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Das magische Amulett 2 - Die Rückkehr

 

Rückblick auf:

Das magische Amulett:

 

Der neunjährige Kevin lebt mit seiner Familie in dem kleinen Ort Narel. Als er mit einem Mal ein Amulett findet, das ihm Zauberkräfte verleiht, ändert sich sein Leben schlagartig. Der Elf Dreon nimmt ihn auf eine Reise zu den Sindern mit, die ihn mit Hilfe der Zwerge ausbilden sollen.

Doch es gibt einen Haken: Die Elfen und Sinder sind verfeindet, da die Sinder den Elfen die Schuld am Tod ihrer Königin geben. Kevin soll den Sindern einen neuen König oder eine neue Königin geben, die Elfen und Sinder vereinen und Ramor, der hinter dem Amulett her ist, töten. Bei den Sindern lernt er Faleon kennen, einen Drachenreiter und seinen Lehrmeister. Von ihm erfährt er auch, dass auch Kevin einen Drachen bekommen würde. Als er sich daraufhin die Drachendame Ciara aussucht, den einzigen weiblichen Drachen, den es noch gibt und kurz darauf das Elfenmädchen Alanis auftaucht, um von ihnen ausgebildet zu werden, bekommt Ciara Junge: Phönix und Pegasus. Das ganze spielt sich weit weg vom Sinderland, der Heimat der Sinder ab, nämlich bei den Zwergen.

Alanis verliebt sich sogleich in Phönix und wird seine Reiterin. Pegasus soll zu den Sindern gebracht werden. Faleon und Kevin machen sich auf den Weg. Sie stoßen auf Ramor, der Kevin das Amulett stielt und Faleon gefangen nimmt. Kevin ruft Alanis und macht sich mit ihr auf den Weg, Faleon zu befreien. Die Kinder und Ciara müssen ein schweres Rätsel lösen, das sie in den Wald des Schreckens führt. Dort stoßen sie auf Victoria, die ihnen hilft, das Rätsel zu lösen.

Als sie Ramors Versteck finden, wird der kleine Drache Saira geboren. Vicy findet sie total süß und Saira bestimmt sie zu ihrer Reiterin. Kevin und Ciara beschließen, sie auszubilden, während Faleon gefangen ist

In Sairas Geburtsnacht wird Kevin es durch Zufall klar: Er ist in einen Hinterhalt gelockt worden. Alanis und Faleon stecken mit Ramor unter einer Decke. Auch Ciara ist darin verwickelt und Faleons Drache Juster. Dennoch rettet Ciara Vicy und Kevin, setzt sie jedoch in der Cardetsteppe zu ihrer eigenen Sicherheit ab. Nach kurzer Zeit finden Faleon und Alanis sie. Vicy macht Kevin ein Geständnis: Sie ist eine Halbelfe, Dreons Tochter und Alanis’ Halbschwester. Kevin ist geschockt, doch dafür bleibt nicht viel Zeit. Bei einer Verfolgung gelingt Vicy und Kevin die Flucht. Sie fliehen in einen Wald.

Dort leben sie drei Jahre und treffen sich dann mit ihren Drachen, um Ramor zu töten. Was Kevin nicht weiß ist, dass Ramor darauf bereits vorbereitet ist.

Sie werden dementsprechend Empfangen, doch Kevin fordert Ramor zum Duell, in dem er ihn besiegt. Er wird in einen Kampf gegen Alanis, Faleon und einen Dämonen, der seine Gestalt ändern kann, verwickelt. Der Dämon und Faleon werden getötet, doch Alanis und Phönix gelingt die Flucht. Kevin und Vicy gehen zu den Sindern und dort stellt einer der Sinder, Drebilon einiges klar: Faleon und Alanis waren die Verräter, die Sinder und Elfen standen nur unter ihrem Einfluss. Kevin will seine Aufgabe abschließen und erklärt Victoria zur Königin der Sinder.

Kevin und Vicy spüren Alanis bei den Elfen auf. Kevin macht sich auf den Weg zu ihnen. Was er nicht weiß ist, dass Alanis bereits die Königin der Elfen geworden ist. Kevin wird gefangen genommen, doch Victoria befreit ihn wieder. Dabei müssen sie gegen zwei neue Reiter antreten: Colrim und Dreon.

Sie gewinnen, werden jedoch am nächsten Tag wieder von Alanis und ihren Elfen angegriffen. Colrim und Alanis sterben dabei, Alanis und Phönix werden allerdings zu Schatten und sind nun beinahe unbesiegbar. Man kann sie nur durch Alanis’ Herz besiegen. Alanis lockt Kevin und Vicy auf eine falsche Spur, Vicy und Kevin schleusen sich bei den Elfen ein, wollen Alanis Herz finden und es zerstören, doch das ist nicht so einfach. Alanis erkennt sie und flieht nach Sobekkat, der Hauptstadt. Kevin und Vicy besuchen die Elfen ein drittes Mal, als Kevin seinen Ful’caestas ven hat, einen Zaubervorgang, der den Reiter mit dem Drachen auf Leben und Tod verbindet. Kevin darf nun einen Sattel haben. Doch das dauert seine Zeit.

Solang bleiben Vicy und Kevin als Gäste bei den Elfen, wo Kevin erst von Alanis angegriffen wird und sich danach heftig mit Vicy und Ciara streitet. Kevin bekommt Angst, weil er glaubt, Alanis würde versuchen Vicy etwas anzutun und geht sie suchen. Dabei trifft er auf den Waldgott, einen prächtigen Hirsch, der dem Jungen hilft, Vicy zu finden.

Dann schenkt er Kevin noch ein Stück von seinem Geweih und erklärt ihm, dass er nur einen Zauber zu sagen hätte, dann würde er ihm helfen. Kevin findet Vicy unverletzt. Kevin und Vicy geben nicht auf und verfolgen Alanis nach Sobekkat, als sie herausfinden, dass sie sich dort versteckt hält. Alanis schützt sich perfekt und die Beiden haben keine Chance, an sie heranzukommen. Als die Elfen, Zwerge und Sinder jedoch mit vereinten Kräften die Stadt unterwerfen, will Alanis fliehen, schickt aber noch einmal einen Zauber nach Kevin. Ciara rettet ihn, Vicy wird jedoch getroffen. Vicy stirbt und Kevin will sie durch den Waldgott retten lassen, doch dieser kann nichts tun.

Er gibt Kevin jedoch den Tipp, dass er mit dem Herrscher der Dunkelheit um sie handeln könne, wenn er sie wirklich lieben würde.

Kevin erfährt, dass Ramor gar nicht tot ist und schwört sich, ihn zu töten, Vicy zurückzuholen und dann auch Alanis zu töten.

 

 

 

 

Erstes Kapitel: Kevins Versprechen

 

Kevin saß seit vier Tagen an demselben Fleck. Er konnte es einfach nicht fassen, dass Vicy tot war.

Er saß auf dem Boden und konnte sich nicht rühren. Er wollte Vicy rächen. Er wollte Alanis zwischen seinen Fingern zerdrücken, er wollte sie vierteilen, ihr die Arme und Beine einzeln ausreißen. Doch er wusste, dass er sich dazu bewegen müsste. Und das wollte er nicht. Er wollte hier sitzen bleiben, für immer auf den Fleck starren, wo Vicy gelegen hatte.

Er wollte sich nicht vom Fleck rühren. Und er konnte es einfach nicht. Ciara kam langsam auf ihn zu. „Kevin. Ich kann dich ja gut verstehen, aber du musst etwas essen oder schlafen!“, bat sie ihn. Mit Tränen in den Augen schüttelte er den Kopf. Er verbarg das Gesicht in seinen zerschnittenen Handflächen. „Ich kann einfach nicht! Ich fühle mich so schwach! Ich werde nie wieder hier weg können!“, jammerte Kevin. Ciara legte sich neben ihn und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Dann summte sie beruhigend vor sich hin. „Weißt du, Kevin, es ist schwer jemanden zu verlieren, aber du kannst sie zurückholen, was nicht jeder kann“, philosophierte sie. „Also steh auf und hol sie zurück!“, befahl Ciara. Kevin stand vorsichtig auf. Er war wirklich ziemlich schwach. Als Erstes wankte er in eins der Zelte, die sie vor den Stadtmauern aufgestellt hatten, um sich zu waschen. Er tauchte sein Gesicht in eine der Schüsseln. Schon fühlte er sich besser. Er aß noch eine Kleinigkeit und überlegte dann, wo er anfangen sollte, nach Ramor zu suchen. „In sein altes Versteck wird er ja wohl kaum zurückgegangen sein!“, dachte Kevin. Trotzdem wollte er es versuchen. Er ging nach draußen, wo Ciara auf ihn wartete. Er sprang in den Sattel. „Wohin?“, fragte Ciara. „Ramors altes Versteck!“, sagte Kevin bestimmt. Ciara ging leicht in die Knie und stieß sich vom Boden ab. Dann flog sie nach Süden. Kevin sagte lange kein Wort. Erst als der Wald des Schreckens in Sicht kam fragte Kevin: „Was, wenn er nicht dort ist?“ Ciara zuckte mit den Schultern, sodass Kevin beinahe runter gefallen wäre, hätte ihn der Sattel nicht gehalten. „Was soll das? Ich sitz auch noch hier oben!“ Ciara entschuldigte sich. „Das vergesse ich immer“, meinte sie. Sie ließ sich vom Wind bis an die Ruine des Geheimverstecks tragen. Doch von Ramor war weit und breit keine Spur. „Dann müssen wir wohl wo anders suchen!“, meinte Kevin achselzuckend. Ciara schwang sich in die Luft. „Und wo?“, wollte sie wissen. „Vielleicht können wir ihn gar nicht finden!“, überlegte Kevin. „Vielleicht ist dieser Ort außerhalb unserer Reichweite! Trotzdem werden wir ihn finden! Und wenn wir das ganze Land durcharbeiten müssen!“

 

Ciara hatte sich am Abend nördlich des Walds des Schreckens niedergelassen.

Kevin machte Feuer. Es war beinahe beängstigend, ganz allein mit Ciara zu sein. Immer war Vicy da gewesen. Oder Dreon. Oder Faleon oder Alanis. Er war nie mit ihr allein gewesen, außer als sie zu den Elfen geflogen waren. Daher genoss er es richtig.

„Du, Ciara? Ich habe mich immer gefragt, warum mir mein Vater nie davon erzählt hat“, sagte Kevin. „Wovon?“, fragte Ciara. „Na von Faleon! Und dir, und Juster und von Ramor! Und wie hieß eigentlich sein Drache?“, wollte Kevin wissen. Ciara verdrehte ihre goldenen Augen. „Immer das Gleiche, Väter, Töchter, Elfen, Halbschwestern, also wirklich. Nun, viel kann ich dir nicht über ihn erzählen. Da musst du schon zu Tena gehen. Und wie sein Drache hieß...“ Kevin unterbrach sie. „Tena? Wer ist das?“, hakte er nach. „Ach, so ein vertrottelter Alter, aber wenn du die Informationen aus ihm herausbekommen kannst, werden sie dir sehr nützlich sein. Nun zu deinem Vater. Sein Drache war... Was machst du da?“, wollte Ciara wissen, als Kevin das Feuer mit Erde bedeckte. „Wir werden diesen Tena suchen!“, befahl er. Ciara stand zustimmend auf. „Jaja, das werden wir. Aber es wird nicht so leicht sein, mit seinen Informationen etwas anzufangen. Dann werde ich dir den Namen des Drachen von deinem Vater auch erst später sagen. Dann kannst du mehr damit anfangen!“, meinte sie schnippisch, weil man sie unterbrochen hatte.

Kevin ging auf sie zu. Seine Neugier war geweckt. „Also, ich habe dir eigentlich die ganze Zeit zugehört. Habe ich dir schon einmal gesagt, dass deine Schuppen in der Sonne ganz wunderwunderschön glänzen?“, schleimte er sich bei ihr ein und kraulte sie unter dem Kinn. Ciara stupste ihn an. „Schleimer!“, lachte sie. „Und ich werde ihn dir trotzdem noch nicht sagen!“ Dann schwang Kevin sich auf ihren Rücken und Ciara segelte Richtung Osten davon.

„Wo wohnt dieser Tena denn?“, fragte Kevin sie. „Kennst du die Landzunge, bei der Insel Parlem, nach der auch die Stadt Parlem benannt ist? Die Insel, zwischen Sinderland und dieser großen Landzunge. Die Landzunge ist sehr hügelig und felsig. In einen dieser Felsen hat Tena sein Haus gebaut!“, beschrieb Ciara ihm. Kevin wusste genau, welche Landzuge sie meinte. Als er jünger war, hatte er oft die Landkarten bei den Sindern bestaunt.

„Erzähl mir noch etwas über Tena!“, bat Kevin. „Er kann uns doch auch sicher Tipps geben, wie wir Vicy wieder finden!“, hoffte Kevin. Er hatte sich fest vorgenommen, aus Tena alle wichtigen Informationen über Ramor, seinen Vater und Vicy herauszuquetschen. „Er ist alt und etwas vertrottelt. Er spricht immer in Rätseln!“, sagte Ciara. Kevin stöhnte. „Sonst wäre es ja auch zu einfach gewesen!“ Unter ihnen war schon die Stadt Dalem. Kevin konnte den Arkuht sehen.

Er lehnte sich gegen Ciaras Hals und streichelte die goldenen Schuppen. Die Schuppen waren nun so groß wie die Blütenblätter einer Rose. Der Vergleich gefiel Kevin. „Weißt du eigentlich, dass deine Schuppen schöner sind wie die Blüten von einer Rose?“, fragte er scheinheilig an Ciara gewandt. Ciara lachte wieder. Dann wurde sie plötzlich ganz still. „Woran denkst du?“, fragte Kevin. „Jetzt bin ich wieder das einzige Drachenweibchen!“, stellte Ciara traurig fest. Kevin schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Wenn wir Vicy zurückholen, kommt doch auch Saira mit! Das ist doch so, oder?“, fragte Kevin vorsichtig. Ciara schüttelte den Kopf. Kevin fuhr zusammen. Er hatte das Gefühl, jemand hätte ihn in den Magen geschlagen. „Vielleicht...“ Kevin schluckte. „Vielleicht will Vicy dann gar nicht zurück!“, flüsterte er mit Tränen in den Augen. Wenn er und Ciara tot wären und Vicy würde ihn befreien wollen, würde er Ciara dann allein lassen? Nein, ganz bestimmt nicht! Kevin wusste nicht, was er machen sollte. „Aber vielleicht kannst du sie auch zusammen retten!“, versuchte Ciara ihn zu trösten. „Lass uns Tena fragen!“, schlug sie vor. „Er weiß das bestimmt!“
Die nächsten paar Stunden sagte Kevin kein Wort. Er wollte Vicy nicht mehr zurückholen. Zu groß war die Angst, dass sie es ablehnen würde. Doch er wollte Vicy ebenso wenig allein lassen. Sie war doch seine Freundin! Sie hätte das Selbe für ihn getan. Da war er sich sicher.

Die Landzunge kam unter einer großen Wolke in Sicht. Ciara legte die Flügel an, glitt geschmeidig durch die Wolke und segelte dann über die felsige Landschaft. „Da!“, rief Kevin und deutete auf ein kleines Haus, das in einen Felsen gebaut war. Ciara landete und Kevin stieg ab. Aber ging auf die Tür zu und klopfte an. Als sich drinnen nichts rührte, trat er zögernd ein. „Herr Tena?“, rief er vorsichtig. Der Raum, den er betrat, war voll gestellt mit Bücherregalen, viele Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Boden, ein paar leere Reagenzgläser lagen herum, einige Volle standen auf einem hohen Tisch. In einem Einmachglas lag eine tote Kröte.

Plötzlich sprang von einem Bücherstapel ein alter Mann und landete direkt vor Kevin.

„Was?“, keifte er. Kevin zuckte zurück. Tena hatte lange weiße Haare und einen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Er war klein und lief gebückt, sodass Kevin, der selbst nicht gerade der Größte war, größer war als Tena. „Ich.. Ähm... Also, ich bin gekommen weil...“, stotterte Kevin. In dem Moment brüllte Ciara draußen vor dem Haus und rammte ihren Kopf durch die Holztür. Die Splitter flogen ins Zimmer und als der Staub, den Ciara aufgewirbelt hatte, sich legte, sah man ihren großen Kopf durch die zersplitterte Tür gucken. „Hallo Tena!“, sagte sie höflich. Tena bekam große Augen. „Ciara? Dich hab ich ja das letzte Mal gesehen, als Faleon von den Elfen aus mit dir hier vorbeigekommen ist! Du warst damals nicht einmal Faustgroß!“, lächelte Tena. „Faleon ist tot!“, sagte Ciara kalt. „Wir haben ein ganz anderes Problem. Darf ich reinkommen?“, fragte sie. Tena nickte. „Sehr gut!“ Ciara stellte ihre Vorderpfoten ins Haus und zog dann ihren Bauch nach. Die Tür splitterte noch mehr und Ciara stemmte sich noch mehr ins Haus. Ihre Schultern zertrümmerten die Tür vollkommen und schoben ein paar Steine aus der Mauer. Ciara passte fast ganz durch die Öffnung. Plötzlich stemmte sie sich dagegen, rührte sich aber nicht vom Fleck. Ciara drehte sich um und biss nach der Steinmauer, konnte sie aber nicht erreichen. Dann sah sie Kevin und Tena an, die zurückgewichen waren. „Ich stecke fest!“, jammerte sie.

Kevin musste lachen. Es war aber auch zu komisch. Tena und Kevin halfen Ciara, die es schließlich doch schaffte weiter vor zu kommen. Als Ciara mit ihren Hinterbeinen ins Haus trat und ihr Schwanz durchs Zimmer fegte, rettete Tena mit Mühe noch ein Reagenzglas vom Tisch. Ciaras Schwanz, der unkontrolliert durch den engen Raum schlug, warf einen Stapel Bücher um, der Kevin unter sich begrub und zertrümmerte einen Stuhl, das einzige Möbelstück, das außer dem Tisch im ganzen Raum zu finden war. Dann legte sie sich hin und putzte ihre Krallen. „Entschuldigung!“, sagte sie brav, als Kevin sich unter dem Chaos herausgearbeitet hatte. Tena stellte das Reagenzglas auf den Boden. „Also, warum seit ihr hier?“, fragte er. Kevin erzählte alles, was in der letzten Zeit passiert war.

Als er fertig war sagte Tena: „Ja, man bekommt nicht viel mit, wenn man so abseits wohnt!“ Dann fragte Kevin: „Kannst du mir mal ein paar Fragen beantworten?“ Als Tena nickte fragte er: „Wie kann ich Vicy zurückholen?“ Tena lächelte. Dann dachte er kurz nach. „Wenn du sie liebst, kannst du sie zurückgewinnen, du kannst Ramor jedoch nicht entrinnen. Du musst ihn nicht suchen, du findest ihn nicht. Doch wenn du ihn findest, suchst du ihn nicht!“, trug er ihm in einem monotonen Singsang vor. Kevin sah ihn an. „Das versteh ich nicht.“ „Wenn man Ramor nicht fürchtete, wär’s nicht weiter schlimm. Doch weil man ihn fürchtet, ist er so schlimm!“, erklärte Tena wieder nach kurzem Nachdenken. „Hä?“, machte Kevin. Tena schüttelte den Kopf. „Du bist genauso blind wie dein Vater!“, krächzte er. Kevin fuhr auf. „Was weißt du über meinen Vater?!“, wollte er aufgeregt wissen. Doch Tena überging seine Frage. „Junge, du musst sterben, um Vicy zu retten!“, rief Tena. „Euch kann man ja nicht alleine losgehen lassen! Los, hopp, hopp! Ich komme mit!“ Ciara ging rückwärts zur Tür weil sie keinen Platz hatte, sich zu drehen und warf dabei noch eine paar Bücher und Reagenzgläser um, unter anderem jenes, das Tena zuvor noch vom Tisch gerettet hatte. Es zersprang auf dem Boden und löste eine kleine Explosion aus.

Als sie draußen angekommen waren, stieg Kevin in den Sattel und Tena setzte sich hinter ihn. „Ach ja! Nur damit du’s weißt: Der Name des Drachen deines Vaters, war Shil’dar!“

 

 

 

Zweites Kapitel: Shil’dar – Der erste Drache

 

Kevin drehte sing nach Tena um. „Bist du sicher?“, wollte er wissen. Tena nickte. Kevin wusste, dass er den Namen schon einmal gelesen hatte. „Shil’dar war der Urgroßvater aller Drachen!“, erinnerte Kevin sich. „Aber... das ist unmöglich!“ Tena schüttelte den Kopf. „Mein Vater müsste über hundert Jahre alt sein!“, protestierte Kevin. Tena nickte. „Das ist er auch! Drachenreiter können nicht altern. Sie sind keine normalen Menschen!“ Kevin sah ihn immer noch ungläubig an. Tena verdrehte die Augen. „In dem Moment, in dem du Ciara das erste Mal berührt hast, warst du ihr Reiter und damit kein Sterblicher mehr!“ Kevin starrte Tena an. „Dann war mein Vater also... Der erste Drachenreiter!“ Tena nickte ungeduldig. „Und jetzt, wo du Ciaras Reiter bist, die nun das einzige Weibchen ist und dein Vater der Reiter von Shil’dar war, bist du sein Erbe.

Nicht nur die Hoffnung, dass du das Land befreist sondern auch dein Schicksal und das deines Vaters lastet auf dir! Du bist kein normaler Reiter! Sieh dich doch mal an!“ Tena redete sich richtig in Rage. „Sieh dir nur mal deine Augen an! Du bist der einzige, lebende Drachenreiter, der das jemals geschafft hat!“ Tena war aufgesprungen und lief auf Ciaras Rücken auf und ab. „Kapierst du das? Ciara ist der einzig wirklich lebende Drache! Phönix ist ein Geist und was Shiran anbetrifft: Shiran ist kein richtiger Drache. Alanis hat ihn mit einem Zauber belegt, damit er schneller wächst und besser Feuer speien kann. Alle anderen Drachen haben noch keinen Reiter. Alles lastet auf dir und Ciara! Du bist dafür verantwortlich, dass die Drachen weiterleben! Genauso wärst du für ihren Untergang verantwortlich!“ Tena hüpfte auf Ciaras Rücken auf und ab. „Soll ich ihn runter werfen?“, fragte Ciara. „Ach, lass ihn nur“, meinte Kevin. Tena gackerte schon weiter: „Ihr braucht einen Lehrer! Ja, genau das ist es! Ihr braucht einen guten Lehrer! ICH könnte euer Lehrer sein! Ich kann genau so gut zaubern, wie jeder Drachenreiter!“ Tena schien von seinem Vorschlag begeistert. „Also. Womit fangen wir an?“, fragte er. „Genau! Ich hab’s! Ich hab’s!“ Dann beugte er sich verschwörerisch hervor. „Wir befreien Vicy!“

 

Kevin hatte sich an Ciaras Schuppen gekuschelt. Er hatte ja schon immer gewusst, dass er etwas Besonderes war, nicht nur weil er den einzig weiblichen Drachen besaß, Saira ausgenommen, auch wegen des Amuletts. Doch dass sein Vater den ersten Drachen besessen hatte, und damit ein neues Zeitalter begonnen hatte, hätte er sich nie träumen lassen. Er wusste nicht, ob es gut oder schlecht war. Er fand es beängstigend und aufregend zugleich, etwas Besonderes zu sein.

Und er wollte unbedingt mehr erfahren. „Erzähl mir alles über Shil’dar! Und über die Drachen! Ist Ciara schon ausgewachsen? Woher kommen die Drachen? Ich will alles wissen!“ Kevin sah Tena in die Augen. „Aber bitte sprich nicht wieder in Rätseln!“, bat der Junge. „Ich muss es wissen!“ Kevin merkte erst jetzt, dass er kaum etwas wusste. Tena setzte sich gemütlich hin und wartete. „Ich kann dir nicht alles sagen, selbst wenn ich alles wissen würde.

 

Die Geschichte beginnt mit einem Trupp Elfen, ein halbes Dutzend. Mehr nicht. Sie hatten dieses Land entdeckt. Sie siedelten sich im Wald an. Bald darauf, vielleicht ein Jahrtausend später, kamen die ersten Zwerge. Sie lebten sich hier ein und vermehrten sich. Viele Hunderttausend Jahre später kamen die Menschen. Vorher hatten die Elfen und Zwerge in Frieden gelebt. Doch mit den Menschen kamen die Gnome, Kobolde und Trolle. Die bekämpften sich erst gegenseitig, dann begannen sie die Dämonen freizulassen, die zuvor tief unter der Erde gefangen waren. Dann kam Ramor.

Die Zwerge und Elfen versuchten verzweifelt sich zu wehren, doch gegen die Übermacht hatten sie keine Chance. In einer einzigen Schlacht tötete Ramor die Zwerge und Elfen. Die wenigen, die fliehen konnten, hielten sich versteckt und hofften auf ein Wunder. Ramor hatte inzwischen einen anderen Plan gefasst. Er wollte seine Feinde nicht mehr töten, sondern sie zu seinen Dienern und Gefangenen machen. Er hörte von dem Amulett.

Niemand weiß, woher es kommt. Ramor stahl es, doch ohne, dass es von einem Menschen aufgeladen wurde, war es nutzlos. Alanis und Faleon nutzten diese Schwäche Ramors aus und lieferten ihm die Elfen und Sinder aus. Ramor tötete Königin Farea. Die Zwerge versuchten es zu verhindern, doch sie waren zu spät. Doch sie konnten das Amulett mit dem Zauber belegen, dass nur die wenigen Bestimmten es sehen konnten. Ramor bekam es heraus, doch er konnte den Zauber nicht vernichten. Dann schickte er es durch einen Zauber nach Narel, denn dort hatten sich die Menschen das erste Mal angesiedelt.

Doch der Richtige kam und kam nicht. Ramor wartete geduldig. Tausend Jahre, Zweitausend, Dreitausend, doch es tat sich nichts. Ramor wurde ungeduldig und milderte den Zauber, so gut er konnte. Dann fand dein Vater das Amulett. Ramor hatte bekommen, was er wollte. Der Plan war aufgegangen. Faleon sollte den Jungen ausbilden. Das tat er auch und erzählte ihm die Geschichten, die er sich vorher gründlich zu Recht gelegt hatte. Immer wieder prüfte er heimlich das Amulett. Doch es lud sich zu langsam auf. Viel zu langsam. Ramor wollte nicht noch länger warten, er wollte sich das Amulett zurückholen. Daher machte er deinem Vater das Angebot, das du ja schon kennst. Dein Vater sollte Ramor das Amulett geben und würde verschont werden. Der Junge gab Ramor die Kette. Ramor hielt ihn viele, viele Jahre gefangen. Doch dann kam Shil’dar. Keiner wusste, was den Drachen dazu bewegte, deinen Vater aus Ramors Fängen zu befreien. Jedenfalls konnte dein Vater mit Shil’dar fliehen.

Die Elfen, Sinder und Zwerge hatten schon alle Hoffnungen aufgegeben. Doch dann bist du gekommen!“ Tena zeigte auf Kevin. „Doch du warst nur ein kleiner, dummer Junge. Faleon und Alanis würden ein leichtes Spiel mit dir haben. Inzwischen hatte auch Faleon einen Drachen. Ein paar weitere Babys wurden den Dracheneltern gestohlen um dann einen Reiter zu bekommen. Den Rest kennst du ja.“ Kevin sah Tena an. Soeben war ihm ein Gedanke gekommen. „Wenn mein Vater noch lebt, was er ja tut… Dann lebt auch noch Shil’dar!“, schloss Kevin blitzschnell. Doch Tena schüttelte den Kopf. „Er lebt. Und er lebt nicht. Keiner weiß es so genau. Viele glauben, dass irgendjemand das Band, das deinen Vater und Shil’dar verband, vorzeitig durch Zauberei getrennt hatte. Dein Vater kann Shil’dar spüren, doch Shil’dar selbst lebt nicht mehr“, sagte Tena. „Ist das denn möglich?“, wollte Kevin wissen. Tena nickte. „Also könnte man wenn der Drache oder der Reiter stirbt, die beiden kurz davor noch voneinander trennen!“ Tena nickte nachdenklich. „Aber das macht kaum jemand freiwillig. Danach ist alles anders. Denn die eine Hälfte deiner Seele ist ja trotzdem gestorben.“ Kevin dachte lange nach. Alle seine Fragen waren beantwortet. Erst da merkte Kevin, dass Ciara auf das Abor-Gebirge zusteuerte.

„Was wollen wir im Abor-Gebirge?“, fragte er. Tena lachte. „Du weißt doch noch, dass du sterben musst, um Vicy wiederzubekommen. Erstens ist es dort ganz einfach zu sterben, zweitens hab ich so die Vermutung, dass wir dort etwas Wichtiges finden werden!“ Dabei machte er eine geheimnisvolle Geste. Kevin zuckte die Schultern. Ihm war es egal, wo sie anfingen, Hauptsache sie fanden Vicy.

Er schlang die Hände um Ciaras dreckigen Hals. Ciara schnurrte. Kevin strich über die großen Schuppen. Inzwischen hatte es angefangen leicht zu regnen.

Der Regen lief über Ciaras Schuppen. Er wischte den Dreck und den Staub, den Tenas Haus hinterlassen hatte, von Ciaras Schuppen.

Der Sattel war auch dreckig geworden, doch trotz den Holzsplittern hatte er keinerlei Schaden genommen. Kevin staunte über die Zauberkraft der Elfen.

Kevin beobachtete aufmerksam die Landschaft unter ihnen. Sie waren zwar erst über dem Zwergenwald und kamen wegen dem großen Gewicht von Tena und Kevin auch nicht sonderlich schnell voran, doch Kevin war nie weiter nördlich als in Narel gewesen und wollte keinesfalls etwas verpassen. Außerdem hatte er noch nie ein Gebirge aus der Nähe gesehen.

Ciara segelte ruhig über dem Wald. Der Wind peitschte Kevin die Regentropfen ins Gesicht. Bald war er klitschnass. Seine Kleidung klebte ihm an den Armen und Beinen.

„Hast du irgendeinen Zauber parat, der einen gegen Regen schützt?“, fragte Tena. Kevin schüttelte den Kopf. So etwas hatte er noch nicht gelernt und außerdem gefiel ihm der Regen.

Als es aber zu windig zum fliegen wurde musste Ciara im Zwergenwald landen.

Sie riss einige Zweige mit sich. „Hoppla!“, rief sie und legte die Flügel an.

Kevin rutschte ihren Rücken hinunter. Er war ziemlich müde. Tena schien allerdings sehr munter.

„Also, am besten machst du erst mal Feuer!“, forderte er Kevin auf. Kevin sammelte in der näheren Umgebung Holz. Dann legte er es alles auf einen Haufen. Er trat ein paar Schritte zurück und Ciara holte Luft um Feuer zu speien. „Halt, halt, halt, so geht das ja nicht!“, fuchtelte Tena ihnen dazwischen.

Ciara hielt die Luft an.

„Warum denn nicht?“, fragte Kevin.

„Nutze das Amulett! Und deinen Kopf!“ Kevin nahm das Amulett in die Hand. Bis jetzt hatte es ihm immer nur die Zaubersprüche gezeigt, wenn es selbst in Gefahr war. „Wie soll ich denn dann ein Feuer machen?“, fragte Kevin sich. Gel’jar. Dieses Wort breitete sich in seinem Kopf aus. Es füllte bald seinen ganzen Kopf aus. „Gel’jar.“ Kevin merkte kaum, dass er es gesagt hatte. „Pass auf! Denk nach! Du machst das falsch, du machst das falsch!“, quietschte Tena. Kevin zuckte zusammen. Tena verscheuchte einen faustgroßen Feuerball, der um ihn herum flog. „Konzentrier dich!“, quiekte Tena und fuchtelte durch die Luft, um auch noch die letzten Funken zu verjagen. „Konzentrier dich auf das Holz!“ Kevin wiederholte den Zauberspruch. Mit einem leisen knistern gingen die trockenen Zweige in Flammen auf.

Kevin lächelte. Doch gleich darauf schämte er sich. Vicy war tot und er war fröhlich.

Ciara legte sich auf das Laub rund um die Feuerstelle und legte ihren Kopf auf ihre Vorderpfoten. Kevin setzte sich neben sie. Dadurch, dass Ciara sehr lange Beine hatte, waren sie gleichgroß wenn Ciara lag und Kevin stand. Kevin legte seine Hand auf Ciaras Hals. „Warum ich?“ Ciara schreckte hoch. Das traf sie völlig unvorbereitet. Kevin stand auf und lief unruhig auf und ab. „Warum hast du mich ausgewählt?“ Kevin sah Ciara an. „Wenn du das nicht gemacht hättest, wäre Vicy noch am Leben!“ Im selben Moment bereute Kevin es. „Willst du mir etwa die Schuld an Vicys Tod geben?!“, knurrte Ciara empört. Kevin sah sie an. Genau genommen hatte sie gar nicht Unrecht. Es war ihre Schuld. Wenn sie Kevin nicht gerettet hätte wäre Vicy noch am Leben. „Was denke ich da?“, fragte Kevin sich plötzlich.

Natürlich war es nicht Ciaras Schuld! „Denkst du, ich bin Schuld?“, fauchte Ciara wieder und stampfte mit dem Fuß auf. Kevin wurde wütend. „Ach, bin ich daran Schuld?!“, schrie er sie an. „Das hab ich nie gesagt!“

Kevin funkelte sie böse an. Ciara war genauso wütend. Sie knurrte ununterbrochen. Kevin traten bei dem Gedanken an Vicy die Tränen in die Augen. Alles war Ciaras Schuld. Kevin wusste, dass es nicht stimmte, aber irgendjemand musste Schuld haben. Und da Alanis nicht da war, musste Ciara Schuld haben. Auf irgendjemanden musste er ja böse sein. Und wenn Ciara ihn nicht weggerissen hätte, hätte er Vicy retten können. Er hätte auch sich mit einem Zauber retten können. Es war Ciaras Schuld. Nur ihretwegen war seine beste Freundin tot. „Ich hasse sie!“, dachte Kevin. Der Knoten in Kevins Magen begann sich leicht zu lösen. Der Gedanke wollte raus. „Ich hasse sie! Ich hasse sie!“, dachte Kevin. „Ich hasse dich!“, schrie er. Damit drehte er sich um und rannte davon.

Er wusste, dass er alles falsch gemacht hatte.

Vielleicht war er einfach nicht der Richtige. Jungen gab es wie Sand am Meer. Warum sollte dann ER der Richtige sein? Plötzlich hörte er Ciaras Stimme im Hinterkopf, genauso wie damals bei den Elfen. „Weil du es bist, den ich ausgesucht habe! Du bist kein gewöhnlicher Junge! DU bist ein Drachenreiter! Und zwar nicht nur irgendeiner. Du bist der Drachenreiter, der uns alle retten wird!“ „Was ist bloß los mit mir?“, murmelte Kevin leise. „Was mache ich eigentlich?“ Kevin blieb stehen. Er drehte um und trottete in Richtung Lagerplatz zurück. „Ich kann das nicht. Ich kann das nicht“, murmelte Kevin vor sich hin. „Doch, das kannst du!“, rief Ciara, die plötzlich von oben herabstieß und ihn mit der Pfote packte. Kevin hangelte sich auf Ciaras Rücken. Er umarmte wieder Ciaras Hals. „Es tut mir Leid“, entschuldigte er sich. „Ich weiß“, sagte Ciara nur.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Kevin wieder fragte: „Aber warum ich? Bin ich wirklich der Richtige? Warum hast du nicht jemand anderen genommen?“ „Weil ich hundert Jahre auf den Richtigen gewartet habe! Ein Drache würde Jahrtausende warten, wenn er es müsste“, erklärte Ciara. „Es kann nur einen geben. Und der bist du!“

 

 

Drittes Kapitel: Leya

 

Kevin wachte auf. Er konnte sich nur noch knapp an alles erinnern, was am Abend zuvor passiert war: Ciara war im Lager gelandet, aber erst nach einem langen Rundflug. Dann hatte Tena Kevin noch ein paar Schwerttricks gezeigt.

Kevin und Tena waren noch lange am Feuer gesessen und Tena hatte viel erzählt. Er war wirklich seltsam, doch Kevin mochte ihn. Dann war Kevin eingeschlafen.

Es dauerte eine Zeit, bis Kevin das alles wieder einfiel. Er stand auf und ging auf Ciara zu, die an einem Knochen nagte. „Wo ist Tena?“, fragte Kevin. „Weg!“, sagte Ciara und zerbiss den Knochen. „Er ist jagen gegangen, glaube ich.“ Sie stand auf und pustete ins Feuer. Als sie merkte, dass sie die Glut so nicht mehr entflammen konnte, holte sie Luft und hauchte einen Funkenregen auf das Holz. Das trockene Gehölz ging augenblicklich in Flammen auf. Dann kam Ciara zurückgeschlendert. Kevin setzte sich neben das Feuer ins Laub. Er nahm einen Stock und spießte ein Stück Rehrücken darauf. Dann steckte er den Stock gedankenverloren in die Erde. Dann kramte er in seiner Tasche herum. Hatte er hier nicht irgendwo noch Kräuter drin? Er fand nichts. Er sah auf, gerade noch rechtzeitig um die Hand zu sehen, die nach seinem Spieß griff. Kevin fuhr herum und sah ein blondes Mädchen in seinem Alter. Das Mädchen sah ihn an und rief: „Felnja!“ Kevin hatte das Gefühl, jemand hätte ihm Salz ins Auge geworfen. Er schrie auf und wischte es sich aus den Augen. Es dauerte nicht lange, doch das Mädchen rannte schon davon. Ciara war aufgesprungen. Das Mädchen hatte sie nicht gesehen. Kevin rannte so schnell er konnte los. Das Mädchen hatte eine unübersehbare Spur hinterlassen. Ciara flog über ihm. „Was war das?!“, fragte sie „Magie!“, keuchte Kevin von unten. „Ob sie eine Elfe ist?“, fragte Kevin atemlos. „Sie sah nicht so aus!“, antwortete Ciara aus der Luft. „Aber vielleicht eine Halbelfe?“ „Vicy ist so viel ich weiß die einzige Halbelfe.“ Kevin holte schon langsam auf. Ein wahnwitziger Gedanke erfasst ihn. Wenn das Mädchen keine Halbelfe war, die Zauberei bei den Elfen erlernt hatte, aber auch keine reinrassige Elfe, dann war sie… ein Drachenreiter!

Kevin rannte so schnell er konnte. Plötzlich kam er auf eine Lichtung. Kaum war er aus dem Gebüsch gestürmt versperrte etwas Weißes sein Blickfeld. Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Brüllen. Vor Kevin stand ein junger, weißer Drache und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ciara stieß von oben herunter und warf sich auf den Drachen. Das Mädchen starrte Kevin an. „Du… Du bist ein… ein Drachenreiter!“, stotterte es. Kevin zeigte mit dem Kopf auf den weißen Drachen. „Du auch!“ Das Mädchen hielt Kevin die Hand hin: „Ich bin Leya.“ Kevin nahm sie zögerlich an. „Kevin.“ Dann zeigte er auf den Drachen. „Wie heißt er? Der ist doch auch von den Sindern, oder?“ Leya nickte. „Das ist Jarda. Er war ganz neu, als ich ihn bekommen habe.“ Kevin sah sie fragend an. „Warum seid ihr hier?“, wollte er dann wissen. Leya zuckte die Schultern. „Bin mit Jarda weggelaufen. Ich wollte nicht, dass alle wissen, dass ich ein Drachenreiter bin.“ Kevin dachte nach. „Komm doch mit uns!“ Ein dritter Reiter würde sicher hilfreich sein. Doch Leya schüttelte den Kopf. „Sei mir nicht böse, aber ich bin eher… Ein Einzelgänger.“ Dann schwang sie sich auf Jardas Rücken und sie flogen davon.

„Was war das den? Einzelgänger. So ein Blödsinn! Ihr Menschen seid doch Rudeltiere!“, schnaubte Ciara. Kevin zog sich in den Sattel. „Ich weiß auch nicht, was sie damit meint!“ Ciara breitete ihre großen Flügel aus und stieg in die Luft. Sie flog zurück ins Lager und Kevin sprang ab.

Tena wartete schon am Feuer auf sie. „Da bist du ja!“, begrüßte er Kevin, „Wir müssen nämlich mit dem Training fortfahren.“ Er nahm eine Schüssel Wasser und stellte sie neben das Feuer. „Jetzt werde ich dir zeigen, wie du Feuer und Wasser verbinden kannst um gewaltige Kräfte zu entwickeln, oder dir generell die Elemente zu Nutze zu machen. Sieh her!“ Tena stand auf und machte eine Geste Richtung Wasserschüssel, als wollte er jemandem eine Ohrfeige verpassen. „Fjelter egram nestd!“, rief er. Kevin wusste, was es bedeutete: Wasser, lass dich von mir kontrollieren! Eine Wassersäule stieg aus der Schüssel empor und schlängelte sich in die Luft. Während Tena angestrengt die Energie aufrechterhielt, um die Säule zu erhalten, machte er die Selbe Geste in Richtung Feuer: „Gel’jar egram nestd!“ Feuer, lass dich von mir kontrollieren. Das Feuer zischte und flackerte, dann formten sich Feuerbälle, die sich in der Luft verteilten. Tena führte seine Hände langsam zusammen und die Feuerbälle und das Wasser vereinten sich zischend. Es sah aus, als würde das Feuer im Wasser brennen. Langsam lösten sich die Feuerbälle auf und kleine Flämmchen flossen durch das Wasser. Tena ließ die Energie versickern und die Wassersäule platschte zurück ins Wasser, die Flammen erloschen. „Jetzt du!“, forderte Tena Kevin auf. Kevin richtete seine Konzentration auf die Wasserschüssel. Dann hob er die Wassersäule aus dem Wasser. „Gut so. Jetzt das Feuer!“, forderte Tena ihn auf. Kevin ließ die Feuerbälle aus den Flammen gleiten und sie mit dem Wasser verschmelzen. „Gut machst du das. Jetzt halte die Energie aufrecht!“ Kevin sah Tena erwartungsvoll an. Dieser hob einen Stock auf. „Pass auf!“ Dann warf er den Stock in Kevins Richtung. Kevin ließ die Energie verschwinden um den Stock abzuwehren. Das Wasser platschte auf den Boden und versickerte im Erdreich. Kevin wehrte den Stock ab und drehte sich um. Dann blickte er wieder in Tenas Richtung.

Tena musterte ihn. „Wie würdest du deine Leistung einschätzen?“, fragte er dann. Kevin zuckte die Schultern. „Ich glaube, ich hätte den Zauber erhalten und den Stock abwehren sollen.“ Tena nickte. „Dieser Zauber, Wasser und Feuer zu vereinen, wird dir im Kampf nicht helfen, aber er fördert deine Konzentration. Jetzt wiederholen wir das Ganze!“ Kevin konzentrierte sich, während Tena den Stock warf. Kevin streckte die Hand nach vorne, um ihn abzuwehren, doch kaum hatte er den Zauber gesprochen, der ihn vor dem Stock schützte, brach mit einem lauten Plätschern die Wassersäule zusammen. Kevin und Tena übten bis es Mittagessen gab.

Dann hatte Kevin den Dreh raus. Nach dem Essen füllte Tena die Schale erneut mit Wasser. „Jetzt möchte ich, dass du noch einmal das Selbe machst. Erst bringst du das Wasser unter Kontrolle, doch anstatt es mit dem Feuer zu mischen, wirst du es in verschiedene Formen bringen.“

Kevin hob die Wassersäule aus der Schüssel und sah Tena an. „Was jetzt?“ „Dreh deine Hand!“ Kevin begann seine Hand zu drehen. Die Säule drehte sich auch und wurde zu einer Spirale.

Kevin lächelte. „Sehr gut. Du hast die Elemente wirklich unter Kontrolle!“, lobte Tena. „Aber was machst du, wenn du kein Wasser in der Nähe hast?“, fragte Tena Kevin. Kevin hatte keine Ahnung. „Du musst das Wasser selber entstehen lassen. Bei Feuer ist das einfacher. Du erhitzt die Energie einfach so lange, bis sie sich entzündet. Bei Wasser ist es schwieriger. Du kannst auf Ciaras Rücken dem Boden kein Wasser entziehen. Du musst der Luft um dich herum die Feuchtigkeit entziehen. Also, versuche es!“ Kevin beschwor erst die Kraft herauf und dachte dann nach, wie er den Zauber gestalten konnte, damit das Wasser nicht aus dem Boden, sondern aus der Luft entzogen wurde. Im Geiste stellte er sich eine Wolke vor und rief: „Fjelter!“ Das Wasser schoss aus Kevins Handfläche und nicht aus dem Boden.

„Gut!“, lobte Tena Kevin wieder.

Dann übten sie bis in den Abend hinein alle Zaubersprüche, die Kevin schon gelernt hatte.

Erst als es dämmrig wurde, hörten sie auf. Dann sprach Kevin Tena auf Leya und Jarda an. „Ja, angeblich ist bei den Sindern ein Drache verschwunden“, sagte Tena nur. „Und?“ Kevin sah ihn fragend an. „Was, und?“, fragte Tena zurück.

„Ach, nichts.“ Kevin wusste selbst nicht, was er sich erhofft hatte. Kevin sah ins Feuer.

Er wurde plötzlich schrecklich müde. Seine Augen fielen langsam zu.

 

Alanis stand vor ihm. Kevin wollte auf sie zu rennen, doch er konnte sich nicht vom Fleck bewegen. „Alanis! Komm her! KOMM HER! Du Feigling! Komm her, damit ich dir dein falsches Herz aus der Brust reißen kann!“ Alanis lachte bestialisch auf. Ihre roten Augen blitzten. „Du solltest dich beeilen! Du hast nicht ewig Zeit!“ „Was meinst du damit?!“ Kevin wollte wieder auf die Elfe zu laufen. Der Hass in seiner Brust schwoll zu einem riesigen Kloß an. Er hatte nur noch einen Gedanken: Er musste Alanis töten, Vicy rächen.

 

In dem Moment wachte Kevin auf. „Was war das?“, fuhr er hoch. Kevins Kopf pochte. Dann hatte er das Gefühl, als würde jemand in seinen Kopf eindringen.

Ein Bild schob sich in seinen Kopf. Es verdrängte alles andere, bis Kevin das Bild zuließ. Er konnte Vicy sehen. Sie rief ihm etwas zu. Kevin wollte sie rufen, sie fragen, wie er sie retten konnte, als Vicy plötzlich sagte: „Kevin, du musst mich befreien! Beeile dich! Komm, hole mich!“

 

 

Vicy wusste genau, was Ramor tat. Sie hatte es oft genug bei den Elfen gesehen: Ramor war in Kevins Geist eingedrungen und ließ jetzt Ramors Worte aus Vicys Mund kommen. Für Kevin sah es nun so aus, als würde sie sprechen. Vicy musste etwas unternehmen. Sie verdrängte Ramor aus ihrem Kopf. Sie musste stark sein, langsam merkte sie, wie Ramor sich mehr und mehr auf sie konzentrieren musste. Als sie merkte, dass Ramors Magie am schwächsten war rief sie: „Nein, Kevin komm nicht! Es ist Ramor! Es ist…“

 

 

„… alles Teil von Ramors Plan!“ Kevins Kopf schien zu zerbersten. Das Bild verblasste, Vicy war verschwunden. Er wusste, dass Victoria ihn warnen wollte, doch nun durften sie erst recht keine Zeit verlieren. Kevin sprang auf und packte Ciaras Sattel. Ciara schreckte aus dem Schlaf, als Kevin ihr das schwere Stück Leder auf den Rücken warf. Kevin stieg auf.

Tena kam angerannt. „Wolltet ihr etwa ohne mich los?“, fragte er empört. Kevin schüttelte energisch den Kopf. Tena wollte gerade aufspringen, als eine gewaltigen Stichflamme einen großen Teil der Umgebung in Brand setzte. Dann schoss ein himmelblauer Drache durch das gebrannte Loch im Blätterdach. Auf seinem Rücken saß der Elf, den Kevin schon oft gesehen hatte. Dreon und Shiran waren gekommen um sie aufzuhalten. Anscheinend waren Alanis und Ramor nicht ganz der Selben Meinung, was Kevin und das Amulett anbetraf. Kevin hatte das Gefühl gehabt, als wollte Ramor versuchen, das Amulett selbst zu bekommen, indem er ihn zu sich geschickt hatte und Alanis wollte das Amulett für sich bekommen, indem sie Kevin diesen Traum geschickt hatte. Tena sprang aus dem Sattel.

Shiran landete auf dem trockenen Boden und funkelte Kevin und Ciara zornig an. Kevin stellte die Beine in die Steigbügel und zog sein Schwert.

„Was wollt ihr hier?“, fragte er. Dreon lachte. „Das weißt du genau!“, sagte er und zeigte auf das Amulett. Dann sprang Shiran ein Stück nach vorne und biss nach Ciaras Hals. Ciara rettete sich, indem sie in die Luft sprang und kräftig mit ihren großen Schwingen schlug. Shiran glotzte von unten zu ihr hoch und Kevin merkte, was Tena gemeint hatte: Shiran war groß und stark wie ein ausgewachsener Drache, sogar noch ein ganzes Stück größer als Ciara, denn sie würde ja auch noch wachsen, so wie Kevin, doch während Ciara so intelligent war, wie sie es in ihrem Alter seien sollte, hatte Shiran noch den Verstand eines Welpen.

Mehr war er auch nicht.

Shiran flog etwas unbeholfen durch das Loch im Blätterdach und biss wieder nach Ciara. Ciara wich aus und wollte Shiran ihre Hörner in den Bauch rammen. Shiran wich seinerseits aus und zischte wütend.

Dann schossen die beiden Drachen aufeinander zu und verbissen sich ineinander. Kevin konnte erkennen, das Ciara Shiran an der Schulter gepackt hatte und ihre Beine um ihn geschlungen hatte, um ihn bewegungsunfähig zu machen. Shiran hatte sich mit der Hinterpfote in Ciaras Flügel gekrallt und versuchte sie auf den Boden zu zwingen. Eine goldene Pfote schlug nach Shirans Flügel und Shiran schrie auf und wich zurück. Kevin heilte schnell Ciaras Flügel.

Doch dann packte Shiran schon wieder Ciaras Flügel. Ciara biss zweimal in seine Schulter, Shiran rutschte an Ciaras Flügel ab und hinterließ einen blutigen Schnitt in ihrer Schulter.

Ciara stieß Shiran weg und Kevin heilte Ciaras Schulter. Doch Shiran war sehr schnell wieder da und biss Ciara in den Hals. Ciara fauchte laut und versuchte sich aus den Zähnen des größeren Drachen zu befreien, sie kratzte und versuchte ihn wieder von sich wegzustoßen, doch sie hatte keine Chance.

In dem Moment schoss ein weißer Pfeil an ihnen vorbei und verbiss sich in Shirans Hals. Shiran ließ Ciara los und heulte auf. Der fremde Drache schleuderte ihn herum und ließ dann den toten Shiran auf den Boden fallen. Kevin sah sich um und erblickte Jarda und Leya. „Danke!“, keuchte er. Leya sah an ihm vorbei zu Ciaras Hals. „Ich würde sie heilen, sonst könnte es dir passieren, dass sie abstürzt!“, sagte Leya. Kevin legte die Hand auf Ciaras Hals und murmelte den Zauberspruch.

„Kommt ihr jetzt doch mit?“, fragte Ciara dann Jarda. Jarda schüttelte den Kopf. Dann verständigten die Drachen sich eine Zeit lang untereinander. Kevin versuchte Leya in ein Gespräch zu verwickeln. Doch alle Anläufe scheiterten.

Leya gab nur einsilbige Antworten. Kevin konnte nicht sagen, dass er Vicy für Leya verlassen würde, aber er konnte auch nicht behaupten, dass sie mit ihren langen blonden Haaren und dem makellosen Gesicht, der schlanken Figur und den hellgrünen Augen hässlich war. Außerdem gab Leya ihm ein Gefühl von Sicherheit. Das Gefühl, nicht mehr der einzige Drachenreiter zu sein, nicht allein zu sein, und, das musste er zugeben, er mochte sie wirklich.

Noch einmal versuchte Kevin sie umzustimmen. „Komm doch mit uns!“ Doch Leya schüttelte den Kopf.

„Nein!“ „Warum denn nicht?“ Kevin musste sie umstimmen. „Ich sehne mich nicht nach Ruhm im Kampf, es geht mir um Jarda, meinen Drachen! Er ist mir wichtig, nichts anderes! Wann warst du mit deinem Drachen das letzte Mal richtig eins?!“, wollte sie dann in ihrem barschen Tonfall wissen. Kevin stutzte. Wann war das gewesen? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Doch! Das war beim Ful’caestas ven. Das war vor über sechs Tagen gewesen. Eine lange Zeitspanne, wenn es eigentlich die ganze Zeit hätte seien sollen. „Siehst du?“ Leya sah ihn triumphierend an. Dann drehte Jarda ab und flog Richtung Westen davon. „Was sollte das? Sollte das eine Beleidigung sein?!“, knurrte Ciara wütend. „Nein, sie hat Recht.“ Kevin sah Ciara an, die verwundert zurückschaute. „In der letzten Zeit waren wir kaum allein, oder hatten Zeit für uns.“ Ciara begann wohlig zu schnurren. „Das kann man ja ändern!“ Sie packte Kevin am Hemd und warf ihn auf ihren Rücken. „Los geht’s!“ Kevin zog sich an dem Lederriemen auf Ciaras Sattel, die schon mit voller Wucht in den Himmel gestiegen war. Ciara drehte nach Osten ab und ließ sich im Sturzflug nach unten fallen. Kevin lachte laut. „Los, Ciara! Schneller!!!“ Ciara legte sich in die Kurve. Kevin merkte, wie seine Augen anfingen zu kribbeln. Wieder veränderte sich sein Blickfeld und er konnte alles wie Ciara wahrnehmen. Er genoss das Leben unglaublich. „Ciara, ich hab dich lieb!“, flüsterte er. So fühlte es sich an, wenn man einen Freund fürs Leben gefunden hatte.

Ein Freund, der ein Teil von sich selbst verkörperte. Kevin schlang die Arme um Ciaras Hals. Am liebsten hätte er sie nie wieder losgelassen. „Ach, Ciara“, flüsterte er.

„Mein Kleiner“, flüsterte Ciara zärtlich.

Kevin war immer noch sauer auf Leya. Wie konnte sie behaupten, Ciara wäre ihm egal? „Du bist wütend, mein Kleiner. Aber warum? Ich verstehe euch Menschen nicht. Du hast selbst gesagt, dass Leyas Behauptungen nicht stimmen. Warum regst du dich dann auf?“ Kevin dachte nach. Ja, warum? Vielleicht, weil er Leya doch mehr mochte, als er sich eingestehen wollte? Nein, niemals, er war in Vicy verliebt, Vicy war seine Prinzessin, Leya war vollkommen unwichtig.

Ciara landete sachte im Wald. „Ich verstehe euch Menschen einfach nicht!“, wiederholte sie noch einmal.

 

 

 

 

 

Viertes Kapitel: Alte Freunde

 

Tena wartete schon auf Kevin. „Du kannst deinen Sattel gleich anbehalten, Ciara, wir müssen sowieso sofort weiter!“, erklärte er und sprang ohne abzuwarten auf Ciaras Rücken. „Aber…!“ Kevin wollte protestieren, doch Tena schnitt ihm das Wort ab.

„Schluss jetzt!“ Ciara breitete ihre Flügel wieder aus und stieß sich vom Boden ab. „Was ist los?“, wollte Kevin endlich wissen. „Sag Ciara, sie soll so schnell fliegen, wie möglich! Soviel ich weiß bleiben dir noch zwei Tage, um Vicy zurückzuholen. Und das könnte sehr, sehr knapp werden!“, fügte Tena hinzu.

 

Kevin zündete ein Feuer an. Sie hatten die Ausläufer des Abor-Gebirges erreicht. Es war schon hier eisig kalt. Der Boden war gefroren und von einer dicken Schicht Schnee bedeckt.

Plötzlich tippte Tena ihn an: „Wir bekommen Besuch!“ Er deutete auf den Himmel. Dort konnte man von weitem die umrisse eines riesigen, aus Rauch bestehenden Drachen erkennen. Ciara zog die Lefzen hoch und stieß ein tiefes Knurren aus. „Steig auf! Diesmal werden wir sie nicht entkommen lassen!“, knurrte sie.

Kevin setzte sich im Sattel zurecht und Ciara breitete die Flügel aus. Einen Moment erstarrte sie in dieser Position, dann riss sie das Maul auf und brüllte Phönix und Alanis entgegen. Dabei stellte sie sich auf den Hinterpfoten auf und stieß dann in die Luft. Phönix funkelte Ciara an. Da konnte Kevin etwas erkennen: Auch Alanis hatte einen Sattel. Erschrocken sah er ihr in die Augen. Sie funkelten rot, wie die von Phönix.

Kevin erstarrte vor Überraschung. Phönix nutzte den Moment und griff an. Ciara wich ihm aus. Phönix biss nach ihrem Hals.

Kevin zuckte zusammen, als Phönix seine spitzen Reißzähne in ihr Fleisch grub. Ciara schrie auf und ihre Krallen rutschten kurz unter Phönix Auge durch den Nebel. Überrascht versuchte er sein verbliebenes Auge zu schützen und ließ Ciaras Hals los.

Ciara keuchte vor Wut.

Alanis murmelte etwas. Dann schoss Phönix auf Kevin zu und schlug ihn mit einer schnellen Bewegung von Ciaras Rücken.

Bevor Ciara ihm hinterher fliegen konnte, stieß Phönix gegen ihre Schulter und drängte sie auf die Seite.

Ciara blutete aus der Wunde an ihrem Hals. „CIARA!!!“ Kevin ruderte mit den Armen.

Wieder drückte Phönix gegen Ciaras Schulter, als sie versuchte, Kevin zu Hilfe zu kommen. Dann schnellte Phönix nach unten und packte mit seinen scharfen Klauen Kevins Hemd. Einen knappen Meter über dem Boden ließ er Kevin in den Schnee fallen. Benommen blieb Kevin liegen. Phönix landete dicht neben ihm. Alanis sprang von seinem Rücken und kam zu Kevin. Sie zog ihr Schwert, als Kevin aufstehen wollte. Ciara fauchte warnend. „Bleib, wo du bist, Drache!“, warnte Alanis, „Oder er stirbt!“ Kevin sah an Alanis vorbei auf Ciara. Er sah ihre Angst in den Augen, die Wut auf Alanis und den Hass. Und er merkte, dass sie so genau, wie er wusste, dass Alanis nicht scherzte.

Alanis starrte Kevin an. Oder starrte sie an ihm vorbei? Kevin wusste es nicht. Was zögerte sie? „Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich sie töten. Und sie wird das Gleiche machen“, dachte Kevin.

Doch da sah Alanis auf. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. „Verschwinde!“, flüsterte sie. Kevin sah sie verständnislos an. „VERSCHWINDE!!!“, brüllte Alanis und machte auf dem Absatz kehrt. Kevin sprang auf und Ciara rannte auf ihn zu. Sie schloss die Augen und legte Kevin den Kopf an die Schulter. „Ich dachte schon, sie würde dich töten!“, sagte sie leise. „Ich auch“, sagte Kevin. Vorsichtig zog er sich auf ihren Rücken. Als er im Sattel saß drehte Ciara noch einmal ihren Kopf zurück und stupste ihn gegen die Stirn.

Dann schnellte sie in die Luft.

Als sie wenig später neben Tena landeten und Kevin ihm alles erzählte fragte Kevin: „Warum hat sie gezögert?“ „Was hättest du gemacht?“, fragte Tena. „Ich hätte sie getötet!“, rief Kevin und rammte sein Schwert in den Boden. „Sicher?“, fragte Tena leise. „Ja! Vielleicht… Nein.“ Kevin setzte sich in den Schnee. „Warum nicht?“, fragte Tena weiter. „Weil… Wir waren doch Freunde!“ Tena setzte sich neben ihn und gab ihm plötzlich einen Schlag auf den Kopf. „Au!“ Kevin rieb sich den Kopf.

„Würdest du mich jetzt zurück schlagen?“, wollte Tena wissen. „Niemals!“, empörte sich Kevin, „Du bist doch mein Lehrmeister!“ „Okay, dann bin ich jetzt nicht mehr dein Lehrmeister!“, erklärte Tena. „Was soll denn das?“, fragte Kevin verwirrt. „Würdest du dich jetzt rächen?“, fragte Tena weiter. „Nein!“ „Warum?“ „Weil… weil du trotzdem einmal mein Lehrer warst!“, versuchte Kevin zu erklären. „Wenn ich dich nun töten wollte, würdest du dich wehren?“ „Natürlich!“, rief Kevin. Er wusste nicht, wozu das gut sein sollte. „Also! Ihr wart Freunde. Jetzt seid ihr Feinde. Alanis hat einmal den Fehler gemacht. Sie wird ihn niemals wiederholen. Und du darfst ihn gar nicht erst machen! Du kannst sie nicht verschonen, nur weil ihr Freunde gewesen seid!“

 

 

 

 

 

 

Fünftes Kapitel: Werwölfe

 

Als Kevin am nächsten Morgen erwachte sah er in der Ferne Phönix am Himmel kreisen, doch da der Drache keine Anstalten machte, sie anzugreifen, stand Kevin auf und setzte sich neben Tena ans Feuer. In der Ferne hörte Kevin das Heulen eines Wolfes, das von den Bergen widerhallte. „Das sind die Werwölfe“, sagte Tena mit gesenkter Stimme. Kevin lachte. „Quatsch, du willst mir doch nur Angst einjagen. Es gibt keine Werwölfe!“ „Ja, und Drachen gibt es auch nicht!“, sagte Tena. Kevin sah Tena lange an. „Es gibt keine Werwölfe“, wiederholte er. „Dennoch mein Rat: Wenn du eines Tages das Ziel einer solchen Bestie sein solltest, dann nimm die Beine in die Hand und lauf. Lieber läufst du vor einem Wesen davon, welches es gar nicht gibt, als dass du von einem Wesen aufgefressen wirst, welches es gar nicht gibt. Hab ich recht?“, fragte Tena. Kevin sah ihn nur verwirrt an. „Gibt es denn jetzt Werwölfe oder nicht?“, hakte er nach. „Natürlich!“

Kevin sah auf. Bei dem Gedanken auf einen solchen Wolf zu treffen, wurde ihm schwindelig. „Und woran erkenne ich einen Werwolf?“, fragte er, während er den Schnee um sich herum nach Fußspuren eines Wolfes absuchte. „Da gibt es zwei Formen. Die einen sind die reinrassigen Werwölfe. Sie verwandeln sich, wann sie wollen, sie haben die volle Kontrolle über sich und besitzen dann die Gestalt eines Wolfes. Oder die Halbwerwölfe, auch unreinrassige Werwölfe genannt. Sie laufen auf zwei Beinen und bekommen nur den buschigen Schwanz und die Schnauze des Werwolfes, wenn sie sich verwandeln. Doch das mit dem Vollmond ist nur ein Ammenmärchen. Die Macht der Werwölfe ist zwar in Vollmondnächten am größten, doch es könnte genauso gut sein, dass jetzt sofort vor dir ein gewaltiger Werwolf aus den wenigen Büschen bricht. Einfach so!“ Dabei schnippte er mit den Fingern. Kevin beobachtete noch eine Weile die Umgebung, um sich abzulenken. Warum sollte ausgerechnet ein Werwolf ihn angreifen? Er hatte mächtigere Feinde.

Doch schon bald sollte er seine Meinung ändern.

 

 

Es geschah, als Kevin allein durch den Schnee stapfte, um sich etwas umzusehen. Er war so lange nicht mehr allein gewesen, dass er vollkommen vergessen hatte, wie es war, wenn Ciara nicht jeden seiner Gedanken spürte und nicht immer ihre Stimme in seinem Kopf ertönte.

Er hatte sich die Mütze tief ins Gesicht gezogen, um sich vor dem Schnee zu schützen, als er plötzlich in ein tiefes Loch fiel.

„Verflixt!“, fluchte er. Er stand auf und wärmte seine kalten Hände. Die Handschuhe hatte er beim Sturz verloren.

Da sah er sie in einer Ecke liegen. Er stapfte durch den Schnee auf sie zu, als sich vor ihm eine Gestalt aus dem Schatten löste. Er hörte eine leise Stimme. Der Mensch ging auf allen vieren, doch als Kevin genauer hinsah, konnte er Fell entdecken. Kevin stolperte rückwärts, als der Werwolf vollkommen aus dem Schatten getreten war. Er war gut drei Köpfe größer als Kevin. „Na was haben wir denn da! Ein kleines, junges Menschlein! Da wird der Boss aber zufrieden sein! Nicht war, Rude?“ Der Werwolf wandte den Kopf nach hinten. „Ja, da bin ich mir ganz sicher!“, sagte ein zweiter Werwolf. „So was Leckeres hatten wir schon lange nicht mehr!“ Kevin starrte die beiden Tiere an. Da fiel ihm Tenas Rat wieder ein: Wenn du eines Tages das Ziel einer solchen Bestie sein solltest, dann nimm die Beine in die Hand und lauf. Aber was sollte ihm das hier in dieser Grube bringen? „Wer auch immer euer Boss ist, sagt ihm, er soll dort bleiben wo der Pfeffer wächst! Und ihr auch!“ Da Wölfe brachen in ein grunzendes Gelächter aus. Dann wurden sie wieder ganz ernst. „Ich mag es nicht, von meiner Beute beleidigt zu werden, du etwa, Ralph?“, knurrte Rude. „Ganz und gar nicht, Rude!“ Wie auf Kommando sprangen die beiden auf Kevin zu. Kevin stolperte noch weiter zurück. Da rieselte von oben Schnee auf ihn herab.

Ein weiters pelziges Wesen sprang herab und landete auf dem größeren Werwolf. Es war kleiner, doch dennoch so groß, dass Kevin mit Leichtigkeit auf ihm reiten könnte. Der größere der Wölfe knurrte und versuchte sich von seinem Gegner zu befreien. Kevin stand mit dem Rücken an der Wand aus Schnee und beobachtete die Werwölfe, die sich gegenseitig bissen und kratzten. Mit einem Winseln wurde der Rude von der Pranke des dritten Werwolfs getroffen und in eine Ecke geschleudert. Ralph packte mit einem wütenden Knurren das Vorderbein des Angreifers und warf ihn wie mit einem Judowurf über die Schulter. Der Werwolf winselte auf und landete auf dem Rücken im Schnee. „Ich hab dir schon oft gesagt, dass du dich aus unserer Jagd raushalten sollst, Toby!“, knurrte Ralph und scharrte wütend mit den Pfoten im Schnee, bereit, anzugreifen. Dann duckte er sich und wollte sich auf den immer noch im Schnee liegenden Toby stürzen, als Kevin sich mit einem wütenden Aufschrei auf ihn warf. Da er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, blieb dem Werwolf keine Zeit, sich zu wehren. Toby war inzwischen aufgestanden. Kevin sah, dass er noch ziemlich jung sein musste.

Da wurde Kevin von dem Wolf abgeschüttelt und dieser floh.

Toby wollte auf Kevin zuhumpeln, knickte jedoch ein und fiel in den Schnee. „Warte, Toby, ich helfe dir!“ Kevin kam auf ihn zu und half ihm auf. Kaum, dass Toby auf allen vieren stand, zuckte er kurz zusammen, schüttelte sich und verwandelte sich in einen Menschen. Sein verletzter Arm war noch immer von Fell bedeckt. „Ach, das ist nichts!“, winkte er ab, als Kevin ihn darauf hinwies. „Das ist normal. Mein Bruder hat sich einmal mit einem Anderen gebissen und wurde dabei an der Schnauze verletzt. Immer, wenn er seine Freundin geküsst hat, hatte die danach Fell im Mund!“ Kevin lachte.

„Was wirst du jetzt machen? Du kannst doch nicht einfach zurück ins Rudel!“, fragte Kevin besorgt. „Keine Ahnung… Vielleicht mache ich ein eigenes Rudel. Willst du ein Werwolf werden? Du könntest mit mir das Leittier sein!“, bot Toby großzügig an. „N-Nein danke!“, versuchte Kevin so höflich wie möglich abzulehnen. Mit Sicherheit war es nicht ratsam einen Werwolf zu beleidigen, daher beobachtete er Tobys Reaktionen sehr genau. „Ach, egal, ich muss mir wohl etwas Anderes ausdenken. Kann ich nicht mit dir kommen?“, fragte er. Kevin dachte nach. Sie mussten schnell reisen, doch über einen Werwolf als Begleiter würde er sich schon freuen…

„Na gut, du kannst mitkommen. Aber du darfst keinem etwas davon erzählen, was du sehen wirst, okay?“, bat Kevin Toby. „Wieso? Bist du ein Massenmörder und trägst abgeschlagene Köpfe mit dir rum? Oder bist du der Anführer einer Räuberbande?“, fragte Toby eifrig. Kevin lachte wieder. Toby war echt lustig.

„Nein, natürlich nicht!“, beruhigte er Toby. „Erst mal müssen wir aus diesem Loch kommen!“, sagte Toby und beobachtete den gefrorenen Schnee mit Kennermiene. Dann schüttelte er sich, verwandelte sich in einen Wolf und sprang gekonnt aus dem Loch. Oben knickte er kurz ein und fiel in den Schnee, als sein verwundetes Vorderbein nachgab. „Komm, ich kann dir jetzt helfen!“, rief er von oben und streckte Kevin den gesunden Arm entgegen. Kevin sprang hoch und packte Tobys Handgelenk. Er stemmte die Füße in die Schneewand.

Toby hatte sich auf den Bauch gelegt und zog Kevin nach oben. Beinahe wären sie wieder in das Loch gestürzt. Lachend kugelten die Jungs durch den Schnee. „Komm mit! Ich muss dir jemanden vorstellen“, erklärte Kevin Toby.

 

Ciara hob den Kopf. Sie hatte Kevin gewittert. Der Junge roch nach frischem Blut, das jedoch nicht seins zu seien schien. Etwas beruhigter ließ sie den Blick umherschweifen. Da sah sie im Schnee zwei kleine Gestalten auf sich zukommen. Sie stand auf und breitete die Flügel aus. Sie sah noch einmal die beiden Kinder an, die auf das Lager zukamen. Sie konnte erkennen, dass der eine Kevin war, der Zweite war ein Junge im gleichen Alter, doch er roch nach Blut, etwas fremdartigem und nach Ärger.

Ohne sich um Tena zu scheren, der heftig mit den Armen wedelte um sie auf sich aufmerksam zu machen, weil sie ihn mit dem Schwanz umgestoßen hatte, stieß sie sich ab und flog auf Kevin und den Jungen, der nach Schwierigkeiten roch, zu.

 

Kevin konnte Ciara auf sich zufliegen sehen. Durch das Schneegestöber konnte man nur wenige Meter weit sehen und er dachte schon, sie hätten sich verlaufen, daher war er umso glücklicher, als Ciara neben ihm im Schnee landete. „Ist das ein Drache?!“, fragte Toby. Er schien mit allem gerechnet zu haben, aber nicht mit einem Drachen. „Ja, das ist sie. Sie heißt Ciara“, erklärte Kevin ihm.

Kevin setzte sich in ihren Sattel. Toby stellte sich ziemlich ungeschickt an, als er sich hinter Kevin setzen wollte. Als es ihm zu blöd wurde, verwandelte er sich in einen Werwolf und nahm Anlauf. Ciara, die misstrauisch aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, wie Toby versucht hatte, ihren Rücken zu erklimmen, fauchte jetzt gefährlich auf und drehte ihre Flanke auf die Seite, sodass Toby daneben sprang. Kevin hielt sich am Sattel fest und versuchte Ciara zu beruhigen. Doch sie hatte sich vollkommen von seinen Gefühlen abgeschirmt, sodass er sie so nicht beruhigen konnte. „Ciara! Er ist ein Freund!“, rief er laut. Ciara wandte sich zu ihm. „Bist du sicher?“, fragte sie skeptisch, „Er ist ein Werwolf! Werwölfe sind böse!“ „Er nicht!“, verteidigte Kevin Toby. „Das kannst du gar nicht so genau wissen!“, erboste sich Ciara. Toby hatte inzwischen einen weiteren Versuch unternommen, auf Ciaras Rücken zu kommen und setzte sich gerade auf ihren Rücken. „Ich bin nett, nur damit alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt sind, Drache!“, erklärte Toby.

„Du kannst sie verstehen?!“ „Was hast du erwartet? Ich bin ein Werwolf!“, antwortete Toby. Ciara sah sichtlich zufrieden aus. „Vielleicht ist er ja doch nicht so übel!“, zischte sie zufrieden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sechstes Kapitel: Eine Stadt und ihre Bewohner

 

Kevin und Toby saßen neben Tena im Schnee. Nachdem Kevin dem alten Mann erzählt hatte, wie er auf Toby gestoßen war, hatte Tena erst erstaunt geguckt, dann hatte er ihn ernst angesehen. „Herzlichen Glückwunsch, du hast den Anführer der Werwölfe beleidigt und dir somit eins der mächtigsten Völker des ganzen Landes zum Feind gemacht! So viel Ärger wie du kann man in so kurzer Zeit gar nicht bekommen. Da gehört schon eine besondere Gabe dazu!“ Und dann hatte er gar nichts mehr gesagt. Das war nun mehrere Stunden her. Umso mehr erschrak Kevin, als er plötzlich sagte: „Wir brauchen neue Vorräte. Wir haben kein Wasser mehr. Und wir haben auch kaum noch Fleisch.“ „Gibt es hier denn keine Städte?“, wollte Kevin wissen. „Kaum. Einige Meilen von hier gibt es wieder eine große Stadt, sie heißt Rejkvart.“ Tena sah Kevin an. „Wenn du auf Ciara los fliegen würdest, konntest du es noch heute schaffen. Wir werden euch nachlaufen, werden aber nicht so schnell sein und du musst da sein, bevor die Stadttore geschlossen werden.“

Kevin zögerte nicht. Er brauchte jetzt noch einmal ein bisschen Zeit mit Ciara allein, also hatte er gegen diesen Flug nichts.

Kevin hielt sich am Sattel fest, seine Finger waren eiskalt, denn er hatte seine Handschuhe in der Grube verloren.

Leise murmelte er: „Gel’jar!“ Seine Hände wurden zwar erst sehr heiß und die Wärme hielt nicht lange an, doch es war besser als nichts.

Bis sie die hohen Türme der Stadt sahen, hatte Kevin das Ganze siebenmal wiederholt. „Ciara lande dort unten. Du würdest in der Stadt auffallen, wie eine Rose im Schnee!“, befahl Kevin.

Ciara wäre zwar lieber mitgekommen, doch Kevin hatte Recht. Murrend legte sie sich in den Schnee. Kevin rannte auf die Stadt zu, um noch rechtzeitig anzukommen. Die Wachen ließen Kevin durch, ohne ihn zu beachten. Kevin sah sich um. Ein paar Soldaten liefen über den Marktplatz. Die Meisten waren stark bewaffnet. „Fürchten die sich hier auch vor Alanis?“, fragte er sich.

Er ging auf einen der Soldaten zu, um ihn zu fragen, wo man hier einkaufen konnte. Bevor er den Mund aufmachen konnte hellte sich die Miene des Soldaten plötzlich auf und er packte ihn am Arm. „He! Dich kenn ich doch!“, rief er. Er zerrte Kevin zu sich hin und Kevin wäre fast gestolpert, als der Soldat ihn stolz seinen Kameraden zeigte. „Seht mal, wen ich da gefunden habe! Wo steckt denn dein Drache, Kleiner?“, höhnte er. „Auweia!“, dachte Kevin. „Woher weiß er das nur?“ Da fiel sein Blick auf die Steckbriefe, die Alanis anscheinend im ganzen Dorf verteilen lassen hatte.

„Na, was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?“, lachte ein anderer Soldat. „Kevin, was ist los?“, fragte Ciara. Kevin durfte nichts sagen, sonst wären die Soldaten darauf aufmerksam geworden. Er musste es versuchen, Ciara über Bilder, Gerüche und Gefühle zu zeigen. Als Ciara endlich begriffen hatte, knurre sie laut. „Soll ich kommen und sie in Stücke reißen?“, fragte sie noch immer knurrend. Kevin sah sich um. Er schickte ihr schnell einige Bilder von den vielen Bogenschützen, für die Ciara ein leichtes Ziel wäre und von den engen Straßen, in denen Ciara sich kaum bewegen könnte.

Außerdem schickte er ihr seine Angst um sie und versuchte so leise wie möglich „Nein.“ zu wispern.

„Hast du was gesagt?“, fragte einer der Soldaten. „Nein, alles okay!“ Damit riss er sich los und rannte auf die breiteste Stelle auf dem Marktplatz zu. Die Soldaten hatten schon die Verfolgung aufgenommen. Ein Anderer stellte sich Kevin in den Weg. Kevin wäre fast hingefallen, als der Soldat ihn grob festhielt. „Wenn alle Drachenreiter solche Weicheier wie du waren, wundert es mich nicht, dass sie beinahe ausgestorben sind!“, spottete einer aus der Truppe, die hinter Kevin hergelaufen war.

„Ciara, jetzt könntest du gerne kommen!“, murmelte Kevin so leise wie möglich. „Ihr hab aber etwas Entscheidendes vergessen!“, rief er. „Ach ja? Was denn?“, lachte ein Soldat. „Die Drachen!“, rief Kevin in dem Moment, als Ciara mit lautem Gebrüll auf die Soldaten zustürmte. Die Soldaten sahen erstaunt nach oben und Ciara hatte schon zwei von ihnen getötet, als Leben in die anderen kam. Schreiend rannten sie davon und die Bogenschützen versuchten Ciara zu treffen, doch Kevin legte schnell ein Schutzschild um sie. Ciara fauchte warnend und schlug mit dem Schwanz. Sie brachte so versehendlich ein paar Gebäude zum Einsturz. Kevin kletterte in Ciaras Sattel. In dem Moment erschien Toby in Gestalt eines Wolfes oben auf der Stadtmauer. Er jaulte laut um die Leute auf sich aufmerksam zu machen und sprang dann von der Mauer. Es wurde totenstill, als der große Wolf die versammelten Leute mit seinen großen Wolfsaugen musterte. Dann weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.

Im selben Moment verwandelten die Soldaten, Männer und Frauen, Junge und Alte in Wölfe. Toby klemmte knurrend den Schwanz ein, als eine Meute bellender Riesenhunde auf ihn zustürmte. Dann rannte er an Kevins Seite. Er schützte wild um sich schlagend Ciaras rechte Flanke vor den Angriffen der Gegner. Kevin stellte sich in die Steigbügel und schlug mit seinem Schwert nach den angreifenden Wölfen. In dem Moment stellte ein Wolf sich auf die Hinterbeine. Kevin wollte ausweichen, doch das Tier schlug Kevin seine Zähne in die Schulter. Kevin schrie auf. Ciara wollte ihn wegziehen, doch dadurch wurde Kevin nur von ihrem Rücken gerissen.

Toby sprang knurrend an Kevins Seite um ihm zu helfen, doch gegen eine so große Anzahl Wölfe hatte auch er keine Chance. Die Wölfe fügte Kevin noch mehr große Wunden zu, während Ciara sich ihren Weg durch die großen Tiere schlug.

Kevin versuchte sich von den Wölfen wegzudrehen. Der Schmerz drohte ihn umzubringen. Da hatte er eine Idee. Er hatte es noch nie ausprobiert, er hatte nur davon gelesen, doch es könnte ihm das Leben retten.

Er konzentrierte sich auf ein Bild: Wie er Ciara das erste Mal gesehen hatte und sie dann gestreichelt hatte. Dann versuchte er diesen Gedanken zu verstärken, die Schmerzen zu vergessen, alles um sich herum auszuschalten. Er zog sich immer tiefer in eine winzige Ecke seines Bewusstseins zurück, bis er nichts mehr fühlte, hörte, roch oder sah. Er nahm nur noch das Klopfen seines Herzens war. Dann hörte er Ciaras Stimme: „Keine Angst, Kleiner, ich beschütze dich!“

Dann musste er sich wieder konzentrieren, denn ein anderes Bewusstsein versuchte ihn anzugreifen: Der Werwolf, der ihn gebissen hatte, versuchte die Barriere um Kevins Geist zu durchbrechen. Kevin schaffte es nicht, den Geist des Wolfes abzuwehren. Mit einem Mal stürzten Geräusche, Gerüche und Bilder auf ihn ein, die Gedanken des Werwolfes und der Schmerz, als Toby den Werwolf in den Rücken biss. Kevin jaulte innerlich auf und versuchte sein Bewusstsein zurückzuziehen, doch es war unmöglich. Der Werwolf hielt Kevins Geist in seinem Eigenen Gefangen.

Kevin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als er wieder versuchte, sich zu befreien, sagte der Werwolf: „Lass dich fallen, deine Schmerzen werden verschwinden, wenn du erst ein Werwolf bist, alle deine Wunden, die dir heute zugefügt wurden, werden verschwinden!“ Kevin versuchte sich zu wehren und sein Bewusstsein zu befreien. Sein Herz pochte ohrenbetäubend. In dem Moment, als Kevin schon glaubte, nicht mehr durchzuhalten erschien Tobys Geist. Es war, als würde er den Geist des feindlichen Werwolfs aus Kevins Kopf saugen. Kevin war unendlich erleichtert, als der Feind verschwunden war. „Du kannst kommen, Kevin, es ist alles in Ordnung!“, sagte Toby. Kevin ließ sich langsam aus seinem Sicherheitszustand gleiten und konnte plötzlich wieder alles spüren. Mit einem ohrenbetäubenden Rauschen konnte Kevin plötzlich wieder Ciaras Nähe spüren. Er fühlte den kalten Schnee und den eisigen Wind, der um ihn herum tobte. Er roch gebratenes Fleisch. Doch er konnte auch plötzlich die Schmerzen, die der Biss verursacht hatte, spüren. Und dann war er plötzlich hellwach. Er öffnete die Augen. Tena und Toby sahen ihn besorgt an. Tobys Mund war blutverschmiert.

„W-Wie hast du das gemacht? Wie hast du den Geist des Werwolfs aus mir rausgeholt?“, fragte Kevin schwach. Toby erklärte ihm, dass ein anderer Werwolf das Gift, das der Werwolf bei einem Biss freisetzt um sein Opfer zu kontrollieren und es zu einem Werwolf zu machen, aus der Wunde saugen muss, um den Betroffenen zu retten. „Also bin ich jetzt kein Werwolf?“, fragte Kevin. Toby schüttelte den Kopf. „In dir ist so wenig Wolf wie in einem Schaf!“, grinste er zufrieden.

 

 

 

 

 

Siebtes Kapitel: Der Richtige

 

Kevin sah über die weiße, verschneite Landschaft. Es schien ihm unmöglich, Alanis hier zu finden. Aber ging es überhaupt darum? Vielleicht war sein Vorhaben ja zum Scheitern verurteilt. Wer weiß, was das Schicksal mit ihm vorhat?

Nein, so durfte er auf keinen denken! Er würde Alanis besiegen, Vicy befreien und Ramor töten. Genau das würde er machen. Er trottete ein paar Schritte durch den tiefen Schnee. Er sah über die hügelige Landschaft. Ein paar Meilen vor ihm konnte er gewaltige Gletscher sehen, die sich bedrohlich aus der endlosen Weite erhoben. Der Schnee wurde von dem heftigen Wind emporgehoben. Kevin hätte stundenlang dort stehen können, um den Gletschern entgegen zu sehen.

Kevin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war.

Ciara stampfte durch den Schnee auf ihn zu. „Willst du zu den Gletschern fliegen?“, fragte sie. Kevin gab ihr keine Antwort. Das war nicht nötig. Er stellte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich auf Ciaras Rücken. „Halt dich fest!“ Ciara streckte den Hals und brüllte. Dann sprang sie in die Luft und war mit zwei kräftigen Flügelschlägen zwischen den Wolken, die ein Gewitter ankündigten. Kevin sah sich aufmerksam um und versuchte in den dichten Wolken ein Anzeichen von Alanis oder Phönix auszumachen. Doch er konnte sie nirgendwo entdecken.

Ciara flog gleichmäßig durch die Wolken. Kevin hörte das Rauschen ihrer großen Schwingen neben sich. Kevin ärgerte sich, dass er schon wieder darüber nachdachte, warum er das hier und jetzt erleben durfte. Warum nicht ein anderer Junge? Oder ein Mädchen? Er musste es wissen. „Ciara. Warum ich? Warum hast du mich ausgewählt?“, fragte er. „Weil du der bist, auf den ich so lange gewartet habe. Nur du. Du bist meine Seele, ich bin dein Herz. Ich habe sehr lange auf so jemanden gewartet. Zulange, als dass ich mir jetzt Gedanken darüber machen müsste, warum ich dich auserwählt habe. Es ist dein Leben, und das was du daraus machst.“ Kevin war froh, diese Antwort gehört zu haben. Doch er war sich noch immer unsicher. „Aber…!“ Er wollte zu einer weiteren Frage ansetzen, als Ciara laut brüllend senkrecht nach unten schoss und sich währenddessen um die eigene Achse drehte. Kevin wurde aus dem Sattel geworfen, da Ciara sich davor vollkommen vor ihm abgeschirmt hatte und er ihre Bewegungen nicht vorausahnen konnte.

Er schlang die Arme um ihren muskulösen Hals, um nicht zu fallen. Ciara bremste mit den Flügeln so abrupt ab, dass Kevin abrutschte und sich gerade noch rechtzeitig an Ciaras Schwanz festhalten konnte, den sie ihm wie ein Rettungsseil zu geschwungen hatte. Wegen der gewaltigen Wucht wurde Kevin die Luft aus den Lungen gepresst, als der Schwanz gegen seinen Brustkorb knallte. „Was soll das?!“, brüllte Kevin. „Wenn du mich noch einmal fragst, warum du der Richtige bist, werde ich mich vielleicht noch um entscheiden und dich in den Schnee fallen lassen!“, fauchte Ciara wütend.

Kevin baumelte an ihrem Schwanz herum, und versuchte, nicht runter zu fallen. Ciara machte keinerlei Anstalten, ihn aus dieser misslichen Lage zu befreien. „Ähm, Ciara, könntest du vielleicht…?“ Kevin verstummte als der Drache bedrohlich knurrte. „Nein, das musst du schon selber können. Halt dich fest! Jetzt lass ich dich fallen!“, gluckste Ciara albern. Kevin wurde mit einem Ruck ihres Schwanzes nach oben geschleudert. Er ruderte wild mit den Armen um die Kontrolle über seinen Flug zu bekommen und schlug hart auf Ciaras Rücken auf. Beinahe hätte er sich an ihren Stacheln aufgespießt. „Kannst du nicht aufpassen, wo du mich hinwirfst?!“, rief Kevin ihr zu. Ciara flog seelenruhig auf die Gletscher zu, während Kevin sich an ihren Stacheln hochzog. Als er es fast geschafft hatte, drehte Ciara nach unten ab und Kevin wurde wieder vom Wind gepackt. „CIARAAAAAAAA!“ Kevin hielt sich so gut wie möglich an ihrem Schwanz fest. Ciara beendete Kevins Versuch, sich festzuhalten mit einem lässigen Schlenker ihres Schwanzes. Kevin fiel in den Schnee und Ciara landete neben ihm. „Das üben wie besser noch“, meinte sie und begann sich die Krallen zu lecken.

Kevin musste lachen. „Willst du wieder zurück oder sollen wir bis zu den Gletschern?“, fragte Ciara. „Lass uns lieber wieder zurück. Tena macht sich sicher schon sorgen!“, befürchtete Kevin.

 

 

Achtes Kapitel: Irgendwo im Nirgendwo

 

Kevin wachte auf. Er konnte sich nur sehr schwach an das erinnern, was am letzten Tag passiert war: Er war mit Ciara zurückgeflogen. Tena hatte gesagt, dass es nur begrenzt Zeit gäbe, um Vicy zu retten. Höchstens noch drei Tage, hatte er gemeint. Dann war Kevin eingeschlafen.

Kevin versuchte die Augen zu öffnen, doch es viel ihm wahnsinnig schwer. Als er sie aufmachen konnte, merkte er, dass er nicht im Schnee lag. Er lag auf… gar nichts. Unter ihm war nichts, neben ihm war nichts, über ihm war nichts. Doch er fiel auch nicht.

„Ich muss über Nacht erfroren sein!“, kam es Kevin in den Sinn. Jetzt konnte er Vicy retten. Aber wie? Wenn nirgendwo etwas war, wie sollte man dann etwas finden? Wie sollte er sich überhaupt fortbewegen? Konnte er einfach laufen? Oder musste er Angst haben, irgendwo hinunterzuschürzen? Es war doch nirgends etwas. Aber er war ja schon tot. Also konnte ihm auch nichts mehr passieren. Er befahl seinen Füßen, sich zu bewegen. Er hob den einen und stellte ihn in die Luft. Er konnte in der Luft wie auf einer Treppe hinauf oder hinunter gehen! Er machte einen Schritt, noch einen und noch einen. Aber wo wollte er überhaupt hin? „Vicy retten!“, dachte er. Aber wo war das? Plötzlich tauchte ein großer Schatten aus dem Nichts auf. „Das ist keine Kunst!“, dachte Kevin. „Hier ist ja das Nichts!“ Kevin erkannte Ramor. „Aha, der Amulettträger! So sieht man sich also wieder! Seit unserer letzten Begegnung hast du etwas an Farbe verloren, hab ich Recht? Du siehst so blass aus!“, höhnte Ramor. „Ich bin nicht hergekommen, um zu sterben!“, erklärte Kevin, „Ich will mir nur holen, was du mir genommen hast!“ „Und das wäre?“ „Vicy!“ Ramor zuckte leicht zusammen. Dann lächelte er hinterlistig.

„Nun ja, jeder hat das Recht, einen Menschen, der ihm wichtig ist, zurückzubekommen. Doch woher weiß ich, dass du sie verdient hast?“, sagte Ramor immer noch lächelnd. Er schnippte mit dem Finger und Vicy stolperte plötzlich auf Kevin zu. Sie war blass und ihre Haare strähnig. „Na los! Hol sie dir!“, sagte Ramor. Doch sein Lächeln gefiel Kevin nicht. Er trat einen Schritt auf Ramor zu, dann noch einen. In dem Moment sah Kevin direkt vor sich den Abgrund. „Noch bist du nicht ganz tot!“, erklärte Ramor ihm. „Doch wenn du diese Grenze überschreitest, bist du es!“ Kevin sah ihm genau in die Augen. „Das ist mir egal!“, sagte er dann, nahm einen Schritt Anlauf und sprang über den Abgrund. Ramor starrte ihn mit offenem Mund an. „Herzlichen Glückwunsch!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Du hast die Probe bestanden!“ Damit schubste er Vicy auf ihn zu. Kevin merkte, wie er langsam, sehr langsam in die Wirklichkeit gezogen wurde. „HALT!!!“, brüllte er aus Leibeskräften. Ramor hob die Hand. Kevin stolperte einen Schritt vor. „Ich will Saira auch noch!“, forderte er. „Hast du mir nicht zugehört, du Bengel? Nur einen einzigen!“, wiederholte Ramor. „Was ist mit Ciara? Darf sie nicht auch jemanden mit zurücknehmen?“, fragte Kevin. „Nein. Drachen sind im Rückholvertrag nicht eingeschlossen!“, sagte Ramor. Er wollte gehen und Kevin und Vicy ins Leben zurückschicken. „Warte! Ich bin bereit, für sie zu bezahlen!“, rief Kevin verzweifelt. Ramor wandte sich um. „Was bietest du mir?“ Kevin sah sich suchend um. „Das hier!“ Er streckte Ramor das Amulett entgegen. Ramor bekam große Augen. Er war hin und her gerissen. „Na gut. Hier hast du sie!“, knurrte er. Im selben Moment fand Kevin sich im Schnee zwischen Vicy und Saira wieder.

 

 

Neuntes Kapitel: Rückkehr in die wahre Welt

 

Kevin setzte sich auf und sah sich suchend um. Er lag wieder an der Stelle, wo er anscheinend gestorben war. Ciara und Saira standen auf und begrüßten einander. Saira schleckte Ciara über die Flügel und sprang danach hoch wie ein übermütiges Fohlen. Kevin wühlte sich aus dem Schnee und rannte zu Vicy. Die war aufgestanden und nahm Kevin in den Arm. Als sich die beiden wieder voneinander losreißen konnten versuchte Kevin Tena und Toby ausfindig zu machen. Von ihnen fehlte jede Spur. Vicy erzählte Kevin, was passiert war. Tena und Toby konnten noch nicht aufgebrochen sein, da ihre Sachen hier noch lagen.

Vicy setzte sich hin und machte Feuer, als wäre nichts geschehen. „Und du hast wirklich einen weiteren Drachenreiter kennen gelernt?“, wollte sie nach einiger Zeit noch einmal genauer wissen. Kevin nickte. Wieder beschrieb er ihr Leya und Jarda. Vicy schwieg kurz, dann begann sie unruhig im Feuer herumzustochern. „Was ist?“, fragte Kevin. „Nun, ich befürchte die beiden sind tot. Ich habe sie bei Ramor kennen gelernt“, erklärte Vicy. „Oh.“ Kevin blieb eine Weile still. „Ich glaube, sie sind erfroren“, fügte Vicy hinzu. „Wir haben ab und zu miteinander gesprochen.“

Ciara hob den Kopf und sah sich um. Sie hatte den Wolfsjungen gerochen. „Sie kommen!“, sagte sie zu Kevin.

Kevin sprang auf. „Vicy, ich muss dir jemanden vorstellen!“, erklärte er. Dann rannte er durch den hohen Schnee auf Toby und Tena zu. „Da bist du ja wieder!“, begrüßte Toby ihn. Kevin stellte Vicy den Anderen vor. „Hallo, ich bin Toby!“, stellte Toby sich vor, „Ich bin ein Werwolf, willst du auch ein Werwolf werden?“ „Äh, nein danke, im Moment nicht. Ich werde bei Gelegenheit noch einmal auf dein Angebot zurückkommen!“, lehnte Vicy höflich ab. „Schade!“ Mit gespielter Niedergeschlagenheit zog Toby sich zurück.

Dann fragte Vicy: „Aber… Kevin, Ramor wird uns alle mit Hilfe des Amuletts töten!“ Kevin sah Tena an. Dann sagte er: „Ich weiß, dass du mir etwas verschweigst. Alle haben dass getan. Faleon. Er hat mich an Ramor verraten. Alanis auch. Dreon war Alanis Vater. Vicy, du hast mir von allein erzählt, dass du Alanis Halbschwester bist, aber ohne Alanis hätte ich es bis jetzt wahrscheinlich nie erfahren. Und du, Tena. Ich weiß genau, dass du weißt, wie ich Ramor besiegen kann. Auch der Waldgott hat es gewusst.

Nein, lass mich zu Ende reden!“, verlangte Kevin, las Tena ihn unterbrechen wollte. „Es geht hier nicht um Traditionen. Die Zeiten, in denen die Drachenreiter jahrelang ausgebildet wurden, sind vorbei! Jeder Fehler kann jetzt tödlich sein! Und das würde den Untergang der Drachenreiter bedeuten! Ihr, “, er deutete auf Tena, Vicy, Toby, Ciara und Saira, „Alanis, Dreon und Faleon habt mich aus meiner Welt gerissen. Zwischen unseren Welten liegen Jahrhunderte von Zeitverschiebungen. Ihr seid mir einiges schuldig!“, beendete er seine Rede. Niemand regte sich. Dann seufzte Tena laut auf. „Kevin, du musst verstehen, dass ich dir nicht alles erzählen kann. Vieles davon hängt nicht nur mit mir zusammen. Aber eins kann ich dir sagen: Du kannst Ramor nicht töten.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zehntes Kapitel: Happy Birthday

 

„Was kann ich dann tun? Du musst es mir sagen! Ihr habt mich vor die Aufgabe gestellt, euch zu retten! Ich tue das nicht für mich. Ramors Zauberei hat auf meine Welt keinerlei Einfluss. Ich tue es für euch. Was, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich das nicht mehr mitmache? Ich lasse euch im Stich und gehe nach Hause. Dort setze ich mich vor den Fernseher und mache meine Englischhausarbeiten. Dann gehe ich morgen einfach wieder in die Schule. Und für mich ist alles wieder okay. Aber ihr… Ramor würde euch zermalmen, wie Ameisen. ALSO SAGT MIR ENDLICH, WAS ICH TUN KANN!!!“, brüllte Kevin verzweifelt. „Kevin“, sagte Tena. Nichts weiter. Einfach nur ‚Kevin’. Kevin Verzweiflung dämmte sich. Natürlich würde er sie niemals allein lassen. „Du kannst Ramor nicht töten. Du kannst ihn nur unschädlich machen. Ramor ist der Tod. Ohne ihn gäbe es kein Leben und keinen Tod. Du musst den Menschen zeigen, dass sie sich vor Ramor nicht zu fürchten brauchen. Du musst ein Abkommen mit ihm treffen. Aber vorher brauchen wir dich noch. Du musst Alanis töten. Und das werden wir jetzt machen!“ „Wir brauchen einen Plan!“, erklärte Toby.

Tena vertiefte sich kurz in Gedanken. „Wir müssen ihr eine Falle stellen. Doch zuerst müssen wir herausfinden, wo sie ist!“

„Ja!“, sagte Kevin. „Und das werden wir!“ Ciara legte sich auf den Boden und Kevin hielt sich am Sattelriemen fest. Er schwang sich in den Sattel und Ciara stand auf. Dann lief sie im Schnee umher, unruhig wie eine Katze und stieß sich dann plötzlich in die Luft. „Saira hatte die Idee, dass wir abwechselnd Wache halten könnten! Wir fangen an“, erklärte Ciara. Kevin war damit zufrieden. Er brauchte Zeit um nachzudenken. Er versuchte sich in Alanis’ Lage hineinzuversetzen. Sie wurde überall gesucht, nur die Menschen im Norden kannten sie noch nicht. Zu den Elfen konnte sie nie mehr zurück. Also konnte sie sich dort auch keinen Proviant geholt haben. Das wahrscheinlichste war, dass sie sich irgendwo im Abor-Gebirge versteckt hielt, oder noch weiter nördlich. „Ful’caestas ven!“, flüsterte Kevin. Er suchte mit seinen Drachenaugen die Umgebung ab. Doch außer einem Rudel Schneehasen konnte er nichts entdecken. Er zog sich wieder in seinen eigenen Körper zurück und räkelte sich im Sattel. Kevin fiel auf, dass er heute vierzehn geworden sein müsste, wenn er die Zeit richtig wusste. Ciara hörte seine Gedanken und hauchte leise: „Alles Gute zum Geburtstag, Kleiner.“ Dann spuckte sie nur für ihn ein Feuerwerk in die Luft, das sich gewaschen hatte.

„Wow!“, sagte Kevin glücklich, als sich die Funken gelegt hatten. „Viel Glück in deinem neuen Lebensjahr“, sagte Ciara. In dem Moment war Kevin so glücklich wie noch nie. Und dennoch trübte ein Gedanke sein Glück: Er würde sich so sehr wünschen, diesen Tag mit seiner Familie feiern zu können. Aber das war unmöglich.

 

 

 

 

Elftes Kapitel: Die Wege trennen sich

 

Vicy wachte plötzlich auf. Hinter ihr raschelte es. Das Feuer glühte vor sich hin und zauberte geheimnisvolle Schatten an die Bäume. Wieder raschelte es, diesmal weiter hinten. Vicy hielt die Luft an und griff nach ihrem Messer. Dann sprang sie auf. Der Angreifer packte sie am Handgelenk, schlug ihr das Messer aus der Hand und hielt sie fest. „Schnell, aber nicht schnell genug!“, zischte die Gestalt. Vicys Augen begannen sich langsam an das dämmrige Licht zu gewöhnen und sie erkannte, wer vor ihr stand. „Kevin!“ Sie wollte sich losreißen, doch Kevin hielt sie fest. Seine Augen starrten an ihr vorbei. „Du wirst mich nicht aufhalten!“, sagte er und zog sie zu sich heran. „Lass mich los!“ Vicy wollte zurückweichen. „Wenn du schreist, schlag ich dich nieder, du weißt, ich kann das!“, drohte Kevin. Vicy zuckte zusammen. Kevins Augen waren seltsam trüb, als wäre er gar nicht wirklich da. „Was ist los mit dir?“, fragte Vicy. Kevin stieß sie zurück. „Du wirst mich nicht aufhalten!“, wiederholte er und nahm seinen Bogen in die Hand. „Ich werde allein gehen!“ „Du bist nicht du selbst!“, rief Vicy. Kevin fuhr herum und stieß sie wieder von sich weg, als sie ihn festhalten wollte. „Ich werde euch nicht in Gefahr bringen! Nie mehr“, sagte Kevin und drehte sich um.

Vicy wollte ihn wieder aufhalten, doch Kevin stürzte sich auf sie. „Versuche nicht, mir zu folgen!“, sagte er noch einmal drohend. Dann verschwand er in der Nacht. „Was machst du denn?!“ Vicy liefen die Tränen aus den Augen. Sie stürzte hinter Kevin her. „Kevin! Komm zurück! Bitte!“

Sie suchte bis zum Morgengrauen nach ihm, doch sie konnte ihn nicht mehr finden. Sie lief zurück zum Lager. Die Anderen waren inzwischen wach. „Was ist passiert?“, fragte Tena alarmiert, als er Vicy sah. Vicy erzählte ihnen alles. Ciara sah verzweifelt aus. Unruhig lief sie umher. „Ciara! Du musst ihn doch spüren! Du bist doch sein Drache! Wo ist er?“, fragte Toby. Ciara zog den Kopf ein und jaulte traurig. „Was sagte sie, Saira?“, fragte Vicy. „Er ist weg! Sie kann ihn nicht finden!“

 

Kevin irrte durch den Wald. Was hatte er nur getan? „Du hast genau das Richtige getan!“, sagte seine innere Stimme. „Es wäre töricht und unverantwortungsbewusst gewesen, sie in Gefahr zu bringen!“ Kevin rannte weiter. Er stolperte über eine Wurzel und rutschte den mit Dornengestrüpp übersäten Abhang hinunter. Unten blieb er reglos liegen. „Was hab ich nur getan?“, fragte er sich wieder. Er wusste nicht, was ihn dazu bewegt hatte, so gemein mit Vicy umzugehen. Er fühlte sich so allein wie noch nie. Er hatte Ciara mit einem Zauber belegt, damit sie ihm nicht folgen konnte. Sie war weg, weg für immer, sie würde ihn nie wieder finden! Und er konnte nie wieder zurück.

Kevin vergrub das Gesicht in den Händen und weinte eine Zeit lang vor sich hin. Seine nackten Füße bluteten, die Dornen hatten ihm tiefe Kratzer in die Füße gerissen. Er versuchte die Stimme zu ignorieren, die nun versuchte ihn zu trösten. „Du weiß, dass es das Richtige war! Ja, ja!“, schmeichelte sie. „Geh weg! Ich will dich nicht mehr hören!“, schrie Kevin.

Er spürte die Unsicherheit, als die Stimme wieder sagte: „Aber es war das Richtige.“ „Nein! Nein, war es nicht! Es war alles falsch! Das ist alles deine Schuld! Ich dürfte gar nicht hier sein!“, schrie Kevin. „Aber du bist hier! Du bist hier, ganz allein, ohne deine Freunde. Ich bin der einzige, der da ist“, versuchte die Stimme ihm klar zu machen. „Ja, und darauf könnte ich gut verzichten!“ Eingeschnappt zog sich die Stimme zurück in Kevins Kopf und blieb für eine Weile still. „Bist du noch da?“, fragte Kevin nach einer langen Zeit. „Ich bin immer da, ja, ja! Und du hattest übrigens Recht: Du hast alles falsch gemacht. Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern.“ „Wer bist du?“, fragte Kevin die Stimme. „Ich bin dein Gewissen, ja, ja.“

„Hä?“ Das verstand Kevin nicht. Er stand auf.

„Bis jetzt war Ciara dein Gewissen. Aber die ist weg. Also bin ich dein Gewissen!“ Kevin fand das einleuchtend. Dennoch traute er sich nicht recht, ihm zu glauben.

„Also bist du ich?“, fragte er.

„Nein.“

Mehr sagte sein Gewissen nicht dazu.

„Also bist du jemand Anderes?“, hakte Kevin nach.

„Ja.“ „Aber wo bist du?“ „Schau mal über dich!“, sagte die Stimme. Kevin sah nach oben. Über ihm auf einem Gletscher saß ein junger Rabe. „Du bist mein Gewissen?“, fragte Kevin misstrauisch. Der Rabe schüttelte den Kopf und flog mit einem Krächzen auf Kevins Schulter. „Dann hast du gelogen?“ Der Rabe nickte. „Und warum?“ Der Rabe zuckte die Schultern. Kevin stieß ihn mit der Hand von seiner Schulter. Mit einem empörten Krächzen stieg der Rabe wieder in die Luft. „Das ist kein Spiel, du blödes Tier!“, schrie Kevin ihm nach. Er hatte sich von einem Raben reinlegen lassen. Der Rabe war in seinem Kopf gewesen und hatte seine Handlungen beeinflusst. Wie hatte er das gemacht?

Der Rabe drehte über Kevins Kopf – außerhalb von Kevins Reichweite – seine Kreise. „He, komm runter!“, rief Kevin ihm zu. Der Rabe drehte den Kopf, legte die Flügel an und landete sanft auf Kevins Schulter. „Ich kann dir den Weg zeigen!“, sagte er und sah Kevin in die Augen. „Ich kann keinen Führer brauchen, der mich belügt!“, sagte Kevin abweisend. Der Rabe legte den Kopf schief. „Jehàn nor cheta k’ore!“ Kevin blieb stehen. „Wenn du nicht gelogen hast, aber auch nicht die Wahrheit gesagt hast, was hast du dann?“ Der Rabe krächzte und flog davon. Kevin rannte ihm hinterher. „Bleib hier!“ Kevin versuchte den Raben nicht aus den Augen zu verlieren. Er stolperte und rutschte aus. Seine Füße schmerzten, doch er stand schnell wieder auf und rannte weiter. Der Rabe landete auf einem Ast. „Was sollte das?“, fragte Kevin ihn.

Der Rabe legte den Kopf schief. „Ich soll auf dich aufpassen, ja, ja!“

„Wer hat das gesagt? Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst! Ich brauche keinen Beschützer!“ Kevin stapfte an dem Raben vorbei. Der Vogel begann sich das Gefieder zu putzen. Kevin blieb stehen. „Ich dachte, du sollst auf mich aufpassen“, sagte er, ohne sich umzudrehen. Er spürte, wie der Rabe sachte auf seiner Schulter landete. „Das tue ich doch! Ja, ja!“ Kevin ging weiter. „Wer hat dich eigentlich geschickt?“, wollte er wissen. „Ich habe mich selbst geschickt!“, sagte er. „Aha. Und wie heißt du?“ „Du kannst mich Krawp nennen.“ „Krawp. Komischer Name. Wer hat dich so genannt?“, fragte Kevin. „Ich habe mich selbst so genannt.“ Kevin lief noch immer barfuss durch den Schnee. Seine Füße waren schon halb taub vor Kälte. „Krawp, warte, ich kann nicht mehr weiter! Nicht, ohne Schuhe!“ Kevin setzte sich in den Schnee und wärmte seine Füße mit den Händen. „Nein, jetzt nicht stehen bleiben! Hier in der Gegend sind Trolle, große, gefährliche Bergtrolle!“, warnte Krawp. Kevin stand widerstrebend auf und machte ein paar Schritte. Doch seine Füße wehrten sich dagegen. „Krawp, ich kann nicht!“, sagte Kevin fröstelnd. Krawp landete. „Ich habe ja auch keine Schuhe an!“, sagte er und zeigte Kevin seine zierlichen Füßchen. „Du bist ein Rabe, du brauchst keine Schuhe!“, sagte Kevin.

Krawp hopste auf Kevin zu und sprang auf das Knie des Jungen. „Nicht aufgeben!“, sagte er. „Wir besorgen dir Schuhe. Erst Schuhe und dann holen wir die Funkelkette zurück, ja, ja!“ „Woher weißt du von dem Amulett?“, fragte Kevin. „Ich beobachte euch schon lange! Ja, ja!“ Es war Kevin unheimlich, dass der Rabe so lange unentdeckt geblieben war. Wer weiß, wer ihn vielleicht noch belauscht und beobachtet hatte?

Krawp hüpfte in die Luft, als Kevin aufstand. Kevin stolperte weiter.

 

 

 

 

Zwölftes Kapitel: Der Bergtroll

 

„Krawp, was hast du?“, fragte Kevin, als Krawp auf seiner Schulter innehielt, um zu lauschen. „Krah!“, krächzte Krawp. „Gefahr!“ Damit verschwand er zwischen den Wolken. Kevin zuckte zusammen, als er ein lautes Poltern hörte. Über ihm hatte sich eine kleine Lawine gelöst, die nun kleine Schneeklumpen auf ihn regnen ließ.

„Krawp, komm zurück!“ Kevin rannte los. Hinter ihm ertönte ein Grollen.

Kevin hechtete einen schmalen Pfad entlang. Rechts von ihm ging es metertief hinunter, Kevin konnte den Boden noch nicht einmal erahnen. Was auch immer hinter ihm war, es hatte ihn gesehen und verfolgte ihn nun.

Kevin hatte es fast geschafft, er konnte schon das andere Ende des Pfades sehen, als ihn etwas am Bein packte. „AHHH!“ Kevin fiel in den Schnee. Etwas zog ihn den Pfad entlang, zurück.

„Nein! Krawp, wo bist du? Hilfe! Krawp, hilf mir!“ Kevin klammerte sich, mit seinen vor Kälte erstarrten Händen, an einem schneebedeckten Stein fest, doch er rutschte ab. „Krawp!!!“ Er wurde vom Boden hochgerissen und baumelte kopfüber in der Luft.

„HILFE!“ Im dunkelgrauen Nebel konnte Kevin etwas erkennen. Ein Gesicht, das ihn anstarrte. „GRRRAW!!!“ Das Gesicht verzog den Mund zu einem Lachen. Die graue Haut warf Falten. Dann ließ die Hand, die zu dem Gesicht gehörte, Kevins Bein los und der Junge fiel in den Schnee. Kevin starrte zu dem riesigen Bergtroll hoch. Der Troll war knapp drei Meter groß und fast genauso breit. Wieder begann er laut zu lachen. Kevin rief wieder nach Krawp, doch der feige Rabe hatte sich aus dem Staub gemacht.

Kevin sprang auf.

Der Troll bückte sich und wollte Kevin packen. Doch Kevin rannte zwischen den Beinen des Trolls hindurch und die Hand des Trolls griff ins Leere. Blitzschnell und wendig drehte der Troll sich um und hob Kevin am Umhang hoch in die Luft. „Lass mich los!“ Kevin strampelte und fuchtelte wild um sich, doch der Troll lachte wieder und schüttelte Kevin amüsiert durch. Kevin drehte sich um sich selbst, während der Troll ihm immer weitere Schubse gab.

Plötzlich konnte Kevin am Himmel ein paar kleine schwarze Gestalten entdecken. Krawp war zurückgekommen. Und er hatte sechs weitere Raben mitgebracht. „Angriff!“, rief er und er und die Raben stürzten sich auf den Troll. Mit ihren spitzen Schnäbeln hackten sie auf das Ungetüm ein. Der Troll wich zurück und ließ Kevin los. Er schlug mit seiner Pranke nach den Raben. Kevin wollte aufstehen, doch der Troll bückte sich und hob ihn auf.

Er fegte die Raben beiseite und stapfte durch den Schnee, Kevin in der linken Hand. Plötzlich tauchte vor ihm Etwas auf, das noch größer war, wie der Troll. Es stieß den Troll zurück, dass dieser hinfiel. Wütend stand der Troll wieder auf und schubste seinen Gegner. Sein Gegenüber stieß ihn wieder und Kevin fiel in den Schnee.

Die Raben gingen auf beide los. Der größere Gegner bückte sich zu Kevin hinunter und nahm ihn in die Hand. Die Hand war so groß, wie Kevin selbst. Kevin strampelte und versuchte mit seinen Händen über die Finger des Riesen zu gelangen. „Nischt so haschtig, mein Kleiner!“, sagte der Riese und entblößte dabei eine große Zahnlücke. „Lass mich los!“, sagte Kevin. Der Riese öffnete die Hand und Kevin sprang auf den Boden. „Wo willscht du denn hin?“, fragte der Riese und setzte Kevin wieder auf seine Hand. „Weg!“, sagte Kevin trotzig. „Und warum, wenn isch fragen darf?“ „Darfst du nicht!“ Kevin verschränkte die Arme vor der Brust. „Auch gut!“ Kevin fiel auf, dass der Riese sehr langsam redete. Doch bevor er sich fragen konnte, warum, hatte der Riese ihn genommen und in die Hosentasche gescheckt. „Da bleibscht du erscht mal drinnen, bis es für disch wieder sischer ischt!“ Kevin versuchte rauszuklettern, doch der Riese passte sehr gut auf, dass er nicht entkam.

 

 

Dreizehntes Kapitel: Aufbruch

 

Vicy saß da und starrte ins Feuer. Was war bloß mit Kevin los gewesen? Sie hatte ihn so lange gesucht. Ob er sich mit einem Zauber belegt hatte, damit Ciara ihn nicht finden konnte?

Vicy drehte sich um, als sie Toby hinter sich hörte. „Tena hat gemeint, wir sollten zu den Sindern zurück.“ „Aber wir können Kevin doch nicht alleine lassen!“, sagte Vicy empört. „Kevin hat getan, was er tun musste. Er muss Alanis allein finden“, meinte Toby. „Komm jetzt!“ Er reichte ihr die Hand und zog sie auf die Beine. Vicy nahm ihren Bogen in die Hand. Toby verwandelte sich in einem Wolf und Tena schnallte ihm vorsichtig die Tasche um, die er extra für Toby gemacht hatte. Tobys Pfote war inzwischen verheilt und er konnte wieder ohne Probleme auf vier Beinen laufen. „Ich schlage vor, dass wir alle zu Fuß gehen und die Drachen schonen. Ciara muss sich ausruhen und ein wenig Zeit für sich haben. Es ist für sie nichts mehr so, wie es einmal war. Hätte Kevin die Verbindung wenigstens richtig getrennt!“, sagte Tena wütend. „Hat er das denn nicht?“, fragte Vicy. „Nein. Sie merken immer noch, wenn der Andere Angst hat oder verletzt ist. Und wenn einer der Beiden stirbt, stirbt trotzdem auch der Andere. Wenn wir den Burschen wieder sehen, werde ich mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden!“, kündigte Tena an und knackte mit den Fingerknöcheln.

Toby trug die Waffen und den Proviant, während die Drachen los flogen. Vicy und Tena mussten aufpassen, im Eis nicht auszurutschen. Toby hatte wegen seinen behaarten Pfoten kein Problem. Er sprang über das Eis und brachte das Gepäck zuverlässig jeden Berg hinunter.

Vicy stolperte und kullerte einen Teil des Berges hinunter. Toby stoppte sie, indem er sich direkt vor sie stellte. Vicy hatte Schnee im Kragen und in den Haaren. „Mir ist eiskalt!“, sagte sie fröstelnd. Sie dachte daran, dass Kevin nicht einmal Schuhe dabei hatte.

Sie drehte sich um und schaute zurück, in Richtung Lager. „Wenn ich doch auch zaubern könnte, wie Kevin. Oder Tena.“ Da erinnerte sie sich an einen Gegenstand, den ihr Kevin einmal gegeben hatte. Bei den Elfen, vor sehr langer Zeit.

Sie holte das Messer aus der Tasche, das sie immer bei sich trug. „Es ist aus demselben Material wie das Amulett. Es enthält Zauberkräfte“, hatte Kevin damals gesagt. Vicy umschloss es fest mit der Hand. „Reykju luifná simes!“, flüsterte sie leise und eindringlich. Aus dem Schnee erhob sich ein kleines Tier. Es wuchs und wuchs. Endlich nahm es die Gestalt eines Pferdes an. Das Tier war schneeweiß und seine Augen glänzten dunkelbraun. Das Pferd schaute Vicy an, als erwarte es einen Befehl. Es wieherte leise. Vicy sah sich nach Tena und Toby um, doch sie hatten nichts gehört. „Finde Kevin!“, sagte Vicy leise. Das Pferd hob den Kopf und sog die Luft ein. Dann galoppierte es davon.

 

 

 

Vierzehntes Kapitel: Die Höhle von Finthrin Hult

 

Kevin hatte sich damit abgefunden, dass er fürs Erste festsaß. Kevin wunderte sich, dass er in der Tasche des Riesen nicht zerquetscht wurde. Ab und zu sah er aus der Tasche heraus, um zu sehen, wo sie waren. Er kannte das Gebiet schon lange nicht mehr.

Der Riese blieb stehen und holte Kevin aus seiner Hosentasche. „Knirps! Sag deinen Rabenfreunden, wenn sie misch nischt in Ruhe lassen, fresse ich sie zum Abendessen!“ „Krawp, lasst ihn in Ruhe! Ich würde ihm zutrauen, dass er euch wirklich frisst!“, warnte Kevin die Raben. Krawp krächzte den Raben etwas zu und sie verschwanden. Dann landete er auf Kevins Schulter. Der Riese sah den winzigen Raben an. „Nur damit ihr das wisst: Isch bin ein friedlischer Riese und fresse keine Raben!“ Damit steckte er Kevin zurück in die Hosentasche. Krawp setzte sich auf den Kopf des Riesen.

Nach einiger Zeit klopfte Krawp mit dem Fuß auf den Kopf des Riesen: „Wohin gehen wir eigentlich, Dickerchen?“ „Finthrin Hult!“, sagte der Riese, ohne eine Erklärung dazu zu geben.

Der Riese kratzte sich am Kopf und Krawp flatterte empört auf, als ihm die dicken Finger des Riesen zu nahe kamen. Er flattert e zu Kevin hinunter und steckte seinen Kopf in die Hosentasche. „Bist du noch da?“ Kevin streckte den Kopf heraus. „Ja!“ Krawp setzte sich auf Kevins Schulter. „Gut. Ja, ja!“ Dann steckte er den Kopf unter die Flügel und begann zu schlafen.

Kevin beobachtete die Landschaft um sie herum. Überall nur Schnee. Er fragte sich, was Vicy jetzt wohl tat. Da hielt der Riese an und holte ihn aus der Tasche. Sie standen vor einem großen Berg. „Das ist ja… die Höhle von Finthrin Hult!“, sagte Kevin. „Ich habe davon gelesen: Man sagt, dass es darin spukt!“ Kevin sah den Riesen an. „Du wirst sehen.“ Der Riese betrat die Höhle.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fünfzehntes Kapitel: Die Ausläufe des Abor-Gebierges

 

Das weiße Pferd war in der Ferne verschwunden. Vicy stand auf und lief Toby und Tena hinterher. Sie sah die ersten grünen Pflanzen, der Schnee taute. Vicy zog die Handschuhe aus und steckte sie in die Tasche, die Toby trug.

Die Abhänge waren nun nicht mehr so steil. Vicy sah einige Bäume und endlich war der Schnee vollkommen weg. Es wurde flacher und flacher. Schließlich hatten sie das Abor-Gebirge hinter sich gelassen. Vicy war völlig erschöpft. Da die anderen Beiden auch müde waren schlugen sie hier ihr Lager auf. Toby besah sich alles genau, denn er hatte sein ganzes Leben in den Bergen verbracht, wo das ganze Jahr über Schnee lag und hatte noch nie Pflanzen gesehen.

Vicy machte Feuer. Dann nahm sie ihren Bogen und ging mit Toby auf die Jagd, um sich abzulenken. Als Toby ein Reh sah, verwandelte er sich sofort in einen Werwolf. „Endlich mal was Anderes als die zähen Bergziegen!“, sagte er und leckte sich mit der langen Zunge über die Schnauze. Dann schoss er auf das Tier zu und erledigte es sofort. „Gut! So sparen wir Pfeile!“, lachte Vicy, als der große Wolf das Reh anschleppte.

Vicy und Toby gingen zurück zu Tena und Vicy zerlegte das Reh. Sie aßen und legten sich danach schlafen. Wieder musste Vicy an Kevin denken.

 

Im Morgengrauen brachen sie auf. Sie liefen nach Süd-Westen. Vicy konnte Saira und Ciara am Himmel erkennen.

Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Vicy hatte kaum geschlafen. Ihre Füße schmerzten noch immer. Bei jedem Schritt fielen ihr die Augen zu. Toby lief neben ihr. Er passte gut auf, dass Vicy nicht hinfiel. Er hatte sich nicht in einen Wolf verwandelt, da sein Arm wieder schmerzte.

Vicy hatte die Augen geschlossen und stolperte weiter. Sie hatte keine Zeit, die Umgebung zu beobachten, wie sie es immer tat. Daher war es auch nicht weiter erstaunlich, dass sie jemand ungesehen beobachtete…

 

 

 

 

Sechzehntes Kapitel: Die Stadt der Riesen

 

Kevin sah sich um. Rechts und links von ihm waren dunkle Felswände. Der Riese müsste sich leicht bücken, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen. Kevin saß auf seiner Hand und Krawp saß neben ihm. Der Riese summte leise vor sich hin.

Plötzlich wurde die Decke höher. Sie waren in einem Raum angekommen. Und hier sah Kevin etwas, was ich staunen ließ: Hier stand ein Dorf, ein Dorf aus Stein. Ein Dorf gebaut für Riesen. Der Riese nahm Kevin und setzte ihn auf den Boden. „Sieh disch um, wenn du willst. Aber nimm disch in Acht, Knirps. Die Riesen passen nischt immer auf, wo sie drauf treten!“, warnte ihn der Riese.

Kevin nickte und wanderte los. Er war noch immer barfuss, doch seine Füße hatten sich erholt und schmerzten nicht mehr ganz so stark. Krawp kreiste hoch über ihm. Kevin sah noch ein paar weitere Riesen, vielleicht drei oder vier, sie waren weit weg. Doch plötzlich sah er einen Riesen näher, viel zu nah, denn der Fuß des Riesen war direkt über ihm. Mit einem Aufschrei warf er sich unter dem Schatten des Fußes hervor. Der Riese hatte ihn gehört und drehte sich um. Dabei setzte er den Fuß wieder fast auf Kevin. „AAAHHH!“ Kevin sprang zurück. Im selben Moment hob ihn jemand in die Luft. „Pass auf, wo du hintrittscht, Langbart!“, befahl jemand dem Riesen. Kevin erkannte den Riesen, der ihn vor dem Troll gerettet hatte. „Danke!“, keuchte er. „Keine Ursache!“, erklärte der Riese.

Krawp beobachtete aufgeregt die Riesen. Es war seltsam, den Raben in Relation zu den Riesen zu sehen. Für die Riesen war Krawp nicht mehr als eine Obstfliege.

Kevin musste über den Vergleich lachen. Das erinnerte ihn an Ciara. Wie er einmal ihre Schuppen mit den Blütenblättern einer Rose verglichen hatte. Und er wurde wieder traurig. Der Riese steckte Kevin in die Hosentasche und sagte: „Du kannscht disch nachher umsehen. Jetzt laufen viele Riesen herum.“

 

 

 

Siebzehntes Kapitel: Kobold

 

Vicy lief durch dichtes Dornengestrüpp. „Irgendwo muss doch eine Lichtung sein!“, murmelte sie. Da entdeckte sie endlich eine. Erschöpf ließ sie sich auf den Boden gleiten, kaum dass sich die Bäume gelichtet hatten. Sie holte ihre Feldflasche heraus und trank einen großen Schluck. Dann reichte sie die Lederflasche an Toby weiter.

Vicy war zu müde um Feuerholz zu suchen, also ging Tena los. Toby blieb bei Vicy. „Wie geht es Kevin jetzt wohl?“, fragte Toby. Vicy hatte sich ins Gras gelegt und die Augen geschlossen. Nun öffnete sie sie wieder. „Das kann ich dir nicht sagen. Aber ich wünsche mir nichts mehr, als ihn wieder zu sehen!“

Toby sah, dass Vicy kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Er setzte sich zu ihr und legte freundschaftlich einen Arm um sie. „Es wird ihm gut gehen. Ganz bestimmt!“ Vicy schüttelte den Kopf.

„Woher willst du das wissen?“, fragte Vicy mit gesenktem Blick. Toby dachte nach. Ja, woher sollte er das eigentlich wissen? Er spürte es einfach, es musste Kevin gut gehen, es durfte einfach nicht anders sein. Doch wie sollte er Vicy das erklären? Da hatte er eine Idee: „Was sagt dir dein Herz?“ Vicy sah ihn an. Dann lächelte sie. „Dass es ihm gut geht.“ „Na also!“ Toby stand auf und zog Vicy hoch. Victoria ging es jetzt besser. Sie aß und lachte mit den Anderen, jeder traurige Gedanke war wie weggeblasen.

 

Sie waren so unaufmerksam. Da saßen sie. Und lachten. Hörten ihn nicht. Hörten nichts. Er beobachtete sie schon so lange. Das Mädchen war müde, er sah es in ihren Augen. Der Wolfsjunge hatte Angst um sie. Er mochte sie. Sie mochte ihn auch. Und doch war sie für jemand anderen bestimmt. Er erkannte die Gefühle Anderer sofort. Der Boss hatte nichts von einem Wolfsjungen gesagt. Doch er hatte gesagt, dass der Junge und das Mädchen sich mochten. Und der Wolfsjunge war der einzige Junge hier. Der alte Mann war wachsam, doch er hörte ihn nicht. Das wäre die Gelegenheit! Schnell würde er hervorspringen, schnell wie eine Schlange und wieder verschwinden. Verschwinden, sobald er das hatte, was er wollte. Was er holen sollte. Er machte sich zum Sprung bereit.

 

„Habt ihr das gehört?“, fragte Toby. „Was?“ Vicy spitzte die Ohren. „Ich höre nichts.“ „Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet.“ Toby ließ seinen Blick umherschweifen. Er wollte sich gerade wieder seinem Essen zuwenden, als er es wieder hörte. „Da ist etwas in den Dornen!“, sagte er leise. „Wer soll sich denn da freiwillig herumtreiben?“, wollte Vicy wissen. „Aber da ist etwas!“, beharrte Toby und stand auf.

 

Der Wolfsjunge kam auf ihn zu. Jetzt oder nie!

 

Toby machte noch einen Schritt. Da sprang ihn ein kleines Wesen an, das ungefähr so groß wie eine Katze. „AAHH!!! Hilfe! Mach es weg! Mach es weg! Vicy! Tena!“ Toby schlug um sich, während das Wesen im das Gesicht zerkratzte und ihn immer wieder biss. Tena und Vicy stürzten auf Toby zu, um ihm zu helfen, doch das Wesen biss kräftig in Tobys Schulter und ließ ihn nicht mehr los. „Macht doch was!“, brüllte Toby, der aus mehreren Wunden blutete. „Lass ihn sofort los!“, kreischte Vicy und hielt der kleinen Kreatur ihr Messer an die Kehle. Das Biest knurrte und ließ Toby dann los. Dann begann es zu husten und spuckte einige kleine Fleischklumpen aus, die er Toby ausgebissen hatte. Es war klein, hatte einen Schwanz und dunkelgraues kurzes Fell. Es hatte leichte Ähnlichkeit mit einem Affen. Toby sprang auf und wich zurück. „Wer oder was bist du?“, fragte Vicy. „Das ist ein Kobold“, erklärte Tena. Vicy packte den Kobold im Nacken. Der Kobold knurrte und begann um sich zu schlagen und Vicys Arm zu zerkratzen. Vicy war das egal und sie hielt ihn mit eisernem Griff fest. Doch irgendwie schaffte der Kobold es, an Vicys Arm zu kommen und biss mit voller Kraft hinein. Vicy schrie auf und ließ ihn los. Der Kobold wollte fliehen, doch Toby reagierte blitzschnell und warf seinen Umhang auf den Kobold. Er packte die Enden des Umhangs und hielt so den Kobold gefangen. Er schüttelte ihn erst einmal kräftig durch. „Na, wie gefällt dir das?!“, fragte Toby ihn wütend. Doch der Kobold schlitzte mit seinen langen Krallen den Umhang auf und fiel auf den Boden. Tena packte ihn am Schwanz und hob ihn hoch. „Schluss jetzt!“ Er nahm einen Strick und fesselte den kleinen Kobold umständlich.

Dann sagte er: „Wir können ihn nicht wieder laufen lassen! Er würde zu Ramor laufen und uns verraten.“ Toby nickte und presste seine Hand auf eine blutende Wunde. „Zeig mal!“, sagte Victoria. Toby zeigte ihr sein Gesicht und die Arme und Beine. Er hatte zwei große Kratzer im Gesicht und eine tiefe Bisswunde, die stark blutete. Dann noch ein paar Bisse, die nicht so stark bluteten. An seinen Armen hatte der Kobold ein großes Stück Fleisch heraus gebissen und sie völlig zerkratzt. Auch an Tobys Beinen waren blutige Striemen. Vicy sammelte ein paar Kräuter und verarztete Tobys Verletzungen. „Danke!“, bedankte sich Toby. „Das nächste Mal, dreh ich dem Biest den Hals um!“, fügte er hinzu. Vicy lachte nur. Sie wusste, dass Toby es ernst meinte, doch es war nicht so einfach, einen Kobold zu besiegen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Achtzehntes Kapitel: Zukunftsspiegel

 

Kevin schlenderte durch das Dorf der Riesen. Jetzt war tatsächlich nicht mehr so viel los. Kevin sah sich alles genau an. Der Riese hatte Kevin sein Haus gezeigt und ihm seinen Namen verraten: Tajak.

Kevin sah sich einige Häuser an. Die Riesen hatten eine Menge zu bieten: Einen Waffenschmied, sogar einen Bäcker und einen Wahrsager, er sah eine Kirche und eine große Halle, wo alle Riesen gemeinsam aßen. Der Wahrsager interessierte Kevin. Er betrat das Zelt. Ein Riese saß auf einem dicken Kissen. „Du kommst spät!“, sagte der Riese. „Ja, ich weiß, das sagen alle Wahrsager, um besonders schlau zu wirken!“, sagte Kevin. „Nein, ich meine, dass ich vor einer halben Stunde geschlossen habe!“, erwiderte der Riese.

„Also. Was möchtest du? Karten legen, Zukunft vorhersagen? Oder möchtest du… Da fällt mir etwas ein!“ Der Riese stand auf und nahm Kevins kleine Hand. „Oh, du bist aus dem Norden?“, sagte der Riese. „Stimmt. Woran erkennst du das?“, fragte Kevin und sah auf seine Hand. „Du hast gelernt, zu schreiben.“ Kevin fragte nicht weiter, sondern sah gebannt zu. „Du… Das kann nicht sein!“ Der Riese sah Kevin an. Kevin starrte zurück. „Doch…“ Der Riese dachte nach.

„Ich kann dir etwas anbieten. Ich habe es noch nie jemandem angeboten, doch ich denke, es wird sehr hilfreich für dich sein!“ Er nahm eine Schale aus Stein und dann eine Flüssigkeit, die etwas trüb war. Sie sah aus wie Öl, oder etwas Ähnliches. Er füllte die Flüssigkeit in die Schale. „Was ist das?“, fragte Kevin. „Nun, du ließ sicher viel. Das kann man an deiner Hand auch erkennen. Dies hier, wirst du aus einigen Geschichten kennen. Jedenfalls etwas Ähnliches. Es hat keinen Namen, es gehört einfach zur Kunst des Wahrsagens. Wenn du hier hineinsiehst, kannst du mit etwas Glück in die Zukunft, oder besser gesagt in die Pläne deiner Feinde sehen“, erklärte der Riese. Kevin hatte schon oft von solchen „Zukunftsspiegeln“ gelesen. Doch jetzt hatte er Angst, hineinzusehen. Der Riese sah, dass er zögerte. „Du musst nicht, wenn du nicht willst. Es kann schrecklich sein, die Pläne seiner Feinde zu kennen. Doch vielleicht kannst du sie verhindern!“ Kevin sah den Riesen an und trat dann noch einen Schritt an die Schüssel heran. Er sah angestrengt hinein. Der Riese murmelte etwas Unverständliches. Kevin starrte die Oberfläche der Flüssigkeit an, die sich langsam zu verändern begann. Er sah zuerst ganz verschwommen eine Burg, oder eher einen Turm.

Das Bild wurde klarer… Kevin sah die Solektho, eine Art verfaulter Skelette, denen Alanis wieder Leben eingehaucht hatte… Da erkannte er auch Alanis. Sie stand inmitten der Solektho… Plötzlich sah es aus, als würde Kevin rasend schnell auf Alanis zukommen… Plötzlich war es dunkel… Dann sah er wieder etwas… Er konnte Narel sehen. Dann hatte Kevin das Gefühl, als würde wieder jemand heranzoomen. Er sah seine Eltern… Seine Geschwister… Die Solektho zogen in den Kampf… Plötzlich erkannte er ein Mädchen... Es war seine Schwester Leila … sie wurde von den Solektho festgehalten… Sie versuchte sich zu wehren, doch sie war zu schwach… Sie schlug wütend um sich und schrie… Plötzlich sah sie direkt zu Kevin… Er konnte sehen, was sie dachte: Warum bist du nicht hier? Wo bist du? Du müsstest hier sein, um uns zu helfen…

 

 

 

 

Neunzehntes Kapitel: Die Flucht aus der Höhle von Finthrin Huld

 

Mit einem Aufschrei riss Kevin sich von dem Bild los und stolperte zurück. „Nein! Das ist nicht möglich!“, schrie Kevin und sah den Riesen an. „Ich weiß, was du gesehen hast! Doch es ist wahr. Das Elfenmädchen plant einen Angriff auf deine Freunde.“ Doch Kevin hörte nichts mehr. Er war hinausgerannt. Der Riese wollte ihm etwas nachrufen, doch dann schüttelte er den Kopf.

Kevin rannte im Zick-Zack zwischen den Füßen der Riesen hindurch. Er musste Tajak finden. „Tajak!!!“ Kevin brüllte sich die Seele aus dem Leib. Wo war er? „Tajak!“ In dem Moment wurde er vom Boden hochgerissen. „Du solltescht nischt alleine hier herumlaufen!“, sagte Tajak. „Tajak! Gut dass ich dich gefunden habe, ich brauche deine Hilfe! Meine Freunde sind in Gefahr!“ Schnell schilderte Kevin sein Problem. Tajak hörte ihm zu. Dann sagte er: „Ich kann deine Angst verstehen. Ich werde etwas machen, was seit hunderten von Jahren nicht passiert ist. Ich werde einen Rat einberufen. Dann werden wir entscheiden, ob wir in den Krieg ziehen!“ Kevin zuckte die Schultern und setzte sich auf die Hand des Riesen. Der Riese durchquerte mit riesengroßen Schritten das Dorf und kam vor der Halle zu stehen. Er klopfte gegen die Holztür und trat ein. Ein alter Riese saß auf einem Stuhl, links und rechts von ihm jeweils vier weitere Riesen. „Tajak!“, rief der Riese, der der König oder zumindest der Häuptling zu sein schien, „Was führt dich heute hierher?“ Tajak verneigte sich unbeholfen und sagte dann: „Eine nicht sehr erfreuliche Nachricht!“ Schnell schilderte Tajak die Situation und Kevin bestätigte ab und an etwas durch ein Kopfnicken.

Der König stieß ein langes „Hmmm“ aus und senkte den Kopf. Er schien über etwas nachzudenken. Dann hob er den Kopf und redete in einer anderen Sprache zu Tajak. „Das musste ja kommen, sonst wäre es ja langweilig gewesen!“, seufzte Kevin leise. Er beobachtete die Reaktionen der Riesen. Tajak nickte einige Male oder schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich zu Kevin um. „Wie gesagt, wir werden einen Rat einberufen, in dem entschieden wird, was wir tun!“, sagte Tajak. Dann stand einer der Riesen auf und blies in ein Horn. Kevin musste sich die Ohren zuhalten, weil es so laut war. Kurz darauf öffnete sich die Türe und eine Menge Riesen strömte herein.

Kevin flüchtete unter Tajak um sich zu schützen. Krawp setzte sich auf seinen Kopf. „Komische Wesen, diese Riesen, ja, ja!“, sagte Krawp und nickte heftig mit dem Kopf. Als sich alle Riesen an den langen Tisch gesetzt hatten, begann Tajak zu reden. Kevin verstand kein Wort von dem, was er redete, also setzte er sich etwas abseits auf den Boden.

Tajak redete ununterbrochen auf die Riesen ein. Kevin hatte nicht viel Hoffnung, denn die Riesen schüttelten abfällig den Kopf.

Nervös begann er zu zappeln. Dadurch lenkte er die Aufmerksamkeit einiger Riesen auf sich. Nach einiger Zeit stand ein Riese auf und grunzte wütend. Er packte Kevin und nahm ein Glas. Er setzte Kevin auf den Tisch und stülpte das Glas über ihn.

Kevin drückte dagegen und hämmerte mit den Fäusten an das Glas, doch er blieb darunter gefangen. Krawp hatte die Gefahr rechtzeitig bemerkt und war weggeflogen. Nun kam er und klopfte von außen mit dem Schnabel dagegen. „Da sitzt du wohl erst einmal fest!“, sagte er wieder in Kevins Kopf. Doch schon kam Tajak und befreite Kevin. „Wir haben entschieden, kleiner Mensch!“, sagte der König. „Wir haben mit dem Krieg der Menschen nichts zu tun!“ Kevin erstarrte. „Tut mir Leid, Knirps!“, sagte Tajak und wollte Kevin auf die Hand nehmen. Doch Kevin stieß ihn weg. „Aber das könnt ihr nicht tun!“, brüllte er. Die Riesen sahen ihn an. „Deine Freunde werden ohne uns auskommen müssen!“, bedauerte der Häuptling. Kevin sah Tajak an. „Du hilfst mir doch! Nicht wahr, Tajak? Das tust du doch? Oder?“ Kevin sah Tajak bittend an, doch dieser senkte den Kopf. „Das kann ich nicht, Knirps!“ Da wurde Kevin endgültig wütend. „Ich bin kein Knirps! Ich bin sehr groß für mein Alter!“, schrie er und rannte aus dem Raum. Er rannte aus dem Dorf in den Tunnel hinein.

Und plötzlich hatte er sich verirrt.

„Auch das noch!“, stöhnte er. „Wo soll ich denn jetzt lang?“ Er betrachtete zwei Tunnel, die völlig identisch aussahen. Er wählte auf gut Glück den Linken. Vorsichtig ging er hinein und musste schon bald feststellen, dass der Tunnel in einer Sackgasse endete. Also drehte er um und ging zurück. Er konnte kaum etwas sehen, doch schließlich hatte er die Stelle gefunden, wo die Tunnel sich gabelten. Er wählte nun den Rechten. Kevin lief vorsichtig durch den Tunnel. Die Dunkelheit nahm überhand, Kevin konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Kevin tastete sich an der Wand entlang. Der Boden fiel leicht ab und Kevin stolperte immer wieder. Plötzlich war der Boden unter seinen Füßen verschwunden.

Kevin fiel in ein dunkles Loch, er riss sich bei dem Versuch, an den steilen Felswänden halt zu finden, die nackten Füße auf. Plötzlich war wieder Boden da. Mit einem harten Aufprall landete Kevin inmitten kleiner Knochen. Panisch rappelte Kevin sich auf. „Das musste ja so kommen!“, dachte er, während er vorsichtig in einen Tunnel ging. Er versuchte herauszubekommen, was hier lebte und so gerne Fleisch fraß. Da landete Krawp auf seiner Schulter. „Was ist das Krawp?“, wollte Kevin wissen. Der Rabe beäugte den Boden. „Nie gesehen! Ja, ja!“ Kevin überlegte. „Also, es könnte eine Riesenschlange sein, oder eine Fleisch fressende Pflanze, oder eine Riesenspinne oder sonst irgendetwas. Was Anderes wäre zu langweilig!“, sagte Kevin sarkastisch.

Krawp beobachtete aufmerksam die Umgebung. „Schnell weg!“, krähte er dann und flog davon. „He, bleib hier!“, rief Kevin und stolperte Krawp hinterher.

Plötzlich hörte Kevin ein seltsames Geräusch hinter sich. Es klang wie ein Gähnen eines sehr großen Tieres. Kevin drehte sich langsam um.

Hinter ihm ließ sich gerade eine gewaltige Fledermaus von der Wand gleiten. Kevin stolperte zurück. Die Fledermaus war etwas größer als Ciara.

Einen Moment lang starrte Kevin das Ungetüm entsetzt an, dann drehte er sich um und rannte in Panik durch den Tunnel.

Die Fledermaus war nun vollständig wach und hangelte sich durch den Tunnel vorwärts. Der Tunnel war zu niedrig und sie konnte nicht fliegen, also kletterte sie an den Wänden entlang und nahm Kevin gleichzeitig die Möglichkeit an ihr vorbei in den Tunnel zu fliehen.

Kevin sprang noch immer barfuss über die scharfen Felsen. Die Fledermaus schnappte nach ihm. Plötzlich landete Krawp auf Kevins Schulter. „Ich habe einen Ausgang gefunden, ja, ja!“, erklärte er aufgeregt. Er flog vor und Kevin folgte ihm. Die Fledermaus holte auf. Kevin konnte das Geräusch ihrer scharfen Krallen hören, die über die Felswände schabten.

Den Wind spüren, den die ledernen Flügel machten.

Er versuchte den Schmerz zu ignorieren, den seine Füße meldeten. Er rannte Schritt für Schritt weiter. Jede seiner Bewegungen kam ihm wie in Zeitlupe vor.

Da sah er ein kleines Loch. Es war so groß, dass Kevin gerade durchkrabbeln konnte. Schnell ließ er sich auf alle Viere fallen und rutschte in den Gang. Er krabbelte ein Stück, dann fiel er hin und kullerte den kleinen Abhang hinunter. Er stieß sich an den Wänden den Kopf an.

Plötzlich fiel er aus dem Loch auf den Boden. Er war draußen. Im Schnee. Zurück in der eisigen Wildnis. Krawp landete im Schnee. „Das war knapp, ja, ja!“, krähte er.

Kevin wischte sich den Schnee aus dem Kragen. „Wo sind wir, Krawp?“, fragte Kevin. Krawp scharrte im Schnee und sah sich um. Nichts als Schnee. „Nirgends, keine Ahnung wo wir sind!“, sagte er und hackte mit dem Schnabel auf den Schnee ein. Kevin stand auf. Krawp sah ihn erwartungsvoll an. „Ich denke, wir sollten da entlang gehen!“, riet Kevin. Obwohl er nicht wusste, wohin sie gingen, stapfte er los.

 

 

 

 

Zwanzigstes Kapitel: Die Verfolger

 

Vicy kniete auf dem Boden. Sie sah sich den Boden an. Er war weich, mit etwas Laub bedeckt und man konnte leicht darin einsinken. Vorsichtig führ sie mit der Hand über den Boden. In der aufgeweichten Erde konnte sie die Spur einer Herde Rehe entdecken. Sie sah auf und folgte der Spur durch den Wald. Neben ihr rannte ein großer Wolf leichtfüßig durch die Bäume. Vicy hatte seit dem Aufbruch aus dem Abor-Gebirge vor vier Tagen keinen einzigen Pfeil mehr verschwenden müssen. Toby erledigte die Beute so schnell und geschickt, dass sie keine Waffen brauchten.

Toby hob den Kopf und heulte. Vicy gefror das Blut in den Adern. Es war kein tierisches Heulen, denn Toby war ja eigentlich ein Mensch. Und trotzdem hörte sich das Heulen auch nicht menschlich an.

Plötzlich ertönte aus dem Wald ein ähnliches Heulen. Toby verstummte und zog die Lefzen hoch. „Was hast du?“, fragte Vicy ängstlich. „Sie sind uns gefolgt!“, knurrte Toby. „Wer?“ „Die Werwölfe!“, sagte Toby und klemmte den Schwanz ein. Dann rief er: „Komm mit!“ und verschwand in die andere Richtung im Wald.

Vicy rannte ihm hinterher. Sie konnte nur die Spuren, die seine Pfoten hinterlassen hatten, sehen.

Sie hörte das Rascheln der Blätter und die Luft, die an ihren Ohren vorbeirauschte. So rannte sie lange Zeit weiter. Sie strauchelte und wäre beinahe gefallen, erlangte aber im letzten Moment das Gleichgewicht zurück. Ihre Kraft ließ nach.

Sie blieb keuchend stehen.

Und plötzlich wusste sie, dass Toby fort war, sie jedoch nicht alleine war. Sie sah sich um. In den Büschen lauerte Etwas. Etwas, das nur darauf wartete, zuzuschlagen. Victoria wusste nicht in welche Richtung sie sehen sollte, um sich notfalls verteidigen zu können. Sie drehte sich im Kreis. Die Zweige raschelten, Schatten huschten an ihr vorbei. „Wer ist da?!“, fragte sie mit schriller Stimme. Doch sie bekam keine Antwort. Trotzdem wusste sie, dass es Werwölfe waren. Sie sah sich nach einer Waffe um, einem Stein, einem Stock, irgendetwas. Sie entdeckte einen Stock, doch er lag außerhalb ihrer Reichweite. Sie hatte keine Zeit, nachzudenken, denn aus den Büschen schoss erst ein Wolf, dann ein Zweiter und ein Dritter hervor. Vicy wich zurück, aber sie war von inzwischen sieben Wölfen umzingelt.

„Wen haben wir denn da? Noch ein Zweibein? Dich kennen wir doch!“, knurrte einer der Werwölfe drohend. „Genau! Du warst doch bei dem Burschen, der eigentlich unsere Beute war, bis Toby ihn uns weggeschnappt hat!“, sagte ein Zweiter. Dann sah er zu dem größten der Wölfe, der der Anführer zu sein schien. „Angriff!“, sagte dieser. Die Wölfe sprangen auf Vicy zu. Vicy schrie und stolperte zurück. Da sprang Toby aus den Büschen und biss einem der Wölfe in die Schulter. Vicy duckte sich, als ein Wolf auf sie zusprang. Die scharfen Krallen des Wolfen streiften ihren Rücken, als dieser über Victoria sprang. Vicy schrie vor Schmerz und Wut und als der Wolf wieder auf sie lossprang, packte sie einen Stein und schleuderte ihn dem Wolf, der so groß war wie ein Pferd, an den Kopf.

Der Wolf blieb benommen liegen. „Lauf Vicy!“, rief Toby und biss einen weiteren Wolf. Vicy drehte sich um und rannte davon. Toby folgte ihr. Hinter ihm rannten die verbliebenen sechs Wölfe. Sie holten rasch auf. Toby rannte nun neben Vicy und die Wölfe waren nur noch einen knappen Meter entfernt. „SAIRA!!!“ Vicy schrie den Namen des Drachen so laut, dass die Wölfe mit schmerzverzerrtem Gesicht stehen blieben. Toby rannte noch ein Stück mit Vicy, da kam auf schon Saira. Sie walzte die Wölfe nieder als wären es Spielzeuge. Vicy kletterte auf ihren Rücken und reichte Toby, der sich in einen Menschen verwandelt hatte, die Hand. Saira schleuderte einen Wolf mit dem Schwanz beiseite und hob dann ab.

„Das war aber knapp!“, sagte Toby und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

 

 

Einundzwanzigstes Kapitel: Ein zufälliger Zufall

 

Kevin hatte die Arme um sich geschlungen. Der Wind wehte ihm ins Gesicht. Krawp saß auf Kevins Schulter und hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt.

„Wo sind wir, Krawp?“; fragte Kevin wieder. Krawp hob den Kopf und gähnte. „Tja. Ich weiß nicht!“, sagte er und reckte sich.

„Ich fürchte wir laufen in die völlig falsche Richtung!“, sagte Kevin. „Ich bin müde und nass, mir ist kalt und ich habe seit gestern Mittag nichts mehr gegessen! Ich glaube nicht, dass wir hier jemals rauskommen!“, jammerte Kevin. Im selben Moment durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, kurz darauf noch einmal. „So darfst du gar nicht erst denken!“, sagte Krawp und hackte noch einmal mit seinem Schnabel auf Kevins Kopf.

„Hör auf!“, bat Kevin und versuchte Krawp von seinem Kopf zu wischen. Doch Krawp sprang in die Luft und stach Kevin wieder auf den Kopf. „Lass das!“, rief Kevin. Krawp piekste ihn noch einmal. Dann hatte er Erbarmen und setzte sich wieder auf Kevins Schulter.

Kevins Füße waren taub vor Kälte, Kevin spürte den Schmerz nicht mehr. Krawp flog ein Stück vor und kam nach einigen Minuten zurück. „Ich habe eine Höhle gefunden!“, sagte er und zeigte Kevin den Weg. Kevin sah schon bald einen Geltscher, in dem ein kleiner Riss war. Mehr war es nicht. Der Riss war gerade so groß, dass Kevin sich hineinzwängen konnte. Er drückte sich an das kalte Eis. Hier war es windgeschützt und der Schnee wirbelte nicht herein.

Krawp begann mit dem Schnabel kleine Eisklötze herauszuarbeiten und hatte sich bald ein hilfreiches Nest über Kevins Kopf gebaut.

Kevin fror nicht mehr so sehr. Langsam begann er einzuschlafen.

 

„Aufwachen! Aufwachen!“, krähte Krawp und trat mit dem Fuß auf Kevins Nase. „Was?“, Verschlafen setzte Kevin sich auf und sah sich um. „Wo sind wir?“, fragte er. Krawp schüttelte wieder den Kopf. „Weiß nicht!“ Kevin stand auf und wickelte den Umhang fester um sich. „Wohin gehen wir jetzt?“ Kevin sah zu Krawp. „Das musst schon du entscheiden!“, sagte der Rabe. Kevin kletterte aus dem Riss im Gletscher.

Es schneite kaum noch und man konnte weiter sehen. Sie gingen weiter durch den kniehohen Schnee. „Irgendwie müssen wir hier doch rauskommen!“, dachte Kevin verzweifelt. Da entdeckte er Fußspuren. „Krawp! Da sind Fußspuren! Hier muss es noch mehr Menschen geben!“, rief Kevin. Krawp segelte zu Boden und sah sich die Spuren an. „Nein. Wir sind im Kreis gelaufen!“, erklärte er und stiefelte zu Kevin zurück. Kevin wollte sich erschöpft in den Schnee gleiten lassen, doch irgendetwas zog seinen Blick auf sich. „Da… Da sind… Blumen!“ Kevin rannte einen Hang hinunter. Zwischen den weißen Flocken sah man ganz deutlich eine kleine gelbe Blume. „Krawp! Krawp, wir müssen hier entlang!“, rief Kevin. Weiter unten konnte er Gras sehen. Er rannte so schnell, dass nicht einmal Krawp mit ihm mithalten konnte. Als er am Fuße des Berges ankam, tanzte er vor Freude.

„Krawp, Krawp, wir haben es geschafft!“, quietschte Kevin und drückte den Raben an sich. Krawp schlug wild mit den Flügeln und versuchte sich zu befreien. „Oh, Entschuldigung!“ Kevin ließ Krawp los.

Kevin fand es wunderbar, wieder das Gras zu spüren, denn er war noch immer barfuss und seine Füße hatten vom Eis und Schnee wehgetan.

Vor lauter Freude rannte Kevin über die grüne Wiese, bis ihm die Füße wehtaten und er nicht mehr weiterkonnte. Dann ließ er sich ins Gras fallen. Ein paar Blumen blühten und versprühten einen wunderbaren Duft.

Krawp landete sanft im Gras und suchte nach ein paar Insekten. Kevin sah ihm zu, wie er die Würmer aus der Erde holte und genüsslich verschlang. Dann musste er an Vicy denken. Er hatte sie gerade erst wiederbekommen… und nun war sie wieder fort. Und Ciara… Er vermisste sie. Krawp hatte sich neben Kevin gestellt und sah ihn an. „Ich weiß, wo wir sind! Ja, ja!“, krähte er. „Wohin sollen wir denn jetzt?“, fragte Kevin. „Das musst du entscheiden, ja, ja!“ Kevin dachte nach. Sie mussten Alanis töten und das Amulett zurückholen. „Wenn wir zuerst das Amulett holen, lässt Ramor uns nicht mehr zurück. Wenn wir Alanis besiegen wollen, könnte es sein, dass wir das ohne das Amulett gar nicht schaffen!“, gab Kevin zu bedenken. „Aber wir müssen es wohl trotzdem versuchen.“ Damit setzte Krawp sich auf seine Schultern und Kevin ging einfach gerade aus. „Wir sind durch Zufall aus dem Abor-Gebirge herausgekommen. Lassen wir uns weiter vom Zufall leiten!“

 

 

 

 

 

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Die Aufgabe

 

Vicy saß am Feuer. „Und ich sage, wir bleiben zusammen!“, schimpfte Toby. „Vicy! Sag du doch auch einmal etwas!“, bat Tena. Seit einer geschlagenen Stunde stritten sich die Beiden, wie es weiterging und ob sie sich trennen und Kevin suchen sollten.

„Wir können uns wegen Kevin nicht noch einmal trennen“, flüsterte sie. „Aber wir müssen ihn doch suchen!“, sagte Tena. „Wir wissen nicht einmal, ob er noch lebt!“, sagte Toby und fing einen bösen Blick von Tena ein. „Entschuldigung!“, murmelte er, doch Victoria war schon in Tränen ausgebrochen. Hilflos standen Toby und Tena nebeneinander. „Vicy, was sollen wir tun? Du bist unsere Anführerin!“, sagte Toby. Vicy beruhigte sich wieder. „Wir müssen versuchen, Kevin zu helfen!“, flüsterte sie. „Wir müssen ihm einen Teil der Last abnehmen! Wir werden für ihn das Amulett finden!“

 

Tena stand da. Das konnte doch nicht ihr ernst sein! Das Mädchen war ja völlig verrückt geworden. „Wie meinst du denn, dass wir da hin kommen sollen?“, fragte Tena. Vicy sah auf. „Kevin hat so viel für mich getan, das bin ich ihm schuldig! Wir werden für ihn sterben!“, sagte Vicy leise. „Ramor wird uns nicht zurück lassen!“, sagte Toby. „Das ist mir egal.“

 

„Sie spinnt vollkommen!“, dachte Toby. Tobys Blick fiel auf den Kobold. „Schicken wir den, um den ist es wenigstens nicht schade!“, sagte er und zeigte auf das kleine Wesen. „Er soll in die Hallen seines eigenen Meisters einbrechen?“ Tena hob eine Augenbraue. „Das ist so verrückt, dass es funktionieren könnte!“, gab er dann zu.

 

Vicy stand auf und ging auf den Kobold zu. „So. Du wirst zu Ramor gehen, uns das Amulett holen und sofort hierher zurückkommen!“, befahl sie. Der Kobold nickte unsicher. Tena kam und sagte einen unverständlichen Zauberspruch. „So. Sollten sich deine Absichten ändern, wirst du unverzüglich darauf aufmerksam gemacht!“, warnte er. Vicy gab dem Kobold das Messer, das ihr Kevin geschenkt hatte. „Ich will nicht, dass du wie ein Dieb das Amulett stiehlst!“, sagte sie. „Lege dieses Messer dorthin, wo das Amulett war und komme dann zurück!“

 

 

 

 

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Narel

 

Kevin sah Krawp direkt über sich fliegen. Der Vogel hielt nach Feinden Ausschau, während Kevin ihm Abenteuer erzählte, oder wie er früher gelebt hatte. „Und dann hat Jeff zu Thomas gesagt, dass… Krawp?“ Krawp setzte sich auf einen Baum und starrte in die Ferne. „Ich sehe ein Dorf!“, rief er. „Was? Welches?“, fragte Kevin ihn aufgeregt. Sie waren bereits zwei Tage vom Abor-Gebirge entfernt, das Dorf könnte gut Narel sein. Kevin rannte los. Er rannte auf einen Hügel und konnte das kleine Dorf im Tal sehen. „Das ist es! Ich bin zu Hause!“, schrie Kevin fröhlich und rannte so schnell er konnte den Berg hinab.

Er lief die vertrauten Gassen entlang. Irgendwo hier musste sein Haus sein. Doch was Kevin von oben nicht sehen konnte, war die Verfassung der meisten Häuser. Kevin lief entlang, wo seine Schule gewesen war. Er hatte keine Zeit und sah sich nicht um. Doch langsam beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er hob den Blick…

Kevin sah nur die Ruinen der Häuser. „Was ist denn hier passiert!“, flüsterte er mit Tränen in den Augen. Die Schule war zum Großteil eingestürzt. Die Häuser rund herum hatten Brandflecken an den Wänden. Ein paar Holzhäuser waren vollkommen abgebrannt. Die Bäume lagen umgestürzt auf dem Boden. Kevin betrat den Schulhof. Das Klettergerüst, das Kevin so geliebt hatte, war nicht mehr zu erkennen. Nur eine blau angestrichene Holzlatte lag noch davon auf dem Boden. Krawp setzte sich auf Kevins Schulter und senkte traurig den Kopf. „Krawp. Was ist hier passiert?“, fragte Kevin verzweifelt. „Krawp!“ Krawp sah sich den Boden an. „Solektho!“, murmelte er traurig. Kevin bewegte sich Rückwärts von dem zerstörten Schulgebäude weg und drehte sich schließlich um und rannte.

Als er nicht mehr weiter konnte stand er an der Bäckerei. Auch sie war ausgebrannt. Kevin stand vor ein paar Büschen. In diesen Büschen hatte er als Kind oft gespielt. Er und seine Freunde, Jeffrey, Lindsay und Thomas hatten darin Höhlen gegraben. Kevin wandte sich ab und verbarg das Gesicht in den Händen. Plötzlich wurde er nach hinten gerissen und in die Büsche gezogen. Kevin strampelte und trat, doch der oder vielmehr die Angreifer hielten ihn fest.

Kevin sah seinen Angreifern in die Gesichter... Und schrie vor Freude auf. Er sah ein Mädchen mit braunen, lockigen Harren und braunen Augen. Sie hatte sich verändert, doch Kevin erkannte in ihr noch immer seine frühere Freundin Lindsay.

Auch Jeff und Thomas waren da. Jeffrey hatte kurze blonde Haare und Sommersprossen, Thomas’ Haare waren noch immer rotbraun und er hatte sie sich lang wachsen lassen, sodass sie ihm vorne in die Stirn fielen und bis zu den Schultern reichten. Er hatte eine Platzwunde auf der Stirn.

Erst als Kevin genauer hinsah merkte er, dass auch Jeff einige Wunden hatte und Lindsay leicht hinkte.

Als die Kinder bemerkten, dass Kevin sie kannte fragte Thomas: „Wer bist du?“ Kevin umarmte sie, womit die Kinder völlig überrascht waren. „Wer bist du?“, fragte Thomas wieder und rückte ihn verwirrt von sich weg. Kevin sah ihn an. „Erkennt ihr mich nicht mehr?“ Da hellte sich das Gesicht der Jungen auf und auch Lindsay erkannte Kevin schließlich.

„Kevin!“ Sie umarmte ihn stürmisch und auch die Jungen begrüßten ihn. „Was ist hier passiert?“, wollte Kevin wissen. Thomas, Jeffrey und Lindsay erklärten abwechselnd, dass seltsame Wesen, die nicht zu töten waren nach Narel gekommen waren und alles zerstört hätten. Kevin sah bestürzt zu Boden. Alanis hatte ihn gesucht. Und sie würde zurückkommen. „Was ist, Kevin?“, fragte Lindsay. „Ich…Ich muss euch etwas erzählen. Anfangs stockend erzählte Kevin seinen Freunden die Geschichte. Die drei sahen Kevin ungläubig an. „Der spinnt!“, sagte Jeff nur, als Kevin geendet hatte. „Nein! Ich sage die Wahrheit!“ In dem Moment kam Krawp hereingerauscht. Er hustete und fragte dann: „Wobei hast du Wahrheit gesagt?“ Lindsay, Thomas und Jeffrey erschraken gewaltig, als der Rabe zu sprechen begann. „Sie wollen mir nicht glauben, dass es Ramor und Ciara wirklich gibt!“, sagte Kevin. Die drei Kinder sahen Kevin an. Dann begannen sie zu lachen. „Wie machst du das?“, fragte Lindsay.

„Was?“

„Kannst du bauchreden?“, wollte Thomas wissen.

„Ihr seid so doof!“, schrie Kevin und krabbelte aus der Höhle. „Warum glauben sie mir nicht? Warum nur?“, schimpfte Kevin. „Na ja:

 

Du bist von Zuhause weggelaufen, mit einem Elf, der dich zu einem Volk gebracht hat, zwischen dem und uns angeblich Jahrhunderte Zeitunterschied sind und dennoch alles zur selben Zeit passiert, hast einen Drachen bekommen und ein Amulett, das dir Zauberkräfte verleiht, warst bei Elfen und Zwergen, hast einen Hirschen gesehen, der angeblich der Waldgott ist, hast gegen den Tod, also Ramor, einen Dämonen und zwei weitere Drachenreiter gekämpft, einer der Drachenreiter war eine Elfe, die nun unbesiegbar ist, deine Freundin ist eine Halbelfe und du hast sie von den Toten zurückgeholt, bist auf einen Werwolf getroffen und hast dich dann mit einem sprechenden Raben von deinen Freunden getrennt, bist durch eines der tödlichsten Gebirge gelaufen, wo du von einem Troll angegriffen und von einem Riesen gerettet wurdest und nun sitzt du hier und versuchst diese Geschichte deinen Freunden zu erzählen.

Würdest du dir selber glauben?“, fragte Krawp.

 

 

 

 

 

Vierundzwanzigstes Kapitel: Zurück

 

Vicy kletterte über umgestürzte Bäume. Sie waren zurück im Zwergenwald. Sie hatte versucht Kevin zu vergessen und sich wieder so zu fühlen, wie sie sich gefühlt hatte, bevor sie ihn kennen gelernt hatte.

Die Anderes waren hinter ihr. Toby schnüffelte an den Bäumen und knabberte am Gras. Tena verfing sich mit seinem Umhang immer wieder in den Ästen. Vicy schlüpfte zwischen den Zweigen eines Baumes hindurch. Neben ihr ging es ungefähr drei Meter in die Tiefe, so konnte sie an den Bäumen entlang klettern, ohne erst einen Stamm hinauf zu müssen. Es gab ihr das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit.

Sie sprang von einem Ast zum Anderen. Die Äste waren stabil und praktisch gewachsen. Vicy konnte auf ihnen stehen.

Vicy kletterte wie ein Affe den Baum entlang. Sie nahm Anlauf und sprang auf einen Ast zu. Sie verfehlte ihn und konnte sich im letzten Moment noch an dem Ast festhalten. Sie holte mit den Füßen Schwung und schwang sich auf den Ast. Dann balancierte sie ihn entlang und sprang herunter. Toby kam aus dem Gebüsch und schnupperte auf dem Boden. „Ich glaube, sie sind weg!“, sagte er. „Wer?“ „Na, die Werwölfe!“ Toby sah den Baum und nahm Anlauf. Er sprang auf den Ast und darauf lief entlang. Er kratzte an der Rinde und kaute auf den Blättern herum. Als er merkte, dass sie nicht essbar waren, kehrte sein Interesse zu Vicy zurück.

Vicy staunte darüber, wie geschickt der große Wolf auf dem Baum entlanglief. Toby duckte sich und sprang durch die Blätter auf den festen Boden. Tena war inzwischen auch da und sie konnten ihren Marsch fortsetzen.

Es wurde inzwischen dunkel. Toby legte sich erschöpft auf den Boden. Vicy setzte sich neben ihn. Tena schwitzte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Vicy machte Feuer, dann begann es zu regnen. Das Feuer ging wieder aus und Vicy versuchte es noch einmal, doch die Stöcke waren zu nass. Wütend schleuderte sie die Stöcke weg. Nichts wollte mehr funktionieren.

Sie legte sich hin und öffnete den Rucksack, den Tena trug.

„Was haben wir noch an Verpflegung?“, fragte Toby. Tena lachte. „Genug, dass der Rucksack so schwer ist, dass ich jetzt Rückenschmerzen habe!“ „Das nächste Mal kann ich ihn wieder tragen!“, bot Toby an.

Tena rieb sich die Schulter. Vicy holte ein Stück Trockenfleisch heraus und schloss den Rucksack. Vicy biss hinein und kaute, während Toby sich umsah. „Wo wohl der Misthaufen bleibt?“, fragte er. „Misthaufen?“ Victoria sah ihn verständnislos an. „Der komische Affe! Dieser Kobold!“, klärte Toby sie auf. Vicy zuckte die Schultern. „Keine Ahnung!“ Toby verwandelte sich wieder in einen Menschen. Vicy wusste jetzt, warum er dem Kobold den Namen Misthaufen gegeben hatte. Er hatte es nicht anders verdient. Tobys Gesicht war vernarbt, seine Arme und Beine auch. Er tat ihr Leid.

Toby nahm sich auch ein Stück Fleisch und setzte sich neben Vicy.

„Erzähl mir was!“, bat Toby plötzlich. Vicy sah ihn erstaunt an. „Was denn?“ „Keine Ahnung! Denk dir was aus!“, antwortete Toby. Vicy überlegte. Dann begann sie. „Es war einmal ein kleines Mädchen. Es lebte früher bei den Elfen, doch dort hielt sie es nicht mehr aus und rannte weg.“ „Ich glaube, ich kenne das kleine Mädchen!“, lachte Toby. Dann erzählte Vicy weiter. Sie erzählte alles, was sich bisher ereignet hatte, seit sie auf Kevin gestoßen war. Danach schwieg Toby eine lange Zeit. „Er hat dich wohl in ziemlich viele Gefahren mit hineingezogen!“, meinte er. Vicy nickte. „Ja, das hat er wohl!“

Dann flüsterte leise: „Aber er war immer da, um mich wieder rauszuholen!“ Toby legte ihr den Arm um die Schultern. „Sei nicht traurig! Du wirst ihn sicher bald wieder sehen!“, tröstete Toby sie. „Er ist stark und schlau! Er wird schon wissen, was er tut.“

 

 

 

 

 

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Happy Family

 

Kevin stand da und dachte nach. „Willst du damit sagen, dass ich mir das alles nur eingebildet habe?“, forschte er nach. „Das kannst nur du beantworten.“ Krawp flog über ihm und suchte die verwüstete Stadt ab. Plötzlich flog er im Sturzflug nach unten. „Sie kommen! Sie kommen! Sie greifen wieder an!“, krächzte er aufgeregt. Kevin machte auf dem Absatz kehrt und sprintete zu Lindsay, Thomas und Jeffrey zurück. „Raus da! Sie sind zurück!“, schrie er entgegen. Thomas steckte seinen Kopf aus den Büschen. „Du veräppelst uns doch nur!“, sagte er, doch ein unsicherer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Nein! Ich schwöre!“, rief Kevin. Thomas, Lindsay und Jeff kamen aus den Büschen gekrochen. „Ich habe schon oft gegen die gekämpft! Vertraut mir!“, erklärte Kevin seinen Freunden.

Er rannte im Zickzack durch die Häuser. Am Ende des Dorfes angekommen sah Kevin einen Trupp von ungefähr hundert Solektho. Lindsay wich erschrocken zurück. Über den Solektho schwebte ein Drache aus Rauch. Die Jungen blieben standhaft, doch auch sie hatten Angst. Im selben Moment schrie eine versteckte Stimme: „Aus dem Weg!“ Kevin drehte sich um und sah ein paar Soldaten mit Gewehren auf die Solektho zielen. Kevin rannte auf sie zu. „Das ist unmöglich! Ihr könnt sie so nicht töten!“ Die Soldaten riefen ihm etwas zu. „Verdammt noch mal, holt die Kinder da weg!“, rief einer den Anderen zu. Ein starker Mann packte Kevin und trug ihn, obwohl der Junge heftig strampelte, auf die Seite. Auch Lindsay, Thomas und Jeffrey wurden aus der Schussbahn gezogen. „Feuer!!!“, brüllte der Hauptmann. Kevin hielt sich die Ohren zu. Die Solektho lachten hohl. „Nein! Hört auf!“, schrie Kevin. Alanis lachte und rief mit lauter Stimme: „Ich wusste, dass du zurückkommen würdest!“

Dann schoss sie auf Phönix’ Rücken auf die Soldaten herunter. Kevin riss sich los und warf sich auf die Seite. Die trockene Wiese ging sofort in Flammen auf, als Phönix einen Feuerstrahl auf sie schoss.

Kevin rannte rückwärts in die Richtung der Solektho. Auch von anderen Seiten kamen Schüsse. Die Soldaten nahmen nun keine Rücksicht mehr auf die Kinder. „Jeff! Lindsay! Thomas!“ Kevin sah sich verzweifelt nach seinen Freunden um. Erst sprang Thomas durch die Flammen, dann folgten Lindsay und Jeffrey. Kevin warf sich auf den Boden. Dicht über ihm pfiffen die Kugeln durch die Luft.

Er zog sein Schwert und stürmte auf die Solektho zu. Er tötete den Ersten. „Ich müsst ihnen die Köpfe abschlagen! Nur so könnt ihr sie töten!“, brüllte er über den Lärm hinweg. Seine Freunde hatten begriffen. Jeff hob einen Stock auf und als einer der Solektho ihn angreifen wollte, schlug er ihm mit dem Stock ins Gesicht. Lindsay wurde von einem der vielen Untoten hochgehoben und trat ihm dann so feste in die Rippen, dass ein paar Rippen einfach wie morsche Stöcke zerbrachen. Der Solektho ließ sie fallen, doch Lindsays Fuß hatte sich in den Rippen der Kreatur verfangen.

Als der Solektho sie packen wollte, trat Thomas ihm so heftig ins Gesicht, dass das Genick des Wesens brach.

Kevin riss einem weiteren Solektho den Kopf ab. Da bekam er von hinten einen heftigen Schlag in den Rücken. Der Stoß war so hart, dass Kevin die Luft wegblieb. Kevin fiel auf den Boden. Er drehte sich blitzschnell um. Phönix landete direkt vor ihm. Kevin sah Thomas aus den Augenwinkeln, der ihm zu Hilfe eilen wollte, doch einer der Angreifer packte Thomas und warf ihn zu Boden.

Kevin hielt sein Schwert fest umklammert. „Wenn jetzt doch nur Ciara hier wäre!“, dachte er verzweifelt. Doch sie würde ihm nicht helfen. Phönix öffnete den Mund und wollte Kevin beißen, doch in dem Moment kam Krawp. Der Vogel hackte nach Phönix’ verbliebenem Auge. Phönix musste ausweichen und Kevin nutzte die Chance und eilte Thomas zu Hilfe. Lindsay und Jeff kämpften Seite an Seite. Die Soldaten ballerten noch immer kopflos auf die sich ihnen nähernden Solektho.

Krawp kämpfte gegen den Drachen, Kevin, Jeffrey, Thomas und Lindsay versuchten die Solektho aufzuhalten. Plötzlich sah Kevin eine kleine Gestalt, die ihm bekannt vorkam, auf sich zulaufen. „Kevin!“ Da erkannte Kevin das kleine Mädchen. „Leila, nein!“, brüllte er. Doch es war zu spät. Alanis hatte das Mädchen gesehen. „Die Kleine scheint dir am Herz zu liegen!“, sagte sie höhnisch und schritt langsam auf das Mädchen zu. „LEILA!!!“ Kevin rannte los, um Leila zu retten. Leila sah Alanis auf sich zukommen und rannte in Kevins Richtung. Das Kind lief zwischen den Solektho hindurch. Leila war gerade fünf Jahre alt. Alanis trat dem Mädchen in den Weg. „Kevin!“, schrie Leila ängstlich. Alanis wollte sie festhalten, doch da war Kevin schon da. „Finger weg von meiner Schwester!“, schrie er Alanis an und verpasste ihr einen Faustschlag ins Gesicht. Doch seine Hand glitt durch Alanis hindurch. Da sah Kevin die Kette. „Jetzt oder nie!“, schoss es ihm durch den Kopf und er hielt die Kette fest.

Als Alanis ihm auswich riss Kevin die Kette von ihrem Hals. Leila hatte inzwischen auch bei den Solektho Aufmerksamkeit erregt, doch bevor einer der Angreifer sie festhalten konnte, war Jeffrey neben ihr und verteidigte sie. Die beiden Anderen kämpften sich ihren Weg frei und halfen Jeffrey aus Leibeskräften.

Alanis hatte gemerkt, dass Kevin die Kette mit dem Smaragd hatte und schmiss sich auf ihn. Einen Moment lang kämpften die Beiden miteinander, dann siegte Alanis und entriss Kevin die Kette. Kevin rappelte sich auf.

Die Hälfte der Solektho war geschlagen. Alanis sah ein, dass die Gefahr für sie hier zu groß war und trat den Rückzug an. Auch die Solektho flohen.

Kevin keuchte schwer. „Wir haben es geschafft!“, sagte er und grinste. Jeff kam zu ihm. „Ich glaube dir die Geschichte jetzt. Es tut mir Leid!“

Auch die anderen entschuldigten sich. Dann nahm Kevin Leila auf den Arm. „Wo sind Mama und Papa?“, fragte Kevin sie, „Und wo sind Lily und Elijah?“ Leila begann zu weinen. Kevin zog sich der Magen zusammen. „Sag mir nicht, dass sie tot sind! Bitte!“, flehte er sie an. Leila schluchzte nur noch heftiger. „Leila! Was ist passiert?!“ Kevin schüttelte Leila. „Papa ist tot! Und Mama auch!“, weinte das Mädchen. „Wo sind Elijah und Lily?“, fragte Kevin verzweifelt. Leila gab keine Antwort. „Wo sind sie?“ Kevin sah Leila an. „Red doch endlich, verdammt noch mal!“, schrie er das Mädchen an. Leila weinte nun noch heftiger. Kevin wusste, dass es so zu nichts führen würde. „Es tut mir Leid, Leila!“, versuchte er sie zu beruhigen. „Es tut mir so Leid.“ Leila klammerte sich an Kevin. „Aber du musst mir zeigen, wo sie sind, hörst du? Leila! Hast du das verstanden?!“, fragte er sie eindringlich. Leila nickte.

Kevin setzte sie ab und Leila ging voraus.

Sie führte die Kinder zu einer verfallenen Hütte. Kevin hatte mit seinen Geschwistern hier oft gespielt. Leila kroch durch die Tür. „Lily! Elijah!“, rief sie mit ihrer kindlichen Stimme. Zwischen ein paar Kartons kamen zwei Kinder hervor. „Warum bist du weggelaufen?“, fragte der Junge. Kevin starrte die Kinder an. Elijah hatte dunklere Haare bekommen, sie waren leicht gelockt und seine Augen waren Wasserblau. Er musste jetzt zehn Jahre alt sein. Lily war das genaue Gegenteil von ihm: Ihre Haare waren blond. Sie war nun ungefähr sieben. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen grün. Beide hatten Angst, das sah man ihnen an.

Kevin kam hinter Leila herein. „Wer bist du?“, fragte Lily. Leila war wohl die einzige, die ihn wieder erkannt hatte. Dabei war sie doch damals erst ein knappes Jahr alt gewesen. „Erkennt ihr mich nicht mehr?“, fragte Kevin die beiden. Elijahs Gesicht hellte sich auf. „Kevin!“, rief er und umarmte seinen großen Bruder stürmisch. Hinter Kevin waren Thomas, Jeff und Lindsay hereingekommen.

Lily kam vorsichtig auf Kevin zu, doch als sie sich sicher war, dass er es wirklich war, umarmte auch sie ihn.

Dann wandte Kevin sich wieder Leila zu. „Wie hast du mich erkannt?“, wollte er nun wissen.

Elijah zog seinen Bruder zur Seite. „In letzter Zeit passieren seltsame Dinge mit uns“, erklärte er leise. „Leila weiß Sachen, von denen sie nichts wissen dürfte. Oder eher, die sie nicht wissen könnte!“, sagte Elijah. „Lily… Sie… Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber… Sie kann in die Zukunft sehen!“ Elijah sah Kevin an und suchte in seinem Gesicht nach irgendeinem Anzeichen danach, dass er seinen Worten Glauben schenkte. „Und was ist mit dir?“, fragte Kevin, der zunehmend blasser geworden war. Hatte das Amulett auch Wirkung auf seine Geschwister gehabt?

„Ich… Ich weiß nicht… aber…“ Elijah senkte die Stimme. „Ich weiß, was die Anderen denken. Was sie planen. Was sie fühlen. U-Und manchmal kann ich… Kann ich sie kontrollieren! Ich kann ihnen sagen, was sie machen sollen.“ Kevin sah Elijah an. Er wusste nicht, was er sagen sollte, um seine Geschwister zu beruhigen. „Das… Das tut mir Leid.“ Kevin senkte den Blick. Dann begann er die Geschichte zu erzählen. Alles. Er ließ keine Einzelheit aus. Lindsay, Thomas und Jeffrey standen daneben und hörten sich die Geschichte noch einmal an. Als Kevin fertig war sagte Lindsay: „Eins ist klar: Wir müssen etwas unternehmen. Aber was?“

 

 

 

 

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Leor

 

Vicy sah schon von weitem die Türme der großen Stadt. Ihrer Stadt. Sie liefen die Straßen entlang, bis sie zum Tor kamen.

Die Wachen sahen sie erstaunt an, dann knieten sie sich auf den Boden und geleiteten Vicy in die Stadt.

Als sie das Schloss betraten, wurden sie von den Sindern empfangen. Victoria freute sich wahnsinnig, alle wieder zusehen. Die Drachen saßen allein im Hof.

Ciara ging es schlecht, doch sie ließ keinen an sich heran, war abweisend und aggressiv zu allen und schnappte sogar ab und zu nach Saira.

Vicy dachte sich nichts dabei und ließ sie vorerst in Ruhe. Sie dachte an Kevin und wurde wieder von Trauer übermannt. „Sicher geht es ihm gut. Er ist kein Kind mehr. Er weiß, was er tut!“, beruhigte sie sich. Doch sie wusste, dass Kevin in schlechter Verfassung gewesen war, als er sie verlassen hatte. Vielleicht war es Alanis gelungen, ihn zu fangen. Da dachte Vicy das erste Mal seit Kevins Verschwinden an etwas Positives. „Kevin hat das Amulett nicht bei sich!“, wurde ihr schlagartig klar. „Alanis wird das wissen. Kevin würde ihr nichts nützen!“ Kevin war also vorerst, was Alanis betraf, in Sicherheit. „Aber was ist mit Hunger, Kälte, den gefährlichen Gletschern?“, musste Vicy wieder grübeln. „Du machst dir zu viele Sorgen!“, sagte sie sich, als sie ans Fenster ging und es öffnete. Die kühle Abendluft blies ihr ins Gesicht und wehte ihr die hellbraunen Haare aus dem Gesicht.

Sie sah in die Ferne. Von weitem kannte man den Zwergenwald als dunklen Schatten erkennen. Sie ließ sich aufs Bett fallen. Plötzlich hörte sie ein schabendes Geräusch an der Wand vor ihrem Fenster. Sie sah sich um und nahm einen Spazierstock, die nächst beste Waffe in der Umgebung.

Da schwang sich der Kobold über die Fensterbrüstung und kletterte herein. Vicy legte den Stock weg. „Hast du das Amulett?“, fragte sie. Der Kobold nickte. Er hatte es um den Hals hängen und nahm es nun langsam ab. Plötzlich schrie er auf und drehte sich um. Er stürzte zum Fenster. Vicy rannte hinterher und schlug das Fenster zu. Der Kobold, der sah, dass sein Fluchtweg versperrt war, floh nun in Richtung Tür. Vicy verfolgte ihn und stellte sich vor die Tür. „Hier geblieben!“, rief sie und packte das sich windende Wesen am Schwanz. Der Kobold hielt das Amulett mit beiden Pfötchen umklammert und zitterte. „Gib mir das Amulett!“, befahl Vicy. „Na los!“ Der Kobold ließ zaghaft das Schmuckstück los. Vicy sah sich im Zimmer um. Ihr blick blieb an einer Kiste hängen, gerade so groß, wie ein Schuhkarton, etwas höher vielleicht. Sie nahm den Kobold und steckte ihn hinein. „Da kommst du so schnell nicht heraus!“ Sie legte noch ein paar Bücher auf den Deckel, damit er nicht so leicht angehoben werden konnte. Der Kobold quiekte und schimpfte, trat gegen den Karton, schrie und fluchte, kreischte und quietschte. Vicy hielt sich eine geschlagene Stunde die Ohren zu und versuchte zu schlafen. Endlich riss ihr der Geduldsfaden. „Hör mir gut zu!“, schrie sie das Tier an, als sie den Deckel öffnete und den Kobold festhielt. „Ich kann dich entweder am Leben lassen, aber dann bist du jetzt still, oder ich werfe dich mitsamt der Kiste aus dem Fenster!“ Der Kobold hatte ganz ruhig zugehört und Vicy dabei angesehen. „Bist du fertig?“, fragte er frech. „So, jetzt reicht es!“ Vicy packte den Kobold, steckte ihn in den Karton, band ihn zu und stellte ihn auf den Balkon. „Wenn du nicht still sein kannst, wirst du die nach hier draußen verbringen müssen!“ Damit schloss sie die Tür. Sie legte sich zurück ins Bett, da begann das Geschrei von Neuem. „Was soll ich nur tun?“, seufzte sie und stand auf. Sie öffnete die Tür. „Was muss ich machen, damit du leise bist?“, fragte sie. Das Gezeter verstummte. „Du musst nett zu mir sein!“, kam die gedämpfte Antwort aus dem inneren des Kartons. „Das ist alles?“

Vicy öffnete die Kiste. Der Kobold hob den Kopf und ordnete sein Fell. „Mehr nicht?“, fragte Vicy, die eine Falle dahinter vermutete. Doch der Kobold schüttelte den Kopf. „Dann bin ich jetzt nett zu dir. Und du musst nett zu mir sein. Und ich möchte, dass du mir deinen Namen sagst!“, forderte Vicy ihn auf. „Leor“, antwortete der Kobold.

 

 

 

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Flucht aus der Hütte

 

Kevin wälzte sich unruhig hin und her. Er träumte die verrücktesten Sachen.

Plötzlich fuhr Kevin mit einem leisen Aufschrei hoch. Auf seiner Stirn glänzte der Angstschweiß. Er atmete hektisch.

Vorsichtig sah er sich um. Er lag noch immer in der Hütte, in der er seine Geschwister gefunden hatte. Es war dunkel, er konnte kaum etwas sehen. Doch er hörte das gleichmäßige Atmen seiner Freunde, Elijah, der im Schlaf redete, Lily, die leise schnarchte und Jeff, der immer wieder hustete und sich hin und her wälzte. Kevin legte sich wieder hin. Es waren vier Tage vergangen, seit er sich von Ciara getrennt hatte.

Er merkte, dass es die schlechteste Idee war, die er je gehabt hatte. Er fühlte sich zerrissen, er konnte sich kaum noch konzentrieren, seine Reflexe wurden langsamer. Und in der Nacht träumte er wirres Zeug, er bekam plötzlich Angst und seit einiger Zeit wurde er immer schwächer. Kevin versuchte wieder einzuschlafen. Doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Er dachte an seine Freunde. An Vicy. Toby. Tena. Und natürlich Ciara und Saira.

Es war kalt in der Hütte und Kevin zog seinen Umhang enger um sich. Plötzlich hörte er ein seltsames Rascheln. Dann ein Schaben an der Tür. „Irgendjemand oder irgendetwas will hier herein!“, dachte Kevin sofort. Er sprang auf um die Anderen zu wecken. In dem Moment wurde etwas durchs Fenster geworfen. Eine brennende Fackel. Sofort fing das trockene Stroh, das auf dem Boden verteilt war, Feuer. „Wacht auf! Es brennt!“, schrie Kevin seinen Freunden zu. Lindsay sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Leila begann zu weinen, Lily drängte sich dicht an Elijah, doch auch der Junge hatte Angst. Jeffrey und Thomas sahen sich nach einer Decke um, um das Feuer zu ersticken, oder nach Wasser, doch keins von beidem konnten sie finden.

„Raus hier!“, schrie Thomas. Kevin rannte zu Lily, Elijah nahm Leila auf den Arm, obwohl sie viel zu groß und zu schwer für ihn war, doch Jeff nahm sie ihm ab. „Lauf, du Dummkopf!“, befahl er und nahm Leila hoch. Lindsay sprang durch die Flammen auf die Tür zu. Doch die war von außen verriegelt. „Abgeschlossen! Was sollen wir tun?“, fragte sie Kevin und die Anderen. Leila begann wieder zu weinen. Die Flammen drängten die Kinder mehr und mehr zurück. „Es gibt eine Leiter, die in ein weiteres Stockwerk führt!“, erinnerte sich Elijah. Er zeigte ihnen die Leiter und Jeffrey kletterte mit Leila auf dem Arm vorsichtig hoch. „Schneller!“, schrie Lindsay von unten. Die Flammen hatten nun beinahe das gesamte untere Stockwerk in Brand gesetzt. Jeff setzte Leila oben ab und Lindsay reichte ihm Lily nach oben. Dann kam Elijah dran. „Jetzt du!“ Kevin schob Lindsay zur Leiter. „Beeil dich!“

Als Lindsay oben war, hatte das Feuer die Jungen schon umkreist. „Du zuerst!“, befahl Thomas. „Nein! Du gehst!“, wehrte Kevin ab. „Wollt ihr da unten warten, bis euch die Flammen völlig eingekreist haben?“, rief Elijah hinunter. „Los jetzt!“ Thomas packte Kevin und schob in auf die Leiter zu. Kevin kletterte schnell hoch. Gerade als er auf der vierten Stufe war, brach die Leiter mitten durch. „Da hatte Alanis ihre Hand im Spiel!“, schimpfte er wütend. Plötzlich tauchte Krawp auf. Er setzte sich auf den Rand der Luke, an der die Leiter angelehnt war. „Ihr müsst springen!“, befahl er. „Was?!“, fragte Kevin und Thomas gleichzeitig. „Springen!“ Lindsay und Jeff streckten ihre Arme nach unten, Elijah drängte sich zwischen sie. „Ich helfe euch!“ Lindsay und Jeffrey hatten keine Zeit zu Widersprechen. „Beeilt euch!“, rief Elijah. Thomas sprang hoch und griff nach Lindsays Hand, verfehlte sie jedoch. „Noch mal! Schnell!“ Thomas versuchte wieder an ihre Hand ranzukommen. Er streifte ihre Finger, fiel aber wieder herunter. Da packte Kevin Thomas’ Fuß und machte ihm eine Räuberleiter. Thomas konnte Elijahs Unterarm fassen. Elijah wurde nach vorne gerissen. Im letzten Moment packte Jeffrey ihn an der Schulter und zog ihn zurück. Dann halfen sie Thomas nach oben. Kevin war ein bisschen größer als Thomas, doch Thomas war schon immer der bessere Athlet gewesen und war auch im Springen besser. „Spring!“, schrieen die sechs Kinder von oben. Kevin nahm Anlauf und sprang. Unter ihm brannte er gesamte Boden. Jetzt musste er es schaffen. Kevin konnte Thomas Finger packen. Thomas versuchte, sie festzuhalten. Ihre Finger waren verschwitzt von der Hitze und der Angst. „Lass nicht los!“, schrie Thomas Kevin zu. „Das hab ich auch nicht vor!“, schrie Kevin zurück. Elijah lehnte sich nach vorne und versuchte an Kevins Hand zu kommen. „Helft mir!“, befahl er Jeff und Lindsay. Vorsichtig hielten sie den Zehnjährigen fest, während er sich nach vorne lehnte und schließlich Kevins Handgelenk zu fassen bekam. „Zieht mich hoch!“, sagte er zu Jeff und Lindsay. Thomas lehnte sich nach hinten und Jeff und Lindsay zogen Elijah nach oben. Kevin zog sich am Rand der Luke hoch. Schließlich hatte auch er es geschafft. „Das war ganz schön knapp!“, sagte Krawp. „Und was jetzt?“, wollte Lily wissen. Krawp flog zum Fenster. Es gab nur im oberen Stock eines. „Jetzt springt ihr hier wieder runter!“ Unter dem Fenster lag ein Heuhaufen, der ihren Sprung abfangen würde. Trotzdem könnten sie sich verletzen. Als Kevin diese Bedenken äußerte sagte Krawp: „Ihr könnt auch warten, bis die Flammen hier oben sind!“

Das machte selbst den Kleinsten von ihnen Mut. Thomas ging zum Fenster, sah hinunter, schloss die Augen und sprang. Dann ging Elijah hin und sprang in den Heuhaufen. Danach kamen Lindsay und Jeff, Jeff sprang mit Lily. Jetzt waren noch Kevin und Leila da. „Komm!“ Kevin nahm Leila bei der Hand und sprang.

Der Heuhaufen bremste den Fall gut, es passierte ihnen nichts. Sie rannte sofort in den Wald. Als Kevin sich umdrehte, sah er, dass die Hütte beinahe vollkommen abgebrannt war.

Kevin drehte sich wieder um und lief in den Wald

 

 

 

Achtundzwanzigstes Kapitel: Ein Funken

Hoffnung im Dunkeln

 

Vicy saß angespannt da. Vor ein paar Tagen hatten ihre Späher einen Trupp Soldaten gesichtet. „Nein, keinen Trupp!“; dachte Vicy bitter. „Eine ganze Armee! Ungefähr Zehntausend haben sie gesagt! Zehntausend!“ Vicy verlor den Mut. Sie hatte bereits ihre Rüstung angelegt. Das Schwert lag auf ihren Knien. Toby öffnete die Tür. „Wir können unmöglich siegen!“, flüsterte Vicy traurig. Toby setzte sich neben sie. „Wir können nicht mehr fliehen. Wir müssen uns ihnen stellen.“ Vicy sah ihn nicht an. Sie senkte den Kopf. „Ich bewundere deinen Mut!“, sagte sie leise. Toby lächelte. „Mut ist ein gutes Schwert, doch ein schlechter Schutz“, meinte er dann.

Vicy sah ihn an. „Daran habe ich nie gedacht!“ Toby lächelte. „Die Meisten erkennen das nicht. Aber wir müssen tapfer sein. Und wir müssen uns schützen. Wir können die Zwerge um Hilfe bitten.“ „Bis der Bote angekommen ist, sind wir verloren!“, jammerte Vicy. Toby überlegte. „Was ist mit den Leuchtfeuern?“, fragte er dann. „Leuchtfeuer?“ Vicy dachte nach. „Nein. Selbst wenn die Zwerge die Nachricht rechtzeitig empfangen, sie werden nicht kommen, bevor wir zerstört werden.“ Damit war die Diskussion für Vicy beendet.

Toby stand auf. „Selbst im dunkelsten Verlies besteht noch ein Funken Hoffnung!“, sagte er zu Vicy. Er hatte einen Plan gefasst, den er auch durchzuführen gedachte.

Dann verließ er das Zimmer.

Vicy sah ihm nach.

 

Toby rannte die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle. Er stieß das Portal auf und rannte durch den Vorhof, wo die Drachen lagen. „Saira! Ich brauche eure Hilfe!“, schrie er. Saira sah ihn an und versuchte ihm etwas klar zu machen. Sie schüttelte den Kopf und wies auf Ciara, die unglücklich neben ihr lag. „Ich verstehe. Du willst sie nicht allein lassen!“ Toby nickte und rannte weiter. Endlich kam er dort an, wo er hinwollte: Der Turm, auf dem das Leuchtfeuer stand. Geschwind kletterte er hinauf. Oben nahm er die nächst beste Fackel und schmiss sie auf den Holzhaufen. „Geschafft. Mit Sairas Hilfe wäre es einfacher gewesen, aber ich habe es geschafft!“, jubelte Toby und warf weitere Äste ins Feuer. Plötzlich erschien Vicy. „Was ist das?“, fragte sie Toby. „Das ist mein Hoffnungsfunken!“, rief er. „Das ist aber ein gewaltiger Funken!“ „Umso besser, ein ganzes Hoffnungsfeuer!“ Toby hüpfte wie Rumpelstilzchen um das Feuer herum.

 

 

 

Neunundzwanzigstes Kapitel: Training

 

„Mit dir habe ich nicht gerechnet!“, sagte Ramor leise. „Ich erscheine immer dort, wo ich erscheinen möchte und kündige mich nicht an. Das ist eine Eigenschaft der Elfen!“, sagte Alanis ebenso leise. „Ich bin gekommen, um das Amulett zu holen!“ „Warum sollte ich es dir geben?“, fragte Ramor. „Selbst wenn ich es hätte, du würdest es nicht bekommen!“ „Wo ist es?“, wollte Alanis erfahren. „Oh, ein kleiner Kobold marschierte in meine Hallen, stahl es und legte an seiner statt ein goldenes Messer hin!“, lachte Ramor. „Was willst du für das Messer?“ „Du kannst es haben. Es besitzt kaum Kräfte.“ Damit warf Ramor ihr das Messer zu und verschwand.

 

Kevin saß auf einem Baumstamm. Er hatte sich entschlossen, seine Freunde und Geschwister mitzunehmen, weil sie bei ihm am sichersten waren.

„Schneller! Nach rechts, einen Schritt nach rechts! Oben abwehren, unten rechts, noch mal unten, jetzt einen Schritt nach links! Ja, genau, und noch mal nach rechts und Angriff!“, dirigierte Kevin Elijah, der mit Thomas das Fechten trainierte. Lindsay trainierte Bogenschießen, Kevin hatte ihr den Bogen geliehen und war dabei mit Lily und Leila weitere Bögen anzufertigen. Jeff war auf der Suche nach Pferden zurück nach Narel gegangen. Kevin hatte gemeint, er solle nur fünf Pferde bringen, da Lily und Leila nicht allein reiten könnten. „Nein, nein, schneller, sonst wirst du getroffen! Ducken, ducken!“, rief Kevin Elijah zu, der versuchte Thomas Schlägen aus-zuweichen. Doch es war schon zu spät. Thomas holte von links aus und Elijah stolperte in dieselbe Richtung. Der Stock traf den Jungen an der Schulter. „Pass doch auf!“, fuhr Elijah Thomas an. Lindsay stellte den Bogen ab und kam zu den beiden Jungen. „Soll ich dich mal ablösen?“, fragte sie Elijah. Mürrisch verzog sich der Knabe. „Soll ich dir helfen, Lindsay?“, fragte Kevin. Lindsay schüttelte den Kopf. „Nein, lass mal, das bekomme ich schon selber hin!“ Lindsay hob den Stock und begann mit Thomas zu kämpfen. „Thomas, geh mehr in die Knie! Lindsay, beuge dich nicht so nach vorne!“ Kevin rief ihnen Verbesserungen zu. Plötzlich hörten sie Hufgetrappel. Jeff war zurück. Und er hatte fünf junge Ponys dabei. Es waren zwei weiße Ponys, ein Schwarzes, ein Braunes mit dunkler Mähne und ein Braunes mit heller Mähne. „Die sind ja schön!“, rief Lily. Sie ging zu den Pferden und streichelte sie. „Wer von uns nimmt die Kleinen zu sich aufs Pferd? Ich nehme auf jeden Fall Leila. Aber ich möchte Lily nicht zu Elijah setzen. Wir wissen ja nicht, wie gut er reiten kann!“, fügte Kevin flüsternd hinzu. Er ging zu einem weißen Pferd und setzte Leila darauf. „Ich nehme noch Lily!“, bot sich Lindsay an. Kevin schwang sich in den Sattel. Leila saß vor ihm auf dem Hals des Pferdes. Kevin drehte ein paar Runden auf dem Pony, auch die Anderen. Zumindest versuchten sie es. „Nicht Rückwärts, vorwärts, du doofes Viech!“, zeterte Elijah. „Vorwärts, los, vorwärts stürmen!“ In dem Moment machte das Pferd einen Sprung nach vorne und Elijah viel rückwärts runter.

Alle lachten, denn das Pferd blieb wenige Schritte von Elijah entfernt stehen, um zu grasen. Elijah ging zu dem Braunen und streichelte seinen Hals. „So, jetzt noch mal, diesmal richtig!“ Er schwang sich auf den Rücken des Tieres und trieb es vorwärts. Diesmal funktionierte es. „Seht ihr! Ich bin ein sehr guter Reiter!“ Als wollte das Pferd das Gegenteil beweisen, sprang es auf die Seite und Elijah landete wieder auf der Erde. Doch er lachte nur und zog sich wieder in den Sattel. Nach kurzer Zeit liefen die Pferde wie geschmiert. Kevin trabte über die Lichtung. Das Reiten machte ihm wirklich Spaß.

 

 

 

 

Dreißigstes Kapitel: Die Hilfe der Zwerge

 

„Die Armee wird in weniger als vier Tagen hier sein!“, sagte Drebilon. Ein eiskalter Schauer überlief Vicy. „Herrin?“ Vicy sah auf. „Was sollen wir tun?“, fragte Drebilon eindringlich. Vicy stand schweigend auf. Sie wusste nicht, was sie trieb, doch sie wollte weg von hier. Sie hatte Angst.

Sie rannte aus dem Zimmer, durch die Halle, weg, nur weg, sie sah die Leute an ihr vorbeihuschen, wie Schatten, sie trat aus dem großen Eichenholzportal, weg, einfach nur weg, sie lief durch den Burghof, hinaus in die Stadt. Vor dem Stadttor blieb sie keuchend stehen. Sie könnte fliehen. Plötzlich stand Toby hinter ihr. „Willst du wirklich fliehen?“, fragte er so leise, dass nicht einmal sie es richtig verstand. Aber sie wusste, was er sagen wollte. „Wirst du uns alle jetzt im Stich lassen? Jetzt, wo die Sinder ihre Königin brauchen?“ Vicy drehte sich um. „Ja, das werde ich!“, dachte sie. „Ich will hier weg, ich kann euch nicht helfen! Ich will fliehen!“ Toby sah sie durchdringend an. „Was wirst du tun? Lässt du uns jetzt hier sterben?“, fragte er wieder. „Nein. Ich werde kämpfen!“

 

Vicy stand zwei Tage danach auf der Burgmauer und sah den feindlichen Heerscharen entgegen. „Toby. Wir können diesen Kampf nicht gewinnen. Wir werden alle sterben.“ Toby sah ihr in die Augen. „Nein. Nein, das werden wir nicht!“, sagte er. Er sah wieder geradeaus. Dann sagte er mit hocherhobenem Kopf: „Vielleicht können wir nicht gewinnen, doch können wir ihnen den Sieg so schwer erreichbar wie nur möglich machen!“

Plötzlich herrschte totenstille. Man hörte nur die Schritte der Solektho. „Bogenschützen, bereit!“, hörte Toby jemanden schreien. Die Bogenschützen legten an. Auch Toby hob den Boden. „Zielt auf ihre Herzen. Falls sie welche haben!“, sagte Toby leise lachend. „Das ist die einzig verwundbare Stelle.“ Die Solektho marschierten weiter. Es begann zu regnen. „Sie werden unsere Stadt dem Erdboden gleich machen!“, befürchtete Vicy. „Lasst jetzt den Mut nicht sinken, Königin Victoria!“, sagte Toby. „Was ist los mit dir?“, fragte Vicy. „Warum redest du denn so mit mir? Ich bin es doch nur. Ich, Vicy!“ Toby lachte. „Das versuchte ich dir schon lange zu erklären.“ Toby lächelte sie an. „Du bist nicht einfach nur Vicy. Du bist die Königin der Sinder. Ohne dich, wäre Kevin niemals so weit gekommen!“

Vicy sah Toby in die Augen und musste lachen. Tobys Augen waren so… funkelnd. Sie waren gelb, das fiel ihr jetzt auf. „Wolfsaugen!“, dachte Vicy.

Vicy blickte schnell wieder weg, als sie Tobys fragenden Blick bemerkte. Sie fasste an ihren Nacken und spürte die dünne, goldene Kette. Sie hatte nach langem Zögern das Amulett angelegt, auch wenn es ihr als falsch erschienen war. Schließlich war Kevin der Anführer. „Feuer!“, hörte Vicy die Stimme brüllen und ein Pfeilhagel schoss los. Die erste Reihe Solektho fiel. Die zweite Reihe verschanzte sich hinter ihren Schilden. Vicy hielt ihr Schwert fest umklammert. „Wir können nicht gewinnen!“ Toby nickte zustimmend. „Was wir brauchen ist ein Wunder!“ Plötzlich sah Vicy, dass die Armee der Feinde nicht so groß war, wie sie gedacht hatte. „Toby, sieh dir das an!“ Toby kniff die Augen zusammen. Dann hellte sich sein Blick auf. „Das dort hinten sind keine Solektho mehr! Das… Das sind…“ Toby lachte glücklich los.

„Die Zwerge kommen!“, brüllte er aus Leibeskräften. Vicy kniff die Augen zusammen und erkannte endlich das Wappen der Zwerge. Jubelnd sprang sie in die Luft. Dann sah sie zu Toby. „Vielleicht haben wir doch noch eine Chance!“

 

 

 

Einunddreißigstes Kapitel: Ein Angriff und seine Folgen

 

Das Laub über ihren Köpfen raschelte. Kevin spitzte die Ohren und lauschte. Er liebte es, den Geräuschen zuzuhören. Es war ihm, als ob ihm die Blätter in einer anderen Sprache Geschichten erzählten.

Doch plötzlich hörte Kevin noch ein anderes Geräusch. Schritte näherten sich ihnen. „Schnell weg hier!“, rief auch schon Jeff, der die Schritte auch gehört hatte. Doch es war schon zu spät. Das spürte Kevin noch bevor die Solektho aus den Büschen traten und ihnen den Weg abschnitten. „Lauft!“ Thomas packte seinen Bogen, den Kevin gemacht hatte und legte einen Pfeil ein. Der Pfeil schoss los und verhedderte sich in den Rippen des Solektho. Kevin sah sich um. Wo war sein Stock? Im selben Moment gingen die Solektho auf Kevin und seine Freunde los. Kevin sah seinen Stock im Laub. Er stürzte hin und nahm ihn an sich. Er fuhr herum und verpasste einem der ihm am nächsten stehenden Solektho einen so gewaltigen Schlag auf die rechte Hand, dass der Knochen zerbrach und seine Hand auf den Boden fiel.

Kevin rannte Leila und Lily zu Hilfe, die Rücken an Rücken mit je einem Stock aneinandergedrängt gegen die Solektho kämpften. Der Stock war viel zu groß für Leila und fiel ihr aus der Hand. Ein Solektho stolperte darüber und geriet ins Wanken. Im gleichen Moment war Kevin bei den Mädchen. „Wir haben gegen diese Übermacht keine Chance!“, rief Kevin. „Auf die Pferde und flieht!“ Die Pferde spürten die Gefahr und hatten sich zum Teil losgerissen. Der Sattel von Kevins Pferd war beschädigt, also nahm er ohne zu Zögern sein Messer und schnitt den Sattelgurt durch. Lindsay hatte inzwischen Leila auf ein Pferd gelupft und sich hinter sie gesetzt, Thomas saß mit Lily auf einem Pferd. Jeffrey und Elijah kämpften sich zu ihren Pferden durch.

Das alles sah Kevin in einem Sekundenbruchteil.

Dann setzte er die Hände auf den Rücken des Pferdes. Das Pferd wieherte schrill und biss nach Kevin. Doch Kevin kümmerte sich nicht darum. Er sprang hoch und wollte seine Beine über den Rücken des Pferdes schwingen, als er am Fußgelenk gepackt wurde und vom Pferd gezogen wurde. „Lass mich los!“, brüllte Kevin verzweifelt und trat nach der Hand des Angreifers. Dem Solektho fehlten die linke Hand und beide Beine. Da hatte jemand wohl trotzdem nur halbe Arbeit geleistet, denn der Angreifer hielt Kevin mit aller Kraft fest. „Kevin!“ Lindsay wollte ihm zu Hilfe eilen, doch da bäumte sich das Pferd auf und wollte sich wieder losreißen. Kevin wurde vom Rücken des Pferdes gerissen und fiel auf den Boden.

Kurze Zeit blieb er benommen liegen, dann, als er aufspringen wollte, versperrte ihm der Solektho den Weg. Er hatte sein Messer gezückt. Kevin trat nach ihm, doch die Kreatur erwischte Kevin mit dem Messer an der linken Schulter. Kevin brüllte vor Schmerz und Wut, als das kalte Messer in seine Schulter drang…

 

Ciara kämpfte gegen ein paar Solektho, als auch sie den Schmerz empfand. Wütend schrie sie auf und schlug um sich. „Kevin!!!“, brüllte sie so laut sie konnte. Doch sie konnte ihm nicht helfen. Sie wusste nicht, wo er war. Sie wusste gar nichts über ihn. Nur, dass er in Gefahr war…

 

Kevin stieß den Solektho von sich und brach ihn mit einem zufälligen Tritt ins Gesicht das Genick. „Weg hier!“, schrie Kevin noch einmal. Er schwang sich mit letzter Kraft auf das weiße Pony. Es riss sich endlich los und rannte durch den kleinen Wald. Sie waren noch nicht sehr weit gekommen, als Kevin merkte, wie er schnell schwächer wurde. Zuvor hatte er noch aufrecht auf dem Pferd sitzen können, doch die Wunde schwächte ihn so, dass er nach vorne auf den Hals des Pferdes fiel. „Kevin!“, hörte er Elijah noch schreien, bevor er merkte, dass er vom Pferd fiel. Dann wurde alles schwarz vor seinen Augen.

 

 

 

Zweiunddreißigstes Kapitel: Vicys Idee

 

Vicy stand auf der Burgmauer und sah auf ihre Feinde herunter. Natürlich hatten die Solektho Leitern, mit denen sie die Burgmauern erklommen.

Vicy wartete. Als eine Leiter direkt vor ihr aufgestellt wurde rief sie Toby herbei. Sie packte ihr Messer und schnitt das Seil durch, das die Leiter am verrutschen hinderte. „Hilf mir!“, rief sie dann und warf mit Tobys Hilfe die Leiter um.

„Das hätten wir geschafft!“, lächelte Vicy. Sie schmissen noch ein paar weitere Leitern um, bevor es den Solektho gelang, auf die Burgmauer zu kommen. „Schwerter!“, hörte Vicy Drebilon seine Anweisungen schreien. Vicy zog ihr Schwert und ging auf die heranstürmenden Solektho los. Sie wehrte den ersten Schlag ab und gab ihn doppelt so stark zurück. Ihr Widersacher ging zu Boden.

Vicy sah sich um. Ihre Soldaten fielen trotz der Hilfe der Zwerge in großen Scharen. Als Vicy sich wieder umdrehen wollte, stolperte sie im Gedränge und wurde von jemandem gestoßen. Vicy strauchelte einige Schritte Rückwärts. Plötzlich fühlte sie das Ende der Burgmauer. Sie war kurz davor, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, als jemand vor ihr auftauchte. Es war einer der Solektho. Er kämpfte gegen Drebilon, der Vicy noch nicht gesehen hatte. Drebilon tötete den Solektho und das Skelett flog auf Vicy zu. Victoria wollte ausweichen und fiel plötzlich. Sie landete im Schlamm, noch bevor ihr richtig bewusst wurde, was passiert war. Sie sah auf und konnte die Armee der Solektho erkennen, die auf sie zustürmte. „Vicy!!!“, hörte sie Toby schreien. Ein paar Augenblicke später landete ein riesiger Wolf neben ihr und jaulte den Solektho angriffslustig entgegen. Die Solektho blieben verunsichert stehen. Dann bahnte sich Toby seinen Weg durch die Bahnen der Solektho. Damit hatten die Solektho nicht gerechnet. Mit einem Werwolf konnten sie es nicht aufnehmen.

Schnell flohen sie in die entgegen gesetzte Richtung. Die Zwerge hatten die Solektho von hinten immer weiter nach vorne gedrängt. Die Meisten waren besiegt und der Rest floh.

 

 

 

 

 

Dreiunddreißigstes Kapitel: Die letzte Chance

 

Kevin warf sich unruhig hin und her. Albträume plagten ihn, dazu kam der stechende Schmerz in seiner linken Schulter. Mit einem erstickten Angstschrei fuhr er hoch. Sofort wurde der Schmerz stärker und Kevin fiel zurück auf den weichen Waldboden.

 

„Was sollen wir nur machen? Es geht ihm immer schlechter!“, sagte Lindsay kraftlos, „Wir müssen ihm helfen. Aber wie?“ Jeff dachte nach. „Hoch oben im Norden gibt es eine Stadt. Dort gibt es die berühmtesten Heiler. Sie werden ihm helfen können.“ „Ich weiß, welche Stadt du meinst!“, sagte Thomas mit einem spöttischen Unterton in der Stimme. „Die Stadt ist elf Tagesmärsche entfernt. Das schafft er nie!“, sagte er leise und deutete auf Kevin. „Er wird es schaffen müssen!“, sagte Jeff. „Ach ja? Willst du ihn dazu zwingen? So nach dem Motto, wenn du’s nicht überlebst, bring ich dich um?“ Thomas lachte verächtlich. Lindsay wusste, dass die Jungen kurz davor waren, zu streiten. „Haltet die Klappe!“, fauchte sie. Dann sah sie zu Kevin, der in einem unruhigen Schlaf lag. „Hast du eine Bessere Idee?“, fragte sie dann Thomas. „Nein“, gab dieser widerwillig zu.

Lindsay seufzte und strich sich das Haar aus der Stirn. „Dann werden wir es versuchen.“ „Und wie?“, meldete sich jetzt Elijah in einem trotzigen Ton, „Als er runter gefallen ist, ist das blöde Viech weitergelaufen!“ Lindsay dachte nach. „Ich kann mit ihm reiten!“ „Ihr seit zu schwer! Das hält dein Pferd nicht aus und wir müssen schnell vorankommen!“, sagte Jeff. „Ich hab ja gleich gesagt, dass das eine blöde Idee war. Zum Denken braucht man nun mal auch etwas Verstand!“, meckerte Thomas provozierend. „Hab ich Recht?“ Jeffs Antwort traf Thomas direkt in den Magen. Das ließ der Junge nicht auf sich sitzen und trat Jeff gegen das Schienbein. „Hört jetzt endlich auf!“, schrie Lindsay. Doch die Jungen hörten nicht auf sie. Da mischte sich Elijah ein.

Er packte Thomas am T-Shirt und wollte ihn wegziehen, doch Thomas schob ihn wie eine Fliege weg. Elijahs Augen verengten sich vor Wut. „Na warte!“ Er stürzte sich auf Thomas und Jeffrey und schlug nach allen Seiten um sich. Lindsay sah ihnen einen Moment lang zu. „Männer!“, sagte sie. Dann wandte sie sich wieder Kevin, Lily und Leila zu.

Lindsay kniete sich neben die Mädchen und Kevin. Sie befühlte Kevins Stirn. Sie war kalt. „Wir müssen ihn warm halten!“, erklärte sie Lily und Leila. Sie machten ein Feuer, ohne sich um die Jungs zu kümmern. Plötzlich hörten sie einen Schrei und Thomas stolperte aus dem Gewimmel der raufenden Jungs. Elijah rannte auf ihn zu und sagte stolz: „Voll auf die Nase!“ Dann sah er sich nach seinem großen Bruder um. Er schlich betroffen zu ihnen. „Wie geht es ihm?“, fragte er vorsichtig. Lindsay zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie dann. Dann sah sie zu Elijah. „Wenn die Jungs sich weiterprügeln wollen, sollen sie das machen. Wir müssen jetzt nach Norden und einen Heiler finden, der uns helfen kann. Notfalls muss Kevin reiten und wir führen die Pferde.“ Dann hob sie mit Hilfe von Elijah und den Mädchen Kevin auf eines der Pferde. Jeff und Thomas prügelten sich immer noch. „Wollt ihr mitkommen oder euch die Birne einschlagen?“, fragte sie die beiden. Murrend ließen sie voneinander ab und sattelten die restlichen Pferde. Dann schnallten sie alles Gepäck, das sie hatten, auf die Pferde und zertraten die Asche. „Wir müssen uns beeilen!“, meinte Jeff mit einem besorgten Blick auf Kevin, „Lange hält er das nicht mehr durch!“

 

 

 

 

 

Vierunddreißigstes Kapitel: Ein Dämon auf vier Hufen

 

Vicy war beunruhigt. Was war mit Ciara los? Vicy hatte Ciara beobachtet und war sich sicher, dass mit Kevin etwas nicht stimmte. Ciara lief verängstigter und nervöser herum, als sie sowieso schon war.

Und immer wieder stieß sie ängstliche und zum Teil auch schmerzerfüllte, kurze Schreie aus. Sie hatte mit Saira nicht darüber geredet. „Was sollen wir nur tun?“, fragte Vicy eines Tages den schwarzen Drachen. „Ich weiß nicht. Sie redet nicht mit mir. Aber ich weiß, dass Kevin in Gefahr ist.“ Vicy legte ihr die Hand auf den muskulösen Hals und setzte sich dann auf ihren Rücken. Sie konnte sich nicht vorstellen, eines Tages wie Kevin auf einem Sattel zu sitzen. Warum auch?

Saira faltete die Flügel auseinander und hob ab. Dann sauste sie ein paar Mal durch die Wolken und landete wieder. „Ich hoffe, dass alles gut werden wird!“

Vicy rutschte von ihrem Rücken und streichelte ihr über die Nase. „Das hoffe ich auch! Ja, das tue ich.“

Sie dachte nach. Sie wusste nicht, über was, aber sie versuchte sich von Kevin und Ciara abzulenken.

Plötzlich wollte sie rennen. Sie hatte zu viel Energie in sich und wollte sie loswerden. Außerdem erhoffte sie sich, dann am Abend einmal besser einschlafen zu können.

Vicy rannte los. Sie schloss die Augen, um alles um sich herum zu vergessen. Doch das war keine so gute Idee. Sie rannte in eine etwas ältere Frau hinein, die vom Markt kam und warf ihre gesamten Einkäufe zu Boden.

„Oh nein!“ Vicy bückte sich, um die Sachen einzusammeln. „Das… Das tut mir unglaublich Leid!“, stammelte sie. „Aber, meine Herrin! Das müsst ihr doch nicht…“, begann die Frau, doch Vicy hatte ihr schon die Sachen zurückgegeben und war weiter gerannt.

Sie kam auf eine große Wiese. Sie blieb keuchend stehen. Das Schwert schlug ihr gegen das Schienbein. Sie sah auf. Sie sah hinten, am Horizont den Zwergenwald. Ansonsten war da nur diese große Wiese. Wie wunderbar es wäre, über sie zu galoppieren! Vicy suchte in ihrer Tasche nach dem Messer, doch da fiel ihr ein, dass sie es Leor gegeben hatte, um das Amulett einzutauschen. „Dann muss ich es wohl auf herkömmliche Weise tun!“, dachte sie. Sie ging zurück in die Stadt und nahm das nächst beste Pferd aus dem Stall. Da sie keinen Sattel fand, der ihm passte, zog sie ihm nur eine Trense an. Dann führte sie es hinaus. Sie ging mit ihm auf die Wiese. Sie legte ihm die Zügel über den Hals und nahm einen Schritt Anlauf. Ehe das Pferd sich versah, saß Vicy auf seinem Rücken und nahm die Zügel auf. „Los, mein Junge!“, sagte sie und legte die Beine an. Das Pferd galoppierte an. Vicy ließ es immer weiter auf den Zwergenwald zulaufen. Plötzlich spürte sie die unangenehme Nähe eines Wesens. Sie hatte es schon einmal gespürt. Jedenfalls etwas Ähnliches. Sie sah sich um, doch sie konnte nichts entdecken. Plötzlich bebte die Erde. Aus dem Boden erschien ein Pferd, direkt vor ihr. Es war ein schwarzer Hengst, mit roten Augen. Blutroten Augen. „Ein Dämon!“, dachte Victoria. Sie griff nach der Mähne ihres Pferdes und lenkte es an dem Dämon vorbei, doch der nahm sofort die Verfolgung auf. Er galoppierte neben Vicy und sah sie mit seinen roten Augen an. Dann zog er an ihr vorbei. Plötzlich sagte eine Stimme in ihrem Kopf: „Du kannst nicht entrinnen! Das Böse wird dich verfolgen. Und es wird dich schon sehr bald eingeholt haben!“ Vicy ließ die Mähne des Pferdes los und hielt sich die Ohren zu. Das Pferd machte einen Sprung nach rechts und Vicy fiel von seinem Rücken.

In panischer Angst suchte das Tier das Weite.

„Nein! Komm zurück!“, schrie Vicy. Plötzlich bäumte sich das schwarze Pferd vor Vicy auf. Vicy schrie und stolperte rückwärts. Die Hufe des Pferdes kamen dort auf den Boden, wo vor wenigen Augenblicken noch Vicy gestanden hatte. Vicy wollte dem Pferd ausweichen, doch es schnitt ihr den Weg ab. Einer plötzlichen Eingebung folgend packte Vicy die Mähne des Dämons, und als er sich wieder aufbäumte, wurde sie auf seinen Rücken gezogen. Der Dämon buckelte und biss nach ihr, doch Vicy war auf dem Rücken des Tieres in Sicherheit, solange sie nicht runter fiel. Das Pferd buckelte ohne müde zu werden und rannte plötzlich auf den Zwergenwald zu. Es war schneller, als gewöhnliche Pferde und legte den Weg, für den normale Pferde einige Stunden gebraucht hätten in einer Halben zurück. Vicy sah die großen Bäume vor sich aufragen. Das Pferd rannte in den Wald und warf sich gegen die Bäume und rannte unter tief hängenden Ästen durch, um Vicy zu Fall zu bringen. Vicy duckte sich und versuchte den Ästen auszuweichen. Doch plötzlich wurde sie von einem Ast getroffen.

Reflexartig hielt sie sich daran fest. Der harte Schlag drückte ihr die Luft aus den Lungen. Sie wollte sich an dem Ast hochziehen, doch dazu fehlte ihr die Kraft. Sie baumelte an dem Baum und unter ihr stand das Pferd. Es stieg und schlug nach Vicy, doch da gelang es Vicy, auf den Ast zu kommen. „Jetzt sitze ich in der Falle!“, dachte sie. Das Pferd sah zu ihr hoch und stieß ein raubtierartiges Brüllen aus. Sie dachte daran, wie sie vor vier Jahren mit Kevin auf dem Stein festgesessen hatte, unter ihnen die Löwin. Plötzlich hörte sie ein Jaulen und Toby sprang aus dem Gebüsch. „Toby!“, rief Vicy. Das Pferd suchte das Weite und Vicy konnte herunterklettern. „Ich bin ja so glücklich, dass du da bist!“, sagte sie und streichelte Tobys Nase. Toby verwandelte sich in einen Menschen. „Ich bin auch glücklich, dass ich da bin!“, lachte er schelmisch, während Vicy ihre Hand von seiner Nase nahm.

 

 

 

 

 

 

Fünfunddreißigstes Kapitel: Zeitgrenze

 

Lindsay führte das Pferd, auf dem Kevin lag. Sie hatten das Gepäck auf die anderen Pferde verteilt und liefen nun seit drei Tagen durch die Berge. Sie hatten sich entschlossen, am Rande des Gebirges entlang zu gehen.

Elijah schlief beinahe auf seinen Füßen, Thomas trug Lily und Leila saß auf einem der Ponys. Jeff war auch schrecklich müde, er stolperte und fiel hin, oder er wurde mehr von seinem Pony gezogen, als dass er selbst lief. „Lindsay, wir müssen eine Pause machen!“, sagte Jeff. „Ich bin müde und hungrig!“, sagte Lily, die gerade aufgewacht war. Leila lag auf dem Hals des Ponys und schlief noch immer. „Ich bin auch müde und ich meckere trotzdem nicht!“, sagte Elijah. Er stolperte und fiel. „Wo sind wir?“, fragte er, als er sich wieder aufgerappelt hatte. „Ich weiß nicht!“ Lindsay sah sich um. Es war schon kälter geworden.

„Lindsay! Die Kleinen brauchen Schlaf!“, erinnerte sie Thomas.

Lindsay drehte sich um. „In Ordnung! Halten wir an.“ Sie setzte sich auf den Boden. Jeff band die Pferde an und Thomas legte Lily hin und nahm Leila vom Pferd. „Ich kann noch weiter laufen!“, sagte Elijah tapfer. Lindsay lächelte. „Nein, wir machen jetzt Pause!“, sagte sie freundlich, aber bestimmt. Elijah ließ sich mit einem leisen, erleichterten Seufzen auf den Boden gleiten und schlief sofort ein. Lindsay legte sich hin und schloss die Augen, doch sie konnte nicht schlafen. Nach einer halben Stunde ging sie zu Kevin. Jeff hatte Feuer gemacht, um Kevin zu wärmen. Kevin lag reglos da. Seine Augen waren geschlossen und von seiner Stirn lief der Schweiß. Lindsay wischte ihm die Stirn ab und setzte sich neben ihn. „Was soll ich tun, Kevin?“, fragte sie leise. „Was soll ich nur tun? Immer wenn ich Hilfe brauchte, warst du da, um mir zu helfen. Aber was soll ich nun machen?“ Lindsay erwartete keine Antwort. Sie bekam auch keine. Dann lehnte Lindsay sich an einen Baum und begann leicht zu schlafen.

Im Morgengrauen wurde sie von einem leisen Wiehern geweckt.

Auch die Anderen waren sofort wach. Ein weißes Pferd kam mit hoch erhobenem Kopf auf die Lichtung. Lindsay sah es an, als es zu Kevin ging. Es stupste ihn an und Kevin öffnete die Augen. Das Pferd stupste ihn noch einmal an. Kevin sah das Pferd an und murmelte etwas unverständliches, dann schloss er wieder die Augen. Das Pferd kam zu Lindsay und wieherte auffordernd. „Was ist denn? Wir müssen weiter!“, sagte Lindsay verschlafen. Das Pferd stieg ein paar Zentimeter und warf den Kopf hoch.

„Vielleicht ist es ein Engel!“, sagte Leila. Elijah schloss die Augen und öffnete sie wieder. „Ich weiß, was es will!“, flüsterte er. Er ging zu dem Tier hin und streichelte seine Nüstern. „Er will, dass wir schneller vorankommen! Lasst Kevin auf ihm reiten! Er will uns helfen.“ Elijah sah Lindsay und Jeff an. Schließlich nickte Lindsay. Sie wollten dem Pferd ein Halfter anlegen, doch es wehrte sich dagegen. Als Elijah ihnen versicherte, dass nichts passieren würde, setzten sie Kevin so auf das Pferd. Kaum waren alle aufgesessen, warf das Pferd den Kopf hoch und galoppierte in die entgegen gesetzte Richtung davon. Es wieherte schrill und die restlichen Pferde bäumten sich auf und galoppierten ihm hinterher.

„Was macht es! Es läuft in die falsche Richtung!“, brüllte Thomas. „Es weiß, was es tut!“, meinte Elijah. Die Pferde waren nicht mehr zu bremsen, also ließen die Kinder sie einfach laufen.

 

Das weiße Pferd lief und lief, ohne dass Kevin von seinem Rücken fiel.

Kevin öffnete die Augen. „Wer bist du?“, fragte er schwach. „Ich bin ein Freund! Ich werde dir helfen! Halt dich fest!“ Damit setzte das Pferd über einen Baumstamm hinweg und drehte den Kopf zu Kevin. „Hältst du durch?“, fragte es. „Ich weiß nicht!“, gab Kevin schwach zurück. „Keine Angst! Ich werde dir helfen!“ Damit wieherte es noch einmal und verdoppelte sein Tempo.

Die anderen Pferde keuchten vor Anstrengung, doch sie blieben nicht stehen.

Als es hell wurde, konnten die Kinder einen großen Wald sehen. „Was ist das?“, fragte Elijah. „Ich weiß nicht“, sagte Thomas und sah sich den Wald genau an. „Ich bin noch nie hier gewesen.“ Plötzlich fiel bei Jeffrey der Groschen. „Wir haben die Zeitgrenze durchbrochen! Das ist der Elfenwald! Hier muss Zauberei im Spiel sein!“

 

 

 

 

Sechsunddreißigstes Kapitel: Alles Lügen

 

„Hey? Wo ist der Misthaufen schon wieder?“, fragte Toby misstrauisch. Vicy hatte ihm von dem Dämon erzählt und Toby hatte gleich einen Verrat befürchtet, zumal sich der Kobold seither nicht mehr hatte blicken lassen.

„Wo ist er?“, fragte Toby wieder. „Er ist sicher… draußen und... spielt!“ Toby lachte. „Das glaubst du doch selbst nicht, oder?“ Vicy verzog das Gesicht. „Na gut, ich weiß es ja auch nicht!“, gab sie zu. „Aber er hat nichts mit dem Pferd zu tun!“ Toby sprang wütend auf. „Ich habe es satt, dass du das blöde Biest immer verteidigst!“, brüllte er und lief an ihr vorbei. „Toby!“ Vicy sprang auf und hielt ihn an der Hand zurück. Dabei rutschte der Ärmel seines T-Shirts nach oben und Victoria konnte verstehen, warum er wütend war. Sie zuckte erschrocken zusammen. Die Wunden in seinem Gesicht waren fast verheilt, es waren nur ein paar kleine Narben zurückgeblieben.

Doch an den Armen waren die Kratzer und Bisse entzündet und eitrig.

„Toby! Das… Das habe ich nicht gewusst!“, rief Vicy. „Du weißt vieles nicht!“ Tobys Stimme klang traurig und wütend zugleich.

Dann stürmte er aus dem Raum.

„Toby!“, rief Vicy ihm noch hinterher. Plötzlich stand Leor im Raum. „Wo kommst du denn her?“, fragte Vicy ihn wütend. Der Kobold kam auf Vicy zugehüpft. „Ich habe etwas gesehen, ja!“ Dann machte er ein seltsames Geräusch, das Vicy an einen Drachen mit Schluckauf erinnerte. „Was? Was hast du gesehen?“, wollte Vicy neugierig, aber auch alarmiert wissen. Der Kobold gackerte und sprang auf Vicys Bett, von dort aus auf ein Bücherregal und versteckte sich. „Eine große Armee, größer als die Letzte!“ Er begann zwischen den Büchern herumzukramen. Dann zog er etwas heraus. „Was hast du da?“ Es war der Karton, in den Vicy Leor in der ersten Nacht zurück bei den Sindern eingesperrt hatte. „Was machst du damit?“

Leor öffnete den Deckel, schlüpfte hinein und schloss ihn von innen. „Ich verstecke mich!“

Wütend trat Vicy gegen den Karton, so dass der in hohem Bogen in die andere Ecke des Zimmers flog und Leor heraus fiel. Mit einem wütenden Fauchen rappelte er sich auf. „Verdammt, wo nimmt Alanis all die Solektho her?!“, schrie Vicy verzweifelt. Leor kroch zu ihr. „Sie braucht nicht viel Kraft! Die Solektho sind längst tote, vergessene Elfen. Alanis muss ihnen nur ihren Willen aufzwingen, was bei Toten sehr einfach ist.“ „Du meinst, man kann Tote nur mit Magie wiederbeleben?“; fragte Vicy interessiert. Der Kobold schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gesagt“, sagte er.

„Kannst du uns zeigen, wie so etwas geht? Wir könnten auch davon gebrauch machen!“, schlug Vicy vor. Doch Leor schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Nein, nein, nein! Viel zu gefährlich!“ Dann senkte er die Stimme: „Die Toten können sich gegen ihren Erschaffer wenden! Nein, nein!“ Damit sprang er vom Bett. „Aber was sollen wir dann machen? Wie sollen wir diesen Krieg gewinnen?!“, rief Vicy ihm hinterher, als er unter das Bett kroch.

Augenblicklich erschien der Kobold wieder. „Wir werden alle Völker dieser Welt zusammentrommeln! Dann erst wird sich unser Schicksal entscheiden!“

 

 

Siebenunddreißigstes Kapitel: Der Ritt in die Rettung

 

Kevin hielt sich verkrampft in der Mähne des Pferdes fest. Er hatte etwas geträumt, doch er wusste, dass es wahr werden würde. Vicy war in Gefahr. Er musste ihr helfen. Doch im Moment konnte er nichts tun. Seine linke Schulter war taub und eine eisige Kälte breitete sich in ihr aus. „Halt dich fest!“, hörte Kevin von fern die Stimme des Pferdes. Er spürte das gleichmäßige trommeln der Hufe und hörte das heftige Keuchen des Tieres. Auch die Ponys hinter ihnen keuchten und husteten und schleppten sich nur sehr mühsam weiter.

Kevin öffnete die Augen. Er konnte einen Wald vor sich sehen. Und er spürte die Magie, die von ihm ausging. Die Bäume kamen näher. Dann tauchte das Pferd in den Elfenwald ein. Es wieherte laut. Die Ponys hinter ihnen waren zurückgefallen. Plötzlich blieb das Pferd stehen. Kevin hielt sich weiter in der Mähne fest, unfähig, sich zu bewegen. Die anderen Pferde kamen auf die Lichtung geprescht. Zitternd blieben sie stehen.

Plötzlich ging das weiße Pferd, auf dem Kevin lag in die Knie und legte sich schließlich ganz hin. Kevin rutschte von seinem Rücken und blieb reglos im Laub liegen.

Das weiße Pferd keuchte noch immer und stupste Kevin leicht an. Im selben Moment spürte Kevin, dass der Scherz in der Wunde minimal nachließ, die Magie um sie herum wurde stärker und mit einem Mal schritt zwischen den Bäumen mit hoch erhobenem Kopf ein prächtiger Hirsch auf die Lichtung zu. „Das ist der Waldgott!“, flüsterte Leila, die vor Lindsay saß. „Woher weißt du das?“, fragte Thomas sie.

„Das Amulett hatte auch auf uns Auswirkung!“, antwortete Elijah an ihrer statt.

Der Hirsch senkte vorsichtig den Kopf und berührte mit den Nüstern Kevins Schulter. Sofort zog sich die Wunde zusammen, der Schmerz wurde schwächer und das Gefühl kehrte in Kevins Arm zurück.

Er öffnete die Augen und setzte sich vorsichtig auf. „Kevin!“ Die Kinder sprangen von ihren Pferden und umarmten Kevin. Kevin sah den großen Hirsch an. „Danke“, sagte er, „dass du mich gerettet hast!“

 

 

Achtunddreißigstes Kapitel: Krieger einer anderen Welt

 

Vicy rannte aufgeregt in ihrem Zimmer auf und ab. Sie hatte eine Liste gemacht. Die gesamte Nacht hatte sie alle Bücher der Bibliothek nach den verschiedenen Völkern ihrer Welt durchsucht. Das kam dabei heraus:

 

- Menschen - Dämonen -Trolle

- Drachen - Riesen

- Elfen - Solektho

- Zwerge - Werwölfe

 

Mehr hatte sie nicht gefunden. „Also, die Solektho kann ich streichen. Die sind auf Alanis’ Seite. Drachen haben wir alle, die es gibt. Außerdem helfen uns die kleinen Drachenbabys nichts. Die Elfen und Zwerge stehen sowieso auf unserer Seite, die Menschen auch. Die Riesen halten sich aus den Kriegen der Menschen heraus, das weiß ich. Die Werwölfe leben versteckt im Abor-Gebirge. Dämonen haben ihren eigenen Willen und lassen sich von nichts und niemandem Kontrollieren. Ich konnte nirgendwo in den Büchern auch nur den geringsten Hinweis darauf finden, wo sich Trolle versteckt halten. Außerdem machen die keinen Unterschied zwischen Feind und Freund.“ Vicy sah auf. Es blieb niemand übrig. „Also müssen wir uns wohl doch nach den Riesen umsehen“, dachte sie. Sie ging auf den Hof und schwang sich auf Sairas Rücken. „Wo soll’s denn hingehen?“, fragte Tena, der plötzlich neben ihr stand. „Ich werde mich auf die Suche nach den Riesen machen. Wir brauchen ihre Hilfe, wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen!“, erklärte Vicy und bevor Tena etwas sagen konnte, startete Saira in die Luft.

Saira steuerte auf das Abor-Gebirge zu. „Dort wohnt in einer Höhle ein Riesenclan, soviel ich weiß.“ Saira tauchte durch eine Wolke und segelte mit unglaublicher Geschwindigkeit über das Meer, das unter ihnen lag. „Wie lange ist es bis dort?!“, schrie Vicy ihr gegen den Wind zu. „Eine halbe Tagesreise, vielleicht auch mehr!“, sagte Saira. Vicy zog den Umhang enger um sich und kuschelte sich an Sairas Schuppen.

 

Vicy wurde davon geweckt, dass Saira landete. Der Schnee stob auf allen Seiten davon. „Wir sind da!“ Vicy fröstelte, als sie abstieg. Sie sah sich die Höhle genau an und machte ein paar Schritte darauf zu. Da hörte sie ein Geräusch. Sie schmiss sich auf den Boden, um den riesigen Füßen zu entkommen, die auf sie zukamen. Der Riese blieb stehen und bückte sich. Er hob sie auf seine Augenhöhe. „Noch so ein Knirps? Wie viele gibt es denn hier im Gebirge von euch!“, polterte er mit lauter Stimme los.

„Normalerweise keinen! Und ich weiß jetzt auch, warum!“, rief Vicy und versuchte sich aus den Fingern des Riesen zu befreien, da er im Begriff war, ihr die Hüfte zu zerquetschen. Der Riese drehte sich um und ging in die Höhle, Saira folgte dem Riesen. Sie war für den Riesen so groß wie ein Schäferhund.

Vicy hatte schon beinahe vergessen, warum sie hier waren, als sie in eine Stadt aus Stein kamen. Eine riesige Stadt aus Stein. „So, was willst du?“, fragte der Riese sie und setzte sie auf einen Tisch. „Ich habe noch einen von diesen Winzlingen gefunden!“, rief er den Riesen zu, die um den Tisch herum saßen. „Tajak, komm her! Du hast doch auch schon den Letzten gefunden!“ „Den Letzten? Was meinst du damit?“ Einer der Umstehenden kam und nahm Vicy vom Tisch. „Der sieht aber nischt so aus, wie der Letzte!“, bemerkte er, nachdem er Vicy genau angesehen hatte. „Natürlich nicht! Das ist ein Weibchen!“, bemerkte ein Anderer. „Kam hier noch ein Mensch vorbei?!“, stellte Vicy ihre Frage wieder. Der Riese, der dem Anschein nach Tajak hieß, nickte. „Wie war sein Name?“ „Ich glaube, er stellte sich Kevin vor.“ Vicy entfuhr ein Freudenschrei. „Habt ihr Kevin gesehen?“ Der Riese setzte sie zurück auf den Tisch. „Was willscht du hier?“

Vicy erklärte schnell ihre Lage, doch kaum war sie fertig, begann einer der Riesen schon zu schimpfen. „Genau wie der andere Mensch! Nie haben sie sich für uns interessiert, doch jetzt, wo Gefahr droht, sollen wir für euch sterben!“ Vicy bemerkte auch erst jetzt, dass es genau den Tatsachen entsprach. Tajak nahm sie hoch. „Ich habe auch bei Kevin versucht, die anderen Riesen zu überreden, doch es hat nischts geholfen. Wir werden wohl nischt mit eusch kämpfen.“

„Warum nicht?“, blieb Vicy hartnäckig. Die Riesen schwiegen. „Es hat euch doch nie etwas ausgemacht, alleine und unter euch zu leben, nicht wahr? Warum gebt ihr den Menschen die Schuld?“

„Es reicht mir so langsam! Jetzt auch noch frech werden!“, grummelte ein Riese böse. „Vielleicht wäre, es besser, wenn ihr jetzt gehen würdet!“, warnte Tajak Vicy und Saira. „Ich verstehe euch. Und ich verstehe euch nicht. Ihr ward doch glücklich? Es hat euch doch nichts ausgemacht!“ Trotzdem bestieg Vicy ihren Drachen und Saira knurrte die Riesen zum Abschied noch einmal an. „Aber stellt euch vor, was passieren würde, wenn Alanis diesen Krieg gewinnt! Das Böse wird sich ausbreiten, und euerem friedlichem Leben ein Ende bereiten!“, rief Vicy mit Tränen in den Augen, als Saira startete. Manche Riesen sahen ihr fragend nach, Andere begannen zu tuscheln und wieder Andere starrten ihr böse hinterher.

„Ich weiß nicht, was wir machen sollen!“, erklärte Vicy Saira. „Wir müssen es nur mit Hilfe der Elfen und Zwerge schaffen. Und dann haben wir auch noch einen Werwolf. Das ist doch was, nicht wahr?“, versuchte Saira Vicy aufzumuntern. Doch Vicy ließ sich nicht aufmuntern. „He, wo ist das freundliche, glückliche Mädchen geblieben, das ich als meine Reiterin bestimmt habe?“, versuchte sie noch einmal, die Situation aufzulockern. Doch Victoria blieb ernst. „Es ist erwachsen geworden.“

 

 

 

Neununddreißigstes Kapitel: Überstürzter Aufbruch

 

Kevin saß auf dem Waldboden und stocherte mit einem Ast in der Glut des Lagerfeuers. „Was glaubst du, wie viel Zeit uns bleibt, um deine Freunde zu retten?“, fragte Elijah. „Das kann ich nicht sagen. Die Armee war riesig und sollte unentdeckt bleiben, also kann es sein, dass sie einen Monat brauchen werden, aber ich weiß nicht, wo sie sind, also könnten sie auch schon in drei Tagen da sein.“ Kevin sah sich um. Das weiße Pferd war schon lange verschwunden, doch er wusste nicht wohin.

Er stand auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. „Was machen wir jetzt?“, fragte Lily. „Wir? Wir machen gar nichts! ICH werde mich auf den Weg machen und Vicy helfen!“ Damit bestieg er eins der Pferde und galoppierte davon. „Ihr bleibt hier!“, rief er ihnen noch über die Schulter zu, dann war er auch schon verschwunden. „Hat der das ernst gemeint?“, fragte Jeff die anderen. „Der hat sie nicht mehr alle!“, protestierte Thomas. „Ich bleibe bestimmt nicht hier!“, rief Lindsay. „Doch! Jeff und ich werden ihm folgen. Kevin hat Recht. Es ist zu gefährlich. DU musst auf die Kleinen aufpassen!“, bestimmte Thomas sie zum Babysitter. „Bist du verrückt geworden?“, fauchte Lindsay. „Ich lasse euch Vollidioten doch nicht alleine gehen! Ohne mich schafft ihr doch gar nichts!“ Doch Thomas und Jeff ignorierten sie, schwangen sich in den Sattel und nahmen die Zügel auf. „Lauf mein Junge!“, befahl Jeff und trieb das Pony an. Widerwillig fiel es in einen langsamen Galopp, wurde jedoch schneller, als es merkte, dass sein Kumpel schon weg war.

„He, ihr… Ihr…“ Lindsay fiel kein passendes Wort für die beiden ein. Sie wandte sich an Elijah. „Du passt auf deine Geschwister auf, ich werde ihnen helfen!“, sagte sie und band ein weiteres Pony los. „Vergiss es!“, rief Elijah und rannte auf sie zu, doch Lindsay lenkte das Pferd geschickt an ihm vorbei. Kaum war sie weg lief Elijah zu Leila und Lily und setzte sie zusammen auf ein Pferd. „Lily! Du musst alleine reiten! Mit Leila! Schaffst du das?“, fragte er seine Schwester. Die nickte tapfer. „Gut! Dann los!“ Er gab dem Pony einen leichten Klaps auf die Hinterhand und es fiel in einen weichen Galopp. Elijah rannte neben seinen Geschwistern her. Auf Dauer würde er das nicht durchhalten, doch sie hatten kein Pferd mehr. Glücklicherweise war ihnen Kevins Pony gefolgt, nachdem er runter gefallen war und hatte sich im Wald wieder zu ihnen gesellt. „Das schaffe ich nicht!“, dachte er und hoffte, dass das Pferd sie alle drei aushalten würde. Er packte den Sattel und zog sich hinter seine beiden Schwestern auf den Rücken des Pferdes. Es stolperte, fing sich aber schnell wieder und rannte weiter. „Los! Denen werden wir’s zeigen!“, rief Elijah.

 

 

 

Vierzigstes Kapitel: And when we are together there’s nothing to fear

 

Lindsay sah die Jungen vor sich und trieb ihr Pferd zur Eile an. Sie überholte die Jungen und stellte ihr Pferd quer vor die der Jungs. „Bist du verrückt?“, schrie Jeff.

„So leicht lasse ich mich nicht abschütteln! Ich komme mit!“, sagte Lindsay statt einer Antwort.

Dann ritt sie weiter. Die Jungs sahen ihr nach. „Kommt ihr mit oder wollt ihr hier Wurzeln schlagen?“, rief sie ihnen über die Schulter zu. Jeff und Thomas lachten und ließen ihre Pferde auftraben.

 

Elijah hielt seine Geschwister fest. Leila griff in die Mähne des Pferdes, doch man merkte, dass sie nicht sehr sicher auf dem Pferderücken saß. Lily klammerte sich an ihren Bruder, Elijah versuchte gelassen zu wirken, doch er wusste, dass sie mit dem einen Pony die Anderen nie einholen würden.

Er hielt das Pferd an. „Es tut mir Leid, aber ich muss allein weiter! Ihr versteckt euch hier zwischen den Bäumen und bleibt hier, habt ihr mich verstanden?!“ Lily wollte protestieren, doch Elijah schnitt ihr das Wort ab. „Lily, der Krieg ist kein Ort für Kinder!“ „Du bist doch selbst noch ein Kind! Warum kann ich euch nicht helfen? Ich bin für mein Alter sehr erwachsen, das weißt du, und auch auf mich und Leila hatte das Amulett Auswirkung!“, sagte sie. „Lily, ihr bleibt hier, hörst du?!“, schrie Elijah sie an.

Lily wich einen Schritt zurück und setzte sich trotzig auf den Boden. „Ich kann kämpfen.“ Sie sah Elijah mit tränen-verschmierten Augen an. „Ihr alle tut es doch auch. Und bei dir sind wir am sichersten.“ Lily fiel eine Zeile ihres Lieblingsliedes ein: „And when we are together there’s nothing to fear!“, sang sie leise. „Hast du mir nicht zugehört?“ Elijah schrie jetzt nicht mehr. Es war ihm egal, ob Lily und Leila es verstanden. Aber er würde seine Geschwister nicht in Gefahr bringen. „Ach vergiss es!“ Er ging zu dem Pony und setzte sich in den Sattel. „Ich werde bald wieder da sein.“ Damit wendete er das Pony und galoppierte davon. Leila und Lily blieben traurig zurück.

 

Kevin fühlte sich schwach. Er war müde und hungrig. Und er merkte, dass Ciara fehlte. Sie war immer bei ihm gewesen.

Ein kalter Wind ließ ihn frösteln. Er musste wieder an Vicy denken. Er vermisste sie. Ob es Ciara gut ging? Und was war mit Tena und Toby? Vermissten sie ihn? Dachten sie auch an ihn oder hatten sie ihn vielleicht schon vergessen, oder sich damit abgefunden, dass er weg war?

Kevin klopfte dem Pferd den Hals und trieb es weiter.

 

 

 

 

 

 

 

Einundvierzigstes Kapitel: Dornenbusch und Liebeskummer

 

Victoria wartete. Neben ihr saß Toby. Sie hörte seinen gleichmäßigen, angespannten Atem. „Wann werden sie da sein?“, dachte sie. „Wann werden sie uns zermalmen wie Ameisen?“ Sie hatte lange nachgedacht. Das Amulett gehörte Kevin. Sie durfte es nicht einsetzen. Sie war seiner Magie nicht gewachsen. Das war nur Kevin. Alle wussten das. „Nur Kevin darf es benutzen. Ich würde es nicht einmal aufheben, wenn es irgendwo am Wegesrand läge! Ich bewahre es nur für ihn auf. Es gehört mir nicht“, dachte sie. Also würde sie es auch nicht benutzen.

 

Kevin hatte es geschafft. Er sah die großen Türme der Städte des Sinderlandes, die weite Ebene hinter dem Zwergenwald. Er klopfte seinem Pony den Hals und trieb es den Hang hinab. Er galoppierte über die Ebene auf die Stadt zu. Am Tor waren keine Wachen aufgestellt und er ritt ohne zu zögern hindurch.

Er stieg vor dem Palast ab und ließ sein Pferd mit hängenden Zügeln stehen; Es würde nicht davonlaufen. Er ging die Stufen hoch und wollte die Tür öffnen, doch plötzlich hielt er inne. Etwas sagte ihm, dass er erst noch etwas Anderes machen musste. Er wollte nicht plötzlich da reinplatzen. Er musste erst wissen, wie es Vicy ging. Er schlich um das Haus herum. Als er unter dem Fenster stand, begann er an den uralten Efeuranken empor zuklettern. Er rutschte einige Male ab, doch er fing sich immer wieder und kletterte weiter.

 

„Ich weiß nicht, was wir machen sollen!“, flüsterte Toby plötzlich. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich weiß, dass wir nicht gewinnen können. Und, dass ich weiß, dass mir meine Werwolfskräfte nicht helfen werden.“ Vicy sah auf. Auch er hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Vicy rutschte näher an ihn heran und legte den Arm um den Wolfsjungen. „Wir können es vielleicht nicht schaffen“, sagte sie mit fester Stimme, „doch wenn dies unser Ende ist, werden ich meine Männer ein Ende vollbringen lassen, an das sich jeder erinnern wird!“

 

Kevin hatte endlich das Fenster zu Vicys Zimmer erreicht. Er stellte seinen Fuß auf eine starke Ranke und sah hindurch. Erst konnte er nicht glauben, was er sah, dann wollte er es nicht glauben. Vicy saß da und hatte den Arm um Toby gelegt! Seine Vicy flirtete mit dem Werwolf, der ihm das Leben gerettet hatte. Vor Wut und Enttäuschung füllten sich seine Augen mit Tränen. Er wollte einen Schritt zurückweichen, er wollte das alles nicht mehr sehen, doch hinter ihm war die Efeuranke zu Ende. Kevin verlor das Gleichgewicht und fiel in einen Dornenbusch unter dem Fenster. Er wischte sich benommen die Tränen aus den Augen.

„Kaum bin ich weg, schmeißt Victoria sich einem anderen Typen an den Hals!“ Kevin strampelte die Dornen ab und stand auf. „Kevin? Kevin, wo bist du?“, hörte er plötzlich Ciara fragen. „Lass mich in Ruhe!“, heulte er. „Ihr habt mich alle belogen! Du, Faleon, Dreon, Alanis und jetzt auch noch Vicy und Toby! Mein Leben besteht aus Lügen!“ Er sprang auf. „Kevin, bleib hier!“ „Nein!“ Er lief zu dem Pony. Ohne nachzudenken stieg er auf und wendete das Tier. Er wollte nur weg. Das Pony galoppierte aus der Stadt, Kevin hielt sich in der Mähne fest und ließ das Pferd einfach laufen.

 

 

 

Zweiundvierzigstes Kapitel: Gewissensbisse

 

Das Pferd war schön völlig außer Atem, als Kevin an den Zügeln zog und es anhalten ließ. Bevor das Pferd ganz zum Stehen gekommen war, sprang er ab. Er konnte es immer noch nicht fassen. Er rannte auf und ab, als plötzlich mit einem lauten Krächzen Krawp auf seiner Schulter landete. „Wo steckst du, wenn man dich braucht?!“

Wütend stieß er Krawp von seiner Schulter. Immer war er da, wenn man ihn nicht brauchte, doch wenn man seine Hilfe brauchte, war er ganz wo anders. Krawp würde wütend und biss Kevin in die Nase. „Was soll das?“ „Gewissensbisse, ja, ja!“, quietschte Krawp. Kevin musste lachen. Dann verstummte er. „Warst du schon wieder in meinem Kopf?“, frage er. Krawp zog den Kopf zwischen die Flügel. „Vielleicht.“ Kevin band das Pferd fest.

„Du könntest dich auch mal nützlich machen. Was sollen wir jetzt tun?“ Krawp legte den Kopf schief und wollte sich anscheinend auf einem Baum in Sicherheit bringen, um Kevin wieder einen nutzlosen Ratschlag zu geben, doch Kevin war schneller. „Oh nein, du bleibst hier!“ Er hielt Krawp fest. „Keine Ahnung!“, krähte dieser. „Was?“ „Keine Ahnung!“ „Wovon?“ Krawp piekte Kevin mit dem Schnabel in die Hand. „Du musst schon auch selber denken!“, sagte er. „Also: Deine Geschwister sind nicht mehr in Sicherheit, soviel kann ich dir sagen. Und weißt du auch warum? Jeff und Thomas waren sauer, weil du sie allein gelassen hast! Sie sind dir hinterher!“, petzte Krawp. „Nein!“

„Doch. Und sie wollten, dass Lindsay auf deine Geschwister aufpasst, weil sie ein Mädchen ist und kämpfen zu gefährlich für sie ist!“; erzählte er weiter. „Ist nicht wahr?“ Kevin war verblüfft, aber er hatte nichts anderes erwartet. „Und dann?“ „Nun, Lindsay hat die Verantwortung auf Elijah abgeschoben und ist den Jungen gefolgt!“ „Oh nein!“ „Doch und es kommt noch besser: Dann wollte Elijah Lilly und Leila mitnehmen, doch dann wären sie nicht schnell genug gewesen. Also…“ „Sag nicht er hat sie einfach ganz allein im Elfenwald gelassen?!“, schrie Kevin. Krawp nickte. „Oh, der kann was erleben!“ Er band sein Pferd los und sprang in den Sattel. Er wendete es und galoppierte los. „Na warte, du Trottel!“ Aber eigentlich war er nicht wütend auf Elijah. Er wusste, dass Alanis schnell wissen würde, wo sich seine Geschwister aufhielten. Und dann würde sie sie finden.

 

 

Dreiundvierzigstes Kapitel: Max

 

Elijahs Füße verhedderten sich in den viel zu langen Steigbügeln. Er hielt sich am Sattel fest. Die Zügel waren ihm aus der Hand gefallen und er bekam sie nicht mehr zu fassen.

Er konnte von weitem einen Fluss schimmern sehen. Das Pferd hielt zielstrebig darauf zu. Als es ihn erreicht hatte sprang es mit einem gewaltigen Sprung hinein und blieb stehen. Elijah wurde durch den plötzlichen Stopp ins Wasser befördert. Das Wasser war am Rand noch nicht so tief und das Pferd begann zu trinken. Elijah spürte aber eine gewaltige Strömung, als er ein Stück weiter in den Fluss watete.

Er wollte wieder an den Rand gehen, doch auf einem rutschigen Stein glitt er aus und fiel ins Wasser. Hier war das Wasser schon so tief, dass er kaum noch stehen konnte und durch die Strömung wurde er weggetrieben. Er war nie ein besonders guter Schwimmer gewesen, Kevin hatte ihn immer um Längen geschlagen, obwohl Elijah schon sehr früh schwimmen gelernt hatte. Er ruderte mit den Armen, um sich über Wasser zu halten. Sein Pony hob den Kopf und ging ein Stück auf ihn zu, um ihm zu helfen.

„Komm her! Hilf mir!“, rief er dem Pony zu. Es ging unsicher noch einen Schritt näher zu ihm und streckte den Kopf nach ihm aus. Elijah hielt sich an der Mähne fest, kletterte über den Hals und wollte sich auf den Rücken des Tieres ziehen, als plötzlich unter dem Pony ein Stein wegrutschte. In panischer Angst stieg das Pony und Elijah rutschte an dem nassen Sattel entlang. Um sich irgendwo festzuhalten griff er nach dem nächsten Riemen, den er zwischen die Finger bekam. Leider war das der Riemen des Sattelgurts, der sich sofort löste. Der Sattel rutschte ins Wasser und drückte Elijah nach unten. Der Junge hielt die Luft an und tauchte auf. Die Augen fest zugekniffen suchte er mit den Händen nach dem Pony. Er spürte plötzlich die nasse Mähne und hielt sich daran fest. Das Pferd schwamm durch den Fluss und Elijah schaffte es, sich auf seinen Rücken zu ziehen. Hustend und keuchend schwang er sein rechtes Bein auf die andere Seite und schnappte nach Luft. Er wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und rieb sich die Augen.

Er sah sich um. Das Pferd steuerte auf das andere Ufer des Flusses zu. Elijah schlang die Arme um sich. Er zitterte. Es wehte ein kalter Wind. Das Pony stapfte trittsicher über die rutschigen Steine, die auf dem Boden lagen. Ab und zu glitt einer seiner Hufe weg und Elijah wäre fast wieder in den Fluss gefallen, doch er hielt sich immer schnell genug in der Mähne fest.

Endlich schaffte das Pony es, ans Ufer zu gelangen. Elijah ließ sich von seinem Rücken fallen. „D-Du hast mir das Leben gerettet!“, stotterte er. Das Pony wieherte ihn verständnislos an. Elijah kraulte seine Stirn. „Weißt du was? Jetzt bist du mein bester Freund, bis ich meine Freunde wieder gefunden habe. Du brauchst aber einen Namen!“ Elijah überlegte, während das kleine Pony an seinem Ärmel knabberte. „Ich nenne dich Max“, beschloss Elijah. „Gefällt dir das, Max?“ Max wieherte und Elijah entschied sich dafür, dass das ein Ja war.

„Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte er Max. Max gab keine Antwort. „Wenn du es nicht weißt und ich auch nicht, werden wir wohl warten müssen“, seufzte er und kuschelte sich an Max.

 

 

Vierundvierzigstes Kapitel: Gewitter

 

Jeff ritt vor den beiden Anderen. Er hätte nie gedacht, dass ein Pferd eine solche Kraft aufbringen konnte, so lange zu galoppieren. Schließlich hatten sie ja vor einem Tag erst diesen schnellen Ritt zurücklegen müssen.

Er hatte dem Pony die Zügel lang gelassen und ließ es nun im Schritt gehen. Die Ponys hinter ihm trabten langsam zu ihm auf. „Wohin sollen wir jetzt gehen?“, fragte Thomas. „Ich glaube, Kevin hat einmal gesagt, dass das Sinderland irgendwo im Norden liegt, kurz vor der Zeitgrenze. Die Grenze des Sinderlandes zum Rest des Landes bildet der Zwergenwald. Also müssen wir noch Norden reiten und nach einem großen Wald Ausschau halten. Aber erst müssen wir anhalten und rasten. Die Pferde sind sicher völlig müde!“, befürchtete er. „Da haben wir ihn wieder! In Jeffrey erwacht wieder der große Tierschützer!“, lachte Lindsay. Aber in Wirklichkeit war sie froh, dass sie beschlossen hatten, eine Pause einzulegen. Sie war todmüde, doch sie wollte vor den Jungs nicht wie ein Weichei dastehen. Die Jungen hatten zwar schon vor langer Zeit mit ihren doofen Sprüchen aufgehört und taten ihr gegenüber so, als wäre sie auch ein Junge, doch wenn sie genau hinsah, konnte sie in den Augen der Jungen lesen: „Selbst wenn Ostern, Weihnachten und Silvester auf einen Tag fallen: Du bist immer noch ein Mädchen.“

Und sie wollte auf keinen Fall, dass die Jungen es bereuten, sie mitgenommen zu haben. Also trieb sie ihr Pferd wieder zu denen der Jungs und wartete darauf, dass Jeffrey oder Thomas das Zeichen zum Halten gaben.

Thomas sah nach hinten zu Lindsay. Sie sah ihn an. Verlegen drehte Thomas sich weg und spielte höchst interessiert mit seinen Haaren. Irgendwie war Lindsay ja schon süß, aber… sie war eben ein Mädchen. Und es war gar nicht so einfach, mit Mädchen zu kommunizieren. Lindsay war da nicht anders. Und irgendwie doch. Er verscheuchte die Gedanken an Lindsay und trabt zu Jeffrey. „Jeff, ich bin müde und Lindsay auch, glaube ich.“ Jeff sah Thomas mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich will nur nicht, dass sie vor Müdigkeit aus dem Sattel fällt!“, fauchte Thomas und ritt an Jeff vorbei. „Lass uns hier einfach anhalten.“ „Und wo sollen die Pferde trinken?“, fragte Jeff. „Keine Ahnung“, gab Thomas zu. „Die Ponys haben uns so weit gebracht, wir müssen jetzt auch an sie denken!“, meinte Jeffrey. „Wie du meinst.“ Thomas ließ sein Pony weiterlaufen. „Lass uns noch mal galoppieren!“, schlug Thomas vor. „Wieso?“ Thomas zuckte die Schultern. „Brauchst du für alles eine Erklärung? Ich hab einfach Lust dazu“, sagte er. Es waren Wolken aufgezogen und er fürchtete eigentlich, dass es ein Gewitter geben würde und er fürchtete sich vor Gewittern. Deshalb wollte er schnell hier weg. Schon grollte in der Ferne der erste Donner. Auch Jeff schien es unheimlich zu werden. „Gut, lass uns galoppieren! Lindsay, wir wollen galoppieren, es scheint ein Gewitter aufzuziehen, okay?“, rief er dem Mädchen über die Schulter zu. „Okay!“, kam die Antwort prompt. Jeff nickte Thomas zu und sie setzten ihre Pferde in trab und ließen sie dann losgaloppieren. Ein heller Blitz zuckte über den Himmel.

 

 

 

 

 

Fünfundvierzigstes Kapitel: Schutz bei den Elfen

 

Lily und Leila saßen auf dem Boden. „Was denkt der sich eigentlich!“ Lily war wütend auf Elijah. Leila hatte sich in eine Decke gekuschelt. Direkt über ihnen tobte das Gewitter. „Als ob wir hier sicher wären!“, sagte Leila und zuckte zusammen, als ein Blitz irgendwo einschlug. „Mir ist kalt!“, schluchzte sie. „Dann deck dich zu!“ Lily kuschelte sich zu ihrer kleinen Schwester unter die Decke. Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel. „Ist doch aufregend, oder?“, meinte Lily. Leila schüttelte den Kopf. Der Regen spritzte Erde auf. „Schlaf jetzt.“ Lily versuchte ihrer kleinen Schwester die Angst zu nehmen. Leila schloss die Augen. „Aber ich liege auf einer Wurzel!“, sagte sie. „Dann stell dir vor, du liegst zu Hause in deinem Bett!“, stöhnte Lily. Es war eine kurze Zeit still, in der sich Leila nur hin und her rollte. „Es geht nicht“, sagte sie dann. „Gute Nacht, Leila!“ „Aber ich liege immer noch auf der Wurzel!“ „Gute Nacht, Leila!“, sagte Lily scharf und Leila verstummte. Lily sah in die Dunkelheit. Sie sah die Sterne funkeln. Der Regen tropfte ihr auf das Gesicht.

Sie war müde und gähnte. Dann schloss sie die Augen und lauschte der Stille. In einiger Entfernung konnte sie Stimmen hören. Sie wusste, dass dies der Elfenwald war, also mussten dies die Elfen sein. Sie weckte Leila. „Was hältst du davon, wenn wir genau das machen, was Elijah gesagt hat? Wir bleiben hier im Wald. Aber wo wir im Wald sind, wenn er wieder da ist, hat er nicht gesagt. Komm mit!“ „Wohin gehen wir?“, wollte Leila wissen.

„Wir gehen jetzt zu den Elfen!“ „Ich dachte Elfen gibt es nicht!“, murmelte Leila müde. „Ja, und Drachen gibt es auch nicht! Mensch Leila, du weißt doch, dass wir durch irgend so eine komische Grenze gebrochen sind! Hier ist alles so, wie es bei uns nicht ist und das hier ist der Elfenwald. Deshalb gehen wir jetzt zu den Elfen. Kevin war auch schon dort. Also werden sie uns auch aufnehmen. Oder willst du bis auf die Knochen nass werden?“ Sie zog Leila hoch und nahm sie an der Hand. „Jetzt komm.“

 

 

Sechsundvierzigstes Kapitel: Jagd des Bösen

 

Vicy öffnete die Boxentür und nahm das nächst beste Halfter vom Haken. Sie legte es dem Pferd an und führte es aus der Box auf die Stallgasse hinaus. Sie putzte und sattelte es und stieg dann auf. Sie galoppierte über die weite Ebene. Sie wusste, was jeden Moment passieren würde. Das Dämonenpferd würde auftauchen. Doch sie konnte das Pferd nicht wenden. Sie sah gerade aus und wartete. Es war, als würde sie träumen.

Da sah sie aus den Augenwinkeln, wie ein schwarzer Blitz zu ihr aufholte. Sie wendete den Kopf und sah das Pferd. Ihr Eigenes wieherte schrill und legte die Ohren an. „Ich habe dir ja gesagt, das Böse würde dich einholen!“ Damit preschte das Pferd an ihr vorbei und stellte sich ihr in den Weg. Victoria hielt sich nur in der Mähne fest. Ein kalter Wind wehte ihr ins Gesicht, als sie an dem Dämon vorbei ritt. Ihr Umhang wehte im Wind. Das Pferd holte wieder zu ihr auf. Ein paar Galoppsprünge hielt es mit ihr mit, dann rannte es an ihr vorbei und warf den Kopf hoch. Als Vicy bei ihm angekommen war, stieg es und schlug nach ihr. Als sich das Mädchen duckte, rutschte es aus dem Sattel und fiel zu Boden. Ihr Pferd rannte in voller Panik weiter, doch das Dämonenpferd kam langsam auf sie zu. „Ich werde dich kriegen“, flüsterte es mit eiskalter Stimme in ihrem Kopf. Es senkte den Kopf, tiefer, tiefer auf Vicy zu. Kurz vor ihrer Schulter riss es den Kopf hoch, als hätte es nur Schwung geholt und stieg.

Vicy hob abwehrend den Arm. Als das Pferd mit den Hufen auf den Boden kam, sprang sie auf und floh in Richtung Palast. Der Dämon nahm sofort die Verfolgung auf.

„Toby, Hilfe!!!“, schrie Vicy, als sie weit vor ihr einen großen Schatten sah, der einem Wolf ähnelte. Mit einem gewaltigen Sprung landete Toby neben ihr und knurrte das Dämonenpferd an. Wütend schnaubte dieses und schlug mit den Hufen. „Du wirst mir nicht entkommen. Du kannst mir nicht entkommen!“ Dann drehte es sich um und verschwand im Nebel, der plötzlich aufgezogen war. „Was war denn das?“ „Das war das Dämonenpferd, von dem ich dir erzählt hatte.“ Vicy sah ihn an. „Komm. Lass uns gehen.“

 

Ciara saß allein auf dem Boden. Sie wollte nicht, dass Saira bei ihr war. Sie fühlte sich allein. Und daran konnte auch die Gesellschaft ihrer Tochter nichts ändern.

Sie lief unruhig auf und ab. Sie hatte Kevin gefühlt, doch warum war er weggelaufen? Freute er sich denn gar nicht, sie zu sehen?

Und jetzt war er wieder einfach weg. Würde sie ihn je wieder sehen?

Sie würde keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden, es ging ihm gut, das war das, was zählte. Ein letztes Mal hob sie den Kopf zum Sternenhimmel. Würde er jetzt auch an sie denken, wo immer er jetzt war?

 

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch war Preisträger beim Schreibwettbewerb meiner Schule aus dem Jahr 2011. Das Cover wurde von mir erstellt.

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