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Das magische Amulett 3 - Der Anfang einer neuen Legende

 

 

 

 

Rückblick auf:

Das magische Amulett:

 

Der neunjährige Kevin lebt mit seiner Familie in dem kleinen Ort Narel. Als er mit einem Mal ein Amulett findet, das ihm Zauberkräfte verleiht, ändert sich sein Leben schlagartig. Der Elf Dreon nimmt ihn auf eine Reise zu den Sindern mit, die ihn mit Hilfe der Zwerge ausbilden sollen.

Doch es gibt einen Haken: Die Elfen und Sinder sind verfeindet, da die Sinder den Elfen die Schuld am Tod ihrer Königin geben. Kevin soll den Sindern einen neuen König oder eine neue Königin geben, die Elfen und Sinder vereinen und Ramor, der hinter dem Amulett her ist, töten. Bei den Sindern lernt er Faleon kennen, einen Drachenreiter und seinen Lehrmeister. Von ihm erfährt er auch, dass auch Kevin einen Drachen bekommen würde. Als er sich daraufhin die Drachendame Ciara aussucht, den einzigen weiblichen Drachen, den es noch gibt und kurz darauf das Elfenmädchen Alanis auftaucht, um von ihnen ausgebildet zu werden, bekommt Ciara Junge: Phönix und Pegasus. Das ganze spielt sich weit weg vom Sinderland, der Heimat der Sinder ab, nämlich bei den Zwergen.

Alanis verliebt sich sogleich in Phönix und wird seine Reiterin. Pegasus soll zu den Sindern gebracht werden. Faleon und Kevin machen sich auf den Weg. Sie stoßen auf Ramor, der Kevin das Amulett stielt und Faleon gefangen nimmt. Kevin ruft Alanis und macht sich mit ihr auf den Weg, Faleon zu befreien. Die Kinder und Ciara müssen ein schweres Rätsel lösen, das sie in den Wald des Schreckens führt. Dort stoßen sie auf Victoria, die ihnen hilft, das Rätsel zu lösen.

Als sie Ramors Versteck finden, wird der kleine Drache Saira geboren. Vicy findet sie total süß und Saira bestimmt sie zu ihrer Reiterin. Kevin und Ciara beschließen, sie auszubilden, während Faleon gefangen ist

In Sairas Geburtsnacht wird Kevin es durch Zufall klar: Er ist in einen Hinterhalt gelockt worden. Alanis und Faleon stecken mit Ramor unter einer Decke. Auch Ciara ist darin verwickelt und Faleons Drache Juster. Dennoch rettet Ciara Vicy und Kevin, setzt sie jedoch in der Cardetsteppe zu ihrer eigenen Sicherheit ab. Nach kurzer Zeit finden Faleon und Alanis sie. Vicy macht Kevin ein Geständnis: Sie ist eine Halbelfe, Dreons Tochter und Alanis’ Halbschwester. Kevin ist geschockt, doch dafür bleibt nicht viel Zeit. Bei einer Verfolgung gelingt Vicy und Kevin die Flucht. Sie fliehen in einen Wald.

Dort leben sie drei Jahre und treffen sich dann mit ihren Drachen, um Ramor zu töten. Was Kevin nicht weiß ist, dass Ramor darauf bereits vorbereitet ist.

Sie werden dementsprechend Empfangen, doch Kevin fordert Ramor zum Duell, in dem er ihn besiegt. Er wird in einen Kampf gegen Alanis, Faleon und einen Dämonen, der seine Gestalt ändern kann, verwickelt. Der Dämon und Faleon werden getötet, doch Alanis und Phönix gelingt die Flucht. Kevin und Vicy gehen zu den Sindern und dort stellt einer der Sinder, Drebilon einiges klar: Faleon und Alanis waren die Verräter, die Sinder und Elfen standen nur unter ihrem Einfluss. Kevin will seine Aufgabe abschließen und erklärt Victoria zur Königin der Sinder.

Kevin und Vicy spüren Alanis bei den Elfen auf. Kevin macht sich auf den Weg zu ihnen. Was er nicht weiß ist, dass Alanis bereits die Königin der Elfen geworden ist. Kevin wird gefangen genommen, doch Victoria befreit ihn wieder. Dabei müssen sie gegen zwei neue Reiter antreten: Colrim und Dreon.

Sie gewinnen, werden jedoch am nächsten Tag wieder von Alanis und ihren Elfen angegriffen. Colrim und Alanis sterben dabei, Alanis und Phönix werden allerdings zu Schatten und sind nun beinahe unbesiegbar. Man kann sie nur durch Alanis’ Herz besiegen. Alanis lockt Kevin und Vicy auf eine falsche Spur, Vicy und Kevin schleusen sich bei den Elfen ein, wollen Alanis Herz finden und es zerstören, doch das ist nicht so einfach. Alanis erkennt sie und flieht nach Sobekkat, der Hauptstadt. Kevin und Vicy besuchen die Elfen ein drittes Mal, als Kevin seinen Ful’caestas ven hat, einen Zaubervorgang, der den Reiter mit dem Drachen auf Leben und Tod verbindet. Kevin darf nun einen Sattel haben. Doch das dauert seine Zeit.

Solang bleiben Vicy und Kevin als Gäste bei den Elfen, wo Kevin erst von Alanis angegriffen wird und sich danach heftig mit Vicy und Ciara streitet. Kevin bekommt Angst, weil er glaubt, Alanis würde versuchen Vicy etwas anzutun und geht sie suchen. Dabei trifft er auf den Waldgott, einen prächtigen Hirsch, der dem Jungen hilft, Vicy zu finden.

Dann schenkt er Kevin noch ein Stück von seinem Geweih und erklärt ihm, dass er nur einen Zauber zu sagen hätte, dann würde er ihm helfen. Kevin findet Vicy unverletzt. Kevin und Vicy geben nicht auf und verfolgen Alanis nach Sobekkat, als sie herausfinden, dass sie sich dort versteckt hält.

Doch Alanis schützt sich perfekt und die Beiden haben keine Chance, an sie heranzukommen. Als die Elfen, Zwerge und Sinder jedoch mit vereinten Kräften die Stadt unterwerfen, will Alanis fliehen, schickt aber noch einmal einen Zauber nach Kevin. Ciara rettet ihn, Vicy wird jedoch getroffen. Vicy stirbt und Kevin will sie durch den Waldgott retten lassen, doch dieser kann nichts tun.

Er gibt Kevin jedoch den Tipp, dass er mit dem Herrscher der Dunkelheit um sie handeln könne, wenn er sie wirklich lieben würde.

Kevin erfährt, dass Ramor gar nicht tot ist und schwört sich, ihn zu töten, Vicy zurückzuholen und dann auch Alanis zu töten.

 

 

 

 

 

Rückblick auf:

Das magische Amulett 2

 

Die Rückkehr:

 

Kevin zieht mit Ciara los, um Vicy zurückzuholen. Sie treffen auf Tena, der sich dazu entschließt, die Beiden zu begleiten.

Im Abor-Gebirge treffen sie den jungen Werwolf Toby, der sich kurz entschlossen der Gruppe anschließt. Es gelingt ihnen, Vicy zurückzuholen, doch Kevin muss das Amulett für Saira eintauschen, da sie sonst nicht mit zurückgekommen wäre. Alle sind glücklich, doch plötzlich ist Kevin wie ausgewechselt. Eines Nachts läuft er weg. Er belegt Ciara mit einem Zauber, sodass sie ihn nicht finden kann. Plötzlich findet er den Raben Krawp, der ihn von seinen Freunden weggelockt hatte. Doch Kevin ist ihm deshalb nicht böse.

Auch er hatte Angst um seine Freunde, daher entschließt er sich, mit dem Raben davonzulaufen. Vicy schickt ein Pferd los, das Kevin suchen und ihm helfen soll.

Als Kevin von einem Riesen vor einem Troll gerettet wird und in eine Höhle gebracht wird, wo ihm ein Wahrsager sagt, dass seine Heimatstadt Narel von Alanis bedroht wird, versucht Kevin die Riesen als verbündete zu bekommen. Als die Riesen sich weigern, Kevin zu helfen, seine Freunde zu retten, läuft er mit Krawp davon.

Er findet Narel zerstört und zum Teil verlassen. Er muss gegen Alanis kämpfen, um seine Geschwister Elijah, Lily und Leila und seine drei Freunde Lindsay, Jeff und Thomas zu retten.

Er will sie mitnehmen, um sie vor Alanis zu schützen, doch unterwegs werden sie von Solektho angegriffen, von denen einer Kevin schwer verletzt.

Das von Vicy losgeschickte Pferd taucht auf und bringt Kevin und seine Freunde in den Elfenwald, wo der Waldgott Kevin heilt.

Während Kevin beschließt, Vicy, Toby und Tena zu retten, da er weiß, dass sie von Alanis’ Streitmacht bedroht werden, reitet Vicy, die inzwischen wieder bei den Sindern ist, aus und stößt auf ein Dämonenpferd, das drauf und dran ist, sie zu töten. Sie kann fliehen, doch die Drohungen des Pferdes bleiben ihr im Gedächtnis. Es sagte, dass das Böse sie verfolgen würde, wohin sie auch ginge.

Kevin reitet unterdessen allein los und lässt Jeff, Thomas, Lindsay, Elijah, Lily und Leila allein zurück, um seine Freunde und Geschwister zu schützen und Vicy zu retten. Doch Jeff und Thomas drücken die Verantwortung auf Lindsay ab und folgen Kevin. Da Lindsay nicht einsieht, dass sie den Jungen nicht helfen darf, lässt sie Elijah und die beiden Mädchen Lily und Leila allein zurück. Elijah will ihnen auch helfen und geht allein los. Lily und Leila bleiben allein zurück. Lindsay holt die beiden Jungen auf, doch der Vorsprung ist zu groß, als dass Elijah ihn aufholen könnte. Er reitet allein durch die Wildnis mit seinem Pony Max, das ihm das Leben gerettet hat.

Vicy, Toby und Tena trafen bereits auf Leor, den Kobold. Vicy will das Amulett zurückhaben, doch sie will es auch nicht stehlen. Sie bittet Leor, es zu holen und das Messer, das Kevin ihr vor einigen Jahren geschenkt hat, an seiner Stelle bei Ramor zu lassen.

Als Leor zurückkommt, gibt er ihr das Amulett, doch Toby traut ihm noch immer nicht. Vicy trifft noch ein weiters Mal auf das Dämonenpferd, doch Toby rettet sie.

Lily und Leila suchen währenddessen Schutz bei den Elfen. Krawp erklärt Kevin, dass Lily und Leila allein im Elfenwald herumirren und Kevin weiß ganz genau, dass Alanis nach ihnen suchen, und sie finden wird.

 

 

 

 

 

Erstes Kapitel: Schneller!

 

Die Sonne glänzte golden und legte die ganze Welt in einen unwirklichen Schein. Die Bäume wiegten sich im leichten Wind, die Wolken schimmerten rosarot im sanften Abendlich.

Ein mächtiger Bussard schoss auf den Boden zu und stieg mit seiner Beute, einer jungen Feldmaus, wieder in die Höhe.

Die Sonne schien durch die grünen Zweige.

Sie tauchte den Waldboden in goldenes Licht und zauberte dunkle, unwirklich aussehende Schatten auf die weiche Erde.

Ein prächtiger Hirsch reckte den Kopf zu den obersten Zweigen eines jungen Baumes und knabberte vorsichtig einige zarte Blätter ab.

Bei dem kleinsten Geräusch spitzte er aufmerksam die Ohren. So, wie ein Erdmännchen über seine Familie wacht, der Leithengst über seine Herde, so wachte dieser Hirsch über die ganze Welt.

Der Hirsch wandte den Kopf. Von seinem Geweih fehlte ein winziges Stück. Dieses Stück hatte er einmal einer ganz bestimmten Person geschenkt. Einem Jungen, in den er noch immer große Hoffnung setzte.

Dort, wo der Hirsch stand, schien der Wald lebendig zu sein. Blumen sprossen, Schmetterlinge flatterten um die Hufe des Wildtieres, die Sonne schien durch die Blätter. Sie ließ das Fell des Waldgottes glänzen. Dort, wo der Waldgott eben ein Blatt vom Baum abgerissen hatte, teilte sich der Ast, er trieb neu und für ein abgerupftes Blatt wuchsen viele neue Blätter. Es war, als würde der Waldgott langsam alles Böse aus der Welt vernichten; Jedenfalls an dem Fleckchen Erde, auf dem er stand.

Wieder hob der Waldgott anmutig den Kopf. Sein Blick suchte den Wald nach Gefahr ab. Als er nichts entdeckte, senkte das Tier den Kopf und begann beruhigt zu grasen.

Ein schöner Abend. Ein schöner Wald. Doch der Wald ahnte nichts davon, was sich an diesem Tag noch auf seinem heiligen Boden ereignen sollte.

 

 

Kevin trieb sein Pferd immer weiter. Immer schneller. Er musste zu seinen Geschwistern, und zwar schnell. Er wusste nicht, wo Alanis sich aufhielt.

Doch er musste schnell handeln. Er ließ sein Pferd schneller laufen, als Krawp fliegen konnte. Daher musste sich der Rabe auf Kevins Schulter festhalten. Der Wind zerzauste ihm das Gefieder.

Kevin lehnte sich über den Hals des Pferdes und hielt Krawp fest. Sein Pferd keuchte schwer, blieb aber nicht stehen.

„Wohin gehen wir?“, krähte Krawp gegen den Wind.

„In den Elfenwald! Ich muss Lily und Leila retten! Alanis wird sie finden, wenn ich ihnen nicht helfe!“, rief Kevin und hielt sich in der Mähne fest, während das Pony über einen Baumstamm sprang. Kevin wusste, dass sie zu spät waren. Dass es nicht mehr sinnvoll war zu hoffen.

Doch er durfte und wollte nicht aufgeben. Er musste seine Geschwister finden und sie vor Alanis retten. Seine größte Angst war nun, all das zu verlieren, für das er jahrelang gekämpft hatte.

Für seine Familie hatte er das getan. Damit er eines Tages wieder unbeschwert mit ihnen leben konnte. Doch Alanis hatte ihm alles genommen, woran ihm etwas lag: Seine Heimat, seine Eltern… Fast alles. Elijah, Lily und Leila nicht. Und Jeff, Thomas und Lindsay auch nicht.

Und das sollte auch so bleiben.

Dafür musste Kevin sorgen, und wenn er Alanis vorher töten musste, um seine Schwestern zu retten, er würde auch gegen Ramor persönlich noch einmal antreten, er würde in die Hölle und wieder zurück gehen, nur um seine Geschwister zu retten.

Dieser Gedanke gab ihm wieder Kraft. Als er über sich die Geräusche von rauschenden Flügeln hörte, sank sein Mut wieder von hundert auf null. Es war Phönix, der über ihm flog, das wusste Kevin genau.

Wieder trieb Kevin das Pferd an. Es verlängerte seine Galoppsprünge, doch Kevin wusste, dass das Tier es nicht mit Phönix’ Geschwindigkeit aufnehmen konnte.

„Wir schaffen es nicht! Wir sind nicht schnell genug!“, dachte Kevin panisch. „Bitte. Bitte! Wir müssen es schaffen!“, dachte er. Er trieb sein Pferd voller Angst weiter. Schneller. Immer schneller. Doch nicht schnell genug, wie er wusste. Er sah vor sich den Wald. Über ihm war Phönix. Der Drache legte die Flügel dicht an den beschuppten Körper und flog davon. Über dem Elfenwald breitete er die Flügel aus um den Schwung abzufangen und ließ sich langsam durch das Blätterdach gleiten, bis er aus Kevins Blickfeld verschwunden war.

 

 

Lily und Leila konnten vor sich eine Lichtung sehen. „Hier leben die Elfen, glaube ich.“ Sie trat einen Schritt auf die Lichtung. Was sie dort sah, verschlug ihr die Sprache. Sie hatte noch nie eine so große Lichtung gesehen. Es war wunderschön.

Die Elfen liefen fröhlich über den mit Moos und Gras bedecken Waldboden, ein Elfenmädchen saß im Schneidersitz auf dem Boden und sang leise in einer fremden Sprache vor sich hin, ein kleines Elfenkind saß mit ausgestreckten Beinen neben und lauschte ihrer Stimme, ein paar Elfen kamen gerade von der Jagd, überall schallte glockenhelles Lachen durch die Luft.

Doch dann bemerkten sie die Kinder. Sie scharten sich um sie ihr und beobachteten sie aufmerksam. „Wer seid ihr?“, fragte ein großer Elf die beiden Mädchen.

„Ich bin Lily und das ist meine Schwester Leila. Wir… Wir sind die Geschwister von Kevin, ich glaube, er war schon einmal hier“, sagte Lily verunsichert und sah sich um.

Der Elf lächelte sie an und sagte: „Natürlich war er das. Ich kann mich noch genau daran erinnern!“ Doch plötzlich verfinsterte sich seine Miene und er sah an den Kindern vorbei.

Die Überraschung und leichte Wut in seinem Gesicht wandelte sich in Entsetzen um, als die Kinder plötzlich merkten, wie sie von hinten gepackt wurden. Lily drehte sich ruckartig um. Da stand eine Elfe hinter ihm, aus Rauch und Nebel, doch ihr Griff war so fest wie aus Eisen.

„A-Alanis!“ Lily zuckte zusammen, als sie den Namen hörte.

„So, so, hab ich euch endlich gefunden!“ Alanis lachte, doch dabei blieb sie seltsamerweise vollkommen ernst. Die Elfen waren einen Schritt zurückgewichen. „Wenn ihr hier seid, ist sicher auch euer großer Bruder hier, hab ich Recht?“

Lily war wie erstarrt, doch jetzt sagte sie: „Nein, den musst du ganz wo anders suchen!“ Dabei setzte sie ihre trotzigste Miene auf, die sie aufsetzen konnte. Alanis sah sie böse an. „Ich glaube euch nicht! Euer Bruder würde doch niemals seine Aufsichtspflicht verletzen! Also, wo ist er?“ Lily wich einen Schritt zurück und zog Leila dabei auch mit nach hinten. „Ich weiß es nicht!“ „Du sagst es mir besser, oder es wird für euch beide schlimme Folgen haben!“, drohte Alanis und kam einen Schritt auf sie zu. „Aber wenn ich es doch nicht weiß! Er ist nicht hier, er ist ganz allein losgegangen und die Anderen sind ihm hinterher und haben uns alleine hier gelassen!“, schrie Lily erschrocken von Alanis’ Drohung. Die Elfe überlegte. „Na gut, dann werdet ihr mir beim Suchen helfen!“, befahl Alanis, packte die beiden Schwestern, die zappelten und um sich schlugen, und setzte sie auf ihren Drachen, der zu ihnen gekommen war.

Da mischte sich plötzlich einer der Elfen ein. „ Lass die Kinder in Ruhe, sie haben dir nichts getan! Du kannst sie nicht einfach entführen, Alanis! Das kannst du nicht tun!“ Doch Alanis lächelte böse.

„Zu spät, ich hab’s schon getan!“ Damit schwang sie in auf Phönix’ Sattel und Phönix flog los. Leila hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt, doch jetzt begann sie zu strampeln. „Lass mich runter, ich bin kein Drachenreiter! Lass mich runter!“ Sie schrie, so laut sie konnte.

„Hilfe! Ahhhhh!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Lass uns runter!“ Doch Alanis hielt das Kind mit eisernem Griff fest und dachte gar nicht daran, ihrem Wunsch nachzukommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zweites Kapitel: Zu spät

 

Kevin sah Alanis über sich auf den Elfenwald zufliegen und landen. Wenige Minuten später sah er, wie Phönix sich wieder in den Himmel erhob, doch Alanis schien mit aller Kraft etwas festzuhalten.

Im selben Moment hörte er Leilas Schrei. „Nein!“ Er wendete sein Pony, sodass Krawp von seiner Schulter fiel. „Pass doch auf!“, krächzte der empört und flatterte ihm hinterher. Kevin hatte das Gefühl, sein Pferd würde sich in Zeitlupe bewegen.

Er musste seinen Schwestern helfen. Doch als er nach oben sah, konnte er Alanis nirgends entdecken. Das Pony blieb stehen, als es merkte, dass Kevins Aufmerksamkeit nicht mehr auf es gerichtet war. „Wir waren zu spät. Wir haben sie verloren.“ Kevin zitterte vor Angst und Wut. Das einzige, was ihm half, nicht vollkommen den Verstand zu verlieren, war, dass er wusste, dass Alanis mit seinen Geschwistern nicht auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde.

Nein, sie würde schon sehr bald wiederkommen und ihm ein Tauschgeschäft vorschlagen. Das Amulett gegen seine zwei Geschwister. Doch er hatte das Amulett nicht einmal.

„Krawp, was soll ich tun?“ Krawp dachte einen Augenblick ernsthaft nach, dann sagte er: „Folge mir!“ Er flog ein Stück voraus und drehte sich dann wieder zu Kevin um. „Komm mit!“ Kevin ließ sein Pferd zu Krawp galoppieren und folgte dem Raben. „Wohin gehen wir?“ Der Rabe antwortete nicht. „Er weiß es selbst nicht!“, wurde Kevin klar. „Aber er weiß, dass es nichts hilft, hier herumzusitzen. Er hat nur nicht den Mumm, es mir zu sagen… Feiger Vogel!“

 

 

 

Drittes Kapitel: Der Wasserfall

 

Elijah wachte auf. Er setzte sich auf und sah sich um. Dann versuchte er die letzten Ereignisse in seinem Kopf zu ordnen. Er war in den Fluss gefallen. Er hatte seine Geschwister alleine im Elfenwald zurückgelassen. Seine Geschwister! Jetzt war es unmöglich, den Vorsprung, den die Anderen hatten, aufzuholen, also würde er Leila und Lily holen.

Er sah sich nach Max um. Das Pony graste friedlich ein paar Schritte von ihm entfernt. „Max!“, rief er dem Tier entgegen. Max hob den Kopf und kam auf ihn zugetrabt.

„So ist’s brav!“ Elijah lobte ihn und schwang sich dann auf Max’ Rücken. Der Sattel lag irgendwo im Fluss. Eine Trense brauchte er nicht, Max hatte Vertrauen zu ihm gefasst und würde auf ihn hören. „Ich muss meine Geschwister finden, hörst du? Aber ich kenne den Weg nicht. Kannst du mich hier wegbringen, schaffst du das?“ Max’ Ohren zuckten ein paar Mal, während Elijah sprach, dann lief das kleine Pony los.

Elijah hielt sich in der Mähne fest und lies ihn sich seinen eigenen Weg suchen. Max ging ein paar Schritte am Fluss entlang und begann dann zu galoppieren.

Er hielt sich immer am Wasser.

Nach einigen Stunden kamen sie an einen gewaltigen Wasserfall. „So, du hast uns in eine Sackgasse geführt. Gut gemacht. Was jetzt?“ Elijah sah ihn abwartend an. Max lief auf den Wasserfall zu. Da erkannte Elijah den schmalen Pfad hinter den Wassermassen, der an der Felswand entlang ans andere Ufer führte. Er lächelte. Max setzte vorsichtig einen Huf auf den glitschigen Fels und dann noch einen. Als er sicher stand ging er vorsichtig, aber flott hinter dem Wasserfall entlang.

„Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann!“, lobte Elijah ihn, als sie das andere Ufer erreicht hatten. In dem Moment, als Elijah sich vorbeugte, um Max den Hals zu streicheln stieß mit einem wütenden Schrei ein Adler auf ihn herab.

Elijah fuhr herum.

Er sah die scharfen, gebogenen Krallen auf sich zukommen. Elijah hielt sich schützend die Arme über seinen Kopf. Er schrie erschrocken auf, als er das Gleichgewicht verlor. Er versuchte, Max’ Mähne zu erwischen, doch er griff ins Leere. „Nein!“ Elijah spürte, dass er fiel.

Plötzlich klatschte er mit dem Rücken ins Wasser. Seine Klamotten waren schwer, sie zogen ihn nach unten. Er schwamm schnell an die Oberfläche und holte tief Luft. Er strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und rieb sich das Wasser aus den Augen, um etwas sehen zu können. Er drehte sich um und suchte den Vogel, der ihn angegriffen hatte.

Er sah ihn über sich kreisen. Der Adler schrie wieder und stieß auf ihn herab. Mit einem weiteren Aufschrei tauchte Elijah wieder unter. „Was soll ich nur tun?!“, fragte er sich verzweifelt. Der Sog des Wasserfalls zerrte an ihm und zog ihn immer wieder nach unten. Wieder musste der Junge Luft holen und wieder griff ihn der Vogel an. Schnell wie eine Forelle tauchte Elijah ab. Er musste irgendetwas finden, das er als Waffe gegen den Vogel benutzen konnte. Er war sich inzwischen sicher, dass Alanis den Vogel auf ihn gehetzt hatte.

Bevor er irgendetwas unternehmen konnte musste er wieder Luft holen. Er sah aus den Augenwinkeln, dass Max am Ufer stand und in den Wellen nach ihm suchte. Als das Pony seinen Reiter erkannte, wieherte es aufgeregt, doch Elijah sah den Adler die Flügel anlegen. Elijah tauchte unter und war im Wasser verschwunden.

Er schwamm immer tiefer, bis er den Grund unter seinen Fingern fühlte. Im Schlamm suchte er nach irgendetwas, was er als Waffe benutzen konnte. Seine Finger wühlten den Grund um und wirbelten Dreck auf, bis Elijah nichts mehr sehen konnte.

Mit zugekniffenen Augen tastete er sich weiter durch den Schlamm und als er schon das Gefühl hatte, seine Lunge würde platzen, wenn er nicht an die Luft käme, strichen seine Finger über etwas Hartes.

Mit einem neuen Funken Hoffnung packte er zu und riss daran, was auch immer es war. Doch es bewegte sich nicht. Es steckte fest. Mit einem Aufschrei der Verzweiflung, der von den Wassermassen um ihn herum erstickt wurde, tauchte Elijah nach oben. Seine Lunge füllte sich mit Sauerstoff und ohne ein einziges Mal die Augen zu öffnen, tauchte er wieder auf den Boden des Flusses. Er fand die Stelle sofort wieder, an der er gefunden hatte, was er brauchte. Seine Finger schlossen sich um einen langen, kalten Griff.

Es war, als wäre es für seine Hand geschaffen. Er riss ein paar Mal kräftig daran. Nichts rührte sich. Elijah packte den Griff ein letztes Mal mit beiden Händen. Er stemmte die Füße in den Schlamm und zog so fest er konnte. Mit einem plötzlichen Ruck fiel er nach hinten, den Griff fest in der Hand. Elijah öffnete die Augen. Das schlammige Flusswasser brannte in seinen Augen. Es war ein Schwert, was er da in der Hand hielt. Es war das Letzte, womit er gerechnet hatte. Das Schwert war rostig und Elijah wusste nicht, wie es in den Fluss gekommen war, doch es war ihm egal. Er konnte sich gegen den Adler wehren. Das war ihm jetzt das Wichtigste. Er versuchte mit dem Schwert zu schwimmen, doch es war zu schwer. Er ließ es los und tauchte auf, um wieder Luft zu holen.

Er sah das Schwert schimmern, als er wieder auf den Boden schwamm. Er hielt es mit beiden Händen und stieß sich mit den Füßen ab. Er sah etwas aus den Augenwinkeln und fuhr alarmiert herum. Neben ihm schoss der Adler ins Wasser. Elijah spürte, wie der Vogel seine Krallen in Elijahs Schulter schlug. Vor Schmerz und Wut schrie Elijah auf und riss das Schwert in die Höhe. Er kam an die Wasseroberfläche. Er spuckte das Wasser aus, das er geschluckt hatte. Er ruderte mit den Armen. „Max! Hilfe!“, brüllte er aus vollem Hals. Das Pony stand am Ufer und sah ihn hilflos an. Der Adler stieß noch einmal herab, doch Elijah wich ihm geschickt aus. Er ging kurz unter. Das Gewicht des Schwertes zog ihn wieder auf den Grund des Sees zu. Er kam wieder an die Luft und packte das Schwert fester.

Die Angst und der Schmerz verliehen ihm Bärenkräfte. Über ihm kreise der Adler. Das Tier schrie wütend, es legte die Flügel an und schoss auf Elijah zu, Elijah riss das Schwert in die Höhe und hielt es dem Adler entgegen.

In dem Moment breitete der Adler die Flügel aus, fing den Schwung ab und flog kreischen davon.

Elijah wusste nicht, was den Vogel dazu gebracht hatte, doch es war ihm auch egal. Er war in Sicherheit. Außerdem hatte seine Schulter aufgehört zu bluten. Er schwamm dem Ufer entgegen, das Schwert noch immer in der Hand.

Doch es behinderte ihn, er kam kaum vorwärts und er wurde schwächer.

Er konnte nicht mehr lange schwimmen, weshalb er es losließ. Er sah ihm hinterher, wie es auf den Boden des Flusses zurücksank und dort im Schlamm verschwand. Vielleicht würde es wieder einmal jemandem das Leben retten. Elijah drehte sich wieder in Richtung Ufer, schwamm ans Ufer und kletterte aus dem Fluss.

Einige Male rutschte er am rutschigen Ufer ab, da er kaum noch Kraft hatte, doch als schließlich Max vorsichtig auf ihn zugetappt kam und Elijah sich an seiner Mähne festhalten konnte, gelang es ihm, aus dem Fluss zu klettern.

Zitternd vor Kälte und Aufregung brauchte er auch einige Versuche, bis er es schaffte, auf Max’ Rücken zu springen.

Als er es schließlich geschafft hatte, hielt er sich erschöpft und tropfnass an Max’ Mähne fest und ließ das Pony seinen eigenen Weg finden, hoffend, dass es der Richtige sein würde.

 

Elijah hielt das Pony an und rutschte langsam von seinem Rücken. Er stolperte, als er auf dem Boden aufkam. Er war schrecklich müde und hatte Angst gehabt, von Max’ Rücken zu fallen, wenn er sich nicht ausruhen würde.

Er setzte sich auf den feuchten Waldboden und versuchte zu schlafen. Er sah Max’ Schatten, der zufrieden graste. Elijah wälzte sich lange hin und her, bevor er einschlafen konnte.

 

 

 

 

Viertes Kapitel: Der Reiter

 

Jeffrey, Thomas und Lindsay ritten über eine weite Ebene. Die Freunde hatten noch nie eine Welt so unberührt von der Zivilisation gesehen. Alles sah so anders aus, als bei ihnen zu Hause. Dort gab es Straßen, Autos und vieles mehr, man sah nicht, wie wunderbar die Natur war.

Doch hier waren weit und breit weder Straßen noch Autos zu sehen. Hier war einfach nur Natur. Vereinzelte Bäume und Büsche, rechts von ihnen lag in der Ferne ein Wald, links von ihnen sah man einen Fluss schimmern, vor ihnen war nur Gras.

„Ich glaube kaum, dass wir Kevin noch einholen können!“, rief Thomas, doch Jeff hörte nicht zu. Er sprang vom Pferd und sah sich die Abdrücke einiger Hufe an, die, noch deutlich zu sehen, in die feuchte Erde eingedrückt waren.

„Hier! Die sind ganz frisch!“, meinte er. Im selben Moment horchte er auf. „Hört ihr das?“ Er legte wie ein Neandertaler seine Ohren auf den Boden. „Gib nicht so an, du weißt genau, dass deine Ohren besser sind als unsere!“, murrte Thomas. „Ein Reiter!“, erklärte Jeff. „Er nähert sich uns.“ „Woher weißt du das?“, fragte Lindsay.

„Das Trommeln der Hufe wird lauter!“

„Und woher weißt du, dass es ein Reiter ist und nicht nur ein Pferd?“, fragte Thomas.

Er hoffte, endlich einmal einen Fehler von Jeffrey gefunden zu haben.

„Weil es nur ein Pferd ist und Pferde sind Herdentiere. Sie würden sich nie allein ohne eine Herde herumtreiben! Außerdem trägt es Hufeisen.“ Thomas stöhnte auf. Immer wollte Jeff Recht haben.

Und das Schlimmste war, dass er immer Recht hatte. Thomas hätte nicht gesagt, dass er eifersüchtig war, aber schließlich mochte er Lindsay, und wenn Jeffrey immer im Vordergrund stand, wie sollte er dann jemals Lindsays Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Jeffrey stand auf und sprang in den Sattel. „Kommt mit!“

Thomas und Lindsay trieben ihre Pferde hinter Jeffreys Pferd her.

„Na, wo steckt dein toller Reiter denn?“, fragte Thomas. Jeff sah ihn verächtlich an. „Warte nur, der kommt schon noch!“, sagte er. Thomas schüttelte den Kopf und sah zu Lindsay. Sie schien müde. „Jeff! Wir sollten eine Pause machen!“, rief er Jeff hinterher, der ein Stück weiter nach vorne getrabt war, und trabte zu ihm. Jeff nickte. „Vielleicht sollten wir das tun. Die Pferde sind schon völlig außer Atem!“ „Ich meinte wegen uns!“, fuhr Thomas ihn an.

Jeff sah ihn an und zog eine Augenbraue hoch. „Oder vielleicht doch nur wegen Lindsay?“ Jeff lächelte triumphierend, als Thomas kurz den Kopf senkte. „Ist da jemand verknallt?“, fragte Jeff gerade so leise, dass Lindsay es nicht mitbekam. „Was du dir alles einbildest!“ Thomas riss sein Pony wütend an den Zügeln herum, sodass das Tier kurz schnaubte, dann galoppierte er zu Lindsay. „Hey, Lindsay, wir machen eine Pause!“, rief er und wendete neben ihr sein Pferd. „Okay“, antwortete das Mädchen.

Jeff kam zurück. „Es gibt hier in der ganzen Umgebung keine Bäume. Wir können also am Besten gleich hier rasten.“ Damit sprang er auch schon vom Pferd. Thomas und Lindsay stiegen ab und setzten sich neben ihn, während Jeff sein Feuerzeug zückte und ein paar Äste auf einen Haufen warf. „Hat jemand Hunger?“, fragte er und sah Lindsay und Thomas an. „Wenn du was zu essen hast, sag ich nicht nein!“, meinte Lindsay lachend. „Ich hab auch ein bisschen Hunger!“, sagte Thomas. Lindsay sah ihn fragend an. „Nur ein bisschen?“ Thomas lachte. „Ich hab ein bisschen Bärenhunger!“ Jeff zündete die Zweige an und spießte auf seinen Stock ein Stück Fleisch, das er noch in seiner Satteltasche hatte.

Er brachte den Anderen auch Fleisch mit, doch ihre Stöcke mussten sie sich selber suchen. „Wenn ihr keine findet, kann ich euch meinen auch mal leihen!“, lachte er, als die zwei nach einiger Zeit kamen und noch immer keinen Stock hatten. Zum Schluss mussten sie sich doch einen Stock teilen, weil Thomas und Lindsay nicht in der Lage waren, einen Stock zu finden, der nicht entweder nass, dreckig oder zu kurz war.

Doch schon bald kauten alle drei Kinder gemütlich an ihrem Fleisch.

Schon von Weitem sahen sie das Pferd. Und den daraufsitzenden Reiter erkannten sie auch bald. „Elijah, was machst du denn hier? Du solltest auf Lily und Leila aufpassen!“, rief Lindsay dem Jungen erstaunt entgegen. „Ich weiß, aber dann hab ich sie allein gelassen und dann… Ach, das ist so kompliziert, aber wir müssen zurück in den Elfenwald und sie holen.“ Jeff dachte nach.

„Wir können sie nicht holen. Kevin kann das niemals alleine schaffen, er braucht jetzt unsere Hilfe. Wir können keine Zeit mehr verschwenden. Es wird ihnen sicher gut gehen!“

Doch noch wusste Jeff nicht, wie falsch er damit lag.

 

 

 

 

 

 

Fünftes Kapitel: Lily und Leila

 

„Lass mich augenblicklich los, du Hexe!“, schrie Leila. Alanis hatte einen Arm um sie geschlungen und Leila hing neben ihr und Phönix in der Luft. Doch als sie nach unten sah, änderte sie ihre Meinung. „Nein, halt mich lieber ganz doll fest!“, bettelte sie. Sie wusste, wie ausweglos ihre Situation war. Ihnen blieb nichts Anderes übrig, als zu warten.

„Wohin fliegst du mit uns?“, wollte Lily wissen. „Das werdet ihr gleich herausfinden.“ Das Mädchen sah nach unten. Ein Glück hatte sie keine Höhenangst. Jeff wäre es hier ganz anders ergangen. Sie schwebten zwischen den Wolken und unter anderen Umständen hätten die zwei Mädchen das Ganze richtig genossen, doch so hoffte Lily nur, dass ihr unfreiwilliger Drachenritt bald zu Ende war. Ihr Wunsch wurde erfüllt. Schon einige Minuten später landete Phönix sachte zwischen ein paar vereinzelten Bäumen. Alanis sprang von dem Drachen und setzte Leila und Lily auf den Boden. „Versucht nicht abzuhauen, es würde euch nur schaden!“ Das glaubten die Schwestern der Elfe sofort. „Jetzt sagt mir, wie ihr heißt.“

Lily überlegte kurz. Sollte sie die Wahrheit sagen? Warum nicht. Es würde der Elfe nichts bringen und wahrscheinlich hatte sie schon bei den Elfen ihre Namen aufgeschnappt und wollte sie nun testen. „Ich heiße Lily und das ist meine Schwester Leila“, sagte sie schüchtern.

Alanis beobachtete sie aufmerksam und sagte dann: „Ich lasse euch relativ viel Freiheit, weil ich nicht die ganze Zeit auf euch achten kann. Doch sollte ich merken, dass etwas nicht stimmt – und das werde ich – kann sich das ganz schnell ändern!“

Sie wandte sich von ihnen ab. Lily und Leila sahen sich an – und rannten gleichzeitig los in den Wald. „Renn! Renn schneller!“, schrie Lily. „Folgt sie uns?“, fragte Leila. „Ich weiß nicht!“, antwortete Lily. „Lauf einfach noch schneller!“ Leila stolperte, Lily hielt sie fest und zog sie wieder auf die Beine. Lily und Leila kletterte durchs Unterholz. Das einzig Gute am Dickicht war, dass Alanis mit ihrem Drachen gar nicht, und auch ohne Phönix nur sehr langsam vorankommen würde.

 

 

 

 

Sechstes Kapitel: Auf der Flucht

 

„Ich hasse dich dafür, dass wir das tun!“, zischte Thomas Elijah an. „Ich weiß!“, sagte dieser zufrieden. Elijah hatte so lange genörgelt und gequengelt, bis die größeren Kinder nachgegeben hatten und sich mit ihm auf die Suche nach Lily und Leila gemacht hatten.

„Jetzt verstehe ich, warum Kevin sich immer wenn wir da waren geweigert hat, dich mitspielen zu lassen!“, sagte Thomas. „Ihr habt es aber trotzdem oft genug gemacht, und es hat euch nie geschadet!“, meinte Elijah gekränkt.

Dann verschränkte er beleidigt die Arme vor der Brust und sah Thomas nicht mehr an, bis dieser ihn plötzlich wieder ansprach: „Du bist aber ein guter Reiter geworden!“ Elijah lächelte zufrieden. „Ich weiß! Aber das liegt nur an Max. Er ist einfach toll!“ Damit lehnte Elijah sich nach vorne und kraulte Max den Hals. „Das sehe ich!“, meinte Thomas versöhnend. „Wenn ich mich daran erinnere, wie oft du bei deinem ersten Ritt auf ihm runtergefallen bist! Ich dachte damals, du hättest dir alle Knochen gebrochen, so wie du gelandet bist. Das ist echt ein Talent!“

Thomas meinte das vollkommen ernst und bewundernd, doch Elijah schnappte es falsch auf. „Was soll denn das heißen?“, giftete er ihn wütend an.

„Das war doch gar nicht böse gemeint!“, verteidigte Thomas sich. Elijah drehte sich wieder von ihm weg und schmollte.

„Da ist er schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten!“, flüsterte Lindsay Jeffrey zu. Es war kein Geheimnis, dass Elijah und Thomas sich ab und an richtig ankeifen konnten.

Sie ritten zwischen einigen Bäumen entlang, als sie plötzlich Stimmen vernahmen. „Das sind Lily und Leila!“, rief Elijah und galoppierte los.

„Elijah, bleib hier!“, rief Lindsay ihn noch nach. Als er nicht hörte wollte sie ihm hinterher galoppieren, doch da hörte sie ein anderes Geräusch, das ihre Aufmerksamkeit forderte, denn plötzlich kamen Lily und Leila aus dem Gebüsch gebrochen. „Schnell! Hilfe! Sie verfolgt uns!“, kreischte Lily ängstlich. „Wer? Wer verfolgt euch?“, fragte Jeff.

„Alanis!“

Bei dem Namen bekam Jeffrey eine Gänsehaut. „Schnell!“ Jeff wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Alanis auftauchte. „Lindsay! Du musst…“ Im selben Moment kam eine weitere Gestalt. „Ich habe euch gesagt, dass euch fliehen nichts nützen würde!“, rief Alanis wütend. Jeff war einen Moment wie erstarrt vor Überraschung. Die Elfe war sehr groß, größer als die durchschnittlichen Mädchen in ihrem Alter, und Jeff wusste von Kevin, dass Alanis so alt war wie sie. Alanis’ lange, gelockten Haare verdeckten einen Teil der Narben in ihrem Gesicht, die Ciaras Krallen damals hinterlassen hatten. Sie sah sportlich aus, als würde sie jeden Tag ins Fitnessstudio gehen, was sie aber sicher nicht tat, da sie höchst wahrscheinlich ganz andere Hobbys hatte. Erst da erwachte Jeffrey aus seiner Starre.

„Flieht!“, rief Jeff Lily und Leila zu. „Lindsay, nimm die Kinder mit!“ Lindsay wollte protestieren, doch Jeff schnitt ihr das Wort ab. „Tu, was ich sage, Lindsay!“ Das Mädchen biss sich wütend auf die Unterlippe, packte Leila an der Hand und zog sie und ihre Schwester zu sich aufs Pferd, während Thomas und Jeff sich Alanis entgegenstellten.

Plötzlich tauchte über dem Wald ein großer Drache auf, der bei seiner Landung einen Baum mit sich riss. Die Pferde der Kinder stiegen, Lindsay galoppierte los.

Doch Thomas Pferd spielte vollkommen verrückt. Phönix schlug mit den Pranken auf den Boden und fauchte es an. Das Pferd erschrak gewaltig und sprang auf die Seite, Thomas fiel aus dem Sattel und blieb mit einem Fuß im Steigbügel hängen.

„NEIN!!!“, schrie Jeff, als Thomas mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug und reglos liegen blieb. Doch sein Pony gab ihm keine Zeit, abzusteigen.

Jeff wusste ohnehin, dass Thomas tot war. Phönix machte einen Satz nach vorne und holte tief Luft, um den gesamten Wald in Flammen zu setzen, doch in dem Moment kam ein schwarzer Rabe angeschossen. Jeff war sich sicher, dass es der Rabe war, der Kevin damals begleitete hatte. Der Rabe pickte mit seinem Schnabel nach Phönix’ verbliebenem Auge. „Kevin! Bist du da?“, rief Jeff, doch als er keine Antwort bekam, wendete er so schnell er konnte ein Pony. Das raste nun in halsbrecherischem Tempo aus dem Wald hinter Lindsay her. „Folge ihnen!“, sagte Alanis zu Phönix und stieg auf seinen Rücken.

 

 

 

 

Siebtes Kapitel: Gedanken und Gefühle

 

Elijah hörte Lily und Leila schreien, Jeff rief ihnen etwas zu, dann hörte er einen Drachen fauchen. Es war so laut, dass er sich die Ohren zuhalten musste.

Max stieg voller Panik, wieherte schrill und ängstlich, doch er rannte nicht los. Er legte die Ohren an und tänzelte unruhig auf der Stelle, während Elijah seine Beine an den blanken Rücken des kleinen Ponys presste, um nicht herunterzufallen. Noch bevor das Fauchen des Drachen vollkommen verklungen war, hörte Elijah ein panisches Wiehern und dann Jeffreys Schrei.

Er bekam eine Gänsehaut und trieb Max an. Er hatte Angst, Angst wie noch nie in seinem Leben.

Er trieb Max immer schneller vor an, doch es war wie in einem schlimmen Traum, in dem man davonrennen will, doch nicht von der Stelle kommt. Wie in Zeitlupe sprang Max einen Schritt nach vorne, Elijah hörte sein eigenes Herz klopfen und sogar das von Max.

Er rutschte auf Max’ blankem Rücken hin und her. Nach kurzer Zeit merkte er, dass er nicht verfolgt wurde. Er hielt Max an und kraulte dem Pony den Hals.

Er sah sich um. Seine Freunde waren weg. Und er musste sich wieder ohne sie durchschlagen.

Und – was das Schlimmste war – er wusste genau, dass er sie im Stich gelassen hatte.

„Ich bin ein elender Feigling!“, schimpfte er wütend mit sich selbst. Max nickte mit dem Kopf und kratzte sich dann am Bein. „Danke!“, sagte Elijah mit Sarkasmus in der Stimme.

Er suchte nach irgendeinem Anzeichen, das ihm sagen konnte, wo er sich befand. „Das hast du nun davon, Elijah!“, sagte er halblaut zu sich selbst und kletterte von Max’ Rücken. Er setzte sich direkt neben die verschwitzten Beine von Max, der immer noch mit seinen Zähnen sein Bein kratzte. Elijahs Stirn tat weh und er blutete, er wusste selbst nicht warum. Max stupste ihn vorsichtig an, Elijah wischte sich das Blut von der Stirn.

Er lachte bitter und dachte daran, wie sehr er sich gefreut hatte, als Kevin gesagt hatte, er würde sie mitnehmen. „Ja, ich würde gern mitkommen! Ich freue mich. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dass ich mich verirre und nun von Elfen und Drachen und was weiß ich was noch gejagt werde, hätte ich mich mit Händen und Füßen gewehrt, Kevin zu begleiten.“ Er wischte sich die schweißnassen, blutigen Hände an der Jeans ab. Seine Stirn blutete nicht mehr, sie juckte nur noch und tat weh.

„So. Wo sind wir und was machen wir jetzt?“, fragte Elijah das Pony. Max schüttelte den Kopf sah ihn an. „Ich weiß es ja auch nicht, also lass dir was einfallen!“, sagte Elijah zu Max. Über ihnen krähte ein Vogel. Elijah sah hoch und blickte dem Tier lange Zeit nach.

Es kreiste über ihnen und krähte noch einmal.

Elijahs Gedanken schlugen Purzelbäume. Einen Moment lang wusste er, dass es wirklich seine einzige reelle Chance war, aus diesem Wald herauszukommen, gleichzeitig fürchtete er sich vor dem, was er jetzt gleich tun müsste.

„I-Ich kann etwas versuchen“, sagte Elijah. Er wusste, dass er es konnte und diese Gewissheit behagte ihm nicht. Aber er hatte es schon einmal getan. Damals, vor zwei Jahren, hatte er es das erste Mal gespürt, dass etwas mit ihm und seinen Schwestern nicht stimmte. Dieses Gefühl hatte sich jetzt bestätigt. Jetzt musste er wieder tun, wovor er sich so fürchtete. Anfangs war es ein Spaß gewesen, weil es so… unmöglich war… so unglaublich. Er hatte sich mit seinem Freund Andrew gestritten. Wütend, wie er war, sah er Andrews Hund an und wünschte sich, der Hund würde Andrew beißen.

Und plötzlich war es passiert.

Ihm war heiß und kalt geworden und dann war der Hund auf Andrew zugesprungen und hatte ihn gebissen. Nicht tief, aber es hatte dennoch geblutet. Andrew hatte vor Angst und Schmerz geschrien, Elijah war aufgesprungen und wollte den Hund wegreißen. „Lass ihn los! Hör sofort auf! Lass ihn los!“ Er wusste noch genau, was er alles gesagt und geschrien hatte. Dann war der Hund Schwanz wedelnd auf Elijah zugekommen. Andrew hatte Elijah wütend, erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen angestarrt, dann war Elijah an ihm vorbei gerannt und nach Hause gegangen. Und von dem Tag an war nichts mehr so gewesen, wie es war.

Elijah kam nach Hause und seine Mutter hatte ihn gefragt, wie es bei Andrew gewesen war. „Sie haben sich gestritten. Und Andrew wurde gebissen. Von seinem Hund“, sagte Leila, die damals gerade reden konnte. Lange Zeit hatten Elijah und Andrew nicht mehr miteinander geredet, bis Andrew kein Misstrauen mehr gegen Elijah gehegt hatte und den Vorfall vergessen hatte. Jedenfalls tat er so, als hätte er ihn vergessen.

Am nächsten Tag war Elijah mit Lily zur Schule gefahren. Er wollte ein Wettrennen mit ihr machen, so wie sie es immer taten. Er auf dem Fahrrad und sie auf ihrem Roller, da sie Fahrradfahren nicht mochte. Doch Lily hatte ihn angefleht, diesmal kein Wettrennen zu veranstalten. Nach einigem hin und her hatte Elijah nachgegeben. Ein paar Sekunden später fuhr ein Auto über die Kreuzung. Es war viel zu schnell und wenn Elijah und Lily ein Wettrennen gemacht hätten, hätte das Auto sie überfahren.

Und von da an hatte Elijah Angst vor seinen und den Taten seiner Geschwister.

Und jetzt musste er es noch einmal tun, wenn sie hier herauskommen wollten.

Er holte tief Luft und wünschte sich, er wäre der Vogel, der über ihm flog. Plötzlich wurde ihm heiß und kalt, dann sah er dann blauen Himmel und unter sich den Wald. Er sah nach vorne. Er sah eine Stadt. Sie schien nicht weit weg zu sein. Er ließ den Vogel ein Stück noch links auf die Stadt zuschwenken. Er wollte mehr darüber wissen.

Als der Vogel auf die Stadt zuflog spürte Elijah plötzlich einen stechenden Schmerz im rechten Arm. Er verlor die Kontrolle und landete wieder in seinem Körper. Er befühlte seinem Arm und spürte die Abrücke von ein paar Zähnen. Pferdezähnen. „Max, was soll das?“, fuhr er das Pony und, das an seinem Ärmel knabberte.

Es wieherte und scharrte mit den Hufen. Elijah merkte, nein, er wusste es, dass Max Hunger hatte. Er wusste es, weil er die Gedanken des Ponys spüren konnte, er konnte die Gedanken und Gefühle des gesamten Waldes spüren. „Max, was passiert mit mir?“, fragte er erschrocken.

Viele Meter entfernt konnte er die ängstlichen Gedanken eines Eichhörnens spüren, das von einem Steinadler gefangen wurde. Es versuchte verzweifelt, sich zu wehren, dann waren seine Gedanken und Gefühle plötzlich verschwunden.

Genauso konnte er die Freude des kleinen Fuchses spüren, der mit seinen Geschwistern über eine Lichtung tollte, die Verwirrtheit des Rehs, das einen Igel beschnupperte und die des Igels, der noch nie vorher eine Rehnase so nah an seinen Stacheln gespürt hatte.

Elijah versuchte diese Gefühle und Gedanken in den Hintergrund zu schieben und konzentrierte sich auf Max. „Du hast also Hunger?“

Plötzlich war ihm eine Idee gekommen. Er konnte die Tiere kontrollieren. Die Macht, die er nun hatte machte ihm Angst und es musste ihm keiner sagen, dass er damit vorsichtig sein sollte, denn er wusste selbst, dass soviel Macht den Charakter verderben konnte. Aber er hatte Hunger und musste zuerst an sich denken. Er verfolgte die Gedanken eines Hasen, bis er ihn auf einem Baumstamm entdeckte.

Ihm lief das Wasser im Mund zusammen und er packte den Hasen. Doch als der Hase, der so plötzlich in seinem sicheren Bau überfallen worden war, ihn erschrocken ansah, erwachte Ekel in Elijah. Sein Magen rebellierte. Er hatte noch nie mit Absicht getötet. Es war einfacher, ein Reh oder einen Hirsch zu schießen, als so die Macht über Leben und Tod zu haben. Er rang einen Moment mit sich.

Die eine Hälfte von ihm schrie nach dem saftigen Fleisch, die Andere sagte ihm immer wieder, dass er sicher etwas anderes finden könnte, als den jungen Hasen, dessen Gedanken und Gefühle noch immer in Elijahs Kopf Purzelbäume schlugen. Er hörte das klopfende Herz des kleinen Tieres und in dem Moment wusste er genau: Er würde diese Lebewesen nicht töten.

Er setzte den Hasen auf den Boden und sagte: „Lauf davon, bevor ich es mir anders überlege!“ Der Hase ließ sich das nicht zweimal sagen und sprang davon.

 

 

 

Neuntes Kapitel: Nicht den Hauch einer Chance

 

Vicy saß auf Sairas Rücken und streichelte ihre Schuppen, währen der Drache schnurrte. Saira flog tief über einige Städte.

„Wenn wir wüssten, woher Alanis die Streitmacht schickt, könnten wir sie unterwegs angreifen und könnten auch Alains aus dem Weg schaffen!“, sagte Saira. „Wir kommen doch nicht allein gegen eine ganze Streitmacht an!“, meine Victoria. „Wer weiß. Wenn ich sie einzeln zu Kleinholz zerfetzen kann, dann schon!“, sagte Saira und grummelte zufrieden.

Vicy legte sich auf Sairas Schuppen. Sie hatte Angst vor dem bevorstehenden Kampf, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass Kevin sie einfach im Stich ließ.

Saira hatte ihre Gedanken bemerkt. „Du denkst immer noch, dass er kommt, nicht wahr?“ Vicy nickte. „Ich wünsche mir auch, dass er kommt. Wir brauchen jetzt wirklich einen zweiten Drachenreiter. Allein haben wir nicht den Hauch einer Chance“

Saira landete, als es spät am Abend war. Vicy rutschte müde von ihrem Rücken und ging in ihr Zimmer. Ihr Magen knurrte. Sie hatte das Abendessen verpasst. Sie legte sich ins Bett und wünschte Saira noch eine gute Nacht, bevor sie einschlief.

 

Worauf wartest du noch? Schieß endlich!“, rief Alanis und lachte Vicy zu. Sie waren beide sieben Jahre alt. Vicy sah sich selbst, wie sie ihren Bogen hob und zielte. Dann ließ sie die Sehne los und der Pfeil schoss los. „Guter Schuss!“, rief Alanis. Dann hob sie den Bogen. Auch sie zielte gut, doch es kam ein leichter Wind auf und drückte ihren Pfeil fast ganze drei Zentimeter zu weit nach links am Zentrum vorbei. Jetzt wurde Alanis wütend. „Das warst du! Du hast geschummelt!“ Wütend kam sie auf Victoria zu. Die warf ihren Bogen weg. „Das ist eine Lüge!“ Alanis Augen verengten sich vor Wut. „Komm doch her, wenn du dich traust!“, sagte Vicy herausfordernd. Alanis rannte auf sie zu, doch Vicy wich ihr aus und rannte davon. „Sesailya!“, rief Alanis. Plötzlich waren Vicys Beine wie zusammengebunden und sie fiel hart hin. Sie drehte sich um und sah Alanis auf sich zu kommen. Jetzt genauso wütend rief sie: „Norl’èthanar!“ Alanis wurde zurückgestoßen und fiel auf den Boden. Die beiden Mädchen stürzten sich wütend aufeinander. „Casairà!“ „Thirod!“ Die Zaubersprüche flogen nur so durch die Gegend. Wütend setzte Alanis zu ihrem nächsten Schlag an. „Fei`grar!“ Vicy landete auf dem Boden und spürte einen starken Schmerz in ihren Kopf schießen. Dann lief warmes Blut an ihrer Schläfe entlang. Vor Schmerz und Wut kamen ihr die Tränen. „Hethàrgàr!“ Alanis bekam einen starken Schlag in den Bauch und fiel zu Boden. Jetzt weinten beide Mädchen vor Wut und Schmerz. Vicy stand taumelnd auf und rannte auf Alanis zu. Sie ballte beide Hände zur Faust und schlug einmal zu. Dann war Alanis auch schon auf den Beinen und schlug zurück. Vicy riss an Alanis’ Haaren und Alanis schlug Vicy auf die Nase. „Du hast geschummelt!“, schrie Alanis wütend. „Das ist nicht wahr! Das ist doch Quatsch, was du erzählst!“ „Ach ja? Hast du ein Problem damit?!“ „Ja!“ Vicy trat Alanis kräftig gegen das Schienbein. Die Elfe fluchte kurz und ließ ihre Halbschwester los. Vicy schlug Alanis einmal auf den Kiefer, dann packte die Elfe Victorias Haare und riss sie daran von sich weg. Vicy packte Alanis am Kragen und rief: „Wèstel’de!“ Alanis schrie auf und Vicy stieß sie von sich weg. Alanis’ Nase blutete. Vicy wischte sich die Tränen aus den Augen, als Alanis zum Gegenschlag ansetzte: „Oljektar!“ Vicy heulte auf als eine unsichtbare Macht ihr so kräftig in den Bauch trat, dass sie nach hinten fiel. Kurz darauf war Alanis bei ihr und schlug ihr noch einmal auf die Nase. Victoria packte Alanis am Ärmel und warf sie zu Boden. Im selben Moment wurden die Beiden getrennt. „Wollt ihr euch zu Brei schlagen, oder was?“, fuhr Dreon die Kinder an. „Außerdem, eure letzten zwei Sprüche sind verboten! Die darf man nur wenn man in Gefahr ist einsetzen!“ Er packte die beiden Mädchen und zog sie mit sich. „Was ist in euch gefahren? Was ist nur los mit euch?! Ihr wart doch früher nicht so!“ Wütend schleppte er Vicy und Alanis in ihr Zelt. Vicy weinte noch immer und Alanis versuchte sie wieder zu schlagen. „Heulsuse!“ Alanis war wütend und versuchte, sich loszureißen, doch Dreon hielt sie fest. „Ihr werdet heute hier im Zelt bleiben! Den ganzen Tag! Und ich entziehe euch hiermit für die nächsten zwei Wochen die Zauberkräfte!“ Wütend sahen sich die Mädchen an. Dreon verschwand.

 

Ciara lag im Hof und sah den Hunden beim Spielen zu. Ab und zu kamen die Hunde auf sie zu und beobachteten sie, um sicherzustellen, dass sie ungefährlich war. Das vorletzte Mal war einer der Hunde ganz nah an sie herangekommen und hatte begonnen an ihr zu schnuppern.

Sie hatte ihn warnend angefauchte, doch als der Hund nicht den Rückzug antrat schnappte sie nach ihm. Fast hätten die Sinder einen Hund weniger gehabt.

Doch die Biester schienen daraus nicht gelernt zu haben, denn sie kamen immer wieder zu ihr und sahen sie – zwar aus äußerst großer Entfernung, aber immer noch in ihrer Prankenreichweite – neugierig an. Als die Hunde sich wieder um sie scharten stand sie kurz entschlossen auf und klaute dem größten der Hunde den Knochen, um den sich die Hunde gestritten hatten. Sie zerbiss ihn mit einem Krachen, um ans Mark zu gelangen und sah dann die Hunde an.

Die Hunde sahen ihrerseits zu dem großen Drachen hoch und klemmten schließlich doch den Schwanz ein und gingen in einen Teil des Hofes, der nicht von Knochen zerbeißenden Drachen bewohnt war.

Ciara legte sich zufrieden zurück auf den Boden und schlief ein.

 

 

 

Zehntes Kapitel: So soll es sein

 

Kevin saß allein auf dem Boden im Schatten einer großen Eiche. Er hatte die Arme um sich geschlungen und stocherte mit einem Ast in der Glut des Feuers. Er musste versuchen, klar zu denken. Alanis wollte ihn. Also würde sie seinen Geschwistern nichts tun. Das einfachste war, sie irgendwo an einen Ort zu locken, wo er sie schlagen konnte. Und er musste Vicy retten. Und Elijah und Jeff und Thomas und Lindsay finden. Und das alles so schnell wie möglich. War das überhaupt möglich? In dem Moment landete Krawp vor ihm, das Feuer war zwischen den Beiden.

„Wo, um alles in der Welt, warst du?!“, fuhr Kevin ihn an. „Du hast echt ein klasse Gespür dafür, wenn man dich braucht. Dann bist du nicht da!“ Krawp hüpfte über das Feuer und segelte auf Kevins Knie zu. Kevin verschränkte die Arme vor der Brust. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“

„Ich war bei deinem kleinen Bruder, ja, ja!“

„Bei Elijah?“, fragte Kevin überrascht. „Ja, ja, deine Schwestern sind in Sicherheit. Jeff und Lindsay haben sie. Ja, ja.“ Dann hüpfte er davon, wie er es immer tat, wenn er meinte, Kevin eine schlechte Nachricht überbringen zu müssen. „Was ist mit Thomas und Elijah? Stimmt etwas nicht? Sind sie in Gefahr? Und wo sind Lindsay und die Anderen jetzt?“, fragte Kevin ihn misstrauisch. Krawp krächzte und sah ihn genau an, bereit bei jeder Bewegung davonzufliegen. „Elijah ist allein im Wald. Kurz vor der Stadt Denam, ja, ja. Lindsay, Jeff und die Küken sind in Sicherheit. Sie nehmen jetzt den Weg an der Cardetsteppe vorbei nach Norden. Thomas…“

Krawp zog den Kopf zwischen die Flügel und schwieg.

Kevin sah ihn noch misstrauischer an. „Was ist, Krawp? Ist etwas passiert? Rede endlich, du dummer Rabe!“ Kevin verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Vogel erwartungsvoll an. „Thomas ist tot.“ Kevin sah ihn einen Moment ungläubig an.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. „Thomas ist tot…“ Die Worte hallten durch seinen Kopf, immer wieder. „Tot… tot…“

Er kannte Thomas seit der ersten Klasse, und auch während er weg war hatte sich nichts daran geändert, dass Thomas einer seiner besten Freunde war. Langsam schüttelte Kevin den Kopf. „Nein. Nein, das ist nicht möglich, das geht doch gar nicht! Nein, das ist nicht wahr…!“ Kevin sah Krawp an, doch der Vogel schien keine Scherze zu machen. „Du lügst!“, schrie Kevin den Raben an und rannte los. Er rannte weiter, obwohl er nicht wusste, wohin. Er hatte Seitenstechen, seine Lunge und sein Hals brannten. Doch er blieb nicht deshalb stehen. Er konnte nicht mehr. Wenn es nur um körperliche Schmerzen gegangen wäre, hätte er sie ignoriert, doch das war es nicht. Er war am Ende, psychisch vollkommen ausgelaugt.

Er ließ sich auf die Knie fallen und rang nach Luft. Dann fiel er auf den Rücken. Er versuchte sein Zittern unter Kontrolle zu bekommen. „Das alles hätte verhindert werden können“, dachte er, während er an die Stelle fasste, wo das Amulett immer gelegen hatte. „Alles hätte verhindert werden können.“ Er würde fliehen, weg, alles vergessen, was passiert war.

Plötzlich verdrängten die grausamen und traurigen Erinnerungen alles glückliche, das Kevin je mit Ciara, Vicy und seinen anderen Freunden aus dieser Zeit erlebt hatte. Kevin wollte nicht mehr war haben, dass es durchaus eine sehr schöne und glückliche Zeit gewesen war. Diese Zeit war einmalig, er wusste, dass die Jungen aus seiner Klasse ihn beneidet hätten und alles darum gegeben hätten, auch nur eine Sekunde lang wie er sein zu dürfen. Doch das verdrängte er nun alles aus seinem Gedächtnis…

Er sah Alanis, wie er in ihr vernarbtes Gesicht sah, nachdem Ciara sie im Gesicht gekratzt hatte. Er sah Faleons Gesicht, als er starb. Er sah Ramor. Dreon. Ciara, wenn sie sich stritten. Ihren wütenden Gesichtsausdruck. Und Vicy. Doch in seinen Gedanken war sie nicht lebendig und lachte nicht. Sie lag wieder tot in Sobekkat, Saira direkt neben ihr.

Er dachte an Toby, der Vicy im Arm hielt. An Thomas. Und an all die Menschen, die in der Schlacht um Sobekkat, in den Schlachten davor und danach gefallen waren. Und plötzlich fuhr er hoch. Nein, er würde nicht gehen. Aus genau diesem Grund nicht. Er hatte so viel Schlimmes erlebt und es würde nie wieder alles so werden, wie es war, doch jetzt war es zu spät. Er konnte nicht vergessen. Er würde das nie wieder vergessen können. Wenn man solche Dinge erlebt hatte, konnte man nicht mehr zurück. Man konnte nichts ungeschehen machen.

Doch es machte ihm nichts.

Er hatte zu viel Schlimmes erlebt. „Nein. Ich werde nicht gehen!“ Er würde hier bleiben und Alanis töten, wegen all den schlimmen Erfahrungen, die er durchleben musste und all die Menschen, die für ihn gestorben waren, damit er lebte und Alanis eines Tages töten konnte. Sie alle waren für ihn gestorben.

Kevin lief eine Träne über die Wange. „Was kann man gegen so viel Hass tun?“, flüsterte er. Doch dann sprang er auf. „Ich werde kämpfen. Noch ein allerletztes Mal. Für die Menschen, die auf mich gezählt haben und für die, die es noch immer tun!“ Damit zog er sein Schwert und hob es in die Luft. Genau in dem Moment fiel ein Lichtstrahl durch die Blätter auf sein Gesicht. Einen Moment lang schloss er die Augen. „So soll es sein.“

 

Krawp erwartete Kevin schon, als Kevin zurückkam und wieder übermannten Kevin Zweifel. „Alles wieder okay?“, fragte Krawp. „Ach Krawp!“, sagte Kevin. Er setzte sich auf den Boden. „Ich bin mir nicht sicher. Was, wenn wir es nicht schaffen, dann war alles umsonst! Ich bin vierzehn, was soll ich schon tun können?“ Krawp setzte sich wieder auf Kevins Knie. „Das ist so traurig. Ich war mal dein größter Fan, ja, ja!“, krähte Krawp. „Machst du dich über mich lustig?“; fragte Kevin wütend.

Krawp schüttelte den Kopf. „Nein. Aber vielleicht hilft es dir, wenn ich dir folgendes sage: Jetzt, wo Alanis lebt, bist du als einziger noch übrig, der uns alle retten kann… Sonst keiner.“ Kevin sah Krawp nicht an. Er wartete aufmerksam darauf, was als Nächstes kommen würde.

Krawp überlegte. Dann öffnete er wieder den Schnabel und versuchte, es Kevin noch genauer zu erklären: „Unser Leben auf diesem Planeten ist zu kurz. Die Arbeit, die vor uns liegt, ist zu wichtig. Doch vielleicht sollten wir uns vor Augen halten, dass unsere Mitmenschen auch unsere Brüder sind. Dass wir denselben kurzen Augenblick des Lebens teilen.“ Kevin sah auf. So etwas hatte er erwartet. „Woher hast du denn das schon wieder?“ Krawp antwortete nicht, aber Kevin war sich sicher, dass das nicht auf seinem Mist gewachsen war.

Er beschloss, den Raben bei Gelegenheit einmal über Copyright aufzuklären.

 

 

Elftes Kapitel: Ohne mich!

 

Jeff jagte sein Pony weiter hinter den Mädchen her. Er hielt sich mit den Händen in der Mähne fest, und trieb sein Pony immer weiter. Erst als er die Mädchen eingeholt hatte, ließ er dem Tier die Zügel lang und setzte sich richtig in den Sattel. „Was war das denn grade eben? Wie hast du die denn angestarrt?“, fragte Lindsay angewidert. Offenbar hatte Alanis auf sie keine solche Anziehungskraft gehabt, was höchstwahrscheinlich daran lag, dass sie ein Mädchen war. Jeff brachte kaum ein Wort heraus. Die Tränen schienen ihn zu ersticken. „Ich hab mich tot gestellt!“, sagte er. Kurz darauf lief ihm eine Träne über das Gesicht. Die Zweite ließ nicht lange auf sich warten. Jeff musste nichts sagen, die Anderen verstanden auch so.

Ohne ein Wort stieg Lindsay ab und holte die beiden Mädchen vom Pferd. Leila hatte Thomas immer sehr gern gehabt.

Lindsay lehnte sich weit weg von den anderen an einen Baum, die Haare im Gesicht, so dass man unmöglich sehen konnte, ob sie weinte.

Doch Leila war sich sicher, ab und zu ein Schluchzen zu hören. Auch Lily sagte nichts. Sie saß nur da, die Arme um den Leib geschlungen und schaukelte leicht hin und her, als währe sie in Trance.

Sie schluchzte nicht, sie verzog kein bisschen das Gesicht, doch aus ihren Augenwinkeln liefen Tränen.

Jeff glitt von seinem Pony und machte Feuer. Er saß mit dem Rücken zu ihnen

Leila wusste nicht, wann sie eingeschlafen war, doch plötzlich wachte sie auf.

In ihren Träumen war Thomas vor ihr gestanden, hatte mit ihr geredet und gespielt.

Doch als sie aufwachte war all das fort. Entschlossen stand sie auf und ging zu ihrer großen Schwester. „Komm. Steh auf.“ Lily sah zu ihr hoch. Die Tränen liefen ihr am Hals entlang in den Kragen ihres T-Shirts. Sie hatte keinen Mut mehr, in ihrem Gesicht war kein Funken Hoffnung zu erkennen. Ihre grünen Augen glänzten.

Und dann wischte sie sich die Tränen weg. „Ich werde nicht aufgeben. Nicht jetzt“, flüsterte sie. Sie ging zu Lindsay. „Komm mit!“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Lindsay sah ihr ins Gesicht. Und irgendetwas ließ sie plötzlich erstarren. In Lily war kein Kind mehr.

Das sah sie genau in ihrem Gesicht. Lily war erst sieben und dennoch war sie… erwachsen.

Erwachsener, mutiger und entschlossener als Lindsay selbst. Sie hätte nie gedacht, dass Kevins kleine Schwester Lily ihr jemals Mut machen würde. Die kleine, schüchterne Lily. Ja, das war sie gewesen. Wenn man ihr jetzt ins Gesicht sah, bemerkte man nichts mehr davon. Schüchternheit konnte man beim besten Willen nicht mehr in ihrem Gesicht erkennen. Da waren nur noch Mut, Entschlossenheit, und, was man aber nur sah, wenn man das Mädchen länger kannte, ein Hauch Traurigkeit, die sie dazu bereit machte, alles zu tun, um ihr Leben zum Besseren zu wenden und all die bösen und schlimmen Erinnerungen zu vergessen. Auch wenn Lily genauso sehr wie Lindsay wusste, dass man so etwas nicht vergaß, setzte sie alles Menschenmögliche daran, es dennoch zu tun.

Lindsay wusste genau, dass sie, wenn sie jetzt den Mut verlor, verrückt werden würde. Dann würde alles Böse sie einholen und für immer verschlingen.

Und deshalb raffte Lindsay sich auf. Sie holte tief Luft und sah in die Ferne. Sie dachte an Thomas. „Ich werde Kevin finden. Dort wo er ist, ist auch Alanis. Und dann werde ich Alanis töten oder selber sterben!“ Lily sah zu Lindsay hoch. Einen Augenblick trafen sich ihre Blicke.

Leila ging unterdessen zu Jeff. Doch Jeffrey hörte sie kommen.

„Geht ohne mich. Ich komme nicht mit!“

In seiner Stimme lag Endgültigkeit. Leila setzt sich neben ihn. „Ich hab gesagt, ich geh nicht mit!“, erwiderte er wütend. Da sah er Lindsay auf sich zukommen. „Kommst du, Jeff?“, fragte sie. „Ich habe es Leila gerade gesagt! Ich werde nicht mitkommen!“ Lindsay sah ihn wütend an und zog ihn hoch. „Hör mal genau zu, Jungchen! Es geht hier um mehr, als nur um dich! Es geht um Kevin, um mich und Elijah und vielleicht sogar um die Kleinen!“ Damit sah sie zu Lily und Leila. „Es geht um eine ganze Welt, von der wir zwar vorher nichts gewusst haben, von der wir jetzt aber ein Teil sind! Wenn du hier bleibst, und Alanis gewinnt, wird diese Welt für immer sterben, und mit ihr ein Teil von dir! Willst du das? Wir machen das nicht, weil wir es uns so ausgesucht haben! Es ist das, wofür wir leben! Was wir tun müssen! Und du wirst mitkommen!“ Lindsay sah Jeffrey mit einem Blick an, der keinen Widerspruch zuließ. Normalerweise. Jeff sah sie gleichgültig an. „Hör mir mal zu, Mädchen!“, sagte er. „Ich werde nicht mitgehen! Wenn du das nicht verstehen willst, dann ist mir das egal. Ich bleibe hier!“ Damit setzte er sich auf den Boden und verschränkte die Arme vor der Brust. Lindsay machte wütend auf dem Absatz kehrt. „Das zeigt mal wieder, wie wenig du in deinem Leben zu kämpfen hattest!“, sagte sie wütend und verschwand.

Leila setzte sich neben ihn. Lindsay ging wütend weg. Jeff senkte den Kopf und Leila glaubte, dass er wieder weinte. Leila legte ihm unbeholfen den Arm um die Schulter. „Ich weiß, was du fühlst, denn ich fühle es auch. Ich weiß, dass du traurig bist, ich bin es auch. Und ich weiß, dass du Angst hast. Und ich sage dir etwas: Ich habe auch Angst!“ Sie sah ihn an. „Und trotzdem werde ich kämpfen. Für Thomas. Glaubst du etwa, er hätte gewollt, dass wir Kevin im Stich lassen?“

Da hob Jeff den Kopf und sah sie genau an. „Nein.“

 

Leila saß vollkommen still da. „Was hast du denn?“, fragte Lily. Leila sah weg. Sie wollte nicht reden. „Was ist mit dir?“, fragte Lily noch mal. Leila sah energisch an ihr vorbei. „Ich will nicht reden.“ Ihre Stimme klang weinerlich. Lily war jetzt etwas wütend. „Du bist nicht die Einzige, die einen Freund verloren hat!“, sagte sie zornig. Sie mochte es nicht, wenn ihre Schwester traurig war. Außerdem war sie jetzt auch mies drauf. Jeff und Lindsay waren jagen. Daher mischte sich niemand ein, als es jetzt so richtig zwischen den beiden Mädchen krachte. „Das weiß ich selber!“, rief Leila. „Ich darf ja wohl noch traurig sein!“ „Dann beklag dich nicht, wenn ich dir nicht helfen kann! Du willst ja nicht reden!“, sagte Lily. „Ich hab mich, soviel ich weiß, auch nicht beklagt!“, schrie Leila wütend und sprang auf. „Dein dauerndes Gemecker geht mir auf die Nerven!“, schrie sie. „Und dein Geheule ist echt das Letzte! Immer wenn man dich sieht, bist du am flennen!“, schrie jetzt auch Lily. Leila kam schon wieder die Tränen. Ihre Unterlippe begann zu beben. „Du bist echt gemein!“ Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und lief davon.


Jeff und Lindsay kamen von der Jagd. Lily war verschwunden und Leila auch. „Verdammt, wo sind die Beiden jetzt schon wieder?“, fluchte Lindsay. „Lily? Leila?“, rief Jeff. Da hörte er ein Schluchzen. „Lily, verdammt, was suchst du da oben?“, fragte er und half Lily aus einem Baum. Sie hatte sich in den Ästen versteckt. „Hast du Leila gesehen?“ Lily schwieg kurz. „Ja“, sagte sie. Die Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Ihr lief eine Träne über die Wange. „Weißt du, wo sie ist?“ „Nein“, sagte Lily und unterdrückte ein Schluchzen. „Sie ist weggelaufen!“ Jeff und Lindsay warfen sich einen kurzen Blick zu.

„Es wird bald Nacht!“ Lindsay warf einen Blick zum Himmel. Es war schon spät. „Wir müssen sie suchen, da beißt die Maus keinen Faden ab!“, sagte Jeff. „Aber wenn sie zurückkommt und wir sind nicht da?“, fragte Lindsay. Jeff verdreht die Augen. „Dann bleibst du hier und ich geh sie suchen!“, schlug er vor. Jeffrey war schon verschwunden, bevor Lindsay widersprechen konnte. Lily wollte dem Jungen hinterherlaufen, doch Lindsay packte sie und hielt sie fest. „Nein, bleib hier, Lily!“ Lily riss sich los. „Ich kann nicht!“ Lindsay wollte sie wieder festhalten, doch Lily wich zurück. „Es ist alles meine Schuld! Ich muss sie finden, bevor ihr etwas passiert!“, sagte Lily traurig. Dann lief sie davon. „Lily! Komm zurück!“ Lindsay war hin und her gerissen. Sie biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie zu bluten begann. Doch dann blieb sie genau dort, wo sie war, und wartete darauf, dass die anderen zurückkamen.

 

Lily lief immer tiefer in den Wald. Leila hier zu finden war unmöglich. Oder vielleicht doch nicht? Sie spitzte die Ohren. War da nicht etwas gewesen? Doch. Das war ganz eindeutig Leila. Sie weinte wieder. Lily rannte auf das Geräusch zu. „Leila?“ Sie rannte weiter und kam an eine Schlucht, über der ein Baumstamm lag. Lily sprang auf den Baumstamm zu und blieb dann urplötzlich stehen. Sie lugte über den Rand der Schlucht. Unter ihr ging es mehr als fünf Meter in die Tiefe. Leila saß auf dem Baumstamm und hielt sich mit beiden Händen fest. „Leila! Beweg dich nicht, ich komm und hol dich!“ Lily kroch auf den Baumstamm und hielt sich gut fest. „Nicht bewegen, und mach bloß keine Dummheiten!“, rief sie ihrer kleinen Schwester zu. „Beeil dich! Ich hab Angst!“, schrie Leila. „Das musst du nicht, ich bin doch da!“ Lily kroch weiter. „Gib mir deine Hand!“, sagte sie und streckte Leila ihr die Hand entgegen. Leila ließ vorsichtig los und griff nach Lilys Hand. Im selben Moment begann der Stamm zu wackeln und Leila rutschte auf die Seite. „Lily, Hilfe!“, schrie sie. Sie klammerte sich mit den Beinen an den Baumstamm, während sie sich mit der einen Hand an Lily klammerte und die Andere um den Stamm geschlungen hatte.

Lily hielt Leila fest. „Halt dich gut fest und beweg dich nicht!“ „Mach was! Ich hab Angst!“ Lily wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hielt Leila fest, doch sie merkte, dass ihre kleine Schwester ihrem Griff langsam entglitt. „Das ist alles deine Schuld, Leila!“, brüllte Lily. Leila weinte und klammerte sich so fest an Lilys Jacke, dass Lily ihre Fingernägel spüren konnte. Leila rutschte noch ein Stück weiter aus ihrem Griff. Lily schrie ängstlich auf und begann jetzt auch zu weinen. Leila rutschte noch eine Stück weiter von dem Baum und hing jetzt ganz über dem Abgrund. „Lily! Hilf mir!“, weinte Leila. Lily wollte mit der zweiten Hand nach Lily greifen, doch sie bekam das Mädchen nicht zu fassen und wäre beinahe mit ihr abgestürzt. Sie schrie vor Angst laut auf und griff wieder nach einem kleinen Ast. „Jeff!!! Jeff, Hilfe! Hilf uns!“, schrie sie. „Jeff!!!“ Ihre Stimme hallte im Wald wieder. Einige Sekunden verstrichen, in denen Leilas verschwitzte Hand immer mehr aus Lilys rutschte, doch es hatte etwas genützt. Jeff kam aus den Büschen gestürzt.

„Lily! Leila! Haltet euch fest, nicht bewegen!“ Jeffrey kletterte auf den Baumstamm und balancierte auf die Beiden zu. „Ich bin gleich da!“ „Mach was!“, schrie Leila ihm zu. Jeff sah nach unten. Ihm wurde schwindelig. Er hatte schon immer Höhenangst gehabt.

Er ließ sich auf die Knie sinken und krabbelte auf dem Baumstamm entlang auf Leila und Lily zu. Er hörte wie der Baum zu knarren begann. Der Baum bekam einen kleinen Riss direkt vor Jeff in der Rinde. Er konnte nicht weiter. Er war zu schwer. „Lily, gib mir deine Hand!“, rief er und streckte ihr seine entgegen. „Ich kann nicht! Ich kann Leila nicht loslassen!“, rief Lily ihm zu. „Gib mir die Andere!“ Lily starrte auf ihre linke Hand, mit der sie sich am Baumstamm festhielt. „Ich trau mich nicht!“, schrie sie ängstlich. Jeff lehnte sich noch ein bisschen weiter nach vorne, doch der Baum begann wieder vernehmlich zu ächzen. „Lily! Gib mir deine Hand!“, sagte Jeff energisch. Lily ließ einen Moment los und griff nach Jeffs Hand, doch sie erwischte sie nicht und hielt sich wieder am Baum fest.

„Hilf mir!“, schrie Leila, die sich nur mit einer Hand an Lily festhalten konnte und mit der Anderen langsam vom Baum abzurutschen drohte. Jeff rutschte noch ein Stück weiter vor. „Jetzt! Noch mal!“ Lily ließ los und versuchte, Jeffs Handgelenk zu erreichen. Sie rutschte an Jeffs Hand entlang, doch sie bekam sie nicht zu fassen und wäre fast seitlich vom Baum gefallen.

„Nein!“ Jeff packte mit einem Schrei den Ärmel ihres Pullis. „Ich hab dich!“ Jeff versuchte Lily mit einer Hand hochzuziehen, doch es war unmöglich. „Lily, halt dich mit einer Hand an meinem Arm fest!“ Lily packte Jeffreys Ärmel. Jeff versuchte, sich so sicher wie möglich hinzusetzten, dann ließ er auch mit der anderen Hand den Baum los und packte Lily mit seinem zweiten Arm.

Er sammelte seine ganze Kraft und zog sie auf den Baumstamm. Dann griff er nach Leilas Arm. „Lily, du hältst dich jetzt mit beiden Händen fest, ich hab Leila!“ Lily ließ zögernd ihre kleine Schwester los und hielt sich mit deinen Händen an einem kleinen Ast fest. Jeff zog Leila zurück auf den Stamm und versuchte dabei nicht nach unten zu sehen.

„Leila, halt dich hier fest! Lily, ich bring dich jetzt zurück und hol dann Leila!“ Jeff nahm Lily auf den Arm und balancierte auf dem Baumstamm zurück. Ein paar Mal wäre er im Dämmerlicht beinahe danebengetreten, doch er fing sich schnell und setzte Lily auf der anderen Seite ab. Er musste noch einmal zurückklettern um Leila zu holen und als er sie auf den Arm nahm, war es schon wirklich dunkel.

Leila klammerte sich so fest sie konnte an ihn und Jeff versuchte zurückzubalancieren, doch das war nicht so einfach. Er musste seinen Füßen vertrauen und wenn er daran dachte, wie tief es rechts und links neben ihm in die Tiefe ging, wurde ihm schlecht. Er packte Leila fester, und tastete sich weiter nach vorne.

Endlich hatte er es geschafft. Er setzte Leila ab und ging dann zurück zum Lager. Lily und Leila folgten ihm wortlos. Sie wussten, dass sie alles falsch gemacht hatten. Leila hätte nie versuchen sollen über den Fluss zu kommen und zurück nach Hause und Lily hätte Jeffrey oder Lindsay holen sollen. Sie konnten verstehen, dass Jeffrey jetzt unendlich sauer auf sie beide war.

Am Lager angekommen versuchte Leila die Lage ein klein wenig aufzulockern. „Wenigstens ist niemandem was passiert“, meinte sie kleinlaut. „Halt den Mund!“, fuhr Jeff sie an. Dann packte er sie und schüttelte sie. „Halt den Mund, hörst du?! Wenn du es je wieder gut machen willst, dann lauf nie, nie wieder weg, Delilah! Hast du mich verstanden?!“ In ihrem ganzen Leben war Leila nur drei Mal bei ihrem vollen Namen genannt worden. Zweimal als sie noch ganz, ganz klein war, von ihrer Mutter, dann einmal im Kindergarten, an ihrem ersten Tag dort. Niemand sonst hatte sie je Delilah genannt. Nur in ihrem Pass stand Delilah und ihr wahrer Name war fast in Vergessenheit geraten. Umso mehr erschrak sie jetzt. Wenn sie jemand mit ihrem vollen Namen angesprochen hatte, bedeutete das, dass er unglaublich wütend auf sie war. Leila traten Tränen in die Augen. „Es tut mir Leid!“, schluchzte sie. Jeffrey setzte sie ab und sah sie den ganzen Abend nicht wieder an.

 

 

 

Zwölftes Kapitel: Denam

 

Elijah ritt auf einen Hügel. Von dort aus konnte er die Stadt sehen. Er wollte in einem großen Bogen um die Stadt herumreiten und zu Kevin und den Anderen aufschließen.

Elijah wendete Max und galoppierte um die Stadt herum. Er sah wieder einen Wald.

Es musste der Wald des Schreckens sein. Aus Kevins Erzählungen wusste er das. Er hatte nicht wirklich Lust, in diesen Wald hineinzureiten. Also würde er auch hier einen Bogen darum machen müssen. Inzwischen war es Abend geworden, doch Elijah gönnte Max keine Pause. „Lauf, mein Junge!“, sagte er und trieb ihn weiter.

Erst als es Morgen wurde hielt er an. „Beeil dich, friss etwas und dann geht’s weiter!“, sagte Elijah. Max senkte sofort den Kopf und begann zu grasen.

Nach fünf Minuten sprang Elijah wieder auf den hellen Rücken des Ponys und obwohl Max sich nur ungern von seinem Futter trennte, galoppierte er los. „Ich muss es nur schaffen, Kevin einzuholen!“, dachte Elijah. „Dann wird alles wieder gut!“

Ja, alles würde gut werden. Alles wäre vergessen, wenn sie erst wieder zu Hause wären. Oder vielleicht würde er aufwachen und wissen, dass er alles nur geträumt hatte. „Warum ist in den Geschichten nie davon die Rede, was für einen seelischen Schaden man davonträgt, wenn einem so etwas widerfährt?“, fragte Elijah sich. „Dass es Wunden gibt, die die Zeit nicht heilen kann? Ist das in den Büchern vielleicht alles nur ein schlechter Scherz?“

Aber tief in seinem Herzen begann Elijah jetzt zu verstehen, dass dies alles kein Scherz war.

Das war ernst, es war echt. Und er würde um sein Leben kämpfen müssen, wenn es soweit war. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Er musste kämpfen, für alles, was ihm wichtig war. Und für noch mehr.

Auch wenn es seine Welt nicht betraf, er war in diese Geschichte hineingerutscht und er konnte sie nicht guten Gewissens verlassen, ohne diesem Spuk ein Ende bereitet zu haben. Das ließ sein gesunder Menschenverstand nicht zu. Er hatte hier Freunde gefunden, die er retten musste. Nicht nur Max, der ja auch in diese Welt gehörte. Auch sein Bruder gehörte jetzt hier her.

Und wenn er es sich recht überlegte, war inzwischen auch er ein Teil davon. Er dachte daran, was sich alles verändert hätte oder nie passiert wäre, wenn er nicht hierher gekommen wäre.

Es war genug, um zu wissen, dass er ein wichtiger Bestandteil dieser Welt war.

Elijah klopfte Max abwesend den Hals. Er dachte an seine Heimat, an seine Freunde. Ja, er würde kämpfen. Dann erst könnte er weiterleben. Unwillkürlich musste Elijah bei dem Gedanken an Alanis’ Tod lächeln. Es war ein freudloses Lächeln und doch hatte er einen Moment das Gefühl, nur dafür gelebt zu haben, um Alanis zu töten. Dass das alles eigentlich Kevins Aufgabe war, ignorierte er.

Elijah war vollkommen von Rache besessen. Erst, wenn Alanis tot war, würde er an etwas anders denken können. Da war er sich so sicher, wie nie zuvor.

 

 

 

Dreizehntes Kapitel: Dämonenmacht

 

Immer, wenn Vicy die Augen schloss, sah sie Kevin vor sich. Er lachte sie an. Sein Lachen hallte durch ihren Kopf. Und sie sah seine Augen. Seine bernsteinfarbenen Augen. Die braunen Haare hingen in sein Gesicht und er lachte wieder.

Vicy schreckte hoch. Sie zitterte. Das Fenster stand weit offen, die Vorhänge wehten im Wind.

Etwas Böses, Kaltes war da draußen.

Es war das Dämonenpferd. Das wusste Vicy mit schrecklicher Gewissheit.

Dann passierte es wieder.

Vicy trat auf die Türe zu, sie öffnete sie, doch bevor sie sie wieder schloss, konnte sie die Kraft aufbringen, sich kurz gegen die Macht zu wenden, die sie zu beherrschen begann.

Mit der linken Hand schaffte sie es, ihren Bogen und ein Pfeil zu packen.

Dann lief sie in den Hof. Sie ging durch das große Eichenportal der Stadt.

Ihre Haare wehten im eiskalten Wind.

Dann passierte es.

Der Nebel stieg auf und sie sah die roten Augen.

Sie schloss für einige Sekunden selbst die Augen, um Kraft zu sammeln und ließ sie sich von der Macht noch ein paar Schritte auf das Pferd zuleiten, dann wehrte sie sich mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, dagegen, noch einen Schritt weiter zu gehen.

Als sie merkte, dass das Verlangen, weiterzugehen am schwächsten war, riss sie mit einem Aufschrei die rechte Hand in die Luft und legte den Pfeil ein, spannte die Sehne und zielte. Einen winzigen Atemzug sah sie die roten Augen aufblitzen, den Dämon auf sich zuspringen, einen einzigen weiteren Atemzug zielte sie auf die roten Augen und ließ die Sehne los.

Der Pfeil schwirrte los und traf das Pferd.

Es war mitten im Sprung und fiel nun bewegungslos zu Boden. Kaum kam es auf dem Boden auf, begann es, sich langsam aufzulösen. Vicy holte Luft und sah zufrieden auf die Stelle, an der der Dämon verschwunden war.

Dann wandte sie sich um und ging zurück. Victoria fühlte die Müdigkeit und wünschte sich nur noch in ihr warmes, weiches, Bett.

 

Am nächsten Tag wachte sie erst spät auf. Sie ging frühstücken und danach auf den Übungsplatz. Sie nahm ihren Bogen mit und übte schießen. Sie stellte die Zielscheibe in fünfzig Schritten Entfernung auf und schoss den ersten Pfeil ab. Er verfehlte das Zentrum nur um die Breite eines Strohhalmes. Sie legte gerade den zweiten Pfeil ein, als Toby kam. „Ich hab dich schon gesucht!“, sagte er. Vicy ließ den Bogen kurz sinken. „Hast du gut geschlafen?“, fragte sie. Toby zuckte die Schultern. „Mäßig… Und du?“ „Grauenhaft!“ Vicy schilderte schnell die Ereignisse der letzten Nacht. Toby schwieg. Vicy sah ihn an und wartete auf irgendeine Reaktion. Als keine folgte hob sie wieder den Bogen und ließ den nächsten Pfeil losschwirren. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er in die Zielscheibe aus Stroh. „Guter Schuss“, murmelte Toby. Vicy war so überrascht, seine Stimme zu hören, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte.

„Danke!“ Sie schoss den nächsten Pfeil ab und noch einen, und einen Dritten. Erst als Vicy schon den vierten Pfeil in die Sehne ihres Bogens legte, begann Toby zu sprechen. „Dieser Kobold. Mit dem stimmt etwas nicht…“ Er wartete und sah Vicy erwartungsvoll an. „Wie meinst du das?“ „Er… Ich habe manchmal das Gefühl, er wartet nur darauf, dass wir einen Fehler machen und er uns an Ramor verraten kann! Ich habe ein seltsames Gefühl in seiner Gegenwart. Ich werde nervös, fange an zu schwitzen oder werde manchmal sogar richtig aggressiv! Werwölfe haben ein Gefühl für so was. Es ist sozusagen unser sechster Sinn! Vicy…“ Vicy schwieg. Sie hatte den Bogen wieder sinken lassen. Neben ihr steckten die Pfeile in der Erde. „Er hatte die Möglichkeit, mit dem Amulett zu verschwinden, und hat es nicht getan!“, sagte Vicy und schoss.

„Doch nur, weil Tena ihn mit einem Zauber belegt hat!“ Der nächste Pfeil schlug in die Zielscheibe. „Woher willst du wissen, was er als Nächstes tun wird? Er ist gefährlich, sage ich!“ „Und ich sage, du bist nur eifersüchtig!“, fuhr Vicy ihn an. „Leor ist komplett in Ordnung!“ „Wieso sollte ich eifersüchtig auf so einen Sabberklos sein?! Das ist doch wohl nicht ein Ernst!“ Toby verschränkte die Arme. Vicy schoss noch einen Pfeil ab, der diesmal den äußeren Ring der Zielscheibe traf. Der nächste verfehlte die Zielscheibe ganz. „Siehst du nicht, dass er gefährlich ist?“, versuchte Toby es noch einmal. Auch der folgende Pfeil verfehlte sein Ziel. „Siehst du nicht, dass du störst?“, fragte Vicy den jungen Werwolf betont gelangweilt. Toby wich einen Schritt zurück. „Nein, das hab ich nicht gesehen. Ich dachte, ich komme und rede mit dir. Ich dachte, du bist vernünftig. Aber eins sehe ich genau: Du bist nur zu stur, um es einzusehen!“

Toby drehte sich um und ging. Vicy sah ihm kurz nach. „Du… Du bist doch nur eifersüchtig!“, rief sie ihm nach. Sie packte wütend ihren Bogen, lief zur Zielscheibe und zog die Pfeile raus. Ihr war es egal, was Toby dachte. Wieder legte sie einen Pfeil ein. „Wenn du denkst, ich würde Leor nur wegen dir wegschicken, dann hast du dich getäuscht!“, murmelte sie. Sie ließ die Sehne los und der Pfeil traf das Ziel. „Leor ist vollkommen in Ordnung!“ Der nächste Pfeil traf. „Er ist nicht böse!“ Noch ein Pfeil schoss los. Vicy pfefferte ihren Bogen auf den Boden und schrie in den Himmel. „Du bist doch nur eifersüchtig!“

 

 

 

 

 

 

 

Vierzehntes Kapitel: Copyright

 

Kevin hielt sich in der Mähne fest und lehnte sich nach vorne, während sein Pony über das Land galoppierte. Er war schon fast überall gewesen, doch immer nur mit Ciara und er hatte alles nur von oben gesehen, doch er war sich sicher, dass der glänzende Streifen links von ihm der Fluss Narakon war.

Das rhythmische trommeln der Hufe machte ihn schläfrig und er hatte seit gestern Morgen nichts gegessen.

Jetzt war Mittag.

Sein Pony, das inzwischen doppelt so viel Muskeln hatte, wie zu Beginn ihrer Reise, war noch nicht erschöpft, doch Kevin konnte nicht mehr weiter reiten. Er hielt sein Pferd an. „Tut mir Leid, Brauner, aber ich muss etwas essen!“, sagte er, während er den noch vollkommen trockenen Hals des braunen Pferdes streichelte. „Brauner… Der Name gefällt dir, oder?“, fragte Kevin. Das Pony wieherte zustimmend und schlug mit dem Kopf.

Kevin stieg ab und band den Braunen an.

Er kraulte ihm vorsichtig die Nüstern. Der Gedanke, nicht ganz allein zu sein, beruhigte ihn ein bisschen, selbst wenn sein einziger Gefährte ein Pferd war. Die Jungs aus seiner Klasse hätten sich vor Lachen in die Hose gemacht, wenn sie das gewusst hätten. Allerdings waren sie ja auch nie in einer solchen Situation gewesen.

Kevin gab dem Braunen einen kleinen Klaps auf den Hals. „Ich bin gleich wieder da!“, sagte er und nahm seinen Bogen. Er fing einen jungen Feldhasen und briet ihn über dem Feuer. Als er gegessen hatte ließ er den Braunen noch etwas trinken und stieg dann wieder auf. Krawp machte es sich auf seiner Schulter gemütlich.

Der Rabe säuberte eifrig sein Gefieder.

Kevin streichelte ihm über den Rücken und ließ den Braunen losgehen. Er war in den letzten vier Tagen sehr weit gekommen und darauf war er stolz. Er hatte alles bis ins kleinste Detail geplant: Er würde zuerst Vicy helfen, denn er wusste nicht, wie weit die Armee noch entfernt war. Er würde im Kampf Alanis töten und danach würde er seine Geschwister, Lindsay und Jeff holen.

Aber er hatte Angst. Angst davor, dass er nicht stark genug war, um Alanis zu besiegen. Dann waren alle Menschen umsonst gestorben. „Angst… Angst ist so eine blöde Erfindung!“

Kevin lief ein Schauer über den Rücken.

„Krawp… Du musst nicht mit mir mitkommen“, sagte er zu dem Vogel. Krawp war gerade dabei, sein Bein zu putzen und erstarrt.

Langsam setzte er das Bein wieder auf Kevins Schulter. Er schlug kurz mit den Flügeln, dann legte er sie an und zupfte an Kevins Haaren. „Ich weiß… Aber ich will!“

 

Gegen Abend hielt Kevin sein Pony an. Krawp verschwand sofort und ließ sich lange nicht mehr blicken.

Wieder dachte Kevin an zu Hause. An sein zu Hause von früher, als sein Leben noch vollkommen in Ordnung gewesen war. Als die Welt sich noch in die richtige Richtung gedreht hatte. Als alles war, wie es sein sollte. Einfach normal.

 

Als Krawp zurückkam, versuchte Kevin dem Raben zu entlocken, woher er seine schlauen Sprüche hatte. „Du, Krawp, weißt du eigentlich, was Copyright ist?“, fragte er scheinheilig. „Koppiwas?“, quäkte Krawp und hüpfte interessiert näher. Kevin zog eine Augenbraue hoch. Jetzt musste er das tatsächlich auch noch erklären. Dabei wusste er nicht mal selbst genau, ab wann es Datendiebstahl war, und wann nicht. Er versuchte, es dem Raben zu erklären.

„Das ist, wenn du ein Gedicht oder ein Foto oder so was benutzt, das dir gar nicht gehört. Dazu gehören auch Geschichten oder zum Beispiel auch, wenn du Sprüche als deine Eigenen ausgibst…“ Kevin sah Krawp an. Der Rabe regte sich nicht. „Weißt du, was ich meine? Dann kommst du ins Gefängnis! Ins Rabengefängnis!“, sagte Kevin und lächelte schelmisch. Der Vogel legte nur den Kopf schief und sagte nichts. Dann hüpfte Krawp desinteressiert davon. „He, was hast du denn vor?“, rief Kevin ihm hinterher. Der Rabe breitete die Flügel aus und stieß sich wild mit den Flügeln schlagend vom Boden ab. „Komm sofort zurück, ich rede mit dir!“

Kevin sprang auf und lief ihm ein Stück nach. Krawp interessierte sich nicht im Geringsten für Kevin. Der Rabe flatterte weiter den Wolken entgegen. „Ich hoffe, du weißt, was ich dir sagen wollte!“, rief Kevin dem Raben hinterher. Doch da war Krawp auch schon in den Wolken verschwunden. Kevin setzte sich ans Feuer und stocherte einige Stunden lang mit einem Ast in der Glut herum. Als es dämmrig wurde und Krawp noch nicht wieder da war, holte Kevin aus seiner Satteltasche ein Stück Reh vom vergangenen Tag und briet es über dem Feuer. Hungrig biss er ab, ohne es abkühlen zu lassen und verbrannte sich prompt die Lippe. Er fluchte leise, riss dann aber wieder ein Stück ab. Er hatte schrecklichen Hunger.

 

 

Glaubst du wirklich, du hast eine Chance?“ „Was, wenn wir es nicht schaffen, dann war alles umsonst…“ „Was soll ich schon ausrichten können?“ „Wo sollen wir Ramor suchen?“ „Was hast du vor?“ „Hast du einen Plan?“

 

Unruhig wälzte Kevin sich hin und her. Die Sätze ergaben keinen Sinn, sie zeigten ihm nur, dass er es nicht schaffen konnte, Alanis zu besiegen…

 

Weg hier!“

 

Im Traum sah Kevin wieder, wie der große Bär ausholte und er spürte, wie er ihn mit seiner Tatze traf… Derselbe stechende Schmerz fuhr ihm durchs Bein wie damals, vor über vier Jahren.

 

Wer ist denn der Herrscher der Dunkelheit?“ „Ich helfe dir. Versprochen!“ „Sie hat dir also nichts erzählt? Kluges Mädchen…“

 

Alanis lächelte ihn im Traum spöttisch an, hinter ihr stand Faleon. Kevin sah sich selbst, sich und Vicy.

 

 

Periculamus!“

 

Alanis’ Gesicht war vor Wut verzerrt.

 

Nein! NEIN!“

 

Kevin schrie im Schlaf auf, als er Vicy von Sairas Rücken fallen sah…

Er glaubte, das glatte Horn des Waldgottes wieder in seiner Hand zu fühlen, wie er damals allen Rest Hoffnung, den er noch gehabt hatte, in den Waldgott gesetzt hatte…

 

Shur’trin gal daen warr!“ „Ich kann ihr nicht helfen…“ „Aber du…“ „Nein, Vicy!“

 

In dem Moment änderte sich alles.

 

Kevin konnte Alanis genau vor sich stehen sehen. „Was machst du denn hier?“, fragte er sie. Alanis’ Augen glänzten dunkelrot, sie war aber nicht aus Nebel, von Phönix war keine Spur zu sehen. Plötzlich spürte Kevin einen enormen Stoß von hinten. Er taumelte Alanis entgegen und viel hin.

Alanis lächelte böse. Kevin sah mit vor Angst geweiteten Augen zu ihr hoch. Alanis trug keine Waffe, und bevor sie sich bücken konnte, umschlang Kevin ihre Beine und riss sie zu Boden. Plötzlich bemerkte Kevin, dass Schnee lag.

Alanis rollte ihn auf den Rücken und hielt seine Hände mit einer Hand fest, mit der anderen schlug sie ihm ins Gesicht. Kevin spürte keinen Schmerz, aber er merkte, wie ihm warmes Blut aus der Nase lief.

Wütend riss Kevin sich los und schlug zurück. Auch Alanis schien keinen Schmerz zu empfinden, aber der Schlag traf ihren Unterkiefer so fest, dass sie nach hinten stürzte. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich Kevin auf sie und schlug zu. Alanis konnte nicht ausweichen und auch der zweite Schlag traf ihr Gesicht. „DU bist schuld daran! Alles ist deine Schuld! Ich hasse dich!“, schleuderte Kevin Alanis genau die Worte entgegen, die er nach Vicys Tod auch zu Ciara gesagt hatte, doch diesmal tat es ihm richtig gut, und als Alanis es schaffte, mit der Faust auszuholen, fing er ihren Schlag ab. Das Blut lief Kevin in den Mund und tropfte auf Alanis Kleidung und auf ihr Gesicht. Alanis packte Kevins Haare und riss ihn daran zurück, Kevin griff auch in ihre Haare und eine Zeit lang rangen sie so miteinander, jeder versuchte, den Anderen auf den Rücken zu rollen. Die beiden rollten durch den Schnee, doch keiner konnte die Oberhand gewinnen. Plötzlich trat Alanis Kevin in den Bauch, doch Kevin ließ ihre Haare nicht los.

Kevin ließ mit der einen Hand los und griff in den Schnee. Wütend drückte er ihr den Schnee ins Gesicht, bis Alanis sein Handgelenk packte und ihren Kopf gegen seinen schlug. Kevin trat einmal nach ihr und ließ sie dann los, um ihr einen Kinnhaken zu verpassen, doch im selben Moment riss Alanis ihn zu Boden und die Beiden stießen sich gegenseitig durch den Schnee.

Als Kevin einen Augenblick unkonzentriert war, packte die Elfe einen Stein, der neben den beiden lag und schlug so heftig zurück, dass Kevin das Gefühl hatte, sie hätte ihm sämtliche Knochen gebrochen. Plötzlich spürte er wieder Schmerz…

 

Im selben Moment wachte Kevin auf. Doch jetzt, wo er wach war, spürte er immer noch Schmerz, auch das Blut, das ihm in den Mund lief, schien echt zu sein. Fluchend setzte er sich auf und betastete seine Nase. Neben ihm an einem Stein war Blut. Er musste sich wohl im Schlaf irgendwie die Nase daran angeschlagen haben. Er kramte aus einer Satteltasche ein Tuch und drückte es sich auf die Nase.

Als das Nasenbluten aufgehört hatte, legte er sich wieder hin, doch er konnte lange Zeit nicht schlafen. Vielleicht sollte der Traum ihm irgendetwas zeigen… Aber was? Kevin zerbrach sich fast eine geschlagene Stunde lang darüber den Kopf. Vielleicht hatte der Traum auch einfach gar nichts zu bedeuten. „Krawp? Krawp, bist du wieder da? Schläfst du?“ Der Rabe hatte den Kopf unter einen Flügel gesteckt und schien tatsächlich zu schlafen. Kevin ließ ihn in Ruhe und beschloss, das auf den nächsten Morgen zu verschieben. Wenn er Krawp überhaupt davon erzählte. Was sollte der schon tun können? Er war doch nur ein Rabe.

„Und du bist nur ein kleines, dummes Kind und hast es trotzdem zum Drachenreiter gebracht!“, sagte seine innere Stimme. „Ja, aber jetzt stehe ich ganz ohne Drachen da, nur mit einem Raben, der in meinen Kopf kann und ein unglaublich guter Lügner ist, und mit einem…“ Kevin ließ seine Gedanken sofort verschwinden. „Krawp, das ist jetzt nicht dein ernst?“, fragte er leise. Dieser verdammte Rabe war schon wieder in seinem Kopf drinnen, und jetzt wusste er auch, was Kevin von ihm hielt. Kevin entschied sich dafür, schnell wieder zu schlafen, um so wenig wie möglich zu denken und sich in unangenehme Situationen zu bringen.

 

 

 

Fünfzehntes Kapitel: Victorias Messer

 

Der Wind hätte wärmend sein können, doch Alanis spürte ihn nicht. Sie spürte überhaupt nichts mehr.

Dafür verfluchte sie Kevin. Doch jetzt hatte sie das Messer. Victorias Messer. Es besaß tat sächlich kaum magische Kräfte, doch es besaß einen anderen Wert. Es war Vicys einziges Erinnerungsstück an Kevin.

Wenn sie es ansah, verband sie automatisch die schönen Erinnerungen mit Kevin mit diesem Gegenstand. Es erinnerte sie an ihren besten Freund. Und deshalb hatte es eine andere Macht.

Alanis konnte nun etwas anderes damit tun. Sie hatte jetzt die Macht, Vicy zu bedrohen. Wirklich zu bedrohen. Darauf hatte sie ihr Leben lang gewartet. Auf einen Augenblick, in dem sie ihrer Halbschwester richtig wehtun konnte. Und sie kannte nun ihre Victorias Schwächen. Das Messer würde ihr dabei zwar nicht nützen, doch es ließ Alanis nie vergessen, was für Victoria das Wichtigste war: Kevin.

Deshalb hatte sie das Dämonenpferd losgeschickt. Doch sie hatte herausgefunden, dass Vicy stärker war, als Alanis selber je gewesen war.

Denn Vicy kannte etwas, was Alanis nie gekannt hatte: Liebe. Kevin und Vicy verband ein Band, das stärker war als der Tod selbst, was Kevin ja bewiesen hatte.

Doch Dank dem Messer wusste sie, was sie tun könnte: Sie konnte Vicy mit den Ängsten konfrontieren, vor denen sie sich am meisten fürchtete: Kevin zu verlieren. Anfangs nur mit Albträumen, doch dann würde die Wirklichkeit kommen. Und die würde schlimmer werden, als jeder Albtraum und Vicy würde sich wünschen, dass sie nur träumen würde.

Alanis könnte Vicy dazu bringen, alles zu tun. Vicy würde alles tun, wenn sie dachte, Kevin wäre in ernsthafter Gefahr. Und Alanis hatte keinerlei Probleme damit, eine solche Situation zu schaffen. Im Gegenteil. Ganz genau das würde sie als Nächstes tun. „Ja, das werde ich tun!“, dachte Alanis, und wenn sie jetzt kein Schatten gewesen wäre, meinte sie, dass sie so etwas wie Glück und Freude verspürt hätte.

 

 

 

 

Sechzehntes Kapitel: Das weiße Pferd

 

Vicy lief so schnell sie konnte. Es war kalt und nebelig um sie herum. Obwohl sie ihren dicken Wintermantel trug, hatte sie das Gefühl, zu erfrieren. Sie stolperte, doch sie fiel nicht hin. „Kevin!“, schrie sie. Sie wusste, dass er eben noch bei ihr gewesen war. Etwas raschelte hinter ihr in den Büschen. Sie fuhr herum, doch plötzlich war das Rascheln wieder hinter ihr. Es war immer in ihrem Rücken. Sie konnte es nicht sehen. Es würde sie aus dem Hinterhalt angreifen.

Sie drehte sich solange um sich selbst, bis ihr schwindelig wurde und sie sich setzen musste. Wieder raschelte es hinter ihr. Sie wandte den Kopf ein klitzekleines Stück nach hinten. Aus den Augenwinkeln erkannte sie eine Gestalt, die auf sie zukam. Sie drehte sich ganz um. Da stand Kevin. Er trug Klamotten, die Vicy noch nie an ihm gesehen hatte und die ihn unnatürlich blass aussehen ließen. Oder war es vielleicht gar nicht die Kleidung? „Kevin?“ Vicy stand auf, als Kevin nichts sagte. „Kevin?“, fragte sie etwas lauter. Kevin bewegte sich nicht. Er sah sie an. „Kevin, alles in Ordnung?“ Kevin starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Kevin, was ist passiert?!“, fragte Vicy jetzt noch lauter und energischer. Noch immer antwortete Kevin nicht. Er sah sie mit großen, entsetzten Augen an.

Dann war er verschwunden.

Verwirrt starrte Vicy ins Leere. „Vicy!“, hörte sie ein leises Flüstern. Es war ganz eindeutig Kevins Stimme. „Vicy, hilf mir!“ Victoria sah sich um, doch hier war Kevin nicht. Sie lief los, immer weiter, auf der Suche nach dem Ort, von dem die Stimme kam, denn dort musste auch Kevin sein. „Vicy, warum hast du mich gehen lassen?“ Vicy fuhr herum, als sie glaubte, die Stimme käme von hinter ihr. „Warum, Vicy?!“ Vicy sah niemanden. Wurde sie jetzt verrückt? „Wieso hast du mich nicht aufgehalten?“ Kevins Stimme wurde jetzt leiser, dann hörte Vicy ein Lachen.

Es war ihr Eigenes. Es klang verrückt, beinahe hysterisch. „Was willst du von mir?“, rief sie, während sie versuchte, nicht vollkommen den Verstand zu verlieren. „Ich habe nichts falsches getan!“ Kevin lachte wieder. Vicy drehte sich im Kreis und suchte nach Kevin. „Darum geht es gerade. Um das… was du nicht getan hast. Das ist alles deine Schuld… Vicy…“ Vicy gefiel es nicht, wie er ihren Namen aussprach. Sie konnte Kevin nirgendwo sehen. „Was ist meine Schuld?!“

Jetzt rannte Vicy weiter. „Wo bist du? Wo versteckst du dich? Das ist nicht lustig, hörst du?“ Die Stimme folgte ihr. „Ich dachte, wir wären Freunde, Vicy… Du und ich, gemeinsam gegen den Rest der Welt. Das war doch einmal so, nicht wahr? Vor sehr langer Zeit. Wir waren Freunde. Hab ich Recht, Vicy? Ja, du weißt, dass ich Recht habe. Aber warum hast du mich dann gehen lassen? Warum hast du das zugelassen?“ Vicy wollte fort von hier, sie wollte, dass Kevin sie in Ruhe ließ. Sie rannte. Kevins Worte verfolgten sie. Was wollte er von ihr? Was hatte sie getan? Sie stolperte und fiel hin. Eine Wurzel hatte sich um ihr Bein geschlungen.

Warum läufst du fort von mir? Schließlich waren wir Freunde!“ Vicy begann zu weinen, während sie verzweifelt an der Wurzel um ihren Fuß riss. „Warum hasst du mich so?“ „Ich hasse dich nicht!“, dachte Vicy. Sie konnte nichts mehr sagen, ihr Hals war wie ausgedörrt. Ihre Lippen waren trocken. „Ich hasse dich nicht!“, dachte sie nur noch einmal. Wieder riss sie an der Wurzel, bis sie sich löste und Vicy sich aufrappeln konnte. Sie drehte sich langsam im Kreis. Kevin sagte nichts. Es war vollkommen still um sie herum. Als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. War Kevin fort?

Nein.

Das ist deine Schuld, Vicy… Alles… Wahre Freunde beschützen einander, nicht wahr? So wie ich dich beschützt habe. Immer und immer wieder… Ich habe dir mehr als einmal das Leben gerettet. Und was hast du getan? Warum hast du das getan?!“ Vicy schrie erschrocken auf, als Kevin vor ihr stand.

Was?! Bitte, Kevin, sag mir, was ich getan habe!“ Kevin starrte sie an, sein Atem ging schnell und er zitterte. „Wieso nur, Vicy?“, flüsterte er. Vicy wollte auf ihn zugehen, doch sie kam nicht vom Fleck. Sie starrte ihn an, er starrte zurück. „Warum hast du es zugelassen?“, wisperte Kevin. „Warum hast du zugelassen, dass sie mich töten?!“

Vicy riss die Augen auf. „Das ist eine Lüge!“ „Mörderin!“ Vicy machte auf dem Absatz kehrt und rannte so schnell sie konnte davon. „Du kannst mir nicht entkommen!“ Vicy lief nur noch schneller. Sie hatte schreckliche Angst. Kevin konnte unmöglich tot sein. „Ich werde dich finden! Das Böse wird dich verfolgen, wohin du auch gehst. Und es wird dich schon sehr bald eingeholt haben!“ Vicy schrie auf, als sie die Worte des Dämonenpferds wiedererkannte. „NEIN!!!“ Kevin war hinter ihr her. Sie spürte seine Nähe. „Wo willst du den hin, Vicy? Sind wir keine Freunde mehr? Ich nehme es dir nicht übel, dass du mich getötet hast. Du konntest es nicht wissen. Du bist doch nur ein Kind!“ So sah Kevin sie also. Sie war nur ein Kind für ihn. Sie war zwar jünger als er, aber sie hatte nie gedacht, dass sie für ihn ein Kind war. Plötzlich packte sie eine Hand. Kevin. „Nein! Lass mich los! Geh weg! Verschwinde!“ Vicy kämpfte, um freizukommen.

Du magst mich nicht mehr.“ Kevin starrte sie an. Sein Gesicht zeigte keine Regung. „Du hast mich umgebracht und bereust es nicht einmal!“ „Nein, ich habe dich nicht umgebracht! Ich wollte das nicht! Du musst mir glauben!“ Vicy drehte sich um und wollte loslaufen, doch Kevin riss sie zurück. Erst da erkannte sie, dass vor ihr ein tiefer Abgrund war. Sie war eingesperrt, gefangen zwischen Kevin und dem Abgrund. „Warum nur? Wieso hast du mich gehen lassen? Was habe ich dir getan? Du bist ein Mörder, Vicy!“ Diese Beschuldigung versetzte Vicy einen Schlag, obwohl sie wusste, dass sie nicht stimmte. Ihr traten die Tränen in die Augen. „Nein! Ich habe dich nicht umgebracht! Bitte, lass mich gehen!“ Kevin sagte nichts. „Ich liebe dich noch immer, Vicy.“ Vicy glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Was?“ Kevin kam einen Schritt näher. Plötzlich war ihr seine Anwesenheit wieder schrecklich unangenehm. „Ich liebe dich noch immer, Victoria. Ich liebe dich. Deshalb habe ich dich gerettet. Vor Ramor, weißt du noch? Ganz genau aus dem Grund hat Ramor dich gehen lassen. Ist das kein Beweis?“ Vorsichtig strich Kevin ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Gerade eben habe ich dich wieder gerettet.“ Kevin wies auf den Abgrund hinter Vicy. Als sie sich umdrehte merkte sie, dass sie mit beiden Füßen am Rand der Schlucht stand. Sie konnte keinen Zentimeter mehr zurückweichen.

Kevin sah wieder zu ihr. „Du bist das Wichtigste für mich. Du bist mein Stern. Mein Ein und Alles. Ich liebe dich.“ Vicy bekam Angst. Was bedeutete es, wenn man von einem Toten geliebt wurde? Konnten Tote überhaupt lieben? Oder war das nur ein Trick?

Vicy.“ Vicy sah Kevin wieder in die Augen. Sie sahen aus wie früher. Völlig normal. Einen Moment glaubte Vicy tatsächlich daran, dass Kevin noch immer lebte und sie wirklich liebte. Wie ein vollkommen normaler Mensch. Wie früher. „Ich liebe dich.“ Kevin strich ihr über die Wange. „Ich brauche dich.“ Kevin nahm vorsichtig ihre Hand, wie er es immer getan hatte. Er hielt sie jetzt nicht mehr fest, doch Vicy wagte nicht zu atmen. Irgendeine unsichtbare Kraft hielt sie noch immer fest. Kevins Griff war locker und sanft, trotzdem hatte Vicy das Gefühl, an seiner Berührung zu ersticken. „Nein… Lass mich sofort los!“, dachte Vicy, die wieder nicht sprechen konnte. „Aber wir können nicht zusammen sein. Ich bin tot! Deinetwegen.“ Und plötzlich wusste Vicy, worauf er hinauswollte. „Lass mich gehen!“, schrie sie und stieß ihn von sich weg, doch er hielt sie fest. „Das kann ich nicht. Du wirst für immer bei mir sein. Nur du und ich.“

Kevin sah ihr in die Augen. Seine Stimme war ganz leise und tröstend. „Das wolltest du doch auch, oder? Dass es nur noch uns beide gibt… Für immer… Aber immer ist eine sehr lange Zeit.“ Plötzlich verhärteten sich die Züge in Kevins Gesicht. Vicy riss vor Angst die Augen auf. „Besonders, wenn man tot ist!“ Damit stieß Kevin sie von sich weg. „NEIN!!!“ Vicy stolperte, sie fiel nach hinten. Sie drehte sich um. Vor ihr war nichts mehr. Unter ihren Füßen war nichts mehr. Sie fiel. Sie schrie…

 

Vicy wachte auf. Sie war schweißgebadet und atmete hektisch. „NEIN! Nein, nein, nein… Nein, das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Kevin…“ Sie schluchzte. Warum hatte er das getan? Wollte er sie wirklich töten?

„Das stimmt nicht! Bitte, du musst mir glauben! Das wollte ich nicht! Hilf mir!“ Erst dann merkte sie, dass sie nicht mehr fiel, sondern dass sie in ihrem Bett saß. Alles war okay. Sie wusste, dass das alles nur ein Traum gewesen war, Kevin ging es gut, er war am Leben, er hätte sie niemals getötet.

Aber was, wenn dieser Traum eine Warnung gewesen war? Wenn Kevin tot war? Er würde sie bestimmt nicht töten, aber was, wenn ihm etwas passiert war?

Sie sah sich um.

„Leor. Leor, wo bist du?“ Der Kobold kam auf sie zugehopst. „Ja?“ „Leor, ich will, dass du für mich herausfindest…“ In dem Moment hörte sie ein Wiehern. Ein rufendes, aber nicht drohendes Wiehern. Sie sah aus dem Fenster.

Im Hof stand ein Pferd. Ein schneeweißes Pferd.

Das Pferd, das sie aus dem Schnee erschaffen hatte. Mithilfe des Messers, das ihr Kevin gegeben hatte.

Sie schwang sich aus dem Fenster und kletterte vorsichtig an den Efeuranken herunter. Dabei musste sie aufpassen, dass sie sich nicht mit den Füßen oder mit ihrem Nachthemd verhedderte. Die Efeuranken waren uralt und zum Teil waren darin kleine Nester von irgendwelchen Tieren. In denen konnte man sich schnell verfangen.

Den letzten Meter über der Erde sprang sie. Sie knickte mit dem Fuß um und landete auf ein paar Spitzen Steinchen, doch sie ignorierte den Schmerz und rannte auf das weiße Pferd zu, dass bereits ungeduldig mit den Hufen scharrte.

„Was hast du gesehen? Geht es Kevin gut?“, fragte Vicy das Pferd.

Es warf den Kopf hoch. „Es geht ihm gut. Er ist auf dem Weg hierher.“ Vor Freude sprang Vicy in die Luft. „Ich wusste es! Ich habe es genau gewusst!“ Sie lachte. „Ich wusste, dass Kevin kommen würde!“ Ciara und Saira kamen. Vicy rannte auf sie zu. „Ciara, oh, Ciara, er kommt! Kevin kommt!“, rief sie und schlang die Arme um den Drachen.

Ciara achtete nicht auf Vicy, sondern brüllte vor Freude laut in den Himmel. Dann schwang sie sich auf die Hinterbeine und spreizte die Flügel, so dass sie beinahe einen der Türme zum Einsturz brachte.

Saira tollte durch den Hof und biss ihre Mutter spielerisch in den Flügel. „Ich wusste es, ich wusste es! Er hätte uns nie im Stich gelassen!“ Vicy sprang und tanzte ausgelassen durch den Hof. Der Schmerz in ihren Füßen war vergessen.

Als Vicy sich wieder beruhigt hatte, ging sie zu dem weißen Pferd und streichelte ihm glücklich den Hals. „Ich bin ja so froh, dass es Kevin gut geht!“

 

 

Als Vicy am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Vicy gähnte und rollte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. Sie rollte sich hin und her, doch sie konnte nicht mehr schlafen. Daher stand sie auf und lief zum Schrank. Auf dem Schrank stand Leors kleine Kiste, in der er immer schlief. Vicy klopfte auf den Deckel. „Bist du wach?“ Von innen ertönte ein kurzes Schnattern, dann wurde der Deckel von innen angehoben. Der Kobold hatte sich wie eine Katze zusammengerollt und jetzt sah seine kleine Schnauze durch einen Spalt zwischen Deckel und Karton. So erinnerte er Vicy sehr an eine Meerkatze. Leor sah sie an und schob mit der einen Pfote den Deckel ganz auf. Dabei entblößte er seine spitzen Zähnchen, die ihn wieder eher einer Katze ähneln ließen. Flink kletterte er aus dem Karton und sprang vom Schrank. Seine langen Krallen schabten über den Boden, als er sich hinsetzte. „Was ist?“, fragte er und seine kleinen Zähne blitzten auf. Victoria dachte an Tobys Worte: „Ich habe das Gefühl, er wartet nur darauf, dass wir einen Fehler machen!“

Vicy schwieg. Leor beobachtete sie. „Was ist?“, fragte er sie noch einmal. „Ich… Ich wollte nur wissen, ob du noch schläfst“, wich Vicy ihm aus. Diesmal schwieg Leor. Er fixierte sie mit seinen kleinen, schwarzen Augen. Vicy senkte den Kopf. Als Leor nichts sagte, fragte sie ihn: „Was ist eigentlich zwischen dir und Toby los? Ich habe das Gefühl, er mag dich nicht und du ihn auch nicht… Ist etwas zwischen euch vorgefallen, von dem ich wissen sollte?“

Leor schüttelte den Kopf. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Nichts vorgefallen.“ Vicy sah ihn durchdringend an. „Ich… ich glaube irgendwie, dass er dir nicht traut. Er meinte, er hätte ein seltsames Gefühl in deiner Gegenwart.“ Vicy hoffte, damit nichts Falsches gesagt zu haben. „Nichts vorgefallen!“, wiederholte Leor noch einmal, diesmal aber deutlicher und eindringlicher.

Vicy war aufgefallen, dass er in ihrer Gegenwart nicht viel sagte und mit möglichst wenig Worten antwortete. „Als hätte er Angst, sich zu verraten!“, dachte Vicy. „Können wir reden?“, fragte sie Leor. „Worüber?“, fragte der Kobold zurück. „Ich würde gern mehr über euch Kobolde erfahren… Woher kommt ihr? Was ist der Unterschied zwischen den Gnomen und euch? Wie ist es gekommen, dass ihr euch Ramor angeschlossen habt?“, wollte sie wissen, „Und…“ Den letzten Satz führte sie nur in Gedanken zu Ende. „Und ich will wissen, ob du etwas im Schilde führst!“ Leor schwieg. „Vielleicht ein anderes Mal.“ „Bitte! Ich weiß so wenig über euch!“ Leor schüttelte den Kopf, legte den Kopf auf seine Pfote und fixierte Vicy.

Jetzt war Vicy sich sicher, dass er ihr etwas verschwieg. „Toby meinte, du hättest etwas Böses vor! Ich bin nicht ganz seiner Meinung, aber ich glaube inzwischen auch, dass du uns nicht immer ganz die Wahrheit gesagt hast!“ Leor fauchte kurz auf und sein Fell sträubte sich. „Ich lüge nie! Niemals, hörst du?!“ „Das mag ja sein. Aber du sagst uns nicht alles, was du weißt.“ Einen Moment fürchtete Vicy, zu weit gegangen zu sein. Doch Leor blieb ruhig. „Was ich dir sage, und was nicht, ist allein meine Sache. Es zwingt mich auch niemand, hierzubleiben. Auch du nicht. Das Einzige, was mich hier hält, ist, dass ich hier ein Dach über dem Kopf habe, und dass ich mich nicht mehr bei Ramor blicken lassen kann, was allein eure Schuld ist!“ Leor spuckte auf den Boden. Seine Nackenhaare sträubten sich, wie bei einer wütenden Katze.

„Wenn ich weiterziehen will, dann hält mich aber auch dass nicht auf. Also überlegt Euch, was Ihr sagt, Königin Victoria!“ Vicy wusste nicht, ob sie das als Drohung verstehen sollte, oder nicht. Aber sie wusste, dass dieses Gespräch gelaufen war, und außerdem wusste sie, dass jetzt aus Leor nichts mehr herauszubekommen war.

„Entschuldigung…“, murmelte sie, doch Leor sprang fauchend mit einem gewaltigen Satz auf den Schrank zu und kletterte nach oben.

„Es… Es war wirklich nicht so gemeint!“, rief Vicy ihm hinterher. Leor öffnete den Deckel seiner Kiste und kroch hinein. Dann schloss er den Deckel hinter sich. Vicy setzte sich aufs Bett und dachte nach.

In dem Moment ging die Tür auf und Toby kam herein. „Tut mir Leid, dass ich nicht geklopft habe“, murmelte er und strich sich verlegen durch die Haare. „Aber…“ Er schloss die Tür hinter sich und trat verlegen von einem Fuß auf den Anderen. „Ich wollte mich entschuldigen… Wegen… Damals… Also, als du gemeint hast, dass…“ Vicy schüttelte warnend den Kopf und zeigte zum Schrank, auf dem die Kiste sich leicht bewegte und der Deckel ein Stück angehoben wurde. „Lass uns raus gehen!“, meinte Victoria. Toby nickte und die beiden verließen das Zimmer.

 

„Weißt du, ich glaube, du hattest Recht!“, sagte Vicy, als sie im Hof herumspazierten. „Mit dem Kobold stimmt etwas nicht!“ Toby nickte. „Ich weiß nicht, was genau mich an ihm beunruhigt, aber ich weiß… Ich weiß nicht, was ich weiß!“, rief Toby und kickte wütend einen Stein weg. „Du hast das Gefühl, dass du in Gefahr bist, wenn er in deiner Nähe ist? Dass er etwas vor dir verschweigt? Fühlst du dich seltsam beobachtet und durchschaut, wenn er seine schwarzen Augen zu Schlitzen verzieht und dich damit mustert?“, fragte Vicy. Toby sah auf. „Genau so ist es!“, sagte er und verzog das Gesicht.

Dann schwiegen die beiden eine Weile. „Sag mal, wieso bist du eigentlich Königin geworden?“, fragte Toby plötzlich. „Du bist doch noch… Na ja, du bist doch noch ziemlich jung!“ Vicy nickte. „Das mag für euch ja stimmen, aber die Zeitrechnung ist bei den Elfen etwas anders. Für die Elfen bist du mit zwölf Jahren erwachsen. Ich war damals dreizehn. Also gab es damit kein Problem!“

Toby sah sie verwirrt an. „Wieso seid ihr schon so früh erwachsen?“ „Wir Elfen können nur dann vollkommen unerkannt bleiben und weiterhin gemeinsam ganz im Einklang mit dem Wald leben, wenn auch schon die Kleinsten alles über ihre Geschichte und Kultur wissen. Jeder noch so junge Elf muss auf seinen eigenen Beinen stehen können, von Anfang an.

Die Elfenkinder gehen schon mit sieben Jahren für ihre Familie jagen, im Durchschnitt lernen wir mit einem viertel Jahr laufen, mit spätestens einem halben Jahr können wir schon richtig sprechen.“

Vicy lächelte. „Wir wurden immer nach dem Grundsatz erzogen, wer schnell und früh lernt, hat mehr Zeit, um sein Wissen anzuwenden.“

„Aha.“ Toby zog eine Augenbraue nach oben. „Aber… Wenn ihr doch sowieso unsterblich seid, warum müsst ihr dann so schnell lernen?“ „Wir sind nicht ganz unsterblich. Das wird nur gern behauptet, weil wir schon seit tausenden von Jahren hier leben und uns nie verändert haben. Außerdem werden wir gut und gerne sechzigtausend Jahre alt!“

„Aha“, machte Toby noch einmal. „Bei uns Werwölfen ist das ganz anders. Also… Wir lernen natürlich schon sehr früh, uns richtig zu verwandeln, aber es kann Jahre dauern, bis wir es unter Kontrolle haben und uns nur dann verwandeln, wenn wir es wirklich wollen. Das ist etwas, was unreinrassige Werwölfe nie gelernt haben. Wenn wir uns dann richtig verwandeln können, lernen wir das Jagen, aber die meisten Wölfe sind dann schon so ungefähr dreißig oder vierzig Jahre alt. Und erst später dürfen wir dann auch jagen gehen.“ Vicy blieb abrupt stehen. „Wie alt um alles in der Welt bist du denn?!“ „Hundertvier.“ Vicy fiel vor Staunen die Kinnlade herunter. Toby lachte.

„Schon einmal davon gehört, dass man das Alter von Hunden und Wölfen anders berechnet, als das von Menschen? Rechne doch mal nach: hundertvier geteilt durch sieben, das macht… das wären dann… nach eurem Maßstab wäre ich fast fünfzehn Jahre alt! Unsere Welpen können sich dann mit… mit sechs Jahren verwandeln. Dann haben sie eigentlich die Grundschule abgeschlossen. Sogar viel früher als die Menschen in den nördlichen Regionen!“ Vicy lachte und lief weiter. „Na dann! Wie alt werdet ihr eigentlich?“ „So sechshundertvierzig Jahre alt. In Hundejahren. In Menschenjahren wären das ungefähr… äh… Einundneunzig, oder zweiundneunzig Jahre. Also sind wir nicht ganz so langlebig, wie ihr Elfen.“

„Du hast heute aber ziemlich viel gerechnet!“, meinte Vicy bewundernd. Sie wäre schon an so einfachen Rechnungen gescheitert, wie neunundachtzig durch sechs. Aber das lag wahrscheinlich hauptsächlich daran, dass sie nie eine Schule besucht hatte.

„Dann bist jetzt du dran. Jetzt darfst du rechnen!“, schlug Toby vor. „Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist“, lehnte Vicy ab. „Warum nicht?“ „Na, weil ich nicht rechnen kann! Das ist nicht so wichtig für uns Elfen. Eigentlich ist es uns vollkommen egal, ob wir rechnen können, oder nicht. Wir lernen zwar schreiben und lesen, aber rechnen nicht. Wozu auch? Für uns zählt nur das Jagen, Laufen, Springen, Schwimmen, vielleicht noch Geschichten erzählen zu können oder ein Instrument zu spielen und dann noch das Singen.“

Toby witterte sofort seine Chance. „Dann sing mir doch was vor! Was singt ihr Elfen so? Das würde mich interessieren!“, sagte er eifrig. „Ich weiß nicht.“ Vicy zögerte. „Bitte, Vicy! Bitte, bitte, bitte!“

„Ich bin doch von zu Hause weggerannt, als ich sieben war! Das ist jetzt dann auch wieder fast sieben Jahre her. Ich weiß doch gar nicht, was sie jetzt zurzeit für Lieder singen. Das ändert sich schließlich“, wehrte Vicy ab.

„Dann sing doch was, was damals so gesungen wurde. An etwas wirst du dich doch noch erinnern, oder? Komm schon, Vicy! Bitte!“, bettelte Toby weiter. Vicy überlegte.

„Okay, ich glaube, mir fällt was ein, ich brauch nur kurz Zeit, um den Anfang wiederzufinden. Ja, doch, jetzt weiß ich es wieder. Es ist ein Kinderlied, das uns immer vorgesungen wurde. Es geht um einen alten Hirsch, der nicht schlafen kann, weil ihn ein Vogel immer ärgert. Also, ich bezweifle, dass du etwas davon verstehen kannst, aber… Ach egal.“ Vicy überlegte noch einmal kurz, dann holte sie Luft und begann zu singen:

 

 

Ath thei nè ren ath thei nè ga’d.

Ath thei nè lanos ath thei nè ead.

Nolò then nafelas,

Anthor nathulin e nejás.

E nethajat, najor, nolò tin

Nè celde’red trejr samon es

Ath thei nè reseleth ath the nè sen

Ath thei nè maror negle ten.

 

Ath thei nè tharor, nolam ten

Delaror eveltin, na’the rhe skeid,

Nath e nè me rhe,

Trejr, trejr tharmoin!

Trejr, trejr thramoin!

 

Ath thei nè gle ath thei nè tah,

Ethundurin etha kla,

Norled unsdoe enelds w’ej

Widl sjel’dar sel e ten,

Negle dorin othofen.

 

Ath thei nè tharor, nolam ten

Delaror eveltin, na’the rhe skeid,

Nath e nè me rhe,

Trejr, trejr tharmoin!

Trejr, trejr thramoin!

 

Nè lethain athor, sel et kla

Fre rothor nathul isne ra

Nat fal ath horon net

Nev e’lan drevor ret

Alo na vod dag e nè elethe

Dar sel ten dorin maror e.

 

Ath thei nè tharor, nolam ten

Delaror eveltin, na’the rhe skeid,

Nath e nè me rhe,

Trejr, trejr tharmoin!

Trejr, trejr thramoin!

 

Athron nat felithien,

othron nodt ce kelfien

nath je’led, ethrin, shadgredad

Eth thei a ledron garadad!

Eth drefin dalor amon es,

se nath e feron fal vod nes.

 

Ath thei nè tharor, nolam ten

Delaror eveltin, na’the rhe skeid,

Nath e nè me rhe,

Trejr, trejr tharmoin!

Trejr, trejr thramoin!

 

 

Und zum Schluss wurde der Vogel von dem Hirsch gefressen“, erklärte Vicy. Toby stutzte. „Ich dachte immer, Hirsche fressen kein Fleisch!“, gab er zu bedenken.

Vicy lachte. „Bei uns sind Hirsche Götter, da auch der Waldgott einer ist. Da dürfen sie auch mal einen Vogel fressen!“

Toby schüttelte den Kopf. „Eure Götter sind echt aggressiv!“ Dann begannen beide schallend zu lachen.

Vicy verstummte als erste wieder. „Was hast du?“, fragte Toby. „Weißt du… Ich glaube nicht, dass wir gewinnen können.“ „Wieso nicht? Schließlich haben wir eine Drachenreiterin und Kevin wird auch noch kommen! Und natürlich darf man den jungen, starken, attraktiven Werwolf an eurer Seite nicht vergessen.“ Toby lächelte Vicy übertrieben arrogant an. „Außerdem… Dein Name ist Victoria, was so viel bedeutet wie Sieg! Wie willst du mit so einem Namen verlieren?“ „Ich kannte mal eine Clementine, aber die war alles Andere als barmherzig!“ Toby hörte ihr interessiert zu. „Das ist nicht gerade ein typischer elfischer Name. Wie hast du sie kennen gelernt?“

„Mein Vater, Alanis und ich sind früher viel außerhalb des Waldes unterwegs gewesen. In einem kleinen Dorf haben Alanis und ich dann irgendwann Clementine kennen gelernt. Sie war eigentlich ganz nett, aber wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging konnte sie ein richtiges Monster sein. Wenn ich so im Nachhinein darüber nachdenke, haben Alanis und sie eigentlich richtig gut zusammengepasst…“

 

 

 

 

Siebzehntes Kapitel: Die Armee

 

 

Erst als Elijah nach drei weiteren Tagen den Fluss Narakon weit hinter sich gelassen hatte und Kevin und seine Freunde nirgends entdeckt hatte, war er sich sicher, dass er sie überholt hatte. Max war erschöpft und Elijah wollte ihm eine Pause gönnen. Er sah schon von weitem eine Stadt, von der er auch aus Erzählungen wusste, dass es die Stadt Loret war.

Also ließ er sich von Max’ Rücken gleiten und setzte sich ins Gras. Er zupfte einzelne Grashalme aus und sah sich genau um.

Ein dunkler Streifen am Horizont kündigte den Zwergenwald an. Kurz entschlossen stand Elijah wieder auf und ging zu Max. „Tut mir Leid, Kumpel, aber im Wald sind wir sicherer! Lass uns gehen!“ Damit griff er in die Mähne und zog sich hoch. Max fraß weiter, erst als Elijah ihm einige Male heftig die Fersen in die Flanken drückte, hob er widerwillig den Kopf. Max versuchte, Elijah abzuwerfen, doch der Junge hielt sich gut fest. Endlich begann Max zu traben.

Er sah den Wald immer näher kommen und trieb Max noch ein bisschen an. „Los, mein Junge!“ Max ging in einen weichen Galopp über. Elijah ließ Max Mähne los und riss die Arme in die Luft. „Ja! Schneller!“

Es machte ihm Spaß, als er sah, wie schnell der Boden unter ihm davon sauste. Da hatte er eine wahnwitzige Idee.

Es diente nur seinem Vergnügen, aber eventuell könnte es auch hilfreich im Kampf sein.

Er hielte sich an der Mähne fest und zog die Knie an. Dann stemmte er sich hoch und kniete nun auf Max’ Rücken. „Mach etwas langsamer, mein Junge“, bat er sein Pony. Max verstand ihn und galoppierte langsamer.

Elijah setzte erst den linken Fuß auf den Rücken des Ponys, dann den rechten und ließ seine Mähne los. Er drückte sich hoch und stand aufrecht auf Max Rücken. Er breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Max wieherte. „Juhuuu!“, rief Elijah. Der Boden rauschte unter ihm vorbei, als Max wieder an Tempo zulegte. Elijah rutschte zurück auf seinen Rücken. Gerade rechtzeitig, denn Max machte im selben Moment von Freude einen kleinen Bocksprung und galoppierte in den Wald.

Elijah trieb ihn nun nicht mehr weiter sondern ließ ihn laufen, soweit er wollte.

Schon bald blieb Max stehen und ließ sich das Gras, das auf einer kleinen Lichtung wuchs, schmecken. Elijah saß ab und überlegte. „Also. Wir könnten hier auf Kevin warten und dann mit ihm zu den Sindern gehen. Oder wir gehen schon mal vor und riskieren, dass sie uns von weitem umbringen, weil sie uns für Feinde halten. Na, was meinst du?“

Max wieherte abwehrend. „Das finde ich auch!“, sagte Elijah und setzte sich hin. „Dann können wir die Zeit ja auch sinnvoll nutzen. Allein können wir die Sinder nicht retten. Wir brauchen eine Armee. Und ich weiß auch schon, wo wir die herbekommen!“, sagte er und ging schmunzelnd in den Wald.

 

 

 

 

 

Achtzehntes Kapitel: Der Krieg beginnt

 

Jeff sah sich um. Erst hatte er es für möglich gehalten, dann hatte er es befürchtet und jetzt wusste er es: Sie hatten sich verirrt. „Hey, Leila, du weißt doch alles! Wo sind wir?“, rief er über die Schulter. Leila war eingedöst und wachte nun erst auf. Sie blinzelte und hielt sich am Sattel fest. Sie saß vor Lindsay, ihre Schwester Lily saß vor Jeff auf dem Pferd.

„Ähm… Tja…“ Sie rieb sich verschlafen die Augen. „Also, was ist?“, fragte Jeff wieder. „Ich glaube, wir sind irgendwo zwischen… Ich… Hier ist… Und…“ Leila stotterte und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Jeff sah zu ihr herüber und sah sie fragend an. „Was ist los? Weißt du, wo wir sind oder nicht?“ Lindsay sah Jeffrey böse an. „Sie ist doch noch ganz verschlafen, und du machst dich schon wieder über sie lustig!“ „Das hatte ich nie vor!“ „Aber so kam es an!“ „Dafür kann ich doch nichts!“ Jeff und Lindsay warfen sich böse Blicke zu, als ihr Schweigen plötzlich von Leila unterbrochen wurde.

„Das da, hinter uns, ist der Fluss Narakon, und der Wald da vor uns, ist der Zwergenwald!“, sagte sie. „Aha. Und wo lang müssen wir dann jetzt?“, wollte Jeff wissen. Ein lautes Geräusch ließ ihn zusammenzucken.

„Was war das?“, flüsterte Lindsay, im selben Moment schrie Lily entsetzt auf und zeigte über den Zwergenwald. Eine riesige Kreatur war aufgetaucht.

Und hinter ihr waren noch mehr. Sie ragten gute zwei Meter über die größten Baume des Zwergenwaldes. Man brauchte keine Kenntnisse in der Geschichte der Sinder, Elfen und Zwerge um zu wissen, dass es die Riesen waren.

Mit jedem Schritt rissen sie die Bäume um. Die Riesen waren wie Gift, das alles, was sich ihm in den Weg stellt, niederwalzt, von dem nichts übrig bleibt. Sie schritten unbeirrt über den Wald hinweg, sie schlugen um sich. Anscheinend machte es ihnen Spaß, das laute ächzend der Bäume zu hören, die unter ihren Schlägen und Tritten zusammenbrachen. Dennoch sah es fast so aus, als würden sich die Bäume wehren. Sie schienen ihnen mit Absicht den Weg zu versperren und mit jedem Schritt schienen die Bäume sich den Riesen stärker und verzweifelter zur Wehr zu setzen.

Trotzdem konnten die Bäume die Riesen nicht aufhalten. Sie kamen auf die Kinder zu, sie übersahen sie, genauso, wie sie die Bäume übersahen. Die Kinder standen vor Angst und Entsetzen wie erstarrt da.

„Schnell! Weg hier!“, wisperte Lindsay plötzlich. Es war wie in einem Traum, in einem Albtraum, wenn man hinter sich den Feind sieht und genau weiß, dass man nicht schnell genug ist, um zu entkommen. Sie lenkten ihre Ponys hinter ein paar Büsche, doch die Riesen sahen sowieso nicht in ihre Richtung. „Was ist das?!“, flüsterte Lily entsetzt.

„Das sind Riesen. Und sie sind sicher nicht allein!“ Alle sahen Jeff an, der gesprochen hatte. Dieser blickte zu ihnen. „Versteht ihr das nicht? Der Krieg hat begonnen!“

 

 

 

 

Neunzehntes Kapitel: Die zerrissene Bogensehne…

 

Kevin ritt schnurstracks durch den Zwergenwald, als er das Krachen hörte.

Hinter ihm fiel ein Baum um, dann hörte er das Gackern von Kobolden, das Zischen und Schnalzen der Gnome und das Heulen von Werwölfen.

Er brauchte nur eine halbe Sekunde um zu wissen, dass das gesamte feindliche Heer nur wenige Meter hinter ihm war.

Er galoppierte los und ließ den Braunen im Zick-Zack durch die Bäume rennen.

Der Wald lichtete sich und er sah den Fluss Arkuth schon vor sich. Er trieb den Braunen ins Wasser ohne auf sein empörtes Wiehern zu achten.

Das kalte Wasser spritzte am Bauch des Pferdes hoch und Kevin bekam eine Gänsehaut. Es dauerte nicht lange, da hatte er den Fluss hinter sich gelassen. „Schneller!“, krähte Krawp. „Schneller, schneller!“ Der Vogel flatterte wie verrückt um ihn herum und rief ihm immer wieder zu, er solle schneller machen, sodass Kevin total panisch wurde und sich schließlich mit seinem Bogen in den Ästen verhedderte.

Die Bogensehne riss und der Bogen fiel zu Boden. „Sieh nur, was du gemacht hast! Du machst mich vollkommen hektisch!“, schrie Kevin und sah kurz zu seinem Bogen zurück. Er hatte ihm gute Dienste erwiesen und es tat Kevin weh, ihn jetzt zurückzulassen, um sein eigenes Leben zu retten, doch dann trieb er sein Pony weiter.

Er lenkte den Braunen nach links, weg von den Riesen, Trollen, Werwölfen, Kobolden und Solektho und weg von Alanis, die er über dem Zwergenwald fliegen sah.

Er klammerte sich zitternd an die Mähne des Ponys. „Ich glaube, sie suchen nicht nach uns!“, sagte er keuchend.

Er trauerte um seinen Bogen, denn Vicy hatte ihn ihm gemacht, als sie drei Jahre im Wald verbracht hatten. Er fühlte sich schutzlos ohne ihn. Aber daran konnte er jetzt nicht denken. Er schrie überrascht auf, der Braune stieg und wieherte erschrocken, denn in dem Moment tauchte ein gewaltiger Troll vor ihm auf und versperrte ihnen den Weg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwanzigstes Kapitel: … und ihre Folgen

 

Alanis stöhnte wütend auf, als sie eines der Trollhörner vernahm. Wut… Das war eigentlich das einzige, was sie noch fühlte. Und Hass.

Sie legte die Beine an Phönix’ Flanken, um sich auf seinem Rücken zu halten. Phönix drehte nach links ab und landete. „Was ist denn nun schon wieder?“, fragte Alanis den Anführer der Trolle. Er hielt ihr wortlos einen Bogen mit zerrissener Sehne entgegen.

Alanis begann hinterlistig zu lächeln, als sie den Bogen erkannte. „Oh, da hat wohl jemand etwas verloren!“, lächelte sie und nahm den Bogen entgegen. Phönix hüstelte amüsiert und arrogant und spie eine Flamme aus.

Alanis schwang sich in den Sattel und gab dem Anführer der Trolle den Bogen zurück. „Behalte ihn und schütze ihn mit deinem Leben, egal was passiert, bis ich dir einen anderen Befehl gebe!“, sagte sie und lachte.

„Na warte, Victoria, jetzt werde ich dir heimzahlen, was Kevin und du mir angetan habt!“ Phönix ging in die Knie und stieß sich kräftig ab.

Alanis Haare wehten im Wind, sie wischte sich aus Gewohnheit über das Gesicht.

Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnen können, dass sie aus Nebel war. Trotzdem fühlte sie die drei Narben, die Ciaras Krallen hinterlassen hatten.

Und manchmal, wenn sie sich wieder genau vorstellte, wie Ciaras Krallen ihr tief in die Haut geschnitten hatten, glaubte sie etwas Ähnliches wie Schmerz zu empfinden.

Schmerz war eines der Gefühle, um das sie die Anderen nicht beneidete. Nur die Freude, Phönix zu haben, würde sie gern noch einmal spüren.

Doch das Schlimmste war, dass sie beide nicht mehr die Liebe des Anderen spürten. Es war so, als hätte es das Band zwischen ihnen nie gegeben. Sie legte die Hand auf Phönix geschuppte Schulter.

Er grummelte leise und zufrieden vor sich hin, denn auch wenn er es nicht spürte, wusste er, dass Alanis ihn liebte.

Und Alanis wusste, dass Phönix sie liebte. Manchmal, glaubte sie, es zu spüren.

Doch es war zu schwach und ungewiss, als dass sie es genau wusste.

 

 

 

 

Einundzwanzigstes Kapitel: Der erste Schritt

 

Vicy hatte sich jetzt entschlossen. Sie wusste genau, was sie tat, als sie sich heimlich anzog und ihren Bogen aufhob, der mitten auf dem Boden lag. Es war noch dunkel, doch Vicy hatte kein Problem damit, im Dunkeln zu sehen. Außerdem würde in ein paar Stunden die Sonne aufgehen.

Vicy ging leise aus dem Zelt, ohne jemanden zu wecken. „Wenn du jetzt gehst, gibt dir Papa nie wieder die Zauberkraft zurück!“, sagte Alanis, die plötzlich vor ihr stand. „Das weiß ich! Aber ich muss gehen. Ich gehöre nicht hier her! Sag nicht, dass du mich gesehen hast!“, flüsterte Vicy. „Bitte geh nicht, Vicy! Ich hab eine Idee. Eine Idee, wie du genauso stark sein kannst wie wir Elfen! Wir müssen uns nur Ramor anschließen!“ Vicy wich zurück. „Du bist doch verrückt!“ „Nein!“ Alanis kam einen Schritt näher auf Vicy zu.

Ich hab mir alles genau überlegt! Ramor hat Königin Farea umgebracht, weil er ganz allein regieren will. Das weiß ich. Dazu musst du doch nur logisch denken! Wenn wir ihm die Elfen, Sinder und Zwerge ausliefern, dann wird er uns sicher auch mögen! Stell dir doch nur mal vor: Alle würde uns verehren, sonst…“ Alanis versank kurz in ihren Träumen. „Dann sind wir frei. Freier, als je zuvor. Wir können tun und lassen, was wir wollen! Keiner sagt uns mehr, was wir tun sollen, wir sagen den Anderen, was sie zu tun haben! Wir sind stark, haben Macht! Wir könnten fliegen. Keiner kann uns was. Kein Mensch, Elf oder Zwerg. Vicy, hab keine Angst!“ Vicy wich noch ein Stück weiter zurück. „Du bist doch krank.“ Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte davon. „Das wirst du mir büßen!“ Alanis’ Stimme schallte ihr hinterher. Diesen Klang hatte Vicy nie vergessen. Als sie leise das Lager verließ, merkte sie, wie ihr langsam warme Tränen über die Wangen ließen. Doch jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie hörte auf, zu rennen und kletterte durch die Büsche „Ich muss es tun…“, flüsterte sie leise. Als sie merkte, dass ihre Stimme versagte und die Tränen sie zu ersticken schienen, packte sie den Bogen ganz fest mit der linken Hand und rannte wieder los…

 

Vicy spurtete in die Waffenkammer. Sie hatte verschlafen. Sie wollte schon vor einer Stunde fertig sein. Sie schlüpfte in ihr Kettenhemd, griff nach dem Schwert, stülpte sich den Helm auf, zog sich noch schnell den Brustpanzer an und rannte los. Das weiße Pferd hatte sich bereiterklärt, sie in der Schlacht zu tragen.

„Soll ich mit Sattel reiten, oder ohne?“, fragte sie es keuchend, als sie im Stall ankam. „Kommt darauf an, wie viel Zeit uns bleibt!“, sagte das Pferd. Vicy las schnell den Stand der Sonne ab. „Zu wenig.“ Sie zog sich auf den blanken Rücken des Pferdes, als Toby wild Schwanz wedelnd und aufgeregt durch das Portal getappt kam, gefolgt von Tena.

Tena trug einen Brustpanzer, einen Helm, ein Schild und ein Schwert, doch Toby hatte keinerlei Waffen oder Rüstung. „Ich nehme meine Zähne und Krallen als Waffen!“, erklärte er auf Vicys fragenden Blick.

„Und mein Fell schützt mich vor Verletzungen. Jedenfalls ein bisschen!“, fügte er hinzu.

„Ja, ja, auch Drachen haben Schuppen, die sie schützen würden und trotzdem tragen sie Rüstungen. Außerdem gibt es in einem Kampf immer ein paar verirrte Pfeile, die dich treffen könnten“, protestierte Vicy, doch Toby setzte sich stur neben sie auf den Boden. „Du hast doch auch keine Rüstung“, meinte er und knabberte an seinem Vorderbein. Da kamen auch schon Ciara und Saira. Auch sie trugen wieder ihre Rüstungen.

Vicy wollte zuerst am Boden kämpfen und dann, wenn Kevin kam, um ihnen zu helfen, mit ihm gegen Alanis in der Luft antreten. „Ist das auch in Ordnung für dich?“, fragte sie Saira. „Natürlich!“, antwortete diese und stupste sie liebevoll an.

Vicy schlang die Arme um ihren Hals. „Ich hab dich lieb!“, flüsterte sie und setzte sich wieder richtig auf dem Rücken des Pferdes zurecht.

Vor dem Hof stand ihr Heer. Drebilon saß wie gewohnt auf seinem Schecken, der ihn leicht lächerlich aussehen ließ, doch es war eins der schnellsten Pferde im ganzen Stall.

Toby zuckte kurz, schüttelte sich und verwandelte sich dann in einen Wolf, währen Tena auf eines der freien Pferde stieg. Vicy bekam eine Gänsehaut und ihr Magen drehte sich um, als sie von weitem die Horde Riesen sah, die in ihre Richtung kam.

Es waren ungefähr fünfzig, ein ganzer Riesenclan. Die Riesen lebten immer in Familien von bis zu fünfzig Riesen. Es war also ein großer Clan.

Vicy sah nach hinten. Mit den Zwergen, die die Nachhut bildeten, dreitausend von Armeleans Männern, waren sie ungefähr siebentausend.

Dazu kamen noch tausend Elfen, die die lange Reise gemacht hatten, um sie zu unterstützen. Es waren alle, die in so kurzer Zeit auffindbar gewesen waren und die lange Reise auf sich nehmen konnten. Sie hatten lange Zeit gehabt, um sich darauf vorzubereiten. Doch nicht lange genug.

Vicy ritt an der Spitze. Die Riesen kamen immer näher, doch Vicy traute sich nicht, ihr Pferd auch nur einen Schritt in Richtung der Feinde machen zu lassen. Toby sah zu ihr. Da er recht groß war, konnte er ihr fast direkt in die Augen sehen, ohne den Kopf zu heben.

„Du schaffst das“, schien er ihr zu signalisieren, doch er sagte nichts.

Vicy hatte einen Augenblick lang das Gefühl, er glaubte selbst nicht an einen Sieg. Auch für Vicy gab es einen kurzen Moment nur nach die Angst vor einer Niederlage.

„Was wird passieren, wenn die Sinder in diesem Kampf ausgelöscht werden?“, fragte sie sich. Sie hörte das dumpfe Aufschlagen der Füße der Riesen. Das Jaulen der Wölfe. Das Knurren, Gackern und Schnarren der Kobolde und Gnome. Vicys Herzschlag beschleunigte sich, als sie sich sagte: „Jetzt oder nie!“ Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen, um Kraft zu sammeln. „Verdammt noch mal, was bin ich doch für ein Feigling!“, schalt sie sich. „Ich habe gegen ein Dämonenpferd gekämpft, dann werde ich das auch schaffen! Jeder noch so lange Weg beginnt immer mit dem ersten Schritt!“

Sie legte vorsichtig die Beine an. „Vorwärts!“, sagte sie leise zu dem schneeweißen Pferd. Es tat den ersten Schritt und die Zwerge, Elfen und Sinder hinter ihr, folgten ihnen.

 

 

 

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Der Anfang

 

Vicy zählte die Schritte, die das Pferd tat. „Fünf, Sechs, Sieben, Acht…“ Die Riesen kamen näher und man konnte nun auch Trolle, Solektho und Wölfe genau erkennen. Große Wölfe, Wölfe, so groß wie Pferde. Werwölfe.

Sie schloss die Augen und dachte an etwas Anderes. An etwas Besseres. An Kevin, der auf dem Weg hierher war und sie retten würde.

Er würde sie niemals im Stich lassen. „Achtundzwanzig, Neunundzwanzig, Dreißig…“ Die Werwölfe stimmten ein Geheul an, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Toby ist auch ein Werwolf!“, versuchte Vicy endlich auch einmal positiv zu denken.

„Dreiunddreißig, Vierunddreißig, Fünfunddreißig…“ Sie spürte einen Windhauch und dann eine wohlbekannte Stimme. „Victoria!“ „Stör mich jetzt nicht, ich bin am Schritte zählen!“, antwortete Vicy Alanis. „Siebenund-… Jetzt hab ich mich verzählt, Alanis!“, sagte sie vorwurfsvoll.

Sie öffnete die Augen und hielt ihr Pferd an. Einige hundert Schritte vor ihr stand Phönix, auf seinem Rücken saß Alanis mit einem Schwert bewaffnet.

„Was willst du?“, fragte sie. Das Komische war, dass sie es wirklich nicht wusste. So schlimm konnte es doch nicht sein, unsterblich zu sein und eine Armee Trolle, Riesen und anderer Kreaturen zu beherrschen.

„Dir etwas zeigen!“ Alanis winkte den Anführer der Trolle zu sich. Der wickelte aus einem Stück Tuch einen Bogen mit zerrissener Sehne aus. Vicy lachte laut auf. „Was willst du damit, die Sehne ist doch gerissen. Wie willst du mit gerissener Sehne…“

Vicy verstummte, als sie den Bogen erkannte. Neben ihr sog Tena mit einem pfeifenden Geräusch die Luft ein. Aus den Augenwinkeln sah Vicy, wie Toby erschrocken den Schwanz einklemmte und leise knurrte. Vicy sah Alanis in die roten Augen. „Wo hast du den her?“, fragte sie leise.

Tobys Knurren wurde leiser, es verwandelte sich in ein Winseln, dann brach es ab und der Werwolf funkelte Alanis wütend und unsicher an, als suche er nach einem Anzeichen, dass Kevin den Bogen irgendwo verloren hatte.

„Das weißt du. Sogar sehr genau weißt du das. Aber du fürchtest dich vor der Wahrheit! Glaubst du Kevin hätte ihn mir freiwillig gegeben?“

Vicy schüttelte erst langsam, dann immer heftiger den Kopf.

„Das ist nicht wahr! Du lügst! Kevin lebt! Er ist nicht tot, es geht ihm gut!“

Alanis lachte hohl und kalt. „Dann hat er ihn mir also freiwillig gegeben? Den Bogen, den du ihm geschenkt hast? Das würde mir zu denken geben!“, lachte Alanis und verschränkte die Arme vor der Brust.

Unter Vicy begann das weiße Pferd unruhig zu tänzeln.

Hatte es sich doch geirrt? Hatte es Kevin etwa zu schnell verlassen und so Alanis ausgeliefert?

Alanis lächelte noch einmal kalt, dann warf sie Vicy den Bogen vor die Füße. Toby lief hin und beschnüffelte ihn. „Es ist wirklich seiner!“, sagte er zu Vicy.

In ihren Augen sammelten sich Tränen. Alanis sah das und war sichtlich zufrieden. Wie lange hatte sie darauf gewartet, Vicy so verzweifelt zu sehen. „Phönix!“, sagte Alanis trocken. Phönix, der sich inzwischen auf den Boden gelegt hatte, richtete sich nun zu seiner vollen Größe auf. Währenddessen beobachtete er mit seinem rechten Auge, da Vicy ihm das linke ja ausgestochen hatte, scheinbar jeden einzelnen Krieger in den Reihen der Elfen, Sinder und Zwerge.

Toby trat mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen einen Schritt nach vorne und knurrte den Drachen und seine Reiterin böse an. Alanis lächelte trocken und Phönix lachte grollend. Dann stampfte er kurz mit dem Fuß auf, schüttelte seinen Kopf und breitete die Flügel aus.

Der Drache stieg in den Himmel und flog zurück zum feindlichen Heer.

Toby knurrte ihr böse nach und trat einen weiteren Schritt nach vorne. „Wenn Kevin nicht kommt, sind wir verloren!“, sagte er. Vicy lief eine Träne über die Wange. Schnell wischte sie sie weg. Ciara lebte, also war Kevin auch noch am leben, auch wenn er gefangen war.

Außer, er hatte die Verbindung zwischen ihm und Ciara damals doch richtig getrennt… Wieder wollte eine Träne aus Vicys Auge kullern, doch Vicy wischte sich einmal mit dem Ärmel über die Augen.

Dann sagte sie zu Toby, der auf eine Antwort wartete: „Wenn dies unser Ende ist, dann werden wir ein Ende vollbringen, an das sich jeder erinnern wird! Aber ich will dich nicht zwingen, mich zu begleiten. Im Kampf musst du manchmal in wenigen Sekunden entscheiden, ob du tötest oder getötet wirst!“

Toby senkte den großen Kopf. „Ich kann und werde dich hier jetzt nicht verlassen!“

Vicy schluckte. Damit hatte sie gerechnet. „Dann ist es beschlossen. Tun wir, was wir tun müssen. Wir werden nicht aufgeben. Nicht solange wir noch Kraft haben!“ Damit stieß sie dem weißen Pferd die Waden in die Flanken. Das Pferd stieg und machte auf den Hinterbeinen einen Satz nach vorne und mit einem wütenden Aufschrei von Vicy kam es mit den Vorderbeinen wieder auf den Boden und galoppierte los. Die Elfen, Sinder und Zwerge folgten ihm.

Nach einigen Metern begann die Erde zu beben. Vicy hatte noch nie so viele Pferde auf einmal galoppieren gesehen. Die Hufe trommelten auf den weichen Boden. Das Mädchen hielt sich in der Mähne fest, um nicht vom Rücken des Pferdes zu rutschen. Dann sah sie zu Toby. Der große Werwolf rannte neben Vicy und stürzte sich als Erster ins Kampfgetümmel.

 

 

 

 

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Wiedersehen

 

Kevin ritt sein Pferd langsam durch die Bäume. Das war gerade noch einmal gut gegangen. Im letzten Moment war der Braune auf die Seite gesprungen und links von dem Troll in den Wald gerannt. Kevin war eine Zeit lang vor Angst wie erstarrt gewesen.

Er hatte noch nie ohne Ciara gegen ein ganzes Heer gekämpft. Ob Ciara da sein würde? Ob sie mit ihm kämpfen würde? Allein würde er es nicht schaffen, soviel war sicher. Doch da konnte Kevin Hufgetrappel hören. Er hielt den Braunen an und horchte. Er lenkte den Braunen ein kleines Stück zurück, in den Schutz der Büsche. Unruhig scharrte das Tier mit den Hufen. „Psst! Sei still!“, flüsterte Kevin ihm ins Ohr und nahm die Zügel kürzer. Kurz darauf kam ein weiters Pony in Sicht. Auf seinem Rücken saß Elijah. „Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass da nichts ist!“, sagte Elijah und wollte das Pony wenden, als Kevin auf ihn zu ritt. „Kevin!“ Elijah war überrascht, und im selben Moment kam auch sein schlechtes Gewissen. „Elijah! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, deine Schwestern allein zurück zu lassen?!“, fuhr Kevin ihn wütend an. Er sprang vom Pferd und griff in Max’ Mähne, um Elijah am Wegreiten zu hindern. „Ich wollte dir doch helfen!“, sagte Elijah und ließ sich von Max’ Rücken gleiten. „Verdammt, warum nur kannst du nicht nachdenken?! Hast du vielleicht einen Moment mal daran gedacht, was das für uns Andere bedeuten könnte? Oder hast du mal wieder nur an dich gedacht?“ Kevin war richtig wütend. In dem Moment hörte Kevin das Fauchen eines Drachen. Er zuckte unwillkürlich zusammen. Hatte Alanis ihn etwa gehört? „Nicht bewegen!“, wisperte er Elijah zu. In dem Moment gingen die Ponys durch. „Max!“, schrie Elijah und rannte los. „Elijah, nein!“ Kevin lief ihm nach. Elijah kletterte durchs Unterholz und war schneller als Kevin, doch als sich der Wald auflichtete, schaffte Kevin es, seinen Bruder einzuholen. „Elijah!“ Gerade, als Kevin ihn an der Schulter packte, brach vor ihnen Phönix aus dem Dickicht. Kevin zögerte keine Sekunde und stieß seinen Bruder zurück. „Lauf!“ Er zog sein Schwert, während Elijah unentschlossen neben ihm stehen blieb. „Lauf!“ Kevin schrie Elijah an, doch als der keine Anstalten machte, zu fliehen, packte er ihn und schubste ihn noch ein Stück zurück. Phönix kämpfte sich durch die Zweige herunterhängender Äste auf die beiden Jungen zu. Kevin zog Elijah hinter sich her. Sie rannten durch die Büsche, dicht gefolgt von Phönix, der alles niederwalzte, was sich ihm in den Weg stellte. Kevin sah vor sich einen umgefallenen Baumstamm. „Los, spring!“, schrie er Elijah zu. „Lauf da entlang! Wir teilen uns auf!“, rief Kevin seinem Bruder zu und machte einen großen Bogen um Phönix. Alanis war kurz unentschlossen, dann rief sie. „Kevin, du kannst mir nicht entkommen! Du weißt genau, dass du nicht die Kraft und die Ausdauer hast, um mir zu entfliehen!“ Doch anstatt Kevin zu verfolgen, widmete sie sich Elijah. Kevin blieb hinter Phönix stehen. Elijah hatte nur wenige Meter Vorsprung. Phönix holte Luft und setzte ein paar Äste um ihn herum in Brand. Elijah sprang über einen brennenden Ast, der zu Boden gefallen war und blieb daran hängen. Seine Sweatjacke fing Feuer und er riss sie sich im Laufen vom Leib.

Kevin rannte ohne zu zögern auf die brennenden Äste zu und packte einen davon. Er warf ihn nach Alanis und Phönix. Die Flammen setzten sofort Alanis’ Umhang in Brand, doch die ließ sich davon nicht stören. Sie brachte die Flammen zum erlöschen und noch bevor Kevin etwas tun konnte, machte Phönix einen Satz auf ihn zu. Der Drache hätte ihn fast unter seiner Pfote zerquetscht, doch Kevin hechtete im letzten Moment davon und rettete sich unter Phönix’ Bauch. Der Drache stellte sich auf die Hinterbeine und Kevin floh in die entgegen gesetzte Richtung wie sein Bruder.

 

Elijah rannte immer weiter. Er drehte sich nicht einmal um, er rannte nur. Irgendwann blieb er stehen und lauschte. Er hörte das knistern von Flammen, das immer näher kam. Er bekam kaum Luft, der Qualm um ihn herum schien ihn zu ersticken, also rannte er wieder los. Der Rauch brannte in seinen Augen und kratzte in seiner Kehle. Doch er blieb nicht stehen. Die Flammen verfolgten ihn und jagten ihn durch den Wald. Irgendwo hörte er ein schrilles Wiehern. „Max! Max, hier bin ich!“, schrie er aus Leibeskräften. Doch sein Pony antwortete nicht. Elijah hatte keine andere Wahl, als zu rennen, so lange er konnte.

Irgendwann stolperte er. Er bekam keine Luft mehr. Er hustete und keuchte. Sein T-Shirt war verschwitzt und glimmte. Schnell schlüpfte er heraus und schlug es durch die Luft, um den Stoff zu löschen. Endlich hatte er die Kraft aufzustehen.

 

Kevin blieb keuchend stehen. Er hatte Alanis abgehängt. Oder war sie ihm nie gefolgt? Was hatte er sich nur dabei gedacht, sich von Elijah zu trennen? Alanis würde natürlich nicht ihn, sondern seinen Bruder verfolgen! Panik stieg in Kevin auf. Er wusste nicht, wo er war, er wusste auch nicht, in welche Richtung Elijah gerannt war. Er hatte unterwegs so viele Haken geschlagen, dass er sich weiß Gott wo befinden konnte. Er hörte ein Geräusch und zuckte zusammen. Reflexartig riss er sein Schwert hoch, als sein Pony aus den Büschen getrabt kam. „Du bist wieder da! Dir ist nichts passiert!“, Kevin war überglücklich, dass der Braune ihn gefunden hatte. Er ging vorsichtig zu ihm hin und streichelte seinen dunkelbraunen Hals. „Alles in Ordnung?“, fragte er ihn im Flüsterton. Das Tier keuchte und war verschwitzt, doch darauf konnte Kevin jetzt keine Rücksicht nehmen. „Ich muss meinen Bruder finden!“, sagte er leise zu dem Pferd. „Verstehst du? Mein Bruder ist mir wichtig, und, auch wenn er manchmal Mist baut, hab ich ihn sehr lieb, deshalb müssen wir uns jetzt beeilen!“, versuchte Kevin dem Tier sein Vorhaben verständlich zu machen und zog sich auf seinen Rücken. Der Sattel war nur leicht beschädigt, was ein Glück war, auch die Trense war noch heil. Kevin nahm die Zügel auf und ritt den Weg zurück, von dem er annahm, dass er ihn gekommen war.

Er war noch nicht lange geritten, als er Hufgetrappel vernahm.

Das waren ganz eindeutig Ponys, zwei Stück.

Konnten das vielleicht Lindsay und Jeff mit Lily und Leila sein? Kevin trieb das Pony los, auf das Geräusch zu. Da sah er sie. Seine Schwestern und Jeff und Lindsay. „Kevin!“, schrie Lily ihm entgegen. Kevin umarmte alle glücklich. Sogar Lindsay. Das wäre früher undenkbar gewesen, schließlich war sie ja ein Mädchen. Aber im Moment war er nur glücklich, alle wiederzusehen. „Habt ihr Elijah gesehen?“, fragte Kevin sie. Lindsay und Jeff sahen sich an, dann schüttelten sie den Kopf. „Nein. Ist er nicht bei dir?“ „Wir wurden angegriffen. Alanis weiß, dass wir hier sind. Ich wundere mich, warum sie sich vom Kampfgetümmel entfernt hat. Wahrscheinlich wusste sie, dass wir kommen würden. Elijah und ich wurden getrennt. Ich weiß nicht mal, ob er noch am Leben ist“, murmelte Kevin. Eine Weile lang war es still. „Was machen wir jetzt?“, fragte Lindsay bedrückt. „Wir?“ Jeffrey spie das Wort geradezu heraus. „Wir machen gar nichts! Kevin und ich werden kämpfen müssen, du passt auf die Kleinen auf!“ Lindsay wollte protestieren, doch Jeff schnitt ihr gleich das Wort ab. „Kein Aber, Lindsay! Du bleibst hier! Selbst wenn Ostern Weihnachten und Silvester auf einen Tag fallen, du bist immer noch ein Mädchen!“ Jeff sah Kevin an. Kevin nickte. „Es tut mir Leid, Lindsay, aber jemand muss auf Lily und Leila aufpassen.“ Wütend biss Lindsay sich auf die Lippe. „Sie könnten mitkommen. Wenn wir erst einmal bei den Sindern sind, sind die Kleinen viel sicherer!“ Einen Moment lang sahen sich die Jungen an. Dann senkte Kevin den Kopf und nickte. „Vielleicht hast du recht!“, sagte auch Jeff leise. „Kommt, wir haben nur wenig Zeit!“, sagte Kevin dann. Mit seinen Freunden zusammen trabte er durch den Wald auf eine Stelle zu, wo der Wald lichter wurde.

 

Elijah krabbelte auf allen Vieren mit letzter Kraft durchs Unterholz. Seine Hose war zerrissen und er hatte sich das Knie aufgeschlagen. Erschöpft ließ er sich auf den Rücken fallen und schloss für einen Moment die Augen. Er hatte Durst und war schrecklich müde, außerdem tat ihm alles weh und er konnte sich kaum noch bewegen. Plötzlich stupste ihn eine weiche Schnauze an. „Max, lass das!“ Doch das Pony gab nicht auf. Erst jetzt begriff Elijah, was los war. Schlagartig war seine Müdigkeit wie weggeblasen. „Max!“ Er sprang auf und schlang dem Pony die Arme um den Hals. „Los, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“ Elijah kletterte auf den Rücken des Ponys und trieb das Tier durch den Wald.

 

Die Kinder ritten durch den Wald, als plötzlich Elijah zu ihnen stieß. „Na, habt ihr mich vermisst?“, fragte er schelmisch. „Elijah du bist mit Abstand der unmöglichste Kerl, den ich kenne!“ „Das ist echt unglaublich…!“ „Was fällt dir eigentlich ein, dich einfach so davon zu stehlen!“ Alle schrien durcheinander. Lily und Leila lachten nur. Als sich alles wieder etwas beruhigt hatte, rückte Elijah mit seiner zweiten Überraschung heraus. „Ach ja, Kevin, was ich dir noch sagen wollte… Ich hab mir gedacht, wir könnten etwas Unterstützung gebrauchen!“ Im selben Moment kamen allerlei Vögel angeflogen und versammelten sich um sie. „Wie… Wie hast du das gemacht?“, fragte Kevin. „Die Macht des Amuletts!“, sagte Elijah nur und zuckte die Schultern. Kevin hörte von weitem ein Horn. „Los! Schnell jetzt!“, rief er seinen Freunden zu. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und galoppierte los. Die Anderen folgten ihm.

Sie kamen aus dem Zwergenwald heraus und Kevin ließ sein Pferd anhalten. Es stieg und wieherte laut. Obwohl es sehr laut um sie herum war, schien das Wiehern die Aufmerksamkeit aller Sinder erregt zu haben, dann plötzlich sahen alle zu ihm.

Er war nicht sehr weit weg und plötzlich erkannte er Vicy. Und sie ihn. „Kevin!“, schrie sie aus Leibeskräften. Das weiße Pferd, auf dem sie saß, stieg und schlug zur Begrüßung mit den Hufen. Kevin lachte laut vor lauter Glück, alle wiederzusehen.

„Ein Glück, dass Drachenreiter so gute Augen haben!“, dachte er und lachte wieder.

Dann trieb er sein Pferd den Hang hinunter auf die feindliche Streitmacht zu, gefolgt von seinen Freunden. „Angriff!“, schrie Elijah und die Vögel flogen über sie hinweg und bewarfen die Trolle und Riesen mit Steinen.

Als Kevin über sich sah hatte er das Gefühl, in einer vollkommen neuen Welt gelandet zu sein. Es sah so unwirklich aus, denn plötzlich hatte Kevin für einen Moment das Gefühl, eine reelle Chance gegen die Angreifer zu haben.

Auch Krawp schloss sich schon bald den vielen Vögeln an, um die Trolle, Riesen Werwölfe, Kobolde und Gnome mit Steinen zu bewerfen. Nur Alanis konnte Kevin weit und breit nicht sehen. Er packte sein Schwert fester und drehte sich zu seinen Freunden um. Sie blicken ihn alle fest entschlossen an, doch Kevin konnte die Angst und die Unsicherheit in ihren Gesichtern erkennen, die er auch bei seinem ersten Kampf gespürt hatte. Doch jetzt blieb nicht viel Zeit, ihnen Mut zuzusprechen.

„Ich weiß, dass ihr keine Krieger seid. Und ich will euch zu nichts zwingen. Lily, Leila, ihr seid noch zu klein, um das alles zu verstehen, aber ihr solltet wissen, dass das, was jetzt kommt, euer Leben verändern wird. Lindsay…“ Kevin sah ihr in die Augen. „Du warst immer meine beste Freundin und konntest auch mal zuschlagen, wenn es sein musste. Aber das hier ist keine Schulhofprügelei. Hier geht es um Leben und Tod. Jeff…“ Kevins Blick wanderte weiter. „Du warst schon immer der Stärkste von uns, aber das hier hat nichts mehr mit Stärke zu tun. Das hier ist kein Spiel. Da draußen kannst du von einem auf den nächsten Moment getötet werden, egal wie gut du kämpfen kannst. Elijah…“ Kevin schwieg kurz. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte.

„Du bist mein Bruder. Ich war fast so alt wie du, als ich das Amulett gefunden habe, also weiß ich ungefähr, wie du dich fühlen musst. Trotzdem… Pass auf dich auf.“ Es breitete sich kurzzeitig eine bedrückende Stille auf den Freunden aus. „Kevin…“ Kevin sah wieder zu Lindsay. Ihr Gesicht hatte einen etwas empörten Ausdruck angenommen. „Uns ist egal, was passieren wird. Glaubst du, wir könnten dich jetzt im Stich lassen?“ Dann drückte sie ihrem Pferd die Fersen in die Flanken und preschte an Kevin vorbei.

Kevin sah ihr nach, dann wandte er sich zu Jeff um. „Los geht’s!“ Die Beiden trieben die Ponys an und galoppierten zu Lindsay auf.

Vor ihnen tauchte der erste Werwolf auf und während Kevin, Elijah, Jeff und Lindsay durch die Reihen der Angreifer galoppierten, klammerten sich Leila an Lindsay und Lily an Jeff, um nicht von Rücken der schnell galoppierenden Pferde zu fallen.

 

 

 

 

 

Vierundzwanzigstes Kapitel: Der erste Riese

 

Kevin, Lindsay, Elijah und Jeff erreichten die Angreifer fast gleichzeitig. Kevin hob sein Schwert und ließ es auf die Angreifer herabsausen. Elijah sah einen Solektho auf sich zukommen, packte den Bogen, den sein Gegner in der Hand hatte und schlug ihm damit den Schädel ein. Auch Lindsay und Jeff hatten sich schnell eine Waffe besorgt. Jeff verteidigte sich und Lily mit einem Speer, den er einem Troll abgenommen hatte und Leila hatte es geschafft, sich und Lindsay ein Messer zu beschaffen.

Kevin verteilte weiterhin Schwerthiebe und kämpfte sich durch das feindliche Heer.

Er sah sich immer wieder nach seinen Freunden um, doch sie folgen ihm und schlugen sich tapfer. Erleichtert sah Kevin, dass die Riesen nicht zu Tajaks Clan gehörten. Plötzlich wurde der Braune von der Keule eines Trolls getroffen. Kevin fiel aus dem Sattel und landete im Staub.

Er rappelte sich hoch. Der Braune war verschwunden. Ein Troll kam auf ihn zu und warf ihn zu Boden. Kevin duckte sich unter der Keule weg und sprang wieder auf, doch der Troll war schon wieder da und schlug mit der Keule nach Kevin. In dem ganzen Getümmel wurde Kevin von seinen Freunden getrennt, doch er sah, dass sie bereits in den Reihen der Sinder angekommen waren, bevor die meisten der Feinde sie überhaupt bemerkt hatten.

Kevin duckte sich wieder unter der Keule weg. Er stach nach dem Troll, doch dieser packte ihn am Arm und hob ihn in die Luft. „Krawp, tu was!“, schrie Kevin so laut, dass sich seine Stimme überschlug.

Der Vogel hackte mit dem spitzen Schnabel nach dem Auge des Trolls und dieser ließ Kevin fallen. Kevin sprang auf und packte sein Schwert mit beiden Händen. Er tötete den Troll, bevor dieser wusste, wie ihm geschah.

Krawp flatterte auf Kevins Schulter. „Wir sind ein klasse Team!“, lachte Kevin.

Er tötete drei Solektho und acht Kobolde, bevor ein Riese es schaffte, sich zu Kevin, dem neuen und gefährlicheren Angreifer durchzudrängen.

Als Kevin sich umdrehte, war der Riese schon fast bei ihm. Kevin hob das Schwert, doch der Reise schleuderte es ihm mit Leichtigkeit aus der Hand. Kevin wurde durch den Schlag nach hinten geschubst und fiel auf den Boden.

Als der Riese näher kam, krähte Krawp wütend und schoss im Sturzflug auf ihn zu.

Der Riese versuchte ihn zu verjagen, doch Krawp dachte nicht daran, zu fliehen. Er flog um den Riesen herum und piesackte ihn, doch wenn der Riese nach ihm schlug, wich der Rabe blitzschnell aus. Er piekte wieder in die Hand des Riesen. Der Riese schlug wieder wütend nach Krawp, doch diesmal war der Rabe nicht schnell genug.

Kevin hatte das Gefühl, ihm würde das Herz stehen bleiben, als er sah, wie die monströse Pranke des Riesen den klitzekleinen Raben traf. Für einen kurzen Moment schien die Welt stillzustehen. Kevins Magen zog sich zusammen, er sah wie in Zeitlupe den Moment noch einmal vor Augen, wie die riesige Hand den schwarzen, um so Vieles kleineren Raben traf. Dann schien sich die Wellt weiterzudrehen und Kevin konnte sich plötzlich wieder bewegen, sein Herz schlug weiter.

„NEIN!!!“, brüllte Kevin. Krawp fiel bewegungslos zu Boden und ging in dem Gewimmel unter. „Nein! Nein!!!“ Kevin schrie so laut, dass sich seine Stimme überschlug, er wurde heiser und schrie noch länger.

Sein bester Freund, sein Führer, sein Gewissen, sein Gefährte… War tot. Kevin sprang auf die Füße und rannte auf den Riesen zu. Er sprang auf den linken Fuß des Riesen und kletterte an seiner Hose hoch.

Wütend packte er sein Messer und stach es, um nicht abzurutschen in die graue Haut des Riesen und zog sich daran nach oben. Dunkelrotes Blut ließ ihn immer wieder abrutschen und tropfte auf ihn herab. Er kletterte auf das Hemd des Riesen, immer weiter nach oben, während der Riese versuchte, ihn wegzuwischen. Einmal wurde Kevin beinahe von einem der Finger getroffen. Er rutschte ab. „Nein!“, schrie er wütend und stach mit seinem Messer auf die Hand des Riesen ein. „Nein, nein, NEIN!“ Dann sprang er und hielt sich an den Fingern fest. Der Riese wollte ihn abschütteln, doch er zog Kevin nur ungewollt noch weiter nach oben.

Kevin sprang von seinen Fingern auf seinen Kopf und stieß mit dem Schwert zu.

Der Riese taumelte kurz, dann knickte er ein und fiel auf den Boden zu. Damit hatte Kevin nicht gerechnet.

„Er wird mich unter sich begraben! Er wird mich einfach zerquetschen!“, dachte er verzweifelt. Plötzlich hörte er Ciara. „Kevin, keine Angst, ich bin da! Vertrau mir!“ Und dann wusste Kevin, was er zu tun hatte. Er stolperte kurz, doch er fing sich rasch wieder und rannte zwei Schritte über den kahlen Kopf des Riesen. Dann sprang er. Er sah den Boden, gute zwölf Meter unter sich. Er ruderte mit Armen und Beinen und versuchte, sich nicht im Fallen um sich selbst zu drehen. Im selben Moment erwachten Zweifel. Er schloss die Augen. „Was, wenn Ciara nicht kommt? Oder wenn sie noch zu weit weg ist?“, dachte er verzweifelt. Doch es war zu spät. Er konnte nicht mehr zurück.

Plötzlich kam er auf etwas Hartem auf. Er hielt sich fest. Und als er die Augen öffnete sah er Ciaras goldene Schuppen unter seinen Fingern. „Ciara!“, rief er und begann vor Freude gleichzeitig zu lachen und zu weinen. „Mein Kleiner!“ Ciara schnurrte wohlig und im selben Moment war für Kevin die Welt wieder fast vollkommen in Ordnung.

 

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Angriff

 

„Los, finden wir Alanis!“, sagte Kevin. Er setzte sich richtig in den Sattel und stellte die Füße in die Steigbügel. Ciara brüllte um allen zu zeigen, dass sie jetzt wieder zusammen waren und sie nichts mehr trennen würde. Kevin zog sein Schwert, als Ciara im Sturzflug nach unten auf die Erde zusauste. In dem Moment erhob sich Saira in den Himmel.

Kevin nickte Vicy knapp zu, dann begann er plötzlich zu lachen und umarmte sie glücklich. Vicys Gesicht wurde ernst. „Du weißt doch, dass ich dir nie etwas tun würde, oder?“ Kevin lachte. „Ich bin doch nicht den ganzen Weg geritten, weil ich weiß, dass du mich umbringen willst, oder?“ Vicy zögerte. Dann verzog ihr Gesicht sich zu einem Lächeln. Doch auch Kevin wollte noch etwas loswerden. „Zwischen dir und Toby ist doch nichts, oder?“ Vicy sah ihn erstaunt an. „Was sollte da sein?“ Kevin senkte den Blick und wurde rot. „Ach, gar nichts.“ Ciara legte die Flügel wieder eng an den Körper und flog auf einen Troll nieder. Der Troll schlug nach ihr, doch er konnte ihren Klauen nicht entkommen. Ciara biss ihm in den Nacken.

„Wir sollten erst die Riesen und Trolle töten, denn gegen sie haben die Menschen keine Chance!“, rief Kevin Vicy zu. „Mit wem sollen wir flöten?“, fragte Vicy. Kevin verdrehte die Augen. „Du weist genau, was ich meine!“, lachte er. Vicy nickte lächelnd. und Saira packte einen Troll und zerfetzte ihn in der Luft.

Ciara flog quer über das Schlachtfeld und setzte die Reihen der Feinde in Brandt. Ihre Schuppen glänzten im Schein, den die Flammen warfen. Kevin jubelte und stieß sein Schwert in die Luft.

„Zeigen wir uns, damit alle sehen, wozu wir imstande sind! Ja!“ Der goldene Drache landete zwischen den Solektho. Wütend begann sie mit ihren Krallen um sich zu schlagen und die Solektho in Stücke zu reißen. Ein Werwolf sprang auf sie zu, Vicy hob ihren Bogen und schoss.

Der Werwolf wurde getroffen, rannte aber schwerverletzt weiter und wollte Ciara in die Vorderpfote beißen. Ciara erhob sich auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderpfoten wie ein wild gewordenes Pferd, um den Wolf abzuwehren.

Gleichzeitig schlang jemand von hinten seine Arme um Kevins Hals und riss ihn vom Rücken des Drachen. Ciara fauchte wütend und drehte sich um, doch ein Riese trat ihr in den Weg. Kevin sah sich nach seinem Angreifer um und sah einen Solektho.

In wenigen Sekunden musste Kevin entscheiden, was er tun sollte. Er griff nach hinten und packte den Kopf des Solektho. Er riss den Kopf nach vorne und der Solektho musste ihn loslassen, um sich zu schützen.

Kevin stieß ihn zurück, das Wesen riss vier seiner Kameraden um, die hinter ihm standen und Kevin hatte Zeit, um sich nach Ciara umzusehen. Plötzlich landete ein weiterer Drache vor Kevin. Er wich zurück und sah in Phönix’ rotes Auge. Schnell drehte er sich um und rannte in die Richtung, in der er Ciara vermutete. „Kevin! Halt dich fest!“, rief Elijah und Kevin sprang hinter ihm aufs Pferd.

Kevin suchte nach seinem Schwert, doch er musste es verloren haben, als er von Ciaras Rücken gefallen war. „Elijah, hast du irgendeine Waffe?“, fragte er seinen Bruder. Stolz hob der Junge den Bogen hoch. „Den hab ich einem Solektho geklaut!“, sagte er. Kevin nahm ihn in die Hand. „Hast du auch Pfeile?“, fragte er. Elijah stutzte. Dann zog er den Kopf ein und schüttelte den Kopf. Ein Solektho kam auf sie zu gerannt. Kevin benutzte den Bogen wie ein Schwert und schlug mit dem Holz nach dem Solektho.

Endlich sah Kevin Ciara. Sie biss gerade nach einem Werwolf. „Schnell, zu Ciara!“, sagte Kevin und zeigte in die Richtung des Drachens.

„Du hast es gehört, Max, los!“, sagte Elijah und wendete das Pony. „Ciara!“, rief Kevin. Der Drache wendete den Kopf und als Ciara Kevin erblickte, schlug sie die Werwölfe vor sich wütend aus dem Weg und sprang auf Kevin zu.

Max bekam Angst und machte einen Bocksprung auf die Seite. Kevin musste sich schnell an Elijah festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Er ließ sich von dem Rücken des Ponys gleiten und hatte schon nach ein paar Schritten Ciara erreicht. Er packte einen Riemen an ihrem Sattel und kletterte auf ihren Rücken.

Ciara schlug mit ihrem Schwanz die umstehenden Trolle und Werwölfe um, dann stieß sie sich in die Luft. Kevin und Ciara suchten den ganzen Himmel ab.

„Alanis ist unmöglich!“, begann Kevin nach einer Weile zu schimpfen. „Wenn man sie töten will, ist sie nicht da, und wenn man sie gar nicht gebrauchen kann, dann kommt sie natürlich!“ Ciara flog durch den Himmel und Kevin suchte nach Alanis.

Im selben Moment spürte er Ciaras Wärme noch genauer und näher bei sich, dann hörte er ihr Herz und seins genau gleichzeitig Klopfen und dann hatte er das Gefühl, selbst durch ihre Augen die Welt zu sehen.

Er lächelte und dann entdeckte er sie. Er zog sich aus Ciaras Körper zurück und Ciara steuerte auf Alanis und Phönix zu. In dem Moment tauchte Vicy auf. „Ich glaube, das könntest du brauchen!“, sagte sie und warf ihm das Amulett zu. Das hätte sie allerdings nicht tun dürfen, denn plötzlich war Alanis zwischen ihnen und fing die goldene Kette ab. Sie hatte wohl selbst nicht damit gerechnet, denn ein überraschtes Grinsen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

Wütend brüllend flog Ciara auf Phönix zu und biss nach seinem Hals. Die Zähne teilten den Rauch ohne eine Schramme zu hinterlassen.

Kevin dachte keine Sekunde nach, es kam ihm vor, als sähe er sich selbst durch andere Augen, er hatte keine Macht mehr über sich, er wusste nur, dass er etwas tun musste.

Und dann sprang er – und er wusste, dass er das Richtige tat. Er sprang und packte die Smaragdkette, die um Alanis’ Hals baumelte.

Er hielt sich mit einer Hand daran fest, während er mit der Zweiten nach dem Amulett griff. Alanis packte seine Hand und hinderte ihn daran, das Amulett direkt neben der Smaragdkette zu greifen. „Grün und Gold stehen dir nicht!“, knurrte Kevin. Langsam begann seine Hand abzurutschen.

Er kam nicht an das Amulett heran und er spürte, wie seine andere Hand, nass geschwitzt wie sie war, langsam aber sicher von Alanis Kette rutschte.

Verzweifelt versuchte er noch ein letztes Mal das Amulett zu fassen zu bekommen, doch es war unmöglich. Seine Hand rutschte ab – er fiel.

Der Boden unter ihm kam rasend schnell näher, Kevin und Alanis waren nicht sehr weit oben gewesen. Kevin kam auf dem Boden auf.

Die gesamte Luft wurde aus seiner Lunge gepresst und einen Moment lang konnte er vor lauter Schmerz nicht atmen. Ciara landete und Kevin schaffte es, sich aufzurichten. Doch was Ciara dann sagte, ließ Kevins gesamten Mut sinken. „Wir haben keine Chance.“

Seit er sie kennen gelernt hatte, hatte sie immer gewusst, was zu tun war. Aber nun schien sie es selbst nicht zu wissen. „Alanis ist zu stark für uns!“ Einen Moment lang dachte Kevin nach. „Nein. Nein, dass ist sie nicht! Sie ist nur solange stärker als wir, wie wir sie als stärker empfinden!“ Dann nahm er ihren Kopf und sah ihr genau in die Augen. „Wir sind stärker! Und wir werden gewinnen!“, flüsterte er eindringlich.

Dann packte er ihre Hörner und zog sich auf ihren Hals, von dort aus sprang er in den Sattel. „Los! Wir haben noch etwas zu erledigen!“

 

 

 

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Lindsays Mut

 

 

„Ganz egal, was passiert“, schärfte Lindsay Leila ein, „Bleibe bei mir, ich passe auf dich auf!“ Dann riss Lindsay einem der Solektho den Speer aus der Hand und stach damit nach einem Troll.

Kevin, Vicy und die beiden Drachen hatten bereits einige Riesen getötet, es waren noch zehn oder elf übrig, doch jetzt stand direkt vor ihnen einer der riesigen Höhlenbewohner. Verzweifelt versuchte Lindsay das Pony an dem Riesen vorbeizulenken, sie riss an den Zügeln, doch das Tier riss ängstlich die Augen auf, legte die Ohren an und stieg panisch.

Lindsay krallte sich in der Mähne fest und versuchte Leila zwischen sich und dem Pferdehals einzuklemmen, damit das Mädchen nicht auf den Boden fiel und unter die wirbelnden Hufen des vor Angst wild gewordenen Ponys kam.

Das Pony setzte mit einem Schnauben seine Hufe wieder auf den Boden und wich einen Schritt zurück. Der Riese hatte sie bemerkt.

Er bückte sich und streckte die Hand nach ihnen aus. Dabei hatte er ein dümmliches Grinsen im Gesicht, wie ein kleines Kind, das ein neues Spielzeug gefunden hatte. „Nein!“ Lindsay schrie auf und wollte das Pferd weglenken, damit der Riese ins Leere griff, doch ihr Schrei schreckte das immer noch ängstliche Tier wieder auf. Es warf den Kopf in die Luft und buckelt. Mit einem schrillen, quietschenden Wiehern sprang es auf die Seite. Lindsay hielt sich mit beiden Händen in der Mähne fest, doch sie fiel halb aus dem Sattel. Leila umschlang Lindsays Hüfte und schrie erschrocken auf, als direkt neben ihnen die Hand des Riesen auf den Boden knallte. Das Pony rannte derweil kopflos im Kreis, Lindsay wurde immer mehr nach außen gedrückt, sie rutschte mit den Händen langsam ab.

Der Riese richtete sich auf.

Wieder holte er aus, um das kleine, hilflose Pony unter ihm und seine beiden Reiter zu zerquetschen. Doch das kleine, hilflose Pony wollte sich nicht zerquetschen lassen. Es stieg noch einmal, wirbelte herum… mit angelegten Ohren sah es voller Angst auf die immer näher kommende Hand des Riesen. Lindsay zog sich wieder in den Sattel, sie hielt Leila fest an der Hand und zog sie wieder vor sich auf den Hals des Pferdes. Mit der linken Hand hielt sie die Zügel und musste sich auf dem Rücken des Ponys halten, die Rechte hatte sie schützend um Leila geschlungen.

Lindsay wusste nicht, was geschah.

Ein plötzlicher Ruck beförderte sie und Leila aus dem Sattel, mit einem schrillen Wiehern fiel das Pony auf den Rücken.

Lindsay rollte sich, kurz bevor das Pony auf den Boden fiel, weg. In dem Wirrwarr verlor sie den Überblick. Einen Moment lang suchte sie die Masse der Feinde und Sinder nach Leila ab.

„Leila!“, schrie sie verzweifelt. Wo war sie? Wo war Kevins Schwester?

„Kevin wird mir das nie verzeihen, wenn ihr etwas zustößt!“, war Lindsays erster Gedanke. Das Mädchen sprang auf. Sie streckte einen Werwolf nieder und sah dann Leila, die unter einem toten Werwolf hervorkrabbelte und schnell auf Lindsay zugelaufen kam.

Lindsay nahm Leila bei der Hand und zog sie hinter sich her. Plötzlich war direkt vor ihnen ein steiler Erdhang. Lindsay wollte an ihm hochklettern, doch die Erde war zu feucht und locker.

Lindsay und Leila drehten sich um, doch vor ihnen stand ein großer Troll. Mit dem Rücken wichen sie so weit sie konnten an den Hang heran, bis sie die feuchte Erde am Rücken spüren konnten.

Der Troll trampelte auf sie zu und brüllte wütend. Lindsay drückte Leila an sich, als der Troll seine Keule hob.

 

 

Elijah sah sich um und entdeckte einen großen Troll. Elijah brauchte nur einen kurzen Moment, um vor dem Troll Lindsay und Leila zu erkennen, die sich so dicht wie möglich mit dem Rücken an einen Hang drängten. Elijah schnappte sich einen Speer und schlug mit dem Ende einen Solektho auf den Kopf, sodass dieser nach hinten taumelte.

Der Junge trieb Max an und galoppierte auf den Hang zu. Er sprang von Max’ Rücken den Hang hinunter und landete zwischen dem Troll und den beiden Mädchen, den Speer fest in der Hand.

Er stützte sich auf dem Boden ab, um den Sprung abzufedern und stand schnell wieder auf, als der Troll sich des neuen Gegners bewusst wurde. Elijah stieß mit dem Speer zu und der Troll brüllte wütend auf. „Lauft! Lauft!“, rief Elijah währenddessen den Mädchen zu.

Lindsay und Leila rannten davon, während Elijah den Speer umklammert hielt. Lindsay drehte sich zu ihm um. „Elijah!“

Im selben Moment holte der Troll überraschend aus und traf Elijah mit seiner Pranke. Elijah wurde gegen den erdigen Hang geschleudert und blieb einen Moment benommen liegen. Der Troll verschwendete keine Zeit und kam auf ihn zu. Elijah sprang auf und griff nach dem Speer, doch der Troll kam ihm zuvor und packte den Schaft der Waffe. Elijah wich wie ein in die Enge getriebener Hund zurück.

Der Troll holte mit dem Speer aus, als plötzlich Lindsay auftauchte und den Arm des Trolls packte. Der Troll riss das Mädchen mit sich in die Höhe und schleuderte Lindsay herum. Elijah hatte genug Zeit, zu entwischen und floh zu seiner Schwester, während Lindsay den Arm des Trolls losließ und sich in den Sand fallen ließ. Dann folgte sie Elijah und Leila.

 

 

 

 

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Tobys Angriff

 

Lily hielt sich an Jeff fest, während dieser links und rechts mit seinem Bogen die Feinde abwehrte. Den Speer war schon nach dem dritten Angriff zersplittert, und sie hatten schon lange keine Pfeile mehr, was riskant war, denn Jeffrey musste die Feinde so nahe an sie heran lassen, um ihnen den Bogen um die Ohren hauen zu können.

Ein Werwolf sprang neben ihnen hoch und Lily hatte gerade noch Zeit, sich vor Jeffs Bogen zu schützen, der über ihren Kopf sauste und dem Werwolf einen Kinnhaken versetzte.

Das Pony trampelte einen Kobold nieder, ein zweiter zerkratzte die Sprunggelenke des Tieres.

Rotes Blut befleckte das weiße Fell und das Pony stampfte wütend mit den Hufen. Ein weiterer Kobold sprang hoch und biss in den Bogen.

Jeff schleuderte den Bogen hin und her, sodass der Kobold schließlich loslassen musste. Als Jeff das Pferd wendete, sprang ein Werwolf auf sie zu. „Jeff!“, schrie Lily, doch Jeff hatte keine Zeit mehr, den Bogen zu heben.

Im selben Moment sprang über ihre Köpfe ein weiterer Wolf und landete vor dem Ersten. Wütend knurrten sie sich an, dann sagte der Erste: „Es ist nicht das erste Mal, dass du dich in unsere Jagd einmischst, Toby! Doch es wird das letzte Mal sein!“

Er griff an und Toby biss kräftig in seinen Nacken. Eine Zeit lang rangen die großen Wölfe miteinander, dann gelang es Tobys Gegner, Toby auf den Rücken zu werfen.

Bevor der Wolf sich auf ihn stürzen konnte, stand Toby auf und sprang auf den Rücken seines Angreifers. Dieser verlor das Gleichgewicht und stürzte. Schnell waren beide wieder auf den Pfoten und umkreisten sich wütend knurrend. Dann griffen sie sich wieder an.

Einen Moment lang konnte man nicht zwischen den beiden Werwölfen unterscheiden, doch dann biss der andere Werwolf Toby in den Nacken. Toby jaulte wütend und biss seinerseits nach dem muskulösen Nacken des Wolfs, aber er bekam ihn nicht zu fassen.

In dem Moment tauchte ein älterer Mann auf und schoss einen Pfeil auf den Wolf ab. Der Pfeil traf Tobys Gegner und dieser fiel erschlafft zu Boden. „Danke, Tena!“, sagte Toby und leckte sein blutbespritztes Fell ab.

„Keine Ursache, Toby!“, rief der Mann und schoss einen weiteren Werwolf ab und tötete kurz darauf einen Troll.

Jeff und Lily hatten dem Kampf atemlos zugesehen, doch als Toby sie bemerkte, wandten sie sich schnell ab und griffen einen Kobold an.

Toby sah sich kurz um, dann sprang er auf einen weiteren Troll zu.

Jeff tötete einen Solektho, während Lily nach einem Kobold trat. Jeff nahm dem Solektho den Köcher voller Pfeilen ab und gab ihn Lily. „Hier, halt den gut fest!“, sagte Jeffrey und zog einen Pfeil heraus. Er legte den Pfeil ein und schoss. Der Pfeil traf einen Troll, tötete diesen jedoch nicht.

Der Troll sah sich sofort nach dem Angreifer um und entdeckte Jeff und Lily. Wütend um sich schlagend kam er auf die Beiden zu. „Oh, ich glaub das war eine schlechte Idee!“, bemerkte Jeff und verzog das Gesicht.

Er traf den Troll mit einem weiteren Pfeil direkt in die Schulter, doch das ließ das Ungeheuer völlig kalt. Jeff schoss noch einen Pfeil ab, der den Troll verfehlte und einen Riesen traf. Der Riese brüllte auf und drehte sich zu ihnen um. Er zermalmte den Troll mit Leichtigkeit und holte mit seinem Arm aus, um Jeff und Lily zu töten. „Schnell! Springt auf!“, rief plötzlich Kevin. Ciara landete neben ihnen.

Jeff sah seinen Freund zweifelnd an. „Nein danke, ich will weiterleben!“, sagte er. Jeder wusste, dass Jeff schrecklich Höhenangst hatte. „Dann rate ich dir, aufzuspringen!“, sagte Kevin ungerührt.

Der Riese brüllte wütend und ließ seine Hand auf die beiden Kinder und das Pony niedersausen. Im allerletzten Moment sprang Jeff auf den Drachen und zog Lily hinter sich her.

Das Pony raste in panischer Angst davon und zertrampelte einen Solektho, drei Gnome und fünf Kobolde. Ciara startete und flog mit eng angelegten Flügeln um den Riesen herum.

„Haltet euch fest!“, rief Kevin. Ciara wich der Hand des Riesen aus, schnellte dann vor und biss in den Arm des Riesen. Der Riese schlug nach dem goldenen Drachen, doch Ciara ließ ihn los und wich aus. Dann tötete sie den Riesen mit einem gezielten Biss in den Nacken.

Ciara landete und Jeff und Lily sprangen ab. „Vielen Dank, dass Sie mit Ciara-Airline geflogen sind“, grinste Kevin. „Jetzt seid ihr auch mal auf einem Drachen geritten! Sucht euer Pony, es ist nicht weit weg! Ich suche Alanis. Aber die ist weiter weg!“, sagte Kevin lachend und Ciara stieß sich ab.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Achtundzwanzigstes Kapitel: Das Amulett

 

Kevin hielt sich an Ciaras Rückenstacheln fest, während Ciara mit angelegten Flügeln um einen Riesen herumsauste.

Kevin sah sich nach Alanis um, während Ciara den Riesen tötete. „Ciara, pass auf!“, schrie Kevin, als Phönix vor ihnen auftauchte.

Ciara fauchte wütend und warf sich auf die Seite, um unter Phönix durchzufliegen, doch Phönix hatte das vorausgesehen und packte Ciaras Hals mit den Klauen.

Ciara wandte sich ihn seinen Fängen und versuchte, sich zu befreien. Kevin musste sich gut festhalten, um nicht aus dem Sattel zu fallen.

Auch Alanis konzentrierte sich nur auf ihren Drachen und da sah Kevin seine Chance. Er sprang aus Ciaras Sattel und packte den Riemen von Phönix’ Sattel. Er schaukelte hin und her, dann fanden seine Füße in einer Lederschlaufe halt und er konnte sich ein Stück am Sattel hoch hangeln. Da bemerkte ihn Alanis. „Du würdest niemals aufgeben, hab ich Recht?!“, sagte sie laute und überheblich.

Ciara schlug mit dem Schwanz nach Phönix, doch das machte ihm nichts aus, er hatte sich daran gewöhnt, dass ihn kein Angriff verletzen konnte. Doch auch er war nur ein Drache und auch seine Kräfte waren begrenzt. Als Ciara sich auf die Seite warf, musste Phönix sie loslassen.

Kevin wurde hin- und hergerissen und packte das Amulett. Er hielt es in der Hand, doch im selben Moment begann sich der Riemen an Phönix’ Sattel zu lockern. Kevin sah auf den Boden.

Einen Sturz aus dieser Höhe würde er nicht überleben. Er packte mit der anderen Hand, in der er das Amulett hielt, ein anderes Stück Leder, doch als Alanis blitzschnell das Amulett zurückerobern wollte, lies er reflexartig den Sattel los.

Der Riemen an Phönix Sattel riss und Kevin rutschte ab. „AHHH!!!“ Panisch griff er nach irgendetwas, um sich daran festzuhalten und sah nach oben. Seine Hand glitt durch Alanis’ Arm hindurch.

Alanis lachte.

Kevins Finger glitten an dem glatten, gegerbten Leder von Phönix’ Sattel entlang. Er versuchte sich festzuhalten. Er griff ins Leere und fiel.

Im letzten Moment gelang es Kevin, sich an Ciaras Hals festzuhalten, die ihm nachgeflogen war, um ihn zu fangen.

„Mach das nie wieder!“, fauchte Ciara. „Wieso, hat doch geklappt!“, sagte Kevin und zeigte ihr das Amulett. „Soll ich deine Wunde heilen?“, fragte er dann.

„Nein!“, fauchte Ciara wütend, weil er ihr widersprochen hatte. „Ich mach’s trotzdem!“, sagte Kevin mit einem Schulterzucken und lehnte sich nach vorne. „Lecheil!“, flüsterte er. „Es juckt“, meinte Ciara, als er fertig war. „Du könntest wenigstens Danke sagen!“, warf Kevin ihr vor. Ciara zögerte. „Danke.“

„Wir kümmern uns nachher um Alanis!“, sagte Kevin zu Ciara, denn die Sinder, Elfen und Zwerge unter ihnen waren kurz davor, zu verlieren. Ciara wölbte den Hals und schoss auf den Boden zu, dann tauchte sie den Boden unter ihnen in ein Flammenmeer. „Gut gemacht!“, lobte Kevin. Ciara schnurrte. „Ich weiß!“, sagte sie und gurrte dabei.

Die Stunden zogen sich dahin, Kevin wurde müde, doch Alanis’ Armee schien nicht zu schrumpfen. „Wir müssen etwas tun!“, rief Vicy ihm zu. Kevin überlegte. „Komm mit!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neunundzwanzigstes Kapitel: Bruder und Schwester

 

Elijah galoppierte auf Max’ bloßem Rücken durch die Reihen der Feinde. Tauchte vor ihm ein Feind auf, wurde er niedergetrampelt.

Er stieß seinen Speer nach einem Werwolf. Der Speer verfehlte den Werwolf und blieb im Boden stecken, doch da Elijah viel Schwung hatte, rutschte er seitlich von Max’ Rücken.

Er fiel in den Sand. Der Boden war hart und einen Moment lang war ihm schwummerig, doch als er einen großen Werwolf auf sich zustürmen sah, sprang er auf und packte den Speer, der neben ihm im Boden steckte.

„Komm her, wenn du dich traust!“, rief er dem Wolf zu. Dieser ließ nicht lange auf sich warten und rannte auf Elijah zu. Bevor Elijah den Speer schleudern konnte, kam Jeff und schoss den Werwolf ab.

„Den hätte ich auch erledigen können!“, meinte Elijah und verschränkte die Arme vor der Brust. Jeff zuckte die Schultern und trieb sein Pony weiter, während Lily Elijah die Zunge rausstreckte. Elijah ließ sich nicht provozieren und zog nur eine Grimasse in Lilys Richtung, dann nahm er Anlauf und schwang sich auf Max’ Rücken.

„Na warte, Lily, das bedeutet Krieg!“, dachte Elijah und trieb Max hinter Jeff und Lily her.

Gerade als Lily Jeff einen neuen Pfeil reichte und der damit auf einen Gnom zielte hob Elijah den Speer und schleuderte ihn nach dem Gnom. „Das war gemein, der hat uns gehört!“, meckerte Lily. „Und der Werwolf vorhin hat mir gehört! Jetzt sind wir quitt, einverstanden?“, bot Elijah an.

Lily dachte nach. Normalerweise mochte sie Friedensangebote ihres Bruders nicht. Sie kämpfte gern gegen ihn. Sie hatten früher auch immer Wettrennen gemacht. Doch sie entschied, dass sie jetzt genug Leute zum spielen hatte. Na ja, eigentlich war es eher kämpfen.

„Von mir aus!“, sagte sie deshalb, dann riss sie entsetzt die Augen auf und schrie: „Elijah, pass auf!“ Noch bevor Elijah sich umdrehen konnte warf Lily den Pfeil, den sie in der Hand hatte an Elijah vorbei und als der Junge sich umdrehte, sah er gerade noch einen Kobold tot auf den Boden fallen.

„Das war nur Glück!“, sagte Elijah, bevor er davon preschte, auf der Suche nach einem neuen Gegner, der ihm würdig erschien.

Max’ Hufe trommelten auf dem weichen, sandigen Boden einen einschläfernden, rhythmischen Takt.

Elijah hielt einen Speer in der Hand und suchte zwischen den Kämpfenden, jemanden, der vielleicht Hilfe brauchte.

Er sah Lindsay, die gegen einen Solektho kämpfte, doch sie schien mit ihm ganz gut zurechtzukommen.

Er suchte weiter und nach einiger Zeit sah er, dass Jeff und Lily gegen drei Werwölfe gleichzeitig kämpfen mussten. Jeff konnte die Wölfe von sich und Lily fernhalten, war ihnen jedoch nicht gewachsen. Das zauberte Elijah ein Lächeln auf die Lippen. „Jetzt haben wir Gelegenheit, uns zu revanchieren, Max!“ Er legte die Beine an Max’ Bauch und trieb das Pony vorwärts.

Max machte einen Bocksprung auf der Stelle, bevor er loslief.

Elijah packte den Speer fester, sodass die Knöchel weiß hervortraten, dann stach er nach dem ersten Werwolf. Den Zweiten vertrieb er mit einem Schlag auf den Rücken, nach dem Dritten warf er den Speer. Er hielt Max an, der spektakulär eine 180° Wende auf der Hinterhand machte und mit schlitternden Hufen vor Jeff und Lily zu stehen kam.

„Ihr braucht mir nicht zu danken, das hab ich gern gemacht!“, sagte er großmütig und lächelte Lily frech an. „Danke!“, sagte das Mädchen ungerührt. Elijah verstummte. „Ich habe gesagt, ihr braucht mir nicht zu danken! Nimm das sofort zurück!“, schrie er seine Schwester an.

Lily zuckte zusammen. „Ist ja schon gut, dann eben nicht danke!“ Elijah sah Lily an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das immer größer wurde, bis er es nicht mehr aushielt und zu lachen begann. Lily stimmte in sein Gelächter mit ein und bald lachte auch Jeffrey. Elijah zwinkerte Lily zu und trieb sein Pony mit einem Schlachtruf weiter.

 

 

 

 

Dreißigstes Kapitel: Tajaks Entscheidung


Tajak schnaubte wütend und trat gegen einen Felsen. Der Felsen kullerte davon, als wäre er ein Kieselstein. Tajak musste an seinen Traum zurückdenken.

 

 

Kevin und ein goldener Drache kämpften Seite an Seite mit dem Mädchen mit rotbraunem Haar und ihrem schwarzen Drachen gegen ein Elfenmädchen, das nicht aus Fleisch und Blut bestand, sondern aus Rauch und Nebel. Auch ihr Drache bestand aus Rauch und Nebel. Kevin und das andere Mädchen (sie war schon einmal bei den Riesen gewesen, um um Hilfe zu bitten, erinnerte sich Tajak jetzt) kämpften verbissen und verzweifelt, doch sie hatten keine Chance.

Das Elfenmädchen vermied direkte Angriffe, sie ließ ihren Drachen alles machen, doch als Kevin auf sie zuschoss und nach einer Kette um ihren Hals griff, hob sie das Schwert, sodass der goldene Drache, auf dem Kevin saß, blitzschnell seinen Reiter in Sicherheit bringen musste. Im selben Moment biss der Schattendrache zu. Er bekam den Flügel des goldenen Drachen zu fassen und wirbelte ihn hin und her. Der Drache schrie wütend und Kevin schlug mit seinem Schwert nach dem gegnerischen Drachen, doch das Schwert glitt durch den Rauch hindurch, der sich danach wieder schloss.

Dann ließ der Drache plötzlich los, nur um Kevins Drachen gleich wieder stärker zu beißen, diesmal in den Hals. Der goldene Drache schlug wild um sich. „CIARA!!!“ Kevin wurde hin- und hergeschleudert.

Die goldenen, mit Schlamm bespritzten Schuppen glitzerten im Abendlicht, als der Drache aus Rauch seinen Gegner losließ. Im selben Moment, kaum dass sich der Kiefer des Drachen öffnete, packte die Elfe ihr Schwert und schlug nach Kevin. Kevin hatte keine Chance mehr, auszuweichen.

 

 

Eindeutiger hätte die Warnung nicht sein können. Tajak hatte versucht, den Anführer seines Clans umzustimmen, doch der blieb bei seiner Meinung, dass Riesen mit dem Krieg der Menschen nichts zu tun hätten, da sich die Welt der Menschen und die der Riesen schon allein durch den Umstand unterscheiden würden, dass die Riesen Grips im Kopf hätten, was man von den meisten Menschen nicht behaupten könnte. „Sie sie dir doch an, Tajak!“, hatte der Häuptling gemeint.

„Du kennst alle drei Welten. Die der Menschen aus dem Norden, die der Menschen aus dem Süden und unsere. Die Menschen aus dem Norden zerstören ihre Welt. Abgase und giftige Dämpfe verpesten die Luft. Eine Tierart nach der Anderen stirbt aus. Und was machen sie? Unternehmen sie etwas? Nein. Sie geben ihre Welt dem Untergang Preis.

Du kennst die Welt der Menschen aus dem Süden; Du bist oft genug dort gewesen. Sie halten sich für weise, sie forschen, sind wissbegierig, sie vergessen alles um sich herum. Das Wichtigste für sie ist Wissen und Macht. Sie lassen ihr Volk verhungern und geben das Geld für prachtvolle Zeremonien aus, um die Götter milde zu stimmen.

Hältst du das für weise? Glaubst du, dass so die Menschheit überleben kann? Sie werden untergehen und sie werden nichts dagegen tun, weil sie es gar nicht erst bemerken werden!“

Ja, das waren die Worte seines Königs gewesen. Als Tajak gemerkt hatte, dass er nur seine Zeit damit verschwendete, ihren Anführer umzustimmen, begann er, sich zu überlegen, was für eine Stadt das war, von der er geträumt hatte.

Er grübelte, forschte in den alten Schriften und Manuskripten, bis er schließlich sicher war: Sobekkat konnte es nicht sein, er war oft genug dort gewesen, diese Stadt kannte er.

Die Stadt war sehr groß gewesen, weshalb es außer Sobekkat nur Fanorum, die Hauptstadt des Sinderlandes sein konnte, oder Beo, die Heimat der Werwölfe, die tief im Gebirge lag. Beo konnte es nicht sein, da dort die Umgebung anders aussah, daher musste es Fanorum sein. Sobald er das herausgefunden hatte, hatte er sich auf den Weg nach Fanorum gemacht.

Jetzt stapfte er durch den Schnee und stieß einige Fels- und Eisblöcke vor sich her.

Er sank im Schnee ein und stolperte ein Stück nach vorne. Er musste sich beeilen, denn er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb.

 

 

 

Einunddreißigstes Kapitel: Die Schnelligkeit einer Elfe

 

Kevin griff nach Ciaras Rückenzacke, als Phönix auf sie zugeschossen kam und Ciara, die Flügel angelegt, auf den Boden zuflog und sich um sich selber drehte. Dann breitete sie die Flügel aus und flog, den Schwung nutzend, wieder in die Höhe. Kevin wurde durchgeschüttelt und wäre er solche Flugmanöver nicht inzwischen gewohnt, hätte er sich sicher übergeben.

Vicy griff derweil mit Saira Alanis an und gab Kevin und Ciara Zeit, sich zu sammeln und auf einen weiteren Angriff vorzubereiten. „Na, bist du bereit?“, fragte Kevin, Ciaras Hals tätschelnd. „Aber immer doch!“, lachte Ciara und legte sich in die Kurve.

Sie setzte noch schnell eine Reihe Gnome und Kobolde in Brand, dann brüllte sie Phönix entgegen. Dieser drehte sich um, als Ciara durch ihn hindurch flog. „Sel’fer namrin kelechire!“, brüllte Kevin. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, doch es war ihm gerade so in den Sinn gekommen.

Alanis zuckte kurz zusammen, dann lachte sie.

„Du kannst mich nicht töten! Willst du das nicht begreifen?“, spottete sie. Aber Kevin bemerkte, dass der Zauber eine an Wirkung gehabt hatte: Alanis war langsamer. Beziehungsweise, er war so schnell wie sie.

Schnell packte er ihr Schwert am Griff, als sie es auf ihn herabsausen ließ. Er drückte es blitzschnell auf die Seite und lächelte Alanis spöttisch an. „Nein, ich kann dich nicht töten. Aber du mich auch nicht!“, sagte er dann so ernst, dass Vicy lachen musste.

Alanis wurde wütend und stieß Kevin so grob zurück, dass er beinahe von Ciaras Rücken gefallen wäre. „Du willst einen Ringkampf? Kannst du haben!“, rief Kevin und Ciara flog auf Phönix zu. Kevin streckte die Hand nach der Kette mit dem Smaragd aus. Alanis holte mit dem Schwert aus, doch sie war zu langsam und Kevin konnte sich ducken, ohne getroffen zu werden.

Er packte jedoch Alanis’ Umhang und riss sie daran nach hinten. Alanis hatte mit einem derartigen Angriff nicht gerechnet und fiel aus dem Sattel. Doch sie war immer noch schnell genug, um Kevin mit sich zu reißen.

Kevin versuchte verbissen, sich von Alanis loszureißen, während sie vielen, doch Alanis war stärker. Sie hielt seine Arme mit einer Hand fest und versuchte, ihm mit der Anderen das Amulett zu entwenden.

Kevin schrie wütend auf und biss in ihre Hand. Er bekam nichts zu fassen, außer ihrem Hemd. Er riss mit einem Kopfschütteln ihre Hand weg, und trat nach ihr. Ihm viel auf, dass Alanis Kleidung und die Kette mit einem Zauber belegt sein mussten, um nicht durch sie hindurchzufallen.

Und Phönix’ Sattel auch.

Also trat er sie kräftig in den Bauch. Es tat ihr nicht weh, doch ihre Kleidung wurde nach hinten gedrückt und sie dadurch auch und musste Kevin loslassen. Kurz darauf prallte Kevin mit dem Rücken auf Ciaras Schuppenpanzer auf.

Die Wucht des Aufpralls war gewaltig, da er und Alanis beinahe sechzig Meter tief gefallen waren und Kevin konnte sich nur mit Mühe an Ciaras Rückenzacken festhalten. „Das war aber ganz schön knapp!“, sagte Ciara. „Keine Sorge! Das mach ich nie wieder!“, keuchte Kevin, nachdem der Schmerz in seinen Rippen etwas nachgelassen hatte und er wieder atmen konnte.

Er setzte die Füße in die Steigbügel und kletterte in den Sattel. „Wir müssen etwas unternehmen. Die Sinder werden das nicht mehr lange durchhalten!“, befürchtete Ciara. „Geht es dir gut?“ Kevin winkte ab.

„Kümmere dich nicht um mich.“ Er hielt sich an dem dünnen Lederriemen am Sattel fest um nicht herunterzufallen, als Ciara neben den Sindern in der vordersten Reihe landete und um sich schlug. Kevin rutschte auf ihrem Rücken herum. Ohne Sattel wäre er heruntergefallen. Wieder dankte er den Elfen für ihren Einfallsreichtum.

Ciara riss einen Troll um, als sie sich umdrehte und mit ihrem Schwanz die vordersten Reihen der Feinde umwarf. Kevin wich dem Schlag eines Solektho aus und gab ihn doppelt so heftig zurück, sodass die Knochen zersplitterten. Bei dem Anblick verzog Kevin das Gesicht.

„Ein Glück, dass die schon tot sind!“, dachte er. Früher wäre er an einem solchen Gemetzel zerbrochen. Doch jetzt war er älter und stärker. Jetzt betäubte ihn das nur noch. Und er wusste, dass es nötig war.

„Wir wissen, dass es richtig ist. Aber das bedeutet nicht, dass es einfach ist!“, sagte er leise zu Ciara.

Sie erwiderte nichts, hob nur ihre gewaltigen Klauen und ließ sie auf die nächsten Werwölfe, Trolle und Gnome herabsausen, die ihr in die Quere kamen.

Kevin fragte sich, was seine Freunde gerade taten. Ging es ihnen gut? Ob sie sich genau so fühlten, wie er sich bei seinem ersten Kampf gefühlt hatte?

 

Ciara fauchte und schlug um sich, während sie nach Saira Ausschau hielt. Ihre Tochter kreiste weit über ihr und Vicy schien einen Plan zu haben. Sie rutschte aus dem Sattel und hing direkt über Alanis. „Ist das Küken verrückt geworden?“, fragte Ciara. „Sie ist doch viel zu weit oben um…“ Im selben Moment schoss ein gellender Schmerz durch ihr Bein. Sie schlug mit der anderen Pfote auf Phönix’ Schnauze ein und der rote Drache ließ sie los. Ciara knurrte und stieß den Drachen wütend von sich, während Vicy von Sairas Rücken sprang und sich mit einem wütenden Klammergriff an Alanis festhielt. „Die ist verrückt!“, rief Kevin.

Alanis wehrte sich und Saira rammte Drache und Reiterin von der Seite. Vicy ließ sich auf ihren Rücken zurückfallen.

 

Die Vögel, die Elijah mobilisiert hatte, griffen weiterhin die Feinde an, doch Kevin wusste, dass sie selbst wenn sie zwei weiteren Drachenreitern an ihrer Seite gehabt hätten, dem Ansturm ihrer Feinde nicht gewachsen wären.

Die Stunden zogen sich dahin. Elijah, Jeffrey, Lindsay, Lily und Leila hatten sich inzwischen auf Tobys Befehl zu den Sindern zurückgezogen und Lindsay, Jeff und Elijah attackierten die Feinde nun von weitem mit Pfeil und Bogen, während Drebilon die Kleinen unter seinen Schutz gestellt hatte. Kevin war froh, dass sich jetzt wieder ein Erwachsener um sie kümmerte.

Vicy und Saira landeten neben Kevin und Saira stieß einige Solektho und Werwölfe auf die Seite, um bis zu Kevin und Ciara durchdingen zu können. „Kevin! Wir haben keine Chance, hol deine Leute und zieht euch zurück!“, schrie ihm Vicy entgegen. Sie stieß einem Werwolf das Schwert in den Rachen, kurz bevor Saira sich wieder erhob.

Kevin sah sich nach seinen Bruder um. Elijah legte gerade einen Pfeil ein. Kevin bewunderte seinen jüngeren Bruder. Es brauchte viel Konzentration und eine ruhige Hand, um auch in solchen Situationen sein Ziel zu treffen. Der Pfeil schoss davon und traf einen Gnom, der auf den Boden kippte und zuckend liegenblieb.

Ciara schnaubte, als ein Werwolf ihr mit seinen langen, scharfen Krallen eine große Wunde am Hinterbein zufügte. Kevin hob sein Schwert, doch der Werwolf sprang zu Seite und floh. „Los, holen wir die Anderen da raus!“, sagte Kevin und sah zu Jeff, Lindsay und Elijah, die von ihren Feinden von den Sindern abgedrängt wurden.

Ciara stemmte die Tatzen in den Boden, ging in die Knie und sprang hoch. Sie breitete elegant ihre Flügel aus und segelte über den Ansturm der Feinde hinweg. Kevin murmelte einen Zauber und tötete einige Angreifer auf einmal.

Ciara legte die Flügel dicht an den schuppigen Körper und wölbte den Rücken wie eine Schlange, bevor sie sich nach unten gleiten ließ.

Kevin hörte Vicy, wie sie ihrem Heer zurief, dass es sich zurückziehen solle, als Ciara auch schon bei Jeff, Lindsay und Elijah angekommen war. „Zieht euch zurück!“, schrie Kevin ihnen zu, während Ciara zurück in die Reihen der Feinde gedrängt wurde. Jeff nickte Kevin zu. Er vertraute ihm.

Wenn Kevin sagte, sie würden es schaffen, dann schafften sie es auch, was auch immer es war.

Wenn Kevin sagte, dass etwas unmöglich war, was selten vorkam, dann taten es die Freunde auch nicht. Und jetzt wollte Kevin, dass sie sich zurückzogen, also würden sie es tun.

Er wollte sich umdrehen und holte Luft, um Lindsay und Elijah zu sich zu rufen, als er von hinten gepackt und vom Pferd gerissen wurde.

Eine Hand legte sich über seinen Mund. Er brachte nur ein ersticktes „Hilfe!“ zustande, bevor er auf dem Boden aufkam.

 

 

 

 

 

Zweiunddreißigstes Kapitel: Der Anfang vom

Ende

 

Kevin hörte den schwachen Ruf seines Freundes und drehte sich um. Er sah Jeff, der von einem Solektho vom Pferd gerissen wurde.

Schnell legte er sich einen Zauber zurecht, dann rief er ihn, um Jeff aus den Fängen seines Feindes zu befreien. Der Solektho wurde nach hinten geschleudert und Jeff sah zu Kevin hoch, lächelte dankbar und drehte sich dann zu Lindsay um.

Er rief ihr etwas zu, was Kevin nicht verstehen konnte.

Er hatte auch gar keine Zeit dazu, denn im selben Moment wurde Ciara am Schwanz gepackt und nach hinten gerissen.

Wütend fauchte der Drache auf, drehte sich um und schlug nach Phönix, der, Ciaras Schwanzspitze noch immer zwischen den Zähnen, nach hinten zurückwich. Kevin hörte ein dumpfes Grollen, dass von Osten her kam.

Als er sich umblickte, sah er einen weiteren Riesen. Es war Tajak, er erkannte ihn von weitem. Er jubelte ihm entgegen, dann wurde er durch einen weiteren Angriff von Phönix abgelenkt.

Er musste sich an Ciaras Sattel festhalten, als sie sich losriss, dann ein Stück nach oben flog und danach auf den Boden zuschoss, während sie sich um sich selbst drehte. Kevin verlor die Orientierung und musste sich voll und ganz auf Ciara verlassen.

Die Schwerkraft machte ihm zu schaffen, als Ciara den Schwung mit den Flügeln abfing und sich wieder richtig herum drehte. Kevins Magen rebellierte.

Tajak kam nun näher, einige Feinde hatten ihn entdeckt, doch konnten sie nichts tun, da Tajak sie einfach niedertrampelte. Die übriggebliebenen Riesen versammelten sich um den neuen Angreifer, doch Tajak begann mit ihnen zu ringen und tötete zwei, noch ehe die Meisten sich der neuen Bedrohung bewusst wurden.

Alanis griff nun wieder Kevin an. Sie vermied direkte Angriffe, sie ließ ihren Drachen alles machen, doch als Kevin auf sie zuschoss und nach der Kette um ihren Hals griff, hob sie das Schwert, sodass Ciara blitzschnell ihren Reiter in Sicherheit bringen musste.

Im selben Moment biss Phönix zu. Er bekam den Flügel des goldenen Drachen zu fassen und wirbelte ihn hin und her. Ciara schrie wütend und Kevin schlug mit seinem Schwert nach dem gegnerischen Drachen, doch das Schwert glitt durch den Rauch hindurch, der sich danach wieder schloss.

Dann ließ Phönix plötzlich los, nur um Ciara gleich wieder stärker zu beißen, diesmal in den Hals. Der goldene Drache schlug wild um sich. „CIARA!!!“ Kevin wurde hin- und hergeschleudert.

Die goldenen, mit Schlamm bespritzten Schuppen glitzerten im Abendlicht, als der Drache aus Rauch seinen Gegner losließ. Im selben Moment, kaum dass sich der Kiefer des Drachen öffnete, packte die Elfe ihr Schwert und schlug nach Kevin. Kevin hatte keine Chance mehr, auszuweichen.

In dem Moment war Tajak bei ihm. Er schlug nach Alanis, doch Phönix wich aus und riss so Alanis von Kevin weg.

Da wurde Tajak von hinten von einem anderen Riesen gepackt und zurückgerissen. Einen Moment lang rangen die beiden Giganten miteinander, dann stolperte Tajak und fiel. Kevin konnte nicht mehr sehen, was danach passierte, denn er musste sich auf Ciaras Wunde konzentrieren. „Ciara! Geht es dir gut?“, fragte er tonlos und besorgt.

„Kümmere dich jetzt nicht um mich! Du musst Alanis töten!“, antwortete sie ihm.

Kevin legte ihr die Hand auf die Wunde und wollte sie heilen, doch Ciara widersprach: „Du hast jetzt keine Zeit, es geht mir gut! Töte Alanis!“ Kevin zog schweren Herzens die Hand zurück, denn er wusste, dass Ciara recht hatte. Alanis wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn zu erwischen.

Er nahm sein Schwert und sah sich nach Alanis um. „Duck dich!“, schrie Vicy plötzlich, dann zischte ein Pfeil an Kevins Ohr vorbei. Er traf Phönix’ Sattel und blieb darin stecken. „Was sollte das den werden?!“, schrie Kevin. Vicy antwortete nicht, stattdessen schoss Saira auf Alanis zu. „Saira sagt, dass du dich bereithalten sollst, Alanis zu töten!“, sagte Ciara.

Kevin schluckte.

Er sah, dass Saira und Vicy Phönix’ Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, indem Saira ihn umschwirrte. „Jetzt!“, rief Ciara und flog auf Alanis zu.

Kevin hob das Schwert, doch Alanis drehte sich um. Sie hatte die List durchschaut. Sie wehrte sein Schwert ab, musste sich jedoch gleich wieder auf Vicy konzentrieren. Jetzt wäre Kevins Gelegenheit gewesen.

Doch er zögerte. Wenn er Alanis jetzt töten würde, was sollte er dann danach tun? Er hatte seine ganze Aufmerksamkeit immer auf diesen Moment gerichtet, doch wenn das ganze vorüber war, was für ein Ziel hatte er dann?

In dem Moment wischte Phönix Saira zur Seite und brüllte Kevin entgegen. Er flog auf ihn zu und als Ciara versuchte, Kevin zur Seite zu ziehen, flog Phönix an ihnen vorbei und setzte den Boden unter ihnen in Brand.

Kevin und Ciara flogen nun von oben auf sie herab. „Jetzt oder nie!“, dachte Kevin. Er war nun direkt über Alanis, als er sich fallen ließ. Er fiel einen halben Meter, dann umklammerte er Alanis und riss sie mit sich. Die Kinder kamen einen weiteren knappen Meter weiter unten auf dem Boden auf. Kevin sprang auf die Füße.

Auch Alanis stand auf. Beide zogen ihre Schwerter und kamen auf sich zu. „Ciara, halt dich da raus!“, flüsterte Kevin. Er wollte Alanis alleine gegenübertrete. Er sah zu der Elfe. Auch Alanis schien Phönix dementsprechende Anweisungen gegeben zu haben, denn auch der andere Drache hielt sich zurück.

 

Saira landete.

Vicy stieg ab und sah zu Kevin.

„Ich kann ihm nicht helfen“, dachte sie. „Kevin muss das allein schaffen. Das habe ich immer gewusst. Er hat es gewusst. Er muss allein gegen Alanis kämpfen. Er weiß, dass es gefährlich ist. Dieses Risiko sind wir alle eingegangen.“ Sie sah zu Saira. Auch ihr schien der Gedanke nicht zu gefallen, Kevin allein seinem Schicksal zu überlassen. Unruhig schritt sie hin und her. Wenn sie jetzt eingriffen, würde auch Phönix kämpfen. Und es war klar, dass er Kevin als Erster erreichen würde.

Alanis machte als Erste einen Schritt auf Kevin zu. Der Kampf begann.

 

Lindsay hatte sich mit Jeff und Elijah, wie Kevin befohlen hatte, zurückgezogen und den Kampf der Drachen beobachtet. Jetzt sah sie, wie Alanis und Kevin auf dem Boden zu kämpfen begannen. Wie zwei hungrige Hunde umkreisten sie sich.

Lindsay schritt unruhig auf und ab.

Sie musste etwas tun. Sie musste Thomas rächen. In dem Moment kam ihr gesamter Zorn auf Alanis wieder hoch. Sie musste kämpfen, oder sie würde vor Zorn platzen. Sie packte den Knauf ihres Schwertes. Plötzlich rannte sie los. Sie rannte und rannte. Sie rannte durch die restlichen Kämpfer, die sich noch nicht zurückgezogen hatten. Sie rannte an dem großen, schwarzen Drachen und seiner Reiterin vorbei und stürzte sich auf Alanis.

„Lindsay!“, schrie Kevin. Im selben Moment schnellte Phönix vor. Auch Ciara griff jetzt ein. Vicy stieg auf Saira.

Kevin schlug Phönix zurück, Lindsay stieß ihr Schwert nach Alanis, Ciara biss in Phönix’ Sattel und riss ihn daran zurück, Saira und Vicy griffen Alanis an.

„Lindsay, nein! Lauf!“, schrie Kevin, als sein Schwert sich in Phönix’ Sattel bohrte.

Plötzlich wurde er von hinten am Kragen gepackt und hochgerissen. Er drehte sich um und sah Ciara. „Schnell, Saira und Vicy holen deine Freundin!“ Doch Phönix griff Lindsay an, noch bevor Saira einschreiten konnte. Ciara erhob sich in die Luft. Saira wurde von Phönix ins Vorderbein gebissen.

Kevin wollte Lindsays, Namen schreien, doch er bekam keinen Ton heraus. Saira versperrte nun die Sicht auf den Kampf, doch Kevin hörte Lindsays Schrei und die anschließende Stille.

Er wusste genau, was passiert war.

Es hatte so kommen müssen. Lindsay hatte absolut keine Chance gehabt, auch mit der Hilfe der Drachen nicht.

Kevin spürte die Tränen nicht, die über sein Gesicht liefen. Er war vollkommen taub für alles um ihn herum. Der Schmerz berührte ihn nicht.

Vor allem, weil er es einfach nicht glauben konnte. Lindsay konnte nicht tot sein. Sie waren oft in eine Menge Scherereinen hineingeraten, doch immer, wirklich immer hatten sie zusammen entkommen können.

Lindsay war seine beste Freundin gewesen. Er kannte sie länger als Thomas oder Jeffrey. Doch wenn sie diesen Kampf nicht überlebt hatte, würde dann er es schaffen? Lindsay war stärker als er gewesen.

Sie hatte mehr Willen und Kraft, Selbstbewusstsein und Stärke gehabt, als er jemals aufbringen könnte. Er hatte Angst. Wenn Lindsay nicht überlebte, würde er es auch nicht schaffen.

Wenn er an der Wunde des Solektho gestorben wäre, hätte Lindsay nicht gezögert und die Freunde weitergeführt. Doch jetzt hatte all das ein Ende.

Endlich konnte er schreien. „NEIN!!!“ Er strampelte und versuchte sich loszureißen. Er sah wieder Vicy tot am Boden liegen. Alles spielte sich noch einmal vor seinen Augen ab. Doch jetzt lag Lindsay an Victorias Stelle auf dem Boden. „Nein! Nein! NEIN!!! Lindsay!“ Er brüllte so laut, dass sich seine Stimme überschlug. „Lindsay!“ Im selben Moment riss der Saum seines Hemds und er entglitt Ciaras Fängen. „Ah! Nein!“ Er fiel und landete mit einem Aufschrei zwei Meter weiter unten im Sand. Er fasste sich an die schmerzende Schulter, auf der er aufgekommen war, während ihm die Tränen aus den Augenwinkeln liefen. Plötzlich erinnerte er sich an etwas, was Lindsay ihm vor langer Zeit gesagt hatte. Damals waren sie ungefähr sechs Jahre alt gewesen. Schon damals waren sie die besten Freunde. Kevin schloss kurz die Augen, als er sich wieder daran erinnerte.

 

Kevin? Wo bist du?“ Kevin sprang hinter einem Baum hervor und Lindsay zuckte zusammen. „Du bist so blöd!“, lachte sie. „Ich bin dran mit suchen!“, sagte Kevin. „Klar, aber du wirst mich nicht finden, glaub mir das!“, sagte Lindsay und lächelte überheblich. „Und ob ich das werde!“, rief Kevin übermütig und sprang einen Hügel hinunter. Lindsay folgte ihm. „Dann müsstest du Millionen Jahre suchen!“, meinte Lindsay. „Ich hab das beste Versteckt, das es gibt!“ „Ich find dich dann schon.“ „Nur, wenn du suchst, bis du uralt bist!“, übertrieb Lindsay. „Wenn wir dann noch Freunde sind, werde ich dich dann auch noch weiter suchen!“, meinte Kevin voller Überzeugung. „Natürlich sind wir dann noch Freunde!“, fuhr Lindsay ihn empört an. „Wir bleiben für immer Freunde. Bis wir tot sind!“, sagte sie und schubste Kevin. „Genau! Oder , bis du in deinem Versteck verhungerst!“

 

Und sie waren immer Freunde geblieben. Selbst, als die anderen Kinder dann in der Grundschule anfingen, über sie zu lästern. Auch daran konnte Kevin sich noch genau erinnern.

 

Ihhh! Kevin hat ja eine Freundin!“, quäkte Sophia. Die anderen Kinder um sie herum begannen zu lachen. In dem Moment nahm Lindsay Kevin bei der Hand und ging an ihnen vorbei, ohne sich um sie zu kümmern. Nur Sophia schlug sie einmal kräftig auf die Nase. „Schon allein damit hat er mehr Freunde, als du je haben wirst!“, sagte Lindsay und drehte sich nicht noch einmal zu ihr um.

 

Kevin wurde hochgehoben. Ciara schüttelte ihn kurz durch und setzte ihn danach auf ihrem Rücken ab. Dann legte sie die Flügel an und trug Kevin zurück ins Kampfgetümmel.

„Konzentrier dich endlich!“, fauchte sie ihn an, als Phönix über ihnen hinwegzischte und mit seinen Krallen nach Kevin schlug. Im selben Moment wurde Kevin von einer großen Pranke getroffen. Mit einem Schrei wurde er aus dem Sattel geworfen und landete auf Ciaras Hals. Sein Kopf brummte und er sah Sternchen, während er an Ciaras Halszacken halt suchte. „Denk nach, verdammt noch mal!“, fuhr Ciara ihn wütend an. Kevin setzte sich auf. „Wenn ich jetzt etwas Unüberlegtes tue, bin ich tot!“, dachte Kevin. „Mausetot.“

Er packte sein Schwert. Seine Augen taten ihm weh. Er hielt sich am Sattel fest. Dann heilte er Ciaras Wunde, die noch immer blutete, noch bevor Phönix wieder angreifen konnte.

Als Phönix auf sie zuflog hob Kevin sein Schwert. Auch Ciara flog jetzt auf den anderen Drachen zu.

Kevin stieß sein Schwert in Phönix’ Sattel, schlitzte ihn einmal von oben nach unten auf und griff wieder nach Alanis’ Kette.

Alanis duckte sich und ihr Schwert traf Kevin am linken Arm.

Der plötzliche Schmerz ließ Kevin zusammenzucken. Alanis entkam, ohne dass Kevin die Kette erwischte, doch Phönix biss nach Ciara.

Seine Klauen rutschten über ihren Panzer und hinterließen blutige Striemen, er biss in ihren Brustkorb und hielt sie fest, während Ciara nach ihm schlug und den Rest des Sattels zerfetzte.

Einen Atemzug lang konnte man nicht unterscheiden, wessen Klauen wessen Schuppen zerrissen, wessen Zähne sich in den Gegner gruben, welcher Drache brüllte, dann löste Phönix sich von Ciara und biss noch einmal zu.

Der Biss hätte Ciara auf der Stelle getötet, wenn sie nicht noch ihre Rüstung getragen hätte. Phönix wirbelte sie durch die Luft, Ciara knurrte und fauchte voller Angst und Schmerz, dann ließ Phönix sie los.

Ciara taumelte… Sie konnte sich nicht mehr in der Luft halten… Sie stürzte ab.

„Ciara! CIARA!!!“ Kevin hielt sich an einer Rückenzacke fest… Ciara breitete die Flügel aus um den Sturz abzufangen… Doch sie war zu schwach… Ihr Flügel knickte ein…

 

 

 

Dreiunddreißigstes Kapitel: Am Ende aller Kräfte

 

Als der Drache auf dem Boden aufkam, wurde Kevin aus dem Sattel geworfen. Er überschlug sich zweimal, bevor er ganz auf dem Boden aufkam.

Er spürte das warme Blut über seinen Arm und über seine Stirn laufen. Er blieb ein paar Sekunden reglos und benommen liegen. Warum war er hier? Was war gerade passiert? Wo war er eigentlich? Er rollte sich auf die Seite. Ihm wurde schlecht vor Schmerz. Er sah nur unscharf etwas Goldenes. Es trug eine metallene Rüstung und keuchte vor Schwäche oder vor Schmerz. Er konnte zwei Flügel erkennen und plötzlich kamen seine Erinnerungen zurück. Er wusste wieder, wo er war, wie er hieß, was passiert war… Und, dass er so schnell wie möglich zu seinem Drachen musste.

„Ciara!“ Er stemmte sich hoch, ignorierte den Schmerz, der durch sein Bein schoss, und lief hinkend auf Ciara zu. Er schloss die Augen, zumal er vor lauter Tränen, die ihm jetzt plötzlich kamen nichts sehen konnte. „Bitte… Ciara! Mach die Augen auf! Sag mir, dass alles okay ist! Bitte, lieber Gott, mach, dass sie okay ist! Bitte! Oh, bitte!“ Er kämpfte sich mühsam vorwärts, auch wenn er den Schmerz kaum spürte, seine Füße waren zu schwach, um ihn zu tragen. Kurz vor dem Drachen brach er zusammen. „Ciara.“

Er griff nach einer ihrer Rückenzacken und zog sich näher zu ihr heran.

Er legte ihr den Arm um den Hals. „Ciara!“ Ciara öffnete die Augen, doch sie war zu schwach, um zu sprechen.

Kevin liefen die Tränen über die Wangen. Er legte ihr die Hand auf die tiefe Wunde, die Phönix’ Zähne hinterlassen hatten.

Er nahm die Hand weg, als Ciara zusammenzuckte.

Er sah das dunkelrote Drachenblut auf seiner Hand.

Er senkte den Kopf, damit seine Tränen nicht in die Wunde fielen. „Lecheil!“ Kevin hielt seine Hand über Ciaras Wunde und wartete darauf, dass sich die Wunde wieder schloss, doch nichts passierte. „Lecheil!“ Kevin konzentrierte sich, er schloss die Augen und versuchte an nichts anderes als an den Zauber zu denken.

Nichts.

Er konnte sich nicht konzentrieren. Tausend Sachen schwirrten in seinem Kopf umher. „Bitte… Bitte…“, flüsterte er leise und mit geschlossenen Augen.

Seine Lippen formten immer wieder energisch den Zauber, er ließ sich ganz von dem Wort beherrschen, verbannte alle anderen Gedanken und Gefühle aus seinem Kopf. Doch er spürte nicht die gewohnte Macht der Magie durch seinen Körper fließen.

Er zog das Amulett heraus und sah es an. „Warum klappt es nicht?“, rief er verzweifelt. Wieder legte er eine Hand über Ciaras Wunde. „Lecheil!“ „Bitte… Bitte… BITTE!“ Sein Kopf schrie den Gedanken geradezu heraus, während Kevin mit angespannter Hand über Ciaras Hals gebeugt da saß und versuchte, an nichts Anderes zu denken.

Wieder nichts.

„Ich bin nicht stark genug…“

Kevin sah das Amulett vorwurfsvoll an. „Du denkst immer nur an dich!“, dachte er. Genau das hatten die Elfen vor einigen Jahren auch gesagt, als sie ihn gefangen genommen hatten: „Es schützt sich, indem es dafür sorgt, dass er die Fragen nicht beantworten muss!“ Kevins Tränen fielen auf den Boden.

„Warum unternimmst du nichts?! Ich kann dich nur beschützen, wenn ich lebe!“ Er schüttelte das Amulett. „Mach doch was!“ Kevin wandte den Blick von dem Amulett ab und legte den Arm um Ciaras Hals.

„Ciara…“

Ciara drehte den Kopf, sodass sie ihm in die Augen sah. Kevin ließ seine Hand vorsichtig über ihre Schuppen gleiten.

„Nein. Ich… lass dich… nicht sterben. Nein, nein, nein. Das ist alles nicht wahr. Das kann nicht wahr sein. Nein. Du wirst das schaffen. Wir beide werden das schaffen! Ganz sicher. Du wirst nicht sterben.“

Kevin redete ganz leise vor sich hin, eher um sich selbst zu beruhigen. Ciara schloss müde die Augen, hielt aber die Verbindung zwischen ihnen aufrecht, sodass Kevin sie noch hören konnte. „Ciara, bitte, steh auf!“

Doch dann dachte der Junge auf einmal an Lindsay, an Thomas und an all die Anderen, die gestorben waren, ob sie nun gut oder böse waren und wusste plötzlich mit schrecklicher Gewissheit, dass er den Lauf des Schicksals nicht ändern konnte, egal, was man auch tat, was man sich wünschte und was man mit aller Kraft versuchte, er wusste, dass alles vergänglich war und das er nichts dagegen tun konnte.

Kevin zitterte und klammerte sich ganz fest an Ciaras Hals. „Ich wünschte, das alles wäre nie passiert. Warum muss mir das passieren… Das ist doch nicht fair…!“

Er war zu schwach, um weiterzusprechen. Das Ganze fühlte sich so unwirklich an.

Sein Blut rauschte in seinen Ohren „Ich lass dich nicht allein!“, murmelte er verzweifelt, aber mit fester Stimme.

Er hörte das schwache Klopfen seines Herzens, während er versuchte, sich zum Weiteratmen zu zwingen.

Er schluchzte auf.

„Warum ist die Welt so grausam? Was für eine Art von Gerechtigkeit ist das?!“, dachte er verzweifelt, während seine Tränen auf den Boden tropften. Kevin schluchzte und Tränen liefen ihm über die Wangen. „Ich brauche dich doch Ciara!“ Er ließ seinen Kopf kraftlos an Ciaras Schuppen entlang rutschten, er riss sich die Wangen auf und die Tränen brannten in den frischen Wunden. „Wieso nur… Ciara, warum? Warum hat es ausgerechnet dich getroffen?“ Er streichelte vorsichtig Ciaras Kopf, genauso wie damals, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Aber jetzt war alles anders. So viele seiner Freunde waren tot. Er wusste ja nicht mal, ob seine Geschwister noch lebten. Und Lindsay und Jeffrey und Toby… Und Vicy. „Vicy… Wo bist du nur?“ Kevin flüsterte leise und verzweifelt Vicys Namen.

Er hatte inzwischen soviel durchgemacht…

Er wollte Ciara nicht auch noch verlieren. Nicht einmal für die wenigen Minuten, in denen er weiterleben würde und sie tot wäre. Wie es sich wohl anfühlte, plötzlich wieder ganz allein zu sein? Daran wollte er gar nicht denken. „Ich will dich nicht verlassen! Das ist doch alles nicht fair. Warum passiert das alles mir?“ Er war nicht wütend. Er verstand es einfach nur nicht. Alles hätte so schön sein können. Er packte Ciaras Hals noch fester und klammerte sich verzweifelt an sie, während er weiterschluchzte.

„Ich brauche dich. Ciara. Lass mich nicht allein. Du darfst jetzt nicht sterben, ja, Ciara? Bitte, nicht sterben!“ Kevin wartete vergebens auf eine Antwort. Aber Ciara war zu schwach zum sprechen. Kevin zitterte vor Kälte. Es war ein kalter Wind aufgekommen. Der Wind wehte Kevin die Haare ins Gesicht und die Haare blieben an Kevins Tränen und den offenen Schürfwunden kleben.

„Ich lass dich nicht los! Ich lass dich nicht sterben!“

Kevin sah in Ciaras großes goldenes Auge und verlor sich einen Moment lang in ihrem Blick. Es war, als würde er in einen kristallklaren See sehen, der nur vom Licht der untergehenden Sonne verfärbt wurde. Und in diesem See spiegelten sich all die Erinnerungen wieder, an die Kevin nur noch verschwommen zurückdenken konnte. Kevin konnte den Blick nicht mehr Abwenden. Plötzlich kamen ihm die Tränen und er schmiss sich an Ciaras Hals.

Er hielt ihren Kopf fest und streichelte ihr sanft über die Schuppen. Seine Haare wurden nass und erst da merkte Kevin, dass Ciara… weinte. Ciara weinte. Kevin schaute überrascht auf. „Ciara.“ Er streckte die Hand aus und strich ihr über die Augen.

„Mein Kleiner…“

Kevin schloss die Augen. Aus seinen Augenwinkeln liefen die Tränen. Seine Augen taten vom Weinen weh und wieder schmiegte sich der Junge trost- und schutzsuchend an Ciaras Hals.

Er legte eine Hand tröstend auf ihre Schnauze.

Kevin weinte und Ciara weinte mit ihm. Sanft pustete Ciara ihm die Haare aus der Stirn, wie sie es immer getan hatte, in guten und in schlechten Zeiten. Immer war sie für ihn dagewesen. Und Kevin wollte nicht, dass sich das jetzt änderte. Er würde nicht zulassen, dass sich jetzt etwas so Unbedeutendes wie der Tod zwischen sie beide stellte.

Nicht zwischen ihn und Ciara. Er hatte sie gerade erst wiedergefunden. Er würde sie nicht noch einmal verlieren. Niemand konnte sie trennen. Nie wieder. Niemals. „Niemals…“, flüsterte Kevin.

„Kevin… Du darfst dich jetzt… nicht um mich kümmern… Tu, was du tun musst… solange… du Zeit hast…Darfst jetzt nicht… aufgeben…“

Kevin sah auf. Er wusste, was sie meinte. Er musste Alanis töten, bevor Ciara starb, sonst würde er seine Aufgaben nie erfüllen können. Dann war alles umsonst gewesen. Wieder kamen ihm die Tränen und er biss sich auf die Unterlippe. „Ich schwöre dir, ich werde Alanis töten, und dann werde ich dich retten, egal, was passiert!“ Doch Kevin wusste, dass es bis dahin zu spät war. Ciara war schwach und auch Kevin merkte, wie ihm schwindelig wurde. „Nein, jetzt nur nicht aufgeben!“, dachte er bei sich. „Ich komme wieder!“, flüsterte der Junge leise. Kevin umarmte Ciaras langen Hals. Dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich vorsichtig und langsam um und sah Toby. „Komm mit!“, sagte Toby.

 

 

 

Vierunddreißigstes Kapitel: Alanis’ Tod

 

Kevin klammerte sich in Tobys Fell. Er rutschte auf dem Rücken des großen Werwolfes hin und her. Kevin wartete auf die perfekte Gelegenheit. Phönix stieß brüllend vom Himmel herab und schnappte nach Toby und Kevin.

Alanis war jetzt unvorsichtiger. Sie erwartete keinen Widerstand mehr von Kevin oder Toby.

Toby sprang in die Luft.

Alanis zog etwas Funkelndes aus ihrer Tasche heraus. Es war Victorias Messer.

Sie stach damit nach Toby und traf ihn an der Schulter. Im selben Moment riss Kevin Alanis die Kette vom Hals.

Sie rutschte ihm aus der Hand und fiel auf den felsigen Boden. Kaum berührte die Kette den Boden, zersplitterte sie in tausende Teile.

Alanis erstarrte und sah einen Moment lang entsetzt auf die einzelnen Teile, die in der Abendsonne glänzten.

Ein Windhauch kam auf. Er wurde stärker und zerblies Alanis und Phönix, als wären sie aus echtem Rauch und Nebel, ohne irgendwelche verstärkenden Zauber.

Toby kam auf dem Boden auf. Er knickte mit dem verletzen Fuß ein, konnte sich jedoch auf den Beinen halten. Kevin rutschte von seinem Rücken und fiel auf den Boden.

Toby, fiel auf die Seite und verwandelte sich in einen Menschen. Er sah sich nach Kevin um, der neben ihm auf dem Boden lag. „Kevin“, keuchte er und hustete.

Er kroch ein Stück näher zu Kevin und sah ihn an. „Kevin.“ Kevin öffnete die Augen. „Wir haben’s geschafft! Alanis ist besiegt.“ Er verzog den Mund zu einem Lächeln.

Tobys Blut tropfte auf den Boden. „Ich…“ Er wusste nicht, was er sagen sollte.

Er musste etwas unternehmen. Wo war Vicy? Wo waren die Anderen? Vielleicht konnten sie Kevin helfen. Sie konnten ihn und Ciara sicher retten. „Ich kann dich nicht sterben lassen! Das lasse ich nicht zu!“, sagte der junge Werwolf tonlos und erschöpft.

„Toby, das musst du verstehen. Du kannst vieles bestimmen. Aber das nicht“, sagte Kevin

„Ich will das nicht!“, rief Toby mit erstickter Stimme.

„Das kannst du leider nicht ändern. Ich kann Ciara auch nicht retten. Du kannst es nicht bei mir tun.“

„Doch, das werde ich!“

„Toby. Jede Rolle endet einmal… In jeder Geschichte. Man taucht auf und verschwindet wieder.“

„Was heißt das?“

Kevin zögerte.

„Keine Ahnung, hab ich mal in einem Film gesehen.“ Toby lächelte gequält.

„Nein, was ich damit sagen will ist, dass ich glaube, dass alles einmal ein Ende hat. Was man nicht selbst bestimmen kann, ist, wann es kommt und wie.“

Toby sah ihn verständnislos an.

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich denke, dass alles, was uns passiert, genau vorbestimmt ist. Wessen Leben wann beginnt und wo endet. Wer wann welche Entscheidungen trifft und wieso.

Wir sind nur Marionetten in einer Welt, die wir selbst nicht steuern können.

Oder Schauspieler, denen man das Drehbuch nicht zu lesen gegeben hat. Meine Geschichte ist jetzt erzählt. Aber deine geht weiter.“

„Aber vielleicht will ich nicht, dass sie weitergeht. Nicht, wenn du nicht darin vorkommst!“

„Du hast noch Vicy. Du kannst sie jetzt nicht im Stich lassen.“

„Ich will dich nicht verlieren! Ich kann dich retten!“

„Ich glaube nicht, dass das so im Drehbuch steht!“ Kevin lächelte.

„Und außerdem habe ich noch eine Aufgabe zu erledigen.“

„Was soll ich ohne dich tun?“

„Vielleicht wäre es für uns alle das Beste, das Beste daraus zu machen“, sagte Kevin zu Toby. Toby schluckte. Ihm wurde schlecht, sein Arm pochte stark an der Stelle, wo Alanis ihn mit dem goldenen Messer aufgeschlitzt hatte. Es musste mit einem bestimmten Zauber belegt worden sein, sonst hätte es niemals eine so tiefe und große Wunde gerissen. Der ganze Arm pochte und Toby presste die Hand auf die immer stärker blutende Wunde.

„Kevin…“

Seine Stimme war kraftlos und schwach. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Er sah Kevins undeutliches Gesicht, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.

 

 

 

 

 

Fünfunddreißigstes Kapitel: Toby und Vicy

 

„KEVIN!!! TOBY!!!“ Vicy stolperte über tote Solektho und Trolle. Doch darüber verschwendete sie keine Gedanken. Sie rannte über das Schlachtfeld, über tote Kobolde, Menschen und Riesen, doch sie dachte an nichts Anderes, als an ihre Freunde. Sie hatte Angst um sie. „KEVIN! TOBY!!!“ Sie schrie immer wieder ihre Namen.

Fast wäre sie über die beiden Jungen gestolpert. Toby lag auf dem Boden, Kevin fest umklammert.

„Toby! Toby, wach auf!“ Vicy schüttelte ihren Freund energisch. „Toby. Bitte… Wach auf!“ Ihre Stimme versagte. Sie rüttelte Kevin. „Kevin!“ Sie legte ihr Ohr an seine Brust. Nichts. „Nein. Kevin! Toby! Jungs, bitte, bitte, wacht auf!“ Die Tränen verschleierten ihr die Sicht. Sie hob Kevin halb hoch und umarmte ihn fest. Ihre Haare verbargen ihr Gesicht, ihre Tränen fielen auf Kevins Gesicht. Sie schloss die Augen und versuchte einen Moment, ihren zitternden Atem unter Kontrolle zu bekommen. Das fühlte sich alles so unwirklich an. Doch Vicy wusste, dass es echt war. Sie öffnete die Augen und hauchte Kevin einen Kuss auf die Wange.

Da rührte sich Toby. „Toby! Du lebst!“ Sie krabbelte zu Toby, der sich zu ihr drehte. Ihre Freude darüber, dass er lebte, war so groß, dass sie für einen Moment fast vergaß, dass ihr Freund tot war. „Toby! Was ist passiert! Sag mir, was passiert ist!“ Vicy brach in Tränen aus. Sie nahm Toby in den Arm. „Seine Geschichte ist jetzt erzählt“, murmelte Toby, wie im Fieberwahn. Vicy schüttelte verständnislos den Kopf. „Was meinst du damit?“ „Das habe ich ihn auch gefragt…“ Toby schloss wieder die Augen.

„Toby… Was redest du denn überhaupt? Du bist ja vollkommen verwirrt! Toby“, flüsterte Vicy. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. Dann begann sie wieder zu weinen. Ihr bester Freund… Kevin… war tot.

 

 

Sechsunddreißigstes Kapitel: Tobys Traum

 

Toby wachte auf. Vicy saß neben ihm. Toby schüttelte sich und setzte sich schließlich auf. Dann sah er Vicy an und lachte.

„Du… Du glaubst nicht, was ich geträumt habe! Wir haben gekämpft… und dann… irgendwie… Ach, ich weiß nicht mehr. Aber du und Kevin, ihr wart auch dabei. Und dann habe ich geträumt, dass Kevin gestorben ist. Das ist doch vollkommen verrückt, oder?“ Toby verzog das Gesicht wieder zu einem Grinsen. Doch Vicy lachte nicht.

Sie sagte auch nichts. Sie saß einfach nur da und strich Toby einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann stand sie auf.

Sie wandte sich zum gehen.

Vor der Tür blieb sie jedoch noch einmal stehen und drehte sich um, die Türklinke schon in der Hand.

„Toby…“ Vicy schluckte. Ihre Stimme versagte. Sie sah Toby an.

Dann lächelte sie traurig und mit Tränen in den Augen. Tobys lächeln verschwand.

Wieder wollte Vicy etwas sagen, doch sie hielt inne und sah den Jungen nur traurig an. Schließlich sagte sie: „Es wird alles gut.“ Dabei nickte sie, als müsse sie sich selbst noch davon überzeugen.

Sie wandte sich wieder um und ging schnellen Schrittes wieder aus Tobys Zimmer.

Toby sankt wieder zurück in die Kissen. Sein Blick war jetzt wieder ernst. Er drehte sich auf die Seite, als ein Schmerz durch seinen Arm schoss.

Er schrie vor Schmerz leise auf. Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch und wartete darauf, dass der Schmerz verebbte. Dann betastete er vorsichtig seinen Arm.

Er schob den Ärmel bis zur Schulter zurück und drehte den Arm. Ein weißer Verband kam zum Vorschein. Darunter konnte Toby an einer Stelle getrocknetes, rotbraunes Blut erkennen.

Betäubt ließ Toby sich zurück in die Kissen fallen. Erst als sein Arm wieder schmerzte, als er auf seinem Arm aufkam, begriff er endlich, dass das alles kein Traum gewesen war.

 

 

 

 

 

Siebenunddreißigstes Kapitel: Der Packt mit dem Tod

 

Kevin befand sich wieder im Nichts. Alles um ihn herum war schwarz, unter ihm war nichts, über ihm war nichts. Nirgendwo war etwas. Plötzlich war Ramor vor ihm.

„Was führt dich denn schon wieder zu mir?“, fragte er. Er tat gelangweilt, doch Kevin merkte, dass Ramors schwarze Augen das Amulett musterten und weder Kevin noch das Schmuckstück aus den Augen ließen. „Ich möchte mit dir verhandeln!“, sagte Kevin. Ramor verzog das Gesicht. „Du hattest deine Chance, Kleiner. Du hast dein Mädchen zurück!“ „Ich rede nicht von jemandem, den ich eintauschen will. Ich will einen Packt mit dir schließen!“, rief Kevin. Ramor lachte. „Stell deine Forderungen, aber sei dir nicht sicher, dass ich sie annehmen werde!“

„Ich will, dass du die Menschen in Ruhe lässt und sie dir nicht mehr holst, wann du willst! Außerdem…“

Kevin konnte nicht zu Ende reden, denn Ramor brach in schallendes Gelächter aus.

„Was habe ich denn davon? Welchen Nutzen ziehe ich daraus?“

Kevin dachte nach.

Er musste jetzt gut argumentieren, damit es Ramor nicht zu langweilig wurde, und er das Gespräch beendete. In diesem Fall saß Kevin am kürzeren Hebel. Wenn die Unterhaltung für Ramor beendet war, war sie beendet – Dann konnte Kevin nichts mehr ändern. Und er konnte nicht darauf hoffen, noch einmal so eine Gelegenheit zu bekommen. Deshalb überdachte er alles noch einmal, bevor er versuchte, Ramor vorsichtig die Vorteile klarzumachen:

„Wenn du die Forderungen akzeptierst, wäre Vieles leichter für dich. Du könntest dich ganz deinen Untertanen zuwenden. Du könntest dein Reich um einiges schöner und prachtvoller machen. Du könntest tun und lassen, was du willst. Alle würden dir freiwillig dienen. Du hättest mehr Zeit für dich und würdest trotzdem Untertanen bekommen, da immer jemand stirbt, durch Unfälle, oder einfach so. Und…“

„Schon gut, Kleiner! Das klingt wirklich verlockend. Weißt du, es ist schwierig, sich um so ein großes Reich zu kümmern. Ich könnte es vergrößern, ich könnte meinen eigenen Palast bauen, mir Diener zulegen…“ Einen Moment lang schien Ramor versunken in seinen Träumen.

„Da ist noch etwas…“ Kevin drehte das Amulett in seinen Händen hin und her. Dann streckte er es Ramor entgegen. „Hier. Ich möchte, dass du es verwahrst.“ Ramor sah das Amulett an. „Damit könntest du dein Reich aufbauen und deinem Volk helfen. Und ich möchte, dass die Zauberei ein Ende hat, damit alles so wird, wie in meiner Zeit.“ Ramor zögerte. Dann nahm er das Amulett entgegen.

„Da ist doch sicher ein Haken dran, oder?“, fragte er Kevin dann.

Kevin schüttelte den Kopf.

„Nein. Das war meine Aufgabe, meine Bestimmung. Und ich will, dass die Zauberei abgeschafft wird, damit nicht noch einmal jemand aus seinem friedlichen Leben gerissen wird, wie ich es wurde.“ Ramor drehte das Amulett in seiner Hand herum.

„Was würde passieren, wenn ich deine Forderungen ausschlage?“ Kevin dachte nach. Er hatte sich gedacht, dass Ramor das fragen würde, doch richtig darauf vorreitet gewesen war er nicht.

„Nichts. Aber es wäre auch nicht zu deinem Vorteil. Irgendwann wird ein Anderer kommen.“ Ramor zögerte wieder. „Also. Was ist? Was sagst du dazu?“, fragte Kevin. Er hielt Ramor die Hand hin. „Deal?“ Ramor schloss die linke Hand fest um das Amulett. Dann schlug er mit der Rechten ein.

„Deal. Ich werde dafür sorgen, dass die Magie abgeschafft wird. Dennoch können selbst wir Götter nicht alles ungeschehen machen, was passiert ist. Diese Welt wird immer voller Magie bleiben, immer wird etwas Unerklärliches passieren. Doch wir und auch die Menschen werden keine Macht mehr darüber haben. Einverstanden?“ „Ja.“

Kevin lächelte. Er hatte es geschafft. Endlich war seine Aufgabe erfüllt.

 

 

 

 

Achtunddreißigstes Kapitel: Mehr als perfekt

 

Vicy stand auf dem Balkon und betrachtete den Sternenhimmel. Saira war bei ihr. Sie lag im Hof, direkt unter ihrem Fenster, doch Vicy fühlte sich allein. Sie fühlte sich so allein, wie sie sich immer gefühlt hatte, wenn Kevin nicht da gewesen war.

Vicy ging in ihr Zimmer. Es war schon spät, doch sie konnte nicht schlafen. Sie hatte eine starke Gehirnerschütterung, aber sonst ging es ihr gut. Sie hatte keine äußeren Verletzungen.

Das hatte ihr die Ärzte gesagt. Sie war gesund, und es würde ihr bald besser gehen. Vicy spürte, dass sie sich langsam von ihrer Gehirnerschütterung erholte, doch dass es da einen tieferen Schmerz gab, der einfach nicht heilen wollte. Die Ärzte schienen das einfach nicht zu verstehen. Jeden Tag kam jemand, um ihr zu sagen, dass es ihr bald besser gehen würde, dass sie außer Gefahr sei, und dass es bei ihr keine bleibenden Schäden geben würde.

Doch Vicy hasste sie alle dafür. Nur Sairas Gesellschaft genoss sie, da sie die Einzige war, die Vicy nicht Tag um Tag erklärte, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Sie war einfach da und hörte zu.

Vicy hielt es in diesem Zimmer nicht mehr aus. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Panik schnürte ihr die Kehle zu, wie immer, wenn sie an Kevin dachte. Sie rannte los, riss ihre Zimmertür auf, ignorierte Sairas Rufe. Sie rannte. Sie lief durch den ganzen Palast, entdeckte Stellen, die nicht einmal sie gekannt hatte. Die langsam aufsteigende Hysterie ließ sich durch ihre Flucht vor der Realität nicht dämpfen. Vicy riss die Tür zu einem unbewohnten Zimmer auf, sprintete hinein. Sie sah sich nicht um, doch sie konnte aus den Augenwinkeln Möbel sehen, auf denen sich Staubschichten aus vielen Jahrzehnten gebildet hatten. Tränen verschleierten ihr die Sicht und sie stolperte. Sie riss eine Schranktür auf und sprang hinein. Schlug die schwere Holztür zu. Versuchte zu verstehen, was passiert war. „Wie konnte ich das zulassen… Wie konnte es so weit kommen?“ Vicy konnte den Mund nicht öffnen, ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr, ihre Kehle fühlte sich rau wie Sandpapier an. Keuchend lehnte sie sich gegen die Innenwand des Schrankes. Im selben Moment spürte sie, wie ihre Beine nachgaben. Sie rutschte an der Schrankwand zu Boden und kauerte sich auf dem Holzboden zusammen. Vicy strich sich die Haare aus den Augen. Ihre Kehle brannte noch immer wie Feuer. Wimmernd lag sie da, während ihr aus den Augenwinkeln unaufhörlich Tränen liefen. Sie hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Der Holzboden war kalt, doch er fühlte sich gut an, tröstend, da er der Einzige außer Saira zu sein schein, der sie nicht mit seinem Mitleid zu ersticken drohte.

Vicy keuchte, doch trotzdem verließ sie das Gefühl zu ersticken nicht. Es klebte an ihr, wie eine Klette. Schließlich fiel Vicy in einen unruhigen Schlaf. Alles um sie herum war wasserblau. Alles hatte die Farbe von Sairas Augen, dann änderte sich die Umgebung und sie schwamm in einem tiefen, bernsteinfarbenen See, der sie noch mehr an Kevin erinnerte, als das blaue Nichts zuvor sie an Saira erinnert hatte.

Die letzten Tage hatten ihr ein ganz neues Repertoire an Albträumen geöffnet. Vicy warf sich unruhig hin und her, sie durchlebte noch einmal Kevins Tod. Sie schrie, bis sie heißer war, dann begann der Traum von neuem.

Schließlich fand Drebilon sie, auf dem Boden des Schrankes zusammengekauert, wie sie sich die Seele aus dem Leib schrie. Endlich schaffte er es mit der Hilfe einiger Wachen, sie zu beruhigen. Vicy spürte kaum, wie sie ein paar Wachen zurück auf ihr Zimmer trugen.

Sie schlief, wieder geplagt von Albtraumen. Mit einem leisen Aufschrei fuhr sie hoch. Ihre Kehle fühlte sich trocken an, doch sie konnte sich nicht dazu überwinden, etwas zu trinken. Sie stand auf und lief unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Sie zitterte zu stark, um einen klaren Gedanken zu fassen. Wieder hatte sie das Gefühl, zu ersticken. Sie schlug die Balkontür auf und rannte ins Freie. Keuchend lehnte sie sich gegen die Balkonbrüstung und sah in den Hof unter sich, in dem ihr schwarzer Drache lag und mit einem wasserblauen Auge zu ihr hoch starrte. Langsam beruhigte sich Vicy wieder.

Sie dachte an Kevin und hoffte, dass er es geschafft hatte, Ramor zu besiegen. „Natürlich hat er es geschafft. Er ist stark und selbstbewusst, er kann kämpfen. Er hat sich all das immer gewünscht!“, dachte Vicy und schmunzelte.

„Er wollte immer so sein, wie die vielen Helden vor ihm. Tapfer, stark, furchtlos und erfolgreich. Das hat er mir erzählt. Er wusste nur nicht, dass er das alles war. Er war ein Held und alle werden die Geschichten weitererzählen, wie Kevin und Ciara Ramor besiegt haben. Und selbst, wenn er es nicht geschafft hätte… Er war, ist und bleibt für immer mein Held!“

Saira hob den Kopf von außen hoch und Vicy konnte ihre Nase streicheln. „Saira, glaubst du, dass wir beide eigentlich unwichtig waren? Dass es nur darum ging, dass Kevin lange genug durchhält, um Alanis zu töten?“, fragte Vicy den schwarzen Drachen. „Vielleicht“, antwortete Saira. Sie sah Vicy nicht an. Dann sah sie das Mädchen wieder mit ihren wasserblauen Augen an. „Und wenn es so wäre?“, fragte sie. Vicy überlegte, aber sie antwortete nicht. „War es das nicht wert? Dafür zu kämpfen?“ Vicy hatte Tränen in den Augen, als sie an den Kampf zurückdachte.

„Wofür lohnt es sich schon, zu kämpfen?“ Sie sah Saira an. „Ich glaube, egal, wie sehr sich die Menschen bemühen, den Krieg zu verstehen… Wird der Krieg sie nie verstehen.“ Vicy senkte den Kopf. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange und fiel zu Boden.

„Vielleicht ist das Leben ja dazu da, um alles zu verlieren, wofür es sich je gelohnt hat zu kämpfen!“, dachte Vicy.

Sie dachte daran, was ihr Vater ihr immer erzählt hatte. Sie konnte sich nur noch dunkel daran erinnern, da Vicy damals erst ein halbes Jahr alt gewesen war, doch jetzt viel es ihr wieder ein: „Man verliert im Leben manchmal Dinge, die einem wichtig waren. Aber ganz egal, was man dir erzählt. Wenn du an dich glaubst, kannst du alles erreichen!“ Saira sah Vicy fragend an. „Was denkst du?“, flüsterte sie in Vicys Gedanken, „Wofür lohnt es sich, solche Dinge zu verlieren? Wofür lohnt es sich, zu kämpfen?“ Vicy antwortete nicht. „Vielleicht…“ Vicy dachte nach. Sie dachte an alles, was sie mit Kevin erlebt hatte. „Ich glaube, Saira, es lohnt sich immer, für etwas zu kämpfen! Für etwas, was einem wichtig ist. Freiheit… Gerechtigkeit…“ Sairas Mund verzog sich zu einem Lächeln. Auch Vicy begann zu lächeln. „Jetzt verstehst du es, oder?“, fragte Saira. Vicy nickte.

Trotzdem wurde sie jetzt plötzlich wieder traurig, wenn sie an Kevin dachte. Wieder senkte Vicy den Kopf und ihr lächeln erlosch.

Saira stupste sie vorsichtig an. „Was ist denn?“ Vicy schluckte und sah ihr in ein wasserblaues Auge. „Es ist nur so… Kevin war immer bei mir. Immer hatten wir ein gemeinsames Ziel. Und jetzt… jetzt ist er weg.“ Vicy verstummte.

Saira war eine Zeit lang still. Dann sagte sie: „Wenn alles falsch erscheint, sollte man immer auf sein Herz hören. Und was sagt dir dein Herz?“

Vicy dachte einen Moment lang nach. Dann lächelte sie. „Mein Herz sagte mir, dass alles so ist, wie es sein sollte. Kevin hat seine Aufgabe erfüllt, alles ist gut. Es ist perfekt. Nein, das ist es nicht!“

Sie lachte Saira an und umarmte ihre Schnauze. „Es ist mehr als perfekt!“

Saira grummelte wohlig, dann zog sie ihre Schnauze zurück und rollte sich auf dem Hof zusammen, um zu schlafen.

Kurz bevor Victoria einschlief, berührte Saira noch einmal ihr Bewusstsein. „Ich bin ja so stolz auf dich!“

 

 

Toby saß allein in seinem Zimmer und versuchte, zu verdauen, was in den letzten Stunden passiert war. Er saß auf seinem Bett und warf einen kleinen Gummiball, den Vicy ihm geschenkt hatte, gegen die Wand. Der Ball prallte ab, sprang zurück und Toby fing ihn. So ging das recht lange. Das monotone klopfen des Balls auf dem Boden machte Toby schläfrig und er verfehlte den Ball. Der kleine, rote Gummiball sprang über ihn und hinter dem Bett aus dem Fenster. Toby legte sich aufs Bett und sah aus dem Fenster. Da, fast sieben Meter unter ihm, lag sein Gummiball. „Verdammt“, sagte er zu sich selbst. Er durfte das Zimmer nicht verlassen, eigentlich sollte er gar nicht erst aufstehen, bis sein Arm sich beruhigt und die Gehirnerschütterung sich gelegt hatte. „Verdammt!“, sagte er noch mal. Kurz überlegte er, ob er aus dem Fenster klettern sollte, doch als er aufstand wurde ihm schwindelig und er hatte Angst, abzustürzen wenn er es wagen würde. Wütend warf er sich aufs Bett und fuhr mit einem Aufschrei hoch. Er war schon wieder auf seinen Arm gefallen. „Verdammt!“, rief er zum dritten Mal. Dann packte er sein Kissen und warf es gegen die Wand.

In dem Moment sprang etwas neben ihm aufs Bett. „Was willst du denn hier?“, fragte er Leor, der seinen Ball im Mund hatte. Leor entblößte seine spitzen Eckzähne. Dann spuckte er den Ball aufs Bett. „Jetzt kannst du ja glücklich sein, hab ich recht? Ramor hat sein Amulett und Kevin ist tot. Zufrieden?“, fragte Toby. Leor schüttelte betrübt den Kopf. „Nicht zufrieden.“ Er rollte Toby den Ball zu und sprang vom Bett. „Was willst du?“, fragte Toby wieder. „Verschwinde, du kleiner Misthaufen, ich will allein sein!“ Leor senkte traurig den Kopf. „Entschuldigung“, sagte er. „Was? Kannst du vielleicht einmal in ganzen Sätzen sprechen?“, fragte Toby den kleinen, etwas reumütigen Kobold ungehalten. „Entschuldigung“, wiederholte der Kobold jetzt etwas ungeduldig. „Entschuldigung! Es tut mir leid, verstehst du? Was passiert ist. Dass Kevin tot ist. Dass ich dich gebissen habe. Ich hatte Befehle! Ich wollte dir nicht wehtun!“ „Genau, du wolltest Kevin wehtun!“, sagte Toby grimmig. Leor sah Toby lange an. „Nein. Ich hatte Befehle!“, sagte er noch einmal. „Verstehst du?“

Toby nahm den Ball und wischte ihn an seiner Bettdecke ab. Dann warf er ihn gegen die Wand und fing ihn wieder auf. Leor beobachtete ihn dabei aufmerksam. Dann sprang er dem Ball entgegen und fing ihn mit dem Mund auf.

„Hey, das ist meiner!“, fuhr Toby ihn wütend an. „Entschuldigung.“ Leor rollte Toby den Gummiball zu. „Entschuldigung, Entschuldigung! Ich hör ja gar nichts Anderes mehr von dir! Weißt du was? Du nervst!“, sagte Toby eindringlich.

„Entschuldigung.“

Mit einem wütenden Aufschrei warf Toby den harten Ball nach dem Kobold. Leor fing ihn und warf ihn Toby an den Kopf. Allerdings hatte der Kobold damit nicht gerechnet, die eigene Kraft vollkommen unterschätzt. Er fauchte erschrocken und zuckte zusammen. „Entschuldigung.“ Leor machte ein quietschendes, hohes Geräusch und schüttelte sich. Dabei sah Toby seine kleinen, weißen, spitzen Zahnenden, die wie bei einem Vampir seitlich aus dem Mund ragten. Leor kniff die Augen zusammen. „Entschuldigung!“, sagte er ein weiteres Mal und diesmal hatte Toby das Gefühl, Leor hätte es nur getan, um ihn zu ärgern. Dann nahm der Kobold Anlauf und sprang neben Toby aufs Bett und von dort aus dem Fenster. Wie eine Spinne kletterte er kopfüber die kahlen Wände herab, sprang auf den Boden und jagte quer über den Hof, zurück zu seiner Kisten in Vicys Schlafzimmer. „Verschwinde, du kleiner, mieser Misthaufen! Du blöder Sabberklos! Du, du, … Verschwinde einfach, hörst du?“, schrie Toby aus dem Fenster, als ihm die Beleidigungen ausgingen. Irgendwann würde er sich mit Leor vertragen. Wenn er alles vergessen hatte, was der Kobold getan hatte. Wenn die Welt sich wieder normal drehte. Wenn die Narben an seinen Armen und Beinen kaum noch zusehen waren. Dann würde er sich mit ihm vertragen. Aber nicht jetzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neununddreißigstes Kapitel: Narels Wiedergeburt

 

Elijah zitterte, als er einen Fuß in die Ruinen des Zerstörten Dorfes Narel setzte. Die Häuser waren abgebrannt, Alanis hatte alles zermalmt. Innerlich kochte Elijah vor Wut, Trauer und Schmerz. „Aber ich werde nicht gehen. Nein. Ich werde hierbleiben und dieses Dorf wieder aufbauen!“ Eine Träne kullerte über seine Wange. Jeff und Elijahs Schwestern sahen sich in den Trümmern um, als suchten sie etwas, was nicht zerstört war. Er hätte nicht gedacht, jemals mit einer solchen Situation konfrontiert zu werden.

Er zertrat die Asche mit dem Fuß, während Leila hinter ihm hörbar schluchzte.

Sie alle verbanden so viele Erinnerungen mit diesem Dorf. Elijah war nur ein Kind, doch er wusste, dass sie gemeinsam es schaffen konnten, Überlebende zu finden, die gewillt waren, Narel wieder aufzubauen. Elijah sah die verbrannten Überreste seiner Schule. Er biss sich auf die Unterlippe. Er vermisste Kevin, doch hätte er Alanis nicht umgebracht, hätte Elijah es selbst getan, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte.

Er verdankte seinem größeren Bruder so viel.

Elijah bückte sich und strich über den Boden. Es würde lange dauern, bis hier wieder ein Dorf stehen würde.

Lily kam zu ihm. Auch sie weinte und Elijah bereute, dass er seine Geschwister mitgenommen hatte. Es war alles doch noch zu viel für sie. Der Junge kletterte durch ein paar verbrannte Dachbalken in ihr altes Haus. Er warf eine ausgerissene Tür aus dem Weg und sah sich um. Dort drüben war sein Zimmer gewesen. Er erkannte es nur an den Grundrissen, denn mehr war nicht übrig von ihrem Haus. Er ging in sein altes Zimmer und setzte sich auf den Ascheberg, der einmal sein Bett gewesen sein musste. Der alte Herd, der kaum Brandspuren aufwies, diente ihm zur Orientierung in ihrem Haus. Links von ihm stand der Kühlschrank, der inzwischen angerostet war. Elijah sah seine Spielkonsole unter einem Stück verschmorten Holz liegen und ging darauf zu. Er klappte das Display hoch. Ein großer Riss zierte das Glas des Bildschirms, doch ansonsten schien sie heil zu sein. Elijah versuchte, das Ladegerät an eine Steckdose anzuschließen. Kurz passierte nichts, dann zeigte ein kleines Lämpchen an der Innenseite seinen Gameboys, dass der Strom noch funktionierte und das Gerät geladen wurde. Jeffrey trat an seine Seite. „So, here we are…“, sagte er leise. Es war einer seiner Lieblingssprüche, das wusste Elijah. Normalerweise hätte Elijah ihm jetzt einen schlagfertigen Spruch entgegengepfeffert, doch da ihm im Moment irgendwie gar nicht nach einer Prügelei war, ließ er Jeff gewähren. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das einmal unser Zuhause war.“ Leila kam langsam zu ihnen.

Jeff wandte sich von den Trümmern ab und schlurfte langsam zu ihrem alten Schulhof, dort setzte er sich auf das fast unversehrte Klettergerüst. Leila folgte ihm und kickte eine leere Coladose vor sich her. Lily sah zu Elijah hoch, Elijah sah auf Lily herunter. „Wir haben eine Menge gelernt. Was es bedeutet, Freunde zu sein. Dass es im Leben Höhen und Tiefen gibt. Auch wenn wir alles verloren haben, die Tiefen haben wir jetzt erlebt.“

Etwas Ähnliches wie ein Lächeln verirrte sich auf Elijahs Gesicht. „Jetzt sind wir mit dem Glückhaben wieder einmal an der Reihe.“ Er versuchte, allen Mut und alle Stärke, die er besaß in diesen einen Blick zu legen, den er Lily zuwarf.

Seine Bemühungen waren umsonst. Lily seufzte traurig auf. Elijah ging in die Hocke und legte einen Arm um Lily. „Alles wird wieder gut… Ich verspreche es.“ Im selben Moment ertönte eine höhnische Stimme in seinem Kopf: „Gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst!“, verspottete sie ihn.

Elijah versuchte sie zu ignorieren und legte seine ganze Liebe und Kraft in eine einzige, spontane Umarmung. Außerdem hatte er fest vor, dieses Versprechen zu halten. Er würde nicht zulassen, dass Lily und Leila etwas passierte. Er war für sie verantwortlich.

Er war jetzt der Mann in ihrer noch so kleinen Familie. Dabei war er doch erst zehn. „Aber Kevin war sogar jünger, als ich jetzt bin, als er das Amulett gefunden hat! Was er konnte, kann ich doch auch!“, wisperte er. Eine kleine Träne rollte über seine Wange. „Ich hab dich lieb, Lily“, flüsterte er mit erstickter Stimme. Er wischte seine Augen an Lilys T-Shirt ab. Lily schlang die Arme um ihren großen Bruder. Jetzt musste sie ihn trösten. Sie mussten sich gegenseitig die Stärke geben, die ihnen fehlte. „Ich hab dich auch lieb…“ Lily stockte einen Moment. „Ich bin froh, dass du bei mir bist, Elijah…!“ Elijah hatte so etwas noch nie von Lily gehört. Normalerweise zeigte sie ihre Gefühle nicht. Elijah spürte, dass ihm eine neue Träne aus dem Augenwinkel lief. „Das ist echt so schnulzig. Das wäre genau das richtige für eine von diesen Daily Soaps!“, dachte Elijah. Einen Moment umarmten sich die beiden schluchzend.

Doch plötzlich zog etwas Elijahs Blick magisch an. Er machte einen Schritt auf den kleinen Farbklecks in den Überresten zu und erkannte ein winziges Gänseblümchen. Er sah es sich genauer an. Elijah sah in Lilys Gesicht. „Sieh dir das an!“, flüsterte er und zeigte Lily die Blume.

Lily folgte seinem Blick und sah fragend zu ihm zurück. Elijah stand auf. „Nicht alles ist verloren, Lily. Es gibt noch Hoffnung, etwas, woran wir glauben können, woran wir festhalten können, wenn uns alle Kraft fehlt. Verstehst du, was ich meine?“ Er nahm Lily in den Arm. Die sah ihn seltsam an. „Du bist doch verrückt“, sagte sie ausdruckslos und Elijah konnte Tränen in ihren Augen schimmern sehen. Elijah schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Nein, das bin ich nicht! Wir sind doch noch immer eine Familie! Zusammen sind wir stark. Und nichts kann etwas daran ändern! Hörst du?“ Er kitzelte sie und Lily begann zu lachen. „Nichts. Absolut nichts!“

 

 

 

Kevins Aufgaben waren nun erfüllt. Alanis war besiegt, der Packt mit Ramor besiegelt. Ein neues Zeitalter begann. Die Elfen, Zwerge, Trolle, Riesen und all die anderen Lebewesen, die dieses Land bevölkert hatten, verließen es, auf der Suche nach neuen Ländern, die sie einnehmen konnten. Alle, die sich an das erinnern konnten, was geschehen war, verließen das Land, damit die Menschen in Frieden leben konnten, denn nun war die Zeit für die Herrschaft der Menschen gekommen. Die Zeitgrenze wurde aufgehoben. Die Menschen des Nordens drangen in den Süden vor und nahmen das ehemalige Sinderland, den Zwergenwald und den Elfenwald ein. Niemand wusste von Kevin oder Ciara, davon, was sich hier vor vielen, vielen Jahrhunderten ereignet hatte. Und niemand würde es je erfahren. Niemand würde die Geschichte je weitererzählen können. Doch wenn du abends in deinem Bett liegst und den Wind in den Ästen hörst, höre genau zu: Denn der Wind erzählt viele Geschichten. Nichts ist je passiert, ohne, dass er davon etwas gemerkt hätte. Er weiß es… Er kennt die Geschichte… Doch er ist der Einzige. Aber wenn du ihm genau zuhörst, wirst du so manches Geheimnis von ihm erfahren… Dinge, die nie ein Mensch erfahren hatte. Und vielleicht erzählt er dir ja einmal die Geschichte von Kevin, Ciara und dem magischen Amulett.

 

 

 

Aussprache der Namen:

 

Die groß gedruckten Silben sind die, auf denen die Betonung liegt.

 

Kevin: KE-win

Ciara: KJA-ra

Victoria: Vic-TOR-ia (Englisches R)

Saira: SAI-ra

Alanis: Ä-LÄN-nis

Phönix: FÖH-nicks

Krawp: KRAPP

Toby: TO-bi

Tena: TE-na

Ramor: RA-mor

Dreon: DRE-on

Lindsay: LIND-saj

Jeffrey: TSCHEFF-rey (Englisches R)

Thomas: TOMM-äss

Elijah: I-LAI-tscha

Lily: LIL-li

Leila: LAJ-la

Faleon: FA-le-on

Juster: TSCHAS-ter

Pegasus: PE-ga-sus

Farea: Fa-RE-a

Drebilon: DRE-bi-lon

Leor: LE-or

Leya: LEJ-ja

Armelean: Ar-ME-le-an

Karean: KA-re-jan

Clementine: KLEMM-en-tain

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Buch ist Preisträger beim Schreibwettbewerb meiner Schule im Jahr 2012 Das Cover wurde von mir erstellt.

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