hob ihn auf, dann gingen sie zusammen weiter. „Was haben wir eigentlich vor?“, fragte Chloe Lia, doch Lia antwortete nicht. „Kira, Tim, Scarlet!“, rief sie die drei. „Ihr geht nach rechts. Tötet jeden, der euch in den Weg kommt, aber sorgt dafür, dass ihr es zu Jasmyns Zelt schafft! Dort treffen wir uns, okay? Henry, Chloe, ihr kommt mit mir.“

Dann gingen sie weiter. Das Lager der Feinde war verlassen, vermutlich waren die meisten auf der Jagd, oder sonst wo. „Schade… Und gefährlich!“, dachte Lia. Lia, Chloe und Henry durchsuchten die Zelte, bis sie Stimmen hörten. „Nein, ich bin mir sicher, dass sie zuerst angreifen werden!“, sagte Jasmyn leise. „Und was, wenn sie nicht angreifen?“, fragte Ruby sie. „Sie werden angreifen, ganz sicher. Dylan hat sie beobachtet. Er hat gesehen, wie sie aufrüsten. Wenn mich nicht alles täuscht, sind sie schon auf dem Weg hierher. Und dann gibt es für sie kein Entkommen mehr…“ Lia warf Henry einen kurzen Blick zu, der die Schultern hochzog. Lia legte den Finger an die Lippen uns schlich ein Stück näher an das Zelt heran. Dann winkte sie Chloe und Henry zu sich.

„Ich sagte doch, sie werden kommen! Dylan wird uns bald bescheid geben. Er ist bereits unterwegs, um sie zu beobachten. Er wird bald wieder hier sein!“, sagte Jasmyn etwas lauter. „Und du meinst, die sehen unsere Leute nicht?“, fragte William. „Wie denn?“, fragte Jasmyn. „Sie sind getarnt. Außerdem haben sie das ganze Lager doch schon gestern Abend umstellt. Selbst, wenn sie sie sehen, werden sie angreifen.“

Lia warf Henry und Chloe einen alarmierten Blick zu. Sie waren gefangen. Bestimmt wusste der Kreis ihrer Feinde längst, dass sie da waren. Sie gingen rückwärts zurück. „Planänderung!“, zischte Lia. „Wir suchen Kira, Tim und Scarlet, gehen zurück und formieren uns neu!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und schrie auf. Vor ihr standen zwei Jungen. „Hallo, meine Freunde!“, sagte der eine und packte Lia am Arm. „Lass mich los!“ Noch bevor Henry oder Chloe ihre Waffen ziehen konnten, stürmten Jasmyn, Will und Ruby aus ihrem Zelt. Kira kam in Begleitung von Scarlet und Tim angerannt, als sie Lias Schrei gehört hatte.

Sofort ging Will mit seinem Schwert auf sie los. „Kira, gib ihnen das Zeichen!“, schrie Lia. „Wir sind umstellt!“ „Ich bin grad leider etwas beschäftigt!“, schrie Kira, die unter Wills Schwert wegtauchte, und verzweifelt versuchte, seinen Hieben auszuweichen. „Angriff!“, schrie Jasmyn, dass der gesamte Wald von ihrem Schrei widerhallte. „Angriff!“, schrien jetzt auch Lia und Kira gleichzeitig. Von allen Seiten stürmten nun die Kinder auf sie zu. Schnell konnte man zwei Parteien ausmachen: Jasmyns Bande, die auf alles vorbereitet war, und dann Lias Freunde, die sich verwirrt umdrehten und sich den neuen Angreifern stellten. Hilflos musste Lia zusehen, wie ihre Freunde völlig überrannt wurden.

„Kira, tu was!“, schrie Lia und biss dem Jungen in die Hand, der sie losließ. Lia drehte sich um und tötete den Jungen mit einem kurzen Messerstich. Kira hatte in der Zwischenzeit Will einen Fausthieb verpasst, und hatte einen Pfeil in ihren Bogen eingelegt.

Schnell liefen die sechs Kinder davon und schlossen sich dem Rest ihrer Bande an.

 

 

 

 

 

 

Ich rannte zu meiner Gruppe, winkte sie mit mir und lief los. Finn, Eliza und Mikey folgten mir sofort. Plötzlich blieb ich stehen. Ich hatte mir, ohne genauer darüber nachzudenken, drei ganz besondere Partner gesucht: Mit uns hatte alles begonnen. Ich drehte mich zu ihnen, ignorierte das Kampfgetümmel um mich herum. „Wisst ihr, wer wir sind?“, fragte ich. „Mit uns vier hat alles begonnen. Wir haben uns als Allererste gewehrt. Und wir werden diesen Kampf heute beenden. Okay?“, fragte ich. Eliza, Mikey und Finn sahen mich an. „Okay“, sagte Finn. Dann streckte er mir die Hand entgegen. „Schwören wir uns, dass wir heute Abend alles dafür gegeben haben, diesen Kampf zu beenden, und dass wir heute Abend gewonnen haben, oder alle tot sein werden?“, fragte er uns. Ich nickte als erstes und schlug ein. „Heute Abend haben wir gewonnen!“, sagte ich feste. Dann nickte Mikey und schlug ein, kurz darauf landete Elizas Hand auf unseren. „Okay“, sagte ich. „Dann los!“

Wir rannten los, ich voraus, dann folgten Finn und Mikey mir, am Schluss Eliza. Eliza und ich spannten unsere Bögen, ich lächelte ihr Mut machend zu, dann ließen wir die Sehne los und die Pfeile schwirrten davon.

Dann bekam ich von hinten einen Schlag auf den Kopf. Ich drehte mich um und sah, dass es vier Jungen geschafft hatten, sich an uns heranzuschleichen. „Angriff!“, rief ich Finn, Eliza und Mikey zu. Eliza schoss und verletzte einen der Jungen schwer, Finn griff sofort mit seinem Schwert an und auch Mikey zögerte keine Sekunde, sondern ging zum Angriff über.

Ich wollte einen Pfeil einlegen, doch ich kam nicht dazu. Der Junge vor mir packte meinen Bogen und riss ihn mir aus der Hand. Ich benutzte einen Pfeil als Waffe und versuchte, meinen bogen wieder zubekommen, denn ohne ihn war ich schutzlos. Ich packte den Jungen an den Haaren und griff nach meinem Bogen, doch es war sinnlos. Der Junge war größer, stärker und schneller als ich. Und das nutzte er aus. Er verpasste mir einen Faustschlag gegen die Schläfe, sodass ich zu Boden ging, dann rannte er mit seinen Kameraden davon. „Verdammt!“, schrie ich. „Der Typ hat meinen Bogen!“

Den anderen blieb keine Zeit etwas zu sagen, denn plötzlich hörte ich irgendwo Scarlet schreien und rannte los. „Scarlet!“, schrie ich, dann sah ich sie. Sie kämpfte gegen Will und wurde von ihm immer weiter zurückgedrängt. Meine Gruppe war mir gefolgt, jetzt zielte Eliza und schoss. die Pfeilspitze traf Will am Arm, er wurde jedoch nicht sonderlich gefährlich verletzt. Trotzdem ließ er von Scarlet ab. In wenigen Sekunden war ich bei ihr, dann stand plötzlich Lia neben uns. „Kira, Scarlet, ihr müsst Bailey suchen!“, sagte sie. „Es kann sein, dass sie in großer Gefahr ist! Dylan ist hier irgendwo im Wald, und gegen ihn hat sie keine Chance!“

Scarlet und ich sahen uns kurz an, dann nickten wir. „Finn, du kümmerst dich um Mikey und Eliza!“, sagte ich. „Ich will, dass, dieser Kampf entschieden ist, wenn wir wieder zurück sind!“, befahl ich, dann drückte ich Eliza meinen Köcher in die Hand und rannte mit Scarlet los.

Auch Scarlet war nur spärlich bewaffnet. Sie hatte ein Messer und zwei Stöcke, von denen sie einen mir gab. Zwar hatte auch ich noch ein Messer, doch ich war im Messerwerfen ungefähr so gut, wie Mikey im Schwimmen, deshalb musste ich mich wohl auf meine Schlagkraft verlassen und hoffen, dass wir Bailey schnell fanden, ich zurückkonnte, um meinen Bogen zurückzuholen und dem Typ gewaltig eine überzuziehen.

Scarlet wurde langsamer, und ich merkte, dass auch ich kaum noch Kraft zum Rennen hatte, also wurde ich langsamer und schließlich liefen wir nur noch normal nebeneinander her. „Was ist mit dir und Tim?“, fragte Scarlet mich plötzlich. „Ich hab gesehen, wie ihr euch anschaut. Du bist sauer und Tim ist traurig. Was ist passiert?“ „Scarlet, können wir das nicht ein anderes Mal besprechen?“, fragte ich sie. „Es gibt vielleicht kein anderes Mal!“, sagte Scarlet. „Ich meine, ist dir schon mal aufgefallen, wie viele Leute tot sind? Der Kampf dauert gerade mal ein paar Minuten, und wir haben schon mehr Leute getötet, als je zuvor! Wir wissen nicht mal, wie viele von uns noch übrig sind!“, sagte Scarlet. „Also, erzähl es mir. Jetzt!“, bat sie scharf, als ich schwieg.

Ich ließ mich nicht noch einmal bitten. Ich wollte diese Gefühle, die ich nicht deuten konnte, auch loswerden. Und heute war ich irgendwie in Plauderstimmung. Normalerweise behielt ich meine Probleme für mich, doch heute hatte ich sie schon Lia und Bailey vorgekaut… Da machte es ach keinen Unterschied, wenn ich es Scarlet erzählte, zumal sie mir vielleicht wirklich helfen konnte. Wir waren uns so ähnlich… Wenn mir jemand helfen konnte, dann sie, denn sie verstand mich, und wusste, wie ich dachte, sie wusste, wie ich fühlte. Das musste sie, denn auch ich konnte jeden ihrer Schritte, jeden ihrer Gedanken nachvollziehen, denn mir kamen meist genau dieselben Gedanken.

„Das ist so kompliziert!“, sagte ich und blieb stehen. Dann ließ ich mich auf einen Baumstumpf nieder. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, ich hab das Gefühl, ich hab Mist gebaut, ich weiß nicht mehr, woran ich glauben soll, was ich hoffen soll… Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin!“, sagte ich verzweifelt und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Ich weiß nicht, warum ich mich von Tim so verraten fühle. Er hat mich geküsst, Scarlet!“, sagte ich verzweifelt. Ich traf Scarlets verwunderten Blick. Klar war sie überrascht. Sie hatte nie irgendetwas zwischen mir und Tim mitbekommen. Sie dachte, wir wären Freunde.

„Er liebt mich, dafür kann er doch aber nichts! Und ich bin so gemein zu ihm! Ich weiß nicht, wieso. Ich weiß nicht, warum ich ihn so grob zurückweise. Irgendwie ist unsere Freundschaft hinüber. Sie ist einfach nicht mehr das, was sie einmal war. Und an Liebe oder eine Beziehung kann ich gar nicht denken, geschweige denn davon reden, oder mir so etwas wünschen. Alles, was ich zu ihm sage, kommt mir so… so kalt oder verzweifelt, oder irgendwie leblos vor. Ich kann nicht mehr offen mit ihm reden. Irgendwas läuft hier gewaltig falsch.

Ich kann mich nicht mehr entspannen, ich bin total aufgekratzt und unruhig, und das hat nichts mit dem Kampf zu tun!“, sagte ich und sah Scarlet an. Sie hörte mir aufmerksam zu, und ich redete weiter wie ein Wasserfall. „Ich weiß nur, dass ich da irgendwie durch muss, irgendwie weitermachen, irgendwie alles ignorieren, was mir nicht passt… Und gleichzeitig weiß ich, dass ich das nicht kann.“ Ich senkte den Kopf. „Scarlet, irgendwie hab ich ein ganz schlechtes Gefühl. Ich glaube nicht, dass wir gewinnen. Ich glaube nicht mal, dass wir diesen Tag überleben. Ich glaube… Das ist das Ende“, sagte ich kraftlos. Scarlet setzte sich neben mir auf den Boden und sagte nichts.

„Vielleicht hast du recht…“, sagte Scarlet. „Aber dieses „Du weißt nicht mehr, wer du bist“, musst du mir genauer erklären!“, bat sie und sah mich an. Ich merkte, dass sie mir wirklich helfen wollte, und dass sie mich verstand. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich habe mich verändert. Ich war nicht immer so… Ich… Ich bin total verändert!“, sagte ich.

„Wenn ich könnte, würde ich die letzten zwei Jahre aus meinem Leben streichen. Ich möchte noch einmal so sein, wie ich vor zwei Jahren war. Klar, ich war mit euch auch immer glücklich und wir hatten schöne Momente, und tolle gemeinsame Erinnerungen, die ich nie wieder vergessen will… Aber früher war ich auf eine andere Weise glücklich. Wenn ich glücklich war, dann war ich glücklich. Dann konnte nichts meiner Freude einen Dämpfer versetzen. Da hatte ich nicht irgendetwas im Hinterkopf, keine bedrückenden Gedanken. Immer, wenn ich jetzt glücklich bin, dann… Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll! Josy ist ein gutes Beispiel!“, meinte ich dann.

Ich merkte, dass ich irgendeinen Mist zusammenbrabbelte, aber ich versuchte nur, Scarlet irgendwie meine Gedanken und Gefühle klarzumachen. Und so sah es eben in mir aus: Verwirrt, unordentlich und irgendwie chaotisch.

„Wenn ich Josy sehe, wie sie herumspringt, und glücklich ist, und lacht, dann könnte ich jedes Mal mitlachen. Aber gleichzeitig muss ich daran denken, wie schnell so was vorbei sein kann. Wie schnell Jasmyn das alles zerstören könnte. Ein Pfeil würde reichen, oder ein Messer… Du hast ja selbst gesehen, wie schnell das gehen kann“, sagte ich, und musste insgeheim an Jannis denken.

„Weißt du Scarlet…“, begann ich wieder, „Wenn ich könnte, würde ich nach Hause!“, sagte ich. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Worte je sagen würde.

„Ich würde nach Hause, zu meinen Eltern, die sich hassen, die sich anschreien und um mich streiten, denen ich aber eigentlich völlig egal bin.“ Mir kamen beinahe die Tränen. „Wenn Lia mich jetzt gehen lassen würde, würde ich weglaufen. Ganz weit weg. Irgendwo, wo es keine Kampfschulen gibt, wo wir eine Familie haben können, mit Leuten, die uns lieben.“

„Also würdest du aufgeben?“, fragte Scarlet. „Alles, was wir erreicht haben, oder was wir erreichen wollen?“ In ihrer Stimme schwang kein Vorwurf mit, nur eine Frage. Vielleicht hatte sie sich mit diesen Gedanken auch schon oft auseinander gesetzt. Vielleicht war ich gar nicht die einzige, die Nächte lang wach lag und darüber nachgrübelte, ob das, was wir taten, richtig war, oder falsch, oder ob wir vielleicht einfach verschwinden sollten, ob es richtig war, dass ich mir wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können. All die Leute, die ich kennen gelernt hatte, all die Geschehnisse vergessen zu können… Wollte ich das wirklich? War ich mir da ganz sicher?

„Vielleicht nicht… Wahrscheinlich nicht. Weil ich weiß, dass ich das, was passiert ist, nie vergessen kann, und weil ich will, dass das nie wieder jemandem passiert.“ Ich dachte an Bailey, Josy, und Eliza, an alle anderen, die ich so liebte, und denen ich diese Dinge so gern erspart hätte. Ich konnte es aber nicht. Aber ich könnte andere Kinder vor diesem Schicksal retten. Ich konnte die kleinen Kinder in der Kampfschule, die Abends, wenn ich ins Bett ging, schon schlafend auf ihren Matratzen lagen, zusammengekauert, und davon träumten, was der nächste Tag ihnen bringen könnte – und davon, was er ihnen bringen wird.

All diesen Kindern könnte ich noch ein schönes Leben bescheren, wenn ich jetzt nicht aufgab, sondern weiterkämpfte.

„Nein. Ich würde nicht aufgeben. Ich gebe nicht auf. Niemand kann mich zum aufgeben bringen!“, sagte ich wütend und stand auf. „Vielleicht habe ich seit zwei Jahren nichts mehr mit Gewissheit gewusst, aber jetzt ist es so weit. Ich darf nicht aufgeben!“, sagte ich. „Ich habe eine Menge Zeit mit Zweifeln verschwendet, viele Jahre sogar, aber ich habe dabei auch etwas gelernt“, sagte ich und sah Scarlet wieder an, die mich jetzt anerkennend anlächelte. Ich dachte an Jannis. „Auch, wenn alles verloren scheint, Hoffnung gibt es immer!“, sagte ich. „Und noch ist dieser Kampf nicht vorüber!“, sagte ich zu Scarlet. „Deswegen müssen wir Bailey finden, bevor Dylan sie findet. Und eins verspreche ich dir, Scarlet: Wir werden diesen Krieg gewinnen, und dann werden wir alle glücklich sein, an irgendeinem Ort, an dem wir auch das Gefühl haben, dort hinzugehören!“ Ich dachte an Tim. Und vielleicht könnte ich seine Liebe dann zulassen… Vielleicht…

 

 

 

 

 

Bailey stapfte durchs Unterholz. Sie wusste, dass sie sich in Gefahr brachte, und dass Scarlet und Kira sehr wütend auf sie sein würden, doch es war ihr egal, so lange sie ihnen helfen konnte. Und das würde sie! Sie umklammerte das kleine Fläschchen mit dem zart rot-orangenfarbenen Inhalt feste mit der linken Hand.

„Wenn ich sie vergifte, dann haben die anderen nur noch halb so viel zu tun!“, sagte sie halblaut, und dem Moment packte sie eine Hand am Arm. „Hey!“, schrie Bailey und wollte sich losreißen. Dann drehte sie sich zu ihrem Angreifer los. Es war Dylan, einer der Jungen aus Jasmyns Bande.

„Lass mich los! Hilfe!“, schrie Bailey, doch natürlich würde sie niemand hören. Sie packte ihr Messer. „Ein kleiner Schnitt reicht!“, dachte sie. „Dann war’s das!“ Sie stach nach Dylan, doch der Junge wich aus, packte ihr rechtes Handgelenk und verdrehte ihr das Handgelenk. „Nein! Lass mich los!“, schrie Bailey wieder, doch der Junge entwand ihr das Messer. Dylan stutzte eine Sekunde, als er die rötlich glänzende Oberfläche des Messers sah, dann hielt er es gegen das Sonnenlicht und betrachtete die Klinge eine Weile. Schließlich hielt er sich das Messer unter die Nase und roch daran. „Hast du das vergiftet?“, fragte er Bailey und zog sie grob zu sich. Bailey versuchte, ihr rechtes Handgelenk zu befreien, doch Dylans Griff war zu stark. Durch Baileys Gegenwehr drückte er nur noch fester zu, sodass Bailey schließlich vor Schmerz aufgab, und beschloss, einfach nichts zu sagen, und Dylan völlig zu ignorieren.

„Hast du das vergiftet?“, fragte Dylan sie wieder, doch Bailey antwortete nicht. „Kluges Mädchen!“, sagte Dylan, der ihr Schweigen wohl als ein „Ja“ deutete. „Komm mit!“, sagte er dann zu ihr. „Wir gehen deine Freunde suchen!“ Dann zog er sie hinter sich her.

 

 

 

 

 

 

Scarlet und ich liefen weiter. Plötzlich hielt Scarlet mich an. „Hörst du das?“, fragte sie mich. Ich lauschte. Ich wusste, dass Scarlet bessere Ohren hatte, als ich. Ich hörte erst nur Vogelgezwitscher, doch dann vernahm auch ich die vertraute, leicht aufgeregte Stimme. Es war Bailey. Dann war da noch eine andere Stimme, eine tiefere und bedrohlichere. „Dylan muss sie gefunden haben!“, sagte Scarlet und wir rannten gleichzeitig wie auf Kommando los. Es dauerte nicht lange, bis wir sie gefunden hatten. „Bailey“, schrieen wir gleichzeitig. „Du hast uns doch versprochen, nichts Dummes zu machen!“, sagte Scarlet. „Es tut mir Leid! Wirklich!“, sagte Bailey und wollte sich von Dylan losreißen, doch der Junge hielt sie fest.

Ich nutzte Dylans sekundenlange Unaufmerksamkeit aus und griff an. Ich schlug mit meinem Stock nach seinem Kopf, doch er trat mir gegen die Hüfte und erwischte mich mit seinem Messer am Hals.

Ich presste meine Hand auf meinen Hals und wich vorbei. „Dylan, du hast keine Chance, es ist vorbei!“, sagte ich eindringlich. „Lass sie los!“

„Wie recht du hast“, antwortete mir Dylan. „Übler Schnitt an deinem Hals!“ Ich spürte, dass das Blut an meiner Hand klebte, doch es lief nicht an meinem hals entlang. Verbluten konnte ich also nicht. „Das ist nur ein Kratzer!“, antwortete ich überzeugt.

„Bist du dir da sicher?“, fragte Dylan mich mit gefährlich leiser Stimme. „Mit so etwas muss man vorsichtig sein. Immerhin könnte das Messer vergiftet sein!“ „Gib mir mein Messer wieder!“, schrie Bailey und wollte es Dylan aus der Hand reißen, doch Dylan stieß sie zurück und hielt das Messer mit der anderen Hand außerhalb ihrer Reichweite.

Ich war wie erstarrt. Das konnte nicht sein, oder? Doch, es war Baileys Messer, das Dylan da in der Hand hielt. Ich hatte ihr selbst geraten, das Messer mit dem Gift zu beschmieren.

„Nein!“, schrie Scarlet und stürzte, ihr Messer in der Hand, auf Dylan zu, bevor ich etwas tun konnte. Dylan riss sein Schwert aus dem Gürtel und stach nach Scarlet. „Nein!“; schrie Bailey. Ihr Schrei mischte sich mit meinem. Scarlet sah auf das Schwert, das in ihrer Magengrube steckte. Dann packte sie ihr Messer und stach es Dylan in die Schulter.

Der Junge taumelte zurück und brach zusammen. Scarlet wankte und stolperte in meine Richtung. Ich packte sie, um sie aufzufangen, doch ich war nicht in der Lage, sie zu halten und wir fielen Beide hin. Mein Blick fiel nur kurz auf die Wunde, dann schrie ich Bailey zu: „Lauf, Bailey! Hol Lia!“ Ich sah aus den Augenwinkeln, dass sie wegrannte, dann wandte ich mich wieder zu Scarlet. Ich konnte nicht glauben, was in den letzten Minuten passiert war. Scarlet packte meinen Arm und sah mir in die Augen. Ich konnte nicht sprechen, doch das musste ich auch gar nicht. „Ich würde dir ja gerne sagen, du sollst auf Bailey aufpassen…“, sagte Scarlet schwach. „Aber dafür ist es jetzt wohl zu spät.“ Ich schloss einen Moment die Augen und sah zu Dylan. Er war tot, mit Sicherheit.

„Das ist das Ende…“, meinte Scarlet und ihr Blick schweifte ab. „Für uns beide…“, sagte ich genauso schwach. Dann stockte Scarlets Atem und ihre Hand fiel von meinem Arm. Eine Träne fiel auf ihr Gesicht, als ich sie vorsichtig ablegte, und ihr die Augen schloss. Ich konnte nicht bei ihr bleiben. Ich musste zurück und den anderen helfen.

Ich stolperte, als ich aufstand. Ich war kaum in der Lage, mich auf den Beinen zu halten, ich schwankte, doch irgendwie schaffte ich es, meinen Stock aufzuheben und davonzulaufen.

 

 

 

 

 

 

Mikey schrie auf, als ihn etwas am rechten Knöchel traf. Er kniete sich hin, um den Schaden zu untersuchen. Ein Messer hatte ihm den Stiefel oberhalb des Knöchels aufgeschnitten und ihm einen tiefen Schnitt zugefügt. „Verdammt!“, fluchte Mikey leise. Dann stand er auf und sah sich um. Das Gemetzel um ihn herum ging weiter. Eliza und Finn hatte er aus den Augen verloren, doch er hoffte, dass Finn sich um Eliza kümmern würde.

Zwei Messer in der Hand lief er auf einen Jungen zu, der gegen Josy kämpfte und warf ihm das Messer an die Schläfe. Der Junge fluchte, taumelte zurück und presste sich die Hand auf die Wunde. Josy sah sich um und entdeckte Mikey. Dann lächelte sie ihn dankbar an und rannte weiter. Mikey hob sein Messer auf und machte sich auf die Suche nach Finn und Eliza – oder nach Jasmyn.

Dann entdeckte er Eliza und Finn. Eliza hatte ihren Bogen gespannt und zielte auf die Angreifer um sie herum, Finn hielt mit seinem Schwert die Gegner auf Abstand. Mikeys Messer traf ein Mädchen in den Rücken. Es stürzte zu Boden, Eliza machte einen Sprung über sie und lief auf Mikey zu. „Da bist du ja!“, rief sie. „Ist Kira zurück?“ „Ich habe sie nicht gesehen“, antwortete Mikey.

„Eliza, Mikey! Vorsicht!“, schrie Finn plötzlich. Mikey zögerte nicht, sondern duckte sich. Keine Sekunde später schoss ein Messer über ihn hinweg, das ihn getötet hätte, hätte Finn ihn nicht gewarnt. „Danke, Finn!“, sagte Mike.

Dann drehten sie sich um, und sahen dem Kämpfer in die Augen, der das Messer geworfen hatte: Jasmyn.

„Hallo, ihr drei!“, sagte Jasmyn und nahm das nächste Messer in die Hand. Plötzlich stand Lia neben ihnen. „Hey, Jasmyn, ich hab dich ja gar nicht gesehen!“, meinte Lia. Dann stieß Lia einen durchdringenden Pfiff aus, und die Killerkids versammelten sich um sie, doch Jasmyn war darauf vorbereitet und auch ihre Bande versammelte sich mit griffbereiten Waffen um sie. Da standen sie nun: Lia und Jasmyn, die sich gegenüber standen, Jasmyn mit ihrem Messer in der Hand, Lia unbewaffnet, die Banden aufeinander zielend.

Würde einer von ihnen eine vorschnelle Bewegung machen, würden sie sich alle töten, soviel stand fest. Die Killerkids konnten Lia nicht helfen, denn eine Reihe von Feinden trennte sie von ihr.

Nur Mikey, Finn und Eliza standen in Lias Nähe, doch Jasmyn hatte sie im Auge. Würden sie ihre Waffen zücken, würde Jasmyn Lia oder sie töten. Mikey dachte verzweifelt über irgendeinen Ausweg nach, doch er kam nicht mehr dazu. Finn nahm ihm die Entscheidung ab.

 

 

 

 

 

Finn hatte vermutlich nur diese eine Gelegenheit, also tat er das Einzige, was ihm auf die Schnelle einfiel: Er rannte los und stellte sich vor Lia. Sofort zielte Jasmyns Messer auf ihn. „Wen haben wir denn da?“, fragte Jasmyn ihn. „Da ist ja unser Verräter.“

„Lass Lia in Ruhe!“, sagte Finn mit fester Stimme. „Oder was?“, fragte Jasmyn gelangweilt. „Ich sag dir, was sonst passiert: Schau dich um!“, sagte Finn und wies auf die Killerkids. „Sie werden dich kein weiteres Mal werfen lassen. Du kannst nur einen von uns töten.“ Jasmyn schien einen Moment verunsichert. So hatte Finn sie noch nie erlebt, und er wusste, dass er sich ihre Wut auf ihn jetzt zu Nutzen machen konnte. „Jasmyn Thoron, du wusstest doch von Anfang an nicht, wer wirklich gefährlich ist, nicht wahr? Was dachtest du denn? Hast du nicht damit gerechnet, dass auch ich hinter deine Taktik kommen würde? Du bist so dumm…“ Jasmyn wurde wütend.

„Also, was willst du tun? Du kannst nur einen von uns töten. Entweder tötest du Lia, die du ja für sooo schlau hältst, die aber in Wirklichkeit doch nur ein kleines Mädchen ist, das einen Haufen Kinder um sich geschart hat, oder du tötest mich.“

„Und was hätte ich davon, wenn ich dich töte?“, fragte Jasmyn böse grinsend. „Das weißt du nicht?“, fragte Finn, doch seine Gedanken schlugen Purzelbäume. Er musste sich jetzt und hier auf der Stelle so interessant und so gefährlich machen, dass Jasmyn ihn für eine größere Gefahr hielt, als Lia. Und das war nicht so einfach. Lia war die Anführerin. Finn hatte nie nach ihrer Position gestrebt. Es war ihm zu viel Verantwortung, und er fühlte sich zu sehr gebunden.

Was war er schon? Er war ein fünfzehnjähriger Junge, der ein bisschen mit dem Schwert umgehen konnte, und zweimal die Seiten gewechselt hatte. Und Lia? Lia war die Anführerin von Jasmyns größten Feinden, sie konnte mit Worten umgehen, wie niemand sonst, und wenn sie wirklich wollte, konnte sie diesen Kampf alleine ausfechten, und gewinnen. Das wusste er, das wusste Jasmyn – das wussten doch im Grunde genommen alle. Also, wieso sollte Jasmyn ihn umbringen?

„Weil ich dich verraten habe, Jasmyn. Das weißt du doch. Und Verräter sind gefährlich. Gib es zu: Du würdest doch in Wirklichkeit alles für Rache an mir geben, nicht wahr? Wieso also solltest du diese Gelegenheit verstreichen lassen?“ Dann sah Finn sich um. „Und was ist mit euch?“, fragte er die Killerkids. „Wer von euch würde sein Leben für mich riskieren?“ Er sah denen, die vielleicht wirklich auf einen solchen Gedanken kommen könnten – Josy, Mikey, Eliza – warnend in die Augen. Wenn sie sein Vorhaben jetzt ruinierten… Dann drehte er sich wieder zu Jasmyn.

„Niemand. Sie würden es dich tun lassen, ohne jeden Rachegedanken, oder jegliche Schuldgefühle. Weil ich für sie auch nur ein Verräter bin. Ich war auf ihrer Seite, dann fälschlicherweise auf deiner, und jetzt bin ich wieder einer ihnen. Jedenfalls hatte ich das gehofft“, sagte Finn leise. „Aber das ist nicht wahr. Ich werde nie wieder ein Teil von irgendeiner Bande hier sein! Ist das nicht so?“, fragte Finn jetzt alle um sie herum. „Ihr verachtet mich jetzt doch alle! Alle, außer Kira. Und Lia. Lia und Kira haben immer versucht, mir zu helfen. Lia, ihr beide wart die Einzigen, die mich verstanden, oder zumindest so getan haben, als hätten sie das!“, sagte Finn zu Lia, die jetzt den Kopf senkte. „Es ist das Beste so!“, sagte Finn jetzt wieder zu allen. „Ich kann nicht zulassen, dass du Lia etwas antust, Jasmyn. Tut mir furchtbar Leid!“, sagte Finn voller Sarkasmus.

„Und du hasst mich doch auch, nicht wahr?“, fragte Finn sie und grinste. „Du wartest nur auf Rache. Gib es doch zu!“

Finn kam noch einen Schritt auf Jasmyn zu. Er wusste, dass er sie gepackt hatte. Er wusste, dass sie es tun würde. Sie würde ihn töten, aber es war ihm egal. Er konnte Lia retten und dadurch ein paar seiner Fehler wieder gutmachen. „Gut, dass Kira nicht hier ist!“, dachte er. „Sonst hätte Jasmyn sie getötet.“

Der einzige Mensch, auf den Jasmyn noch einen größeren Hass hatte, als auf Finn, war Kira. Vielleicht hatte sie auch mehr Angst vor ihr, weil sie genau wusste, dass Kiras Handeln von Rache getrieben war, und dass Kira keine Angst davor hatte, zu sterben, wenn sie Jasmyn dadurch töten könnte.

Jasmyn hob das Messer und warf.

 

 

 

 

 

Ich hatte Finns letzte Worte sprachlos mit angehört. Ob er wirklich so dachte? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ich sah, wie Jasmyn das Messer hob. „Nein…“, flüsterte ich. Nein, sie durfte Finn nicht töten. Sie hatte mir schon Jannis genommen, Scarlet war tot, nicht auch noch Finn. Ich packte meinen Bogen, riss einen Pfeil aus dem Köcher und spannte die Sehne. Ich hatte kaum Kraft, die Sehne bis zum Ohr zu ziehen, ich wusste nicht, wohin ich zielen sollte, alles kam mir seltsam verzerrt und zu bunt vor…

Innerhalb weniger Millisekunden wurde mir klar, dass ich Finn nicht retten konnte, dass wir heute alle sterben würden, dass ich nicht mehr schießen konnte…

„Nein!“, schrie ich und ließ den Pfeil los. Der Pfeil verfehlte Jasmyn um einige Meter, doch er traf etwas anderes: Mit einem hellen Kling schlug er gegen das fliegende Messer und schleuderte es zu Seite. So einen Schuss hatte ich noch nie gesehen. Wenn er jetzt noch Absicht gewesen wäre…

Ich legte einen weiteren Pfeil in die Sehne, doch im selben Moment gingen die Kämpfe weiter. Die Killerkids griffen an, Jasmyn Bande wehrte sie erfolgreich ab.

Hinter mir rannte Bailey, die mir im Wald begegnet war, auf die Kämpfenden zu. Ich hatte ihr nichts von Scarlets Tod erzählt, doch sie wusste, dass ihre Schwester nicht mehr lebte – sie ließ es sich nur nicht anmerken. Aber ich konnte ihre Gedanken lesen.

Ich wusste, wie sie dachte und fühlte, weil sie und Scarlet sich so ähnlich waren, und ich auch Scarlets Gedanken und Gefühle gekannt hatte.

Ich lief los, schwankte und fiel hin. „Verdammt…“ Ich zitterte, als ich wieder aufstand, war kaum in der Lage, mich auf den Beinen zu halten. Jede Bewegung tat mir weh, die Welt um mich herum wirkte verändert, verzerrt und zu grell. Das Sonnenlicht tat mir in den Augen weh und ich konnte nur undeutlich eine Gestalt erkennen, die auf mich zukam. Ich ging in die Knie, als ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte, zog jedoch einen Pfeil aus dem Köcher und versuchte, ihn in die Sehne einzulegen, doch statt einer Sehne sah ich zwei, meine Hände zitterten.

„Kira…“ Die Stimme, die mit mir sprach, kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht einordnen. Es war nicht Tim, nicht Lia und nicht Bailey, nicht Finn oder Mike oder Eliza… Scarlet war es natürlich auch nicht. Aber diese Stimme weckte dieselben Erinnerungen und Gefühle in mir.

„Kira…“ „Jannis“, flüsterte ich. Ich spürte seine Anwesenheit so deutlich, als würde er direkt vor mir stehen. „Komm schon, Kira, du weißt doch, dass du es schaffen kannst!“, sagte er zu mir. Ich spürte seine Berührung auf meiner Schulter, doch als ich mich umdrehte, konnte ich ihn nicht sehen. Natürlich, er war nicht wirklich da. Er war nur Einbildung… Oder?

Die Gestalt vor mir kam näher, jetzt zückte sie ein Messer. Ich schaffte es, den Pfeil in die Sehne einzulegen, den Bogen irgendwie zu spannen und den Pfeil in Richtung der Silhouette abzuschießen. Mein Feind wurde von dem Geschoss an der Schulter getroffen und ich rappelte mich auf. Taumelnd kam ich auf die Beine, stolperte ein paar Schritte vorwärts. Ich knallte gegen einen Rücken, torkelte und versuchte, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen. „Kira, was ist denn mit dir los?“, fragte mich jemand.

Ich wurde am Arm gepackt. Nur das hinderte mich daran, zu Boden zu gehen. Ich sah in ein von blonden, langen Haaren umrahmtes Gesicht, blaue Augen – oder waren es grüne? – die mich fragend anstarrten. „Ich.. Mir geht es nicht gut….“, stammelte ich, dann begann ich wieder zu zittern.

„Kira, hörst du mich?“, fragte mich Lia, dann schwankte ich wieder. „Was ist passiert?“, fragte sie. „Wo ist Scarlet?“ „Tot…“, antwortete ich kurz angebunden, dann hielt ich mich mit beiden Händen an Lias Schulter fest, um nicht zu stürzen. „Scheiße, Lia, mir geht es gar nicht gut… Ich kann mich kaum bewegen, und wenn ich es tue, dann kippe ich um!“, sagte ich und sah sie hilfesuchend an. „Ich… ich…“ Ich konnte nicht weitersprechen. Ich wusste plötzlich nicht mehr, was ich sagen wollte.

„Kira? Kira…?“ Lias Stimme verblasste, ebenso, wie die Kampfgeräusche um mich herum. Ich sah sie verständnislos an. Warum sprach sie so leise? Warum war alles um mich herum so leise. Was war passiert?

Ich wollte mich nur noch hinlegen, doch Lia hielt mich fest und ich schlang Halt suchend meine Arme um ihre Schultern. Plötzlich ließ ich sie los und schoss einen weiteren Pfeil auf einen Jungen ab, der gefährlich nahe an uns herangekommen war. Irgendwie traf ich ihn.

„Kira?!“ Lia schrie mich jetzt an. „Was ist mit dir?! Wo ist Bailey? Was ist mit Scarlet passiert?“

„Dylan… Es war… Ich… Er… und dann…“ Ich keuchte und fixierte die vielen kleinen Steinchen auf dem Boden zu meinen Füßen, die alle gleich aussahen, und auch ein einziger sein konnten. „Hör mir zu, Kira, ich…“ Mehr verstand ich nicht, doch ich nickte trotzdem.

Dann schleifte mich Lia aus dem Kampfgetümmel ein Stück in den Wald. Ich war kaum in der Lage, mich auf den Beinen zu halten, weshalb Lia mich mehr trug, als dass ich lief.

Dann ließ ich mich zu Boden fallen und Lia gab mir aus ihrer Flasche zu trinken. „Jetzt red!“, befahl Lia mir grob. „Was ist passiert?“ Ich konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen, ich zitterte wie Espenlaub, ich wusste nur, dass Scarlet tot war, dass Jannis tot war, und dass ich sterben würde.

 

 

 

 

Eine Weile lang faselte Kira wirres Zeug über „Messer“, „Blut“ und „Gift“… Dann gesellten sich Wörter wie „tot“, „Dylan“ und „verletzt“ hinzu.

Lia nahm Kiras Hände in ihre und erschrak darüber, wie kalt sie waren. Auch Kiras Gesicht und ihre Arme waren eiskalt. Als sie ihre Hände wieder sinken ließ, streifte sie Kiras Hals und spürte eine lauwarme Flüssigkeit an ihren Händen. „Kira, was ist das?“, fragte Lia sie, und hielt ihr ihre Hände hin. Sie waren voller Blut, aber der metallische Blutgeruch war vermischt mit einem zweiten: Er war süßlich und doch bitter.

Kira sah verständnislos auf Lias Hände, hob dann eine Hand und strich über Lias Finger, murmelte: „Nicht berühren…“, dann lehnte sie sich an einen Baum und Lia gab ihr noch mal zu trinken.

„Was soll ich nicht berühren?“, fragte Lia geduldig. Alles in allem machte Kira keinen gesunden Eindruck, auch wenn Lia nicht wusste, ob das von dem Schock und der Fassungslosigkeit über Scarlets Tod kam, oder ob noch ein zweiter Faktor hinzukam. „Kira?“, fragte Lia das Mädchen wieder. „Kannst du mich hören?“

„Ich fühle mich nicht gut…“, antwortete Kira schwach. „Bist du verletzt?“, fragte Lia sie. Kira schloss kurz die Augen, um ihre Sinne zu sammeln und nickte dann. „Wo?“ Sie hatte bereits den kleinen Schnitt an Kiras Hals bemerkt, doch der konnte unmöglich eine so verheerende Wirkung auf Kira haben. Oder? Was war diese süßlich riechende Flüssigkeit, die Lia bemerkt hatte?

Kira hob die Hand und legte sie auf den Schnitt an ihrem Hals. „Ist das die einzige Verletzung, die du hast?“, fragte Lia und Kira nickte.

„Dreh den Kopf!“, sagte Lia und begann, den Schnitt genauer zu untersuchen. „Kira, was ist das?“, fragte sie und hielt ihr ihre Hände unter die Nase, an denen dieser seltsame, orangefarbene Saft klebte. Kira schien verzweifelt und wischte Lias Hände mit ihrem Hemdärmel ab. „Nicht anfassen!“, wiederholte sie energisch und ließ den Kopf zurücksinken. „Was ist das?“, wiederholte Lia eindringlich. „Gift…“, sagte Kira leise.

Lia hatte das Gefühl einen Schlag in den Magen zu bekommen. „Woher?“, fragte sie gedämpft. „Ich hab… habe es Bailey gegeben… Verteidigung…“, flüsterte Kira. „Auf ihrem Messer… Dylan hat… mit dem Messer…“ Weiter konnte sie nicht sprechen, doch sie zeigte auf ihren Hals. „Dylan hat euch angegriffen?“, fragte Lia nach. „Und dabei hat er Scarlet getötet und dich mit dem vergifteten Messer verletzt?“ Kira nickte.

„Verdammt…“, flüsterte Lia. „Kira, hör mir zu, ich muss zurück zu den anderen und ihnen helfen, ja? Du bleibst hier, und rührst dich nicht vom Fleck!“, befahl Lia.

Sie wartete nicht auf Kiras Reaktion, stand auf und lief los.

 

 

 

 

 

Die Bäume um mich herum schillerten in einem grellen grün, der Himmel über mir war blassrosa bis orange-lila. Ich hielt mich mit einer Hand am Baum fest, mit der Anderen stützte ich mich am Boden ab und stand auf. Das Gras fühlte sich brennend heiß an, ich zitterte am ganzen Körper… Aufstehen… Muss aufstehen… Ich kam auf die Beine und fand mein Gleichgewicht.

Meinen Bogen mit der linken Hand fest umklammert fischte ich einen Pfeil aus meinem Köcher und legte ihn trotz großer Mühe in meine Bogensehne.

Plötzlich sah ich wieder schärfer, die Welt drehte sich wieder mit normaler Geschwindigkeit, und die Farben fanden allmählich zu ihrem normalen Kontrast zurück.

Ich rannte los. Ich durfte keine Zeit verlieren.

Als ich wieder beim Kampfgetümmel ankam, sah es ziemlich übel für uns aus. Die meisten waren verletzt und hielten sich nur noch mit Mühe auf den Beinen.

Ich hob meinen Bogen in Angriffsposition, zielte suchend umher.

Ich suchte Jasmyn und fand sie: Sie kämpfte gegen Mikey und Quinn, die beiden verdeckten mir die Sicht, und ich konnte nicht schießen. Ich fluchte und rannte dann zu ihnen. Kurz, bevor ich bei ihnen ankam, schrie Lia: „Rückzug!“ „Was?“, fragte ich. Mikey und Quinn waren schon auf dem Rückweg. „Kira, komm!“, sagte Mikey und zog mich am Handgelenk mit sich. „Nein! Mikey, lass mich los!“, sagte ich, doch Mikey zog weiter an meiner Hand.

„Nein!“, wiederholte ich, doch dann kamen auch die Anderen. „Kira, komm schon!“, sagte Henry, und schließlich lief ich mit ihnen mit. Ich holte zu Lia auf, die mich verwundert ansah. „Wo kommst du denn her?“, fragte sie mich. „Ich hatte dir doch gesagt, du sollst dich nicht bewegen!“ „Es geht mir besser!“, sagte ich beschwichtigend. „Tu mir nur einen einzigen Gefallen, und sag es fürs erste niemandem, ja? Aber… Aber wenn dich jemand fragt, sag ihm die Wahrheit.“ Lia nickte verständnisvoll, dann liefen wir getrennt weiter.

Als wir am Lager angekommen waren, versorgte Lia die verletzten und unterbreitete uns dann ihren Plan: „Wir werden uns nur kurz erholen, und sie dann sofort wieder angreifen!“, sagte sie. „Sobald alle Verletzten versorgt sind, gehen wir mit den Leuten zurück, die in der Lage sind, zu kämpfen.“

Lia sah Henry, Chloe, mich und Tim der Reihe nach an, um sich zu vergewissern, dass wir ihr zugehört hatten. Scarlets Platz an meiner Seite war leer. Niemand hatte es gewagt, den freien Raum zwischen mir und Henry, wo sie normalerweise stand, auszufüllen. Sie wusste oder erahnten alle, was passiert war.

Ich jedoch hatte den Kragen meiner Jacke zu hochgeklappt, dass niemand den Schnitt sehen konnte. Ich wollte jetzt wirklich keine Fragen beantworten, vor allem nicht Tim gegenüber. Ich wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Ich wollte einfach nur allein sein. „Habt ihr das alle verstanden?“, fragte Lia uns.

Ich nickte und entfernte mich dann. „Was ist denn mit Kira los?“, hörte ich Chloe fragen. „Ist nicht so wichtig!“, sagte ich und ging in den Wald. Sie würden es noch früh genug erfahren. Sie alle…

 

 

 

 

 

Das dumpfe Pieksen an ihrem Kopf störte Eliza nicht. Sie hatte gesehen, dass nicht alle zurückgekommen waren. Mikey war da, und Kira und Josy. Auch Conny und Quinn waren am Leben. Bailey war allein und verstört hinter ihnen hergestolpert und schien mit den Gedanken weit, weit weg zu sein. Eliza hatte nicht den Mut gefunden, sie zu fragen, was passiert war.

Sie war zwischen Jordan, der mit Connors Hilfe Joshua stützte, der eine tiefe Stichwunde an der linken Wade hatte, zurückgelaufen, und hatte versucht, Kyle, der durch einen Wunde am Arm viel Blut verlor, zu helfen. Sie hatte kaum Zeit gehabt, sich nach irgendjemandem umzusehen, aber viele waren verletzt.

Jetzt waren sie wieder zurück, Lia, Chloe, Henry und Tim waren zusammen von einer Besprechung zurückgekommen. Scarlet und Kira hatte Eliza nirgendwo gesehen, doch sie wusste, dass Kira unverletzt war. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sie zusammen mit Finn und Tim gesehen. Vermutlich waren sie und Scarlet irgendwo zusammen unterwegs.

Eliza beobachtete das Gewusel um sie herum. Lia schrie irgendwelche Befehle herum, Jordan, Kyle, Thomas und Oliver brachten ihr daraufhin einige Wasserflaschen, und Lia begann damit, Joshuas verletztes Bein zu verbinden.

Eliza schauderte, als sie sich umsah. Hier war das blanke Chaos ausgebrochen. Wendy kniete neben Billie auf dem Boden, und nähte einen langen Schnitt an ihrem linken Schulterblatt, Billies Zwillingsbruder Bryan saß daneben und gab Billie zu trinken.

Liam und Quinn rannten mit Decken beladen durchs Lager. „Liam!“, schrie Lia dem Jungen zu und winkte ihn zu sich, dann gab sie ihm ein paar knappe Befehle, der Junge nickte und lief davon.

Noch immer hatte sich Eliza keinen Überblick über die Verletzten oder sogar Toten verschaffen können. In ihrem Lager ging es zu, wie in einem Ameisenhaufen.

Mikey versuchte mit Wendys Hilfe, Josys Platzwunde an ihrer rechten Schläfe zu verarzten, Lia war jetzt mit Billies Schulter fertig und machte sich jetzt an Bryans Rippen, an denen er einen Streifschuss eines Pfeils abbekommen hatte.

Oliver und Henry halfen Joshua auf und stützten ihn. Liam drückte Finn einen Stapel Decken in die Hand und dann liefen sie zusammen mit Quinn durch die Gegend, brachten den Verletzten Wasserflaschen und Decken, während Conny neue Verbände zu Lia und Wendy brachte.

Jetzt kam Wendy zu Eliza und setzte sich mit einem nassen Lappen vor ihr auf den Boden. Dann begann sie, Elizas Wunden auszuwaschen.

Eliza sah aus den Augenwinkeln, dass Kira allein in den Wald stapfte. Sie sah ziemlich fertig aus. „Was ist denn mit Kira passiert?“, fragte sie Wendy, die gerade eine Platzwunde an ihrer Stirn verarztete. „Weiß ich nicht“, antwortete Wendy. „Das musst du sie fragen. Vielleicht weiß ja auch Lia mehr. Ich habe jedenfalls bemerkt, dass Kira und Scarlet zusammen in den Wald gegangen sind, und nur Kira zurückgekommen ist…“, fügte sie dann hinzu. „Du glaubst… Du glaubst, Scarlet ist… tot?“, fragte Eliza stotternd. „Oder vielleicht verletzt…?“ Wendy schüttelte zaghaft den Kopf, dann zögerte sie etwas länger und zuckte dann vorsichtig mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu.

Als Wendy fertig war, suchte Eliza Bailey, und fand sie weinend auf einem Baumstamm. „Bailey?“, fragte sie vorsichtig und berührte ihre Freundin an der Schulter. „Was… Was ist passiert?“ Auch Josy und Quinn waren bei ihr, doch Bailey reagierte weder auf sie, noch auf Eliza.

„Das haben wir sie auch schon gefragt, aber sie sagt einfach nichts!“, meinte Josy. „Ich glaube, es ist etwas mit Scarlet passiert. Sie ist nicht zurückgekommen…“, fügte Quinn hinzu.

Eliza setzte sich neben Bailey auf den Baumstamm und umarmte ihre Freundin. Sie sah erst wieder auf, als Lia bei ihnen stand.

„Bailey, das mit Scarlet tut mir Leid!“, sagte Lia und setzte sich neben Bailey. „Es tut mir so Leid.“ Bailey schluchzte und schmiss sich dann Lia in die Arme. „Ist Kira deshalb so… fertig?“, fragte Eliza. Lia nickte, doch etwas in ihrem Blick sagte Eliza, dass es nicht alles war. „Sie war dabei“, schluchzte Bailey. „Und…“ Bailey verstummte und sah mit großen, verheulten Augen zu Lia, die fast unmerklich den Kopf schüttelte.

„Was und?“, wollte Josy wissen. „Das kann doch nicht alles sein!“, sagte Eliza. „Ich habe sie doch nach Jannis’ Tod gesehen. Sie war nicht… Sie war nicht so fertig. Sie war eher wütend, aber nicht traurig. Ihr scheint jetzt alles egal zu sein. Da ist doch noch etwas!“, sagte sie und sah Lia an. „Sag es uns, Lia! Bitte!“, sagte Quinn.

„Na gut…“, meinte Lia, und dann begann sie zu erzählen.

 

 

 

 

 

 

Sie fanden Kira auf einem Baumstamm außerhalb des Lagers sitzend. „Ist es wahr?“, fragte Eliza schwach und mit Tränen in den Augen. „Das, was Lia gesagt hat?“ Kira musste wissen, was sie meinte, denn sie nickte. Eliza schluchzte, rannte zu Kira und vergrub das Gesicht in ihrer Jacke. „Du darfst nicht sterben!“, flüsterte sie. „Das ist nicht fair!“

„Komm schon, Eliza!“, sagte Kira grob. „Du weißt, doch, wie es im Leben ist.“ Man sah, dass auch sie mit den Tränen kämpfte. Sie hielt Eliza auf Armeslänge von sich weg. Jetzt kamen auch Bailey, Josy und Quinn zu ihr und umarmten sie. Josy schluchzte, Bailey weinte noch immer um ihre beiden Schwestern, die sie heute beide verlieren würde, Quinn war einfach nur verzweifelt.

„Hey, Josy!“, sagte Kira und hob Josys Kinn hoch. „Du musst mir versprechen, dass du auf deine Schwester aufpasst, okay? Sie baut manchmal eine Menge Mist.“ Josy nickte und wischte sich tapfer die Tränen ab. Bailey streifte den blutbefleckten Verband von ihrem Kopf, warf ihn auf die Erde und trat mit dem Schuh drauf. „Bailey, lass das!“, sagte Kira.

Bailey schüttelte kraftlos den Kopf und begrub das weiße Stück Stoff unter einer schichte feuchter Erde.

Sie hörte nur Elizas Schluchzen, Josy, die tapfer daneben stand und die Tränen zurückzuhalten versuchte, Quinn saß neben ihnen allen und starrte auf den Boden. Kira legte Eliza sachte den Arm auf die Schulter. „Es tut mir so Leid!“, flüsterte Kira und drückte Eliza an sich.

Dann hörte Bailey Lias Pfiff. Es war das Zeichen, sich wieder zum Kampf zu versammeln. Kira stand auf und schob Eliza von sich. „Du willst wieder kämpfen?“; fragte Eliza sie erstaunt. „Du willst das doch auch, oder?“, fragte Kira sie und deutete auf ihre Platzwunde an der Stirn, dann auf den Schnitt am Oberarm, aus dem noch immer trotz eines Druckverbandes Blut sickerte. Sie waren alle ziemlich ramponiert. „Wir sehen aus, wie vom Schrottplatz!“, meinte Josy absolut ernst und packte mit den Zähnen den Verband um ihr Handgelenk, der sich gelöst hatte, und band ihn wieder fest.

„Also, kommt schon. Rächen wir uns an Jasmyn, dafür, was sie uns angetan hat!“, sagte Quinn und sprang auf.

„Auf jeden Fall!“, sagte Josy. Dann umarmte Kira sie alle. „Ich hab euch alle lieb, das wisst ihr!“, sagte Kira.

Einen Moment lang schwankte Kira, fand jedoch ihr Gleichgewicht wieder und packte ihren Bogen.

„Kommt schon!“, sagte sie und lief los. Bailey, Josy, Quinn und Eliza folgten ihr. Bailey suchte ihr Messer und dann stellten sie sich auf. Alle hatten darauf bestanden, wieder zu kämpfen. Sogar Joshua stand wackelig auf seinen Beinen, aber er stand. Keine Verletzung der Welt konnte sie jetzt aufhalten.

„Auf in den Kampf!“, sagte Eliza, die neben Bailey stand. Bailey sah sie an. Sie sah entschlossen aus, und Bailey fragte sich, woher sie ihren Mut nahm. Dieses kleine Mädchen, der Kira so wichtig war, wie Scarlet Bailey gewesen war. Bailey würde sie heute beide verlieren. Und auch Eliza würde eine große Schwester verlieren, wenn nicht sogar ihren großen Bruder. Sie alle hatten Geschwister, die in unmittelbarer Gefahr waren. Doch mussten sie nicht genau deswegen jetzt kämpfen? Weil das, was passiert war, so schrecklich, so grausam und falsch war, dass sie jetzt nicht mehr nachgeben konnten? Daran musste Bailey immer denken, wenn die Angst sie zu überwältigen drohte.

„Ich hab keine Angst!“, sagte Bailey. „Und du?“, fragte sie Eliza dann. Eliza schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Wieso auch?“ Bailey verstand sie. Sie waren vollkommen abgestumpft. Sie hatten jede Angst vor Tod oder Schmerz verloren. Heute würden sie alles verlieren, was ihnen wichtig war, und niemand würde es ändern können. Wozu Angst haben?

Dann gingen sie alle zusammen los.

 

 

 

 

 

Ich mied Tims Gegenwart und machte einen großen Bogen um ihn herum. Hin und wieder stolperte ich, doch ich marschierte selbstbewusst weiter. Am liebsten hätte ich geheult. Nicht wegen mir und nicht wegen Scarlet – wegen Bailey, wegen Eliza, Josy, Lia, Mikey und auch wegen Tim, wegen allen, die ich allein lassen würde. Das einzige, was ich hoffen konnte, war, diese Kämpfe zu beenden, und ihr Leben zu retten.

Irgendwann bekam ich mit, dass wir angekommen waren, und Lia ein weiteres Mal den Befehl zum Angriff gab. Ich sah, wie die anderen an mir vorbeistürmten, und konzentrierte mich einige Sekunden auf den Horizont, um die aufkommende Übelkeit in mir zu unterdrücken. Dann rannte ich los.

Ich spürte wieder, wie die Welt um mich herum schwankte, ich schloss die Augen und versuchte, mich auf meine Füße zu konzentrieren. „Ich schaff das…“, sagte ich mir. „Ich schaff das!“ Ich sah Jannis vor mir auftauchen. In dem grellen Licht vor meinen Augen sah ich ihn, ich fühlte seine Gegenwart, ich wusste, dass er bei mir war…

Kira. Du weißt, dass ich immer bei dir bin, nicht wahr?“

„Ja, das weiß ich!“, murmelte ich, dann öffnete ich die Augen wieder. Ich spürte Jannis’ Berührung, ich spürte, wie er mir half, den Bogen zu heben, ihn zu spannen, und wie er meinen Pfeil lenkte.

Ich hörte Lia schreien. Irgendetwas musste schiefgegangen sein. Ich wusste nicht, was es war, aber einige Killerkids zogen sich zurück. Nur ich konnte jetzt nicht aufgeben. Ich musste diesen Kampf jetzt beenden, für Bailey, für Josy, Lia, Mikey, Eliza, für Scarlet und Jannis…

Ich merkte erst jetzt, dass ich schon einige Zeit beobachtete, wie Jasmyn Finn und Bailey kämpfte. Plötzlich zuckte eine Erinnerung durch meinen Kopf, als ich sah, wie Jasmyns Messer Bailey am Unterarm traf, und ihr eine Schnittwunde zufügte… Es war ein lauwarmer Frühlingsabend… Ich sah alles genau vor mir. Es war noch gar nicht lange her, aber trotzdem kam es mir vor wie eine Erinnerung an einen längst vergessenen Traum… Oder einen Traum aus einem Traum. Es fühlte sich unwirklich an, doch dieses Gespräch zwischen Bailey und mir hatte es gegeben, ich wusste es ganz genau:

Was ist dein größter Wunsch auf der ganzen Welt?“ „Ich wünsche mir, dass du glücklich bist. Ihr alle!“ „Dann bleib immer bei mir, okay? Ich bin immer glücklich, wenn du in meiner Nähe bist.“ „Wenn das so ist… Dann werde ich bei dir bleiben. Für immer!“

„Ich will, dass ihr glücklich seid… Aber ich werde nicht immer bei euch sein können…!“, flüsterte ich. Dann lief ich auf Bailey, Finn und Jasmyn zu. Ich hob meinen Bogen, zielte auf Jasmyn, die sich nun zu mir umwendete, ihr Messer nach Bailey warf und einen Bogen von ihrem Rücken nahm. Sie legte einen Pfeil ein, ich spannte die Sehne und brüllte: „Bailey, lauf!“ Dann ließ ich meinen Pfeil los, Jasmyn ihren eigenen. Irgendwie verfehlte mich Jasmyns Pfeil, meiner traf das Ziel. Bailey lief davon, ich sah es aus den Augenwinkeln, ich stolperte und sah Finn, der unschlüssig etwas entfernt von mir stand und nicht wusste, was er tun sollte. Als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah ich Jasmyn, die noch immer aufrecht stand, doch ich wusste, dass sie sich nicht mehr lange würde halten können.

Doch sie hatte noch einen letzten Trumpf, den sie nun ausspielte. Sie ergriff einen letzten Pfeil, legte ihn in die Sehne und zielte auf mich. „Na los, töte mich doch!“, dachte ich, doch Jasmyn erstarrte mitten in der Bewegung. Sie wollte mich nicht töten. Sie wollte mich so sehr verletzen, wie nur irgend möglich. Sie riss den Bogen herum und zielte auf Finn. Ich wusste, was sie vorhatte. Finn konnte sich nicht mehr selbst retten, aber ich konnte ihn retten. „Es tut mir Leid!“, sagte ich und dachte dabei an meine ganze Familie, meine Freunde, meine Geschwister, die Menschen, die ich so liebte.

Mein ganzes Leben hatte ich Jasmyns Pläne durchkreuzt, und ich würde es heute noch ein letztes Mal tun, das war sicher.

Dann lief ich los. Ich stieß Finn zur Seite, der mir fassungslos entgegengestarrt hatte. Er wusste, was ich vorhatte. Der Pfeil traf mich einige Zentimeter neben dem linken Arm und ich fiel hin.

Ich hörte einen dumpfen Aufprall, als Jasmyn zusammenbrach. Ich wusste, dass sie tot war. Sie musste tot sein…“Kira! Kira!“, rief Finn. Er packte mich an der rechten, unverletzten Schulter und drehte mich so, dass ich ihm in die Augen sehen musste. „Finn…“, flüsterte ich. „Bleib ganz ruhig!“, sagte Finn. „Du darfst nicht reden, ja? Halt durch!“ „Nein, Finn!“; sagte ich, als er mich hochheben wollte. „Hör mir zu… Du musst jetzt auf sie aufpassen, ja? Du musst auf Bailey aufpassen. Sie hat niemanden mehr außer dir. Du hast Scarlet gemocht, das weiß ich, und du magst mich… Das hoffe ich zumindest!“, sagte ich leise. „Auch wenn du keinerlei Grund dafür hast.“ Natürlich hab ich Grund dazu!“; sagte Finn, und ich sah, dass sich eine Träne aus seinem Auge stahl.

„Ich mag dich… Das weißt du. Wir sind Freunde. Für immer!“, sagte Finn und streckte mir die Hand entgegen. Ich schaffte es, meine rechte Hand zu heben, und in seine Hand einzuschlagen. „Klar… Für immer…“, sagte ich leise. Die Wunde tat schrecklich weh, und ich fühlte mich schwach, aber ich zog Finn ein Stück näher zu mir. „Sag Tim, dass mir alles Leid tut, was ich gesagt habe, und was ich getan habe. Und gib ihm etwas von mir, ja?“, fragte ich Finn. Finn nickte und wartete darauf, dass ich ihm das gab, was er Tim geben sollte. Ich zog ihn zu mir, und küsste ihn. „Der war für Tim, also nimm’s nicht persönlich!“, sagte ich und rang mir ein lächeln ab. Auch Finn lächelte, doch sein lächeln war gequält und traurig, er sah aus, als hätte er starke Schmerzen.

„Kira…“, begann er wieder, doch ich unterbrach ihn. Ich wollte nichts hören, keine tröstenden Worte, dass alles wieder gut werden würde… Das würde es nicht werden. „Verspricht mir, dass du auf Bailey aufpasst!“, ermahnte ich ihn wieder. „Und sag allen, dass ich sie liebe, ja? Ich liebe euch alle. Pass gut auf sie auf, Finn, bitte. Auf alle! Versprich es mir!“, sagte ich eindringlich.

„Ich verspreche es dir! Ich verspreche es dir!“, sagte Finn verzweifelt. „Ich bin immer bei euch, so wie Jannis es ist, und Scarlet. Finn…“, begann ich wieder. Mein Atem ging flacher und ich bekam kaum noch Luft. „Es tut mir Leid…“ Ich erinnerte mich an einen lauen Frühlingstag vor fast genau einem Jahr.

Ich hab dir vertraut, Bareen! Ich hab dir vertraut! Und du hast zugelassen, dass sie ihn tötet! Du bist schuld daran! Ich hasse dich!“

Ich hatte ihn angeschrien, ihn für Dinge verantwortlich gemacht, für die er nichts konnte, die außerhalb seiner Macht standen – und außerhalb meiner Macht. Das konnte ich mir damals noch nicht eingestehen.

„Du weißt, was immer ich gegen dich gesagt habe, war falsch. Du hattest keine andere Wahl, du musstest an dein eigenes Leben denken. Das weiß ich, und die anderen wissen das auch. Du bist einer von uns, und wir hatten kein Recht, so mit dir umzugehen, und dich einen Verräter zu nennen. Es tut mir Leid…“, sagte ich und nahm Finns Hand noch einmal. „Ich weiß…“, sagte Finn. „Gegen die Strömung…?“ Meine Stimme hatte einen leicht fragenden Ton angenommen. „Gegen die Strömung…“, stimmte Finn mir zu. „Und ich passe auf sie auf. Mach dir keine Sorgen, Kira. Ich passe auf sie auf…“

 

 

 

 

 

 

 

Lia erhob sich stöhnend, als Henry vor ihr auftauchte und ihr sagte, dass sie dringend gebraucht würde. Ihr rechter Arm steckte bis zum Ellenbogen in einem dicken weißen Verband, den Wendy ihr gemacht hatte, um eine tiefe Schnittwunde zu versorgen, die sich über ihren gesamten Unterarm erstreckte.

Sie hinkte mit dem linken Fuß etwas – sie war beim Rennen umgeknickt und nun war ihr Fuß so sehr geschwollen, dass sie nicht mehr in der Lage war, den Schuh auszuziehen, um den Schaden genauer zu untersuchen, doch da sie ihn belasten konnte, ohne vor Schmerzen zu schreien, war sie sich sicher, dass keine Fraktur vorlag.

Fast alle waren verletzt, aber auch fast alle waren noch am Leben. Alle außer Scarlet… Und Kira würde nicht mehr lange durchhalten. Überhaupt – wo war Kira? Lia fasste sich stöhnend an den Kopf, als sie aufstand und ihr schwindelig wurde, dann folgte Henry.

Bald darauf hatte sie eine Antwort auf ihre Frage gefunden.

Sie hörte Tim schluchzen und ahnte Schreckliches. Trotz ihres verwundeten Fußes rannte sie los. In der Mitte des Lagers hatte sich ein Kreis gebildet, den sie jedoch schnell durchbrach. Vor ihr auf dem Boden lag Kira, Tim hatte ihren Kopf in seinen Schoß gebettet und schluchzte. Lia musste nicht zu ihr gehen, um zu wissen, dass sie tot war – sie war blass, das Gift hätte sie längst umgebracht, auch wenn nicht ein schwarz-weiß gefiederter Pfeil in ihrer Brust stecken würde.

„Tim…“, sagte Finn und stand auf. Er hatte neben Kiras Kopf gekniet, jetzt packte er Tim unter den Armen und zog ihn hoch. „Komm schon, Tim… Steh auf!“, sagte er. „Lass mich los!“, schrie Tim ihn an und stieß ihn weg. „Lass mich los!“ Er keuchte wütend und sah Finn drohend an. „Ich hab ihr versprochen, euch zu beschützen. Dich auch!“, sagte Finn. „Du willst mich beschützen?!“, schrie Tim. „Wie willst du das machen, hm?“ Tim kam provozierend näher. „Was willst du machen, Verräter?!“ Lia sah ungläubig, wie Finn ausholte und Tim einen rechten Haken verpasste, sodass dieser bewusstlos hinfiel. Chloe und Bryan fingen ihn auf, bevor er auf den Boden schlug.

„Das werde ich machen!“, sagte Finn zu dem bewusstlosen Tim. „Das werde ich auch bei euch machen. Bei jedem einzelnen von euch, wenn ich euch damit beschützen kann!“, sagte Finn zu der versammelten Bande um ihn herum. „Und ich werde es nicht für euch tun. Jedenfalls nicht nur. Ich werde es hauptsächlich für Kira tun, denn ich habe es ihr versprochen. Also, wer von euch hat vor, als nächstes auszuflippen?“, fragte Finn und hielt seine Fäuste in Angriffsposition.

Lia wusste, dass sie jetzt etwas tun musste. „Finn hat Recht!“; sagte sie und sprang ihm zur Seite. „Wir müssen jetzt für einander da sein. Jasmyn könnte immer noch…“ „Jasmyn ist tot!“, unterbrach Finn sie. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!“ „Du hast sie umgebracht?“, fragte Henry nach einer Pause. „Nein. Kira hat es getan.“

Es folgte eine lange Pause.

„Ich wusste, dass sie es schafft!“, sagte Eliza leise. Lia nickte instinktiv. In der Zwischenzeit hatten einige Leute Tim aus dem Weg getragen und auf den Boden gelegt. Lia ging neben ihm in die Knie, legte ihm die Hand auf die Stirn und sah sich seinen Kopf an, wo ihn Finns Schlag getroffen hatte. Irgendwann kam Josy zu ihr und legte ihr von hinten die Arme um den Hals. Lia drehte sich um und schloss ihre Schwester in die Arme.

 

 

 

 

 

Finn sah, dass sich Tims Hand bewegte. Er war die ganze Nacht bei ihm gesessen und hatte darauf gewartet, dass er sich von dem Kinnhaken erholte. Jetzt drehte Tim den Kopf und sah zu Finn. Finn legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, als Tim sich aufsetzen wollte. Einen Moment lang sahen sich die beiden Jungen an, dann fragte Finn Tim unvermittelt: „Was wirst du jetzt machen?“

Finn war mit einem Mal klar geworden, dass er hier nicht bleiben konnte und wollte. Er wollte weg von hier, weg von diesem Ort, an dem er nur wegen Kira geblieben war.

Weißt du, manchmal würde ich so gern einfach loslaufen, immer weiter, so weit ich kann.“

Finn erinnerte sich an seine Worte. „Weißt du, was ich machen werde?“, fragte er Tim, als ihm dieser nicht antwortete. „Ich werde noch heute alles packen, was ich habe, und fortgehen.“ „Wohin?“, fragte Tim ihn. „Nirgendwo hin. Einfach immer weiter und weiter. Also – willst du mit?“, fragte Finn Tim. Tim sah ihn perplex an, zögerte einen Moment – dann nickte er. „Dann lass uns packen!“, sagte Finn und streckte Tim die Hand entgegen.

Tim ergriff sie und stand auf.

 

 

Wenige Stunden später erklärten die Jungen Lia ihren Plan. Zu Finns großer Überraschung nickte sie, ohne zu versuchen, sie davon abzuhalten. „Ich halte das für eine gute Idee, wenn wir uns auflösen!“, sagte sie sogar. „Jeder kann natürlich mit den Leuten zusammenbleiben, mit denen er möchte… Aber es ist einfach zu viel passiert.“ Dann sah sie die Jungs an. „Viel Glück euch beiden!“ Kurz entschlossen umarmte sie erst Finn und dann Tim.

„Ich hoffe, wir werden alle glücklich!“ „Das hoffe ich auch“, sagte Finn. „Ich bin mir sogar absolut sicher!“, sagte Tim.

Dann verabschiedeten sie sich vom Rest ihrer ehemaligen Bande. Natürlich flossen Tränen und bei den Kleinsten war es am schlimmsten. „Ich will nicht, dass ihr geht!“, schluchzte Eliza und klammerte sich an Finns Bein. Auch Josy schien die beiden um jeden Preis behalten zu wollen, und hatte Tims rechten Fuß in den Schwitzkasten genommen. „Hey, Eliza!“, sagte Finn. „Wir werden uns sicher irgendwann wiedersehen!“ „Man sieht sich immer zweimal im Leben!“, sagte auch Mikey, als er sich von Finn verabschiedete. Finn sah den Jungen lange an, dann wandte er den Blick ab.

Lange Umarmungen folgten, Abschiedsworte, die Finn am liebsten sofort vergessen oder nie gehört hätte. Wider Erwarten weinten viele der Kinder um sie herum, und irgendwie wusste Finn, dass es nicht nur wegen Kiras und Scarlets Tod war, weil Tim jetzt einfach ging, und sie zurückließ, sondern auch, weil Finn ging. Er hätte es sich nie erträumen lassen, je ein Teil von ihnen zu sein, doch ganz offenbar war er es.

Schließlich trennten sich die beiden doch schweren Herzens von den versammelten Kindern um sie herum und marschierten los. „Ich soll dir im Übrigen noch was von Kira geben…“, sagte Finn und wurde rot. „Wirklich?“, fragte Tim ihn. „Was denn?“ Er streckte die Hand danach aus, so wie Finn es auch bei Kira getan hatte. Finn musste ein Lächeln unterdrücken und druckste etwas unsicher rum. „Na ja…. Es ist nicht wirklich etwas zum… in die Hand geben“, wand er sich. „Eher zum auf den Mund geben“, dachte er und überlegte sich, wie er das am besten anstellen sollte. „Wie denn dann?“, fragte Tim Finn. Finn verzog dass Gesicht. „Augen zu, und durch!“, dachte er sich. Dann packte er Tim and er Schulter und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Tim schien erst überrascht, dann angeekelt, dann schien er den tieferen Sinn verstanden zu haben. „Ist das… ist das dein Ernst?“, fragte er Finn ungläubig. „Nimm’s bloß nicht persönlich!“, sagte Finn und wischte sich den Mund ab. „Ist nicht ernst gemeint! Jedenfalls nicht von mir…“ Tim starrte ihn noch eine Weile fassungslos an, dann breitete sich ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Oh mein Gott!“, flüsterte er. Finn hob seinen Rucksack auf, den er abgelegt hatte und sagte: „Na komm schon! Oder willst du hier Wurzeln schlagen?“ Tim sah ihm hinterher, als Finn sich zum gehen wendete, dann jedoch hörte Finn schnelle Schritte hinter sich und kurz darauf tauchte Tim neben ihm auf.

„Welche Richtung?“, fragte Finn am Ende des Lagers. „Dahin!“, sagte Tim und deutete auf die untergehende Sonne. „Zur Sonne?“, fragte Finn ihn und zog die Augenbrauen hoch. „Nein“, sagte Tim und sah ihn an. „Zu den Bergen.“

 

 

Ende des siebten und letzten Bandes

288

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vielen Dank für das Cover! Es ist ganz wundervoll geworden und wurde von Wolf erstellt!

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