Als ich aufwache, ist es draußen schon hell. Ich schaue auf die Uhr und merke, dass es noch gar nicht so spät ist, erst kurz vor halb acht. Aus dem Zimmer neben mir höre ich trotzdem schon laute Geräusche. Nicht einmal die dicke Wand hilft, das Gezanke zwischen Pavle und seiner Schwester Jordana zu dämpfen. Ich wünschte, ich könnte rüber und den beiden die Ohren langziehen, doch ich lasse es bleiben. Sattdessen angle ich nach meinem Handy und ziehe es an den Kopfhörern zu mir. Ich sehe, dass Julian auf Whatsapp on ist und schreibe ihn mit einem kurzen Hey! an. Kurz darauf fiep mein Handy leise, als ich eine Antwort bekomme. Schon wach? fragt Julian. Pavle und Jordana machen Stress, schreibe ich zurück. Und die Wände sind so dünn, dass ich alles abbekomme.
In meinem Kopf kann ich ihn lachen hören. Du Arme, schreibt er zurück und packt ein weinendes Smiley hinter seinen Mitleidsausspruch. Ich grinse, dann quatschen wir eine Zeit lang über verschiedene Filme, bis er sich verabschiedet, um sein Referat für die Schule vorzubereiten. Im Zimmer rechts von mir ist es ruhiger geworden, dafür ist es jetzt links laut geworden, denn Nele hat den Fernseher angestellt.
Wir wohnen wenigstens in einem Haus, dafür sind die Wände noch schlechter isoliert. „Nele!“, schreie ich. „Mach leiser.“ Nele reagiert, indem sie noch lauter stellt. Ich stehe auf und trete ein paar Mal gegen die Wand. Daraufhin wird es tatsächlich leiser.
Ich weiß, dass schlafen jetzt unmöglich ist, daher ziehe mich an und gehe in die Küche. Meine Eltern sind nicht da, mein Vater ist auf Geschäftsreise, meine Mutter arbeitet, obwohl wir Wochenende haben. Ich mache mir nichts draus und schmiere mir ein Brot, dann geh ich mit dem Brot in der Hand raus auf die Straße. Es ist für diese Jahreszeit erstaunlich kühl und ein heftiger Windstoß reißt mir die Türklinke aus der Hand.
Die Tür fällt ins Schloss, bevor ich nach meinem Schlüssel greifen kann und ich stehe mit meinem Brot auf der eindeutig kälteren Seite der Tür. Ich klingle. Nichts passiert. Klingle nochmal. Wieder nichts.
Entweder ist Nele zu faul, oder sie hört mich nicht. Ich verdrehe genervt die Augen, springe mit einem großen Satz die Treppe herunter und klingle an der Tür nebenan. Wie erwartet höre ich erst das Gekreische von zwei Kindern, dann Getrampel, wieder Schreie, Schläge, einen Schrei und ein Rumpeln. Pavle öffnet mir die Tür, Jordana liegt mit blutender Nase auf dem Boden vor der Treppe und schreit sich die Lunge aus dem Hals – vor Wut und vor Schmerzen, wie es sich anhört. Ich schiebe Pavle wortlos auf die Seite, drücke ihm mein angebissenes Brot in die Hand und hebe die achtjährige Jordana auf. Dann gehe ich mit ihr in die Küche, mache ein Tuch nass und halte es an ihre Nase.
Als Pavle in die Küche kommt, beachte ich ihn erst, als er anfängt, sich zu rechtfertigen. „Sie ist von ganz allein die Treppe runtergefallen“, lügt er. „Gar nicht wahr!!!“, schreit Jordana, und das „a“ von „wahr“ hört sich verdammt nach dem intensiven Geräusch einer Bohrmaschine an. Dann beginnt Jordana zu jammern und erzählt schluchzend, wie gemein Pavle war und Pavle streitet natürlich alles ab. Das einzige jedoch, was mich wirklich interessiert, ist, dass Pavle mein Brot nicht mehr in der Hand hält und sein Mund marmeladeverschmiert ist.
„Pavle, komm mal her“, sage ich. Pavle kommt nichtsahnend näher. Als er in Reichweite ist, packe ich ihn am Ohr und ziehe ihn zu mir. Während seiner Protestschreie erkläre ich ihm ruhig, dass ich ihm das nächste Mal nicht nur buchstäblich die Ohren langziehen werde, wenn ich nochmal mitbekomme, dass er seine Schwester die Treppe runter schubst.
In diesem Moment kommt sein Vater herein, mit einer Tüte Brötchen unterm Arm. Ich weiß, dass das gerade nicht unbedingt nach inniger Nachbarschaftsliebe zwischen uns drei aussieht: Jordana mit blutender Nase, Pavle schreiend und ich ihn am Ohr ziehend.
„Hi“, ist das einzige, was ich zu meiner Verteidigung sagen kann, doch zum Glück kennt diese Familie mich gut genug und der Vater von Pavle und Jordana kenn auch seine beiden Kinder, sodass er die Situation einschätzen kann.
„Das ist ja schön, Franka, ich hab grad Brötchen gekauft. Hast du schon gefrühstückt?“, begrüßt er mich und überspielt gekonnt die Szene zwischen uns Kindern.
Ich zeige anklagend auf Pavles verschmierten Mund, spare mir jedoch jeglichen Kommentar und hebe Jordana von der Küchentheke. „Jetzt helft ihr beiden erst einmal, den Tisch zu decken“, sag ich zu den beiden Geschwistern, während ich Jordana gerade noch lässig davon abhalten kann, ihrem älteren Bruder gekonnt ins Gesicht zu treten. Wir helfen alle, den Tisch zu decken, dann setzen wir uns und frühstücken gemeinsam. Ursprünglich hatte ich nur nach dem Ersatzschlüssel fragen wollen, doch dass ich jetzt auch noch etwas zu essen bekomme, nachdem mein Frühstück den Weg in Pavles Magen gefunden hat, ist mir auch recht.
Nach dem Frühstück nehme ich die Kleinen mit raus. Jordana hat sich in den Kopf gesetzt, ohne Jacke rauszugehen. Aus einem mir nicht bekannten Grund ist das Wärme-Kälte-Empfingen der beiden Geschwister etwas gestört. Ich packe sie daher in ihre Jacke, während Pavle jetzt plötzlich doch keine Lust mehr hat, und lieber Computer spielen möchte. Ich stöhne genervt, dann ziehe ich Jordana aus dem Haus und lasse Pavle stehen, wo er ist.
Wieder höre ich mir von Jordana an, wie gemein Pavle ist, dass Pavle sich immer abgrenzt und sicher heimlich, wenn sie nicht da ist, mit ihren Spielsachen spielt. Ich nicke nur müde und Jordana merkt gar nicht, dass ich schon am nächsten Haus geklingelt habe und mit Jette rede, die mich durch die Gegensprechanlage fragt, was ich will. „Ich bin’s“, erkläre ich knapp. „Und Jordana hab ich auch dabei. Kommt ihr raus?“
„Sind gleich da“, antwortet Jette. Jordana und ich gehen weiter. Eigentlich gehe ich, Jordana hängt sich an mich und redet unaufhörlich auf mich ein. Ich klingle am Haus gegenüber. Der Türsummer summt und ich drücke gegen die Tür. Jordana redet weiter und ich ignoriere sie. „Wie weit bist du mit deinem Referat?“, frage ich Julian, der am Treppenabsatz steht und zu mir heruntersieht. „Na ja, es geht …“, sagt er und verzieht das Gesicht. Er sieht von Jordana zu mir.
Dann grinst er. „Kommt ganz drauf an, was ihr macht.“ Hinter ihm erscheint sein jüngerer Bruder Jeafree im Türrahmen. „Franka“, ruft er und winkt. Ich grinse ihm zu. „Kommt ihr raus? Jette und Constantin kommen auch gleich“, sage ich. Dann wende ich mich an Julian. „Nele musst du wahrscheinlich eine SMS schreiben, damit sie uns bemerkt.“ Julian grinst, nickt und zieht sich Schuhe an.
Jordana ist in der Zwischenzeit zu Jette gerannt, die begleitet von ihrem älteren Bruder Constantin gerade das Haus verlässt. Jordana hüpft um Jette herum und erzählt ihr alles Mögliche – mit großer Wahrscheinlichkeit geht es wieder um Pavle.
Ich bleibe bei Jeafree und Julian, der gerade sein Handy in der Jackentasche verschwinden lässt, stehen. „Nele kommt gleich!“, sagt Julian und grinst wieder. „Hast du ihr wirklich eine SMS geschrieben?“, frage ich, als die Jungen mit mir rausgehen.
Als Julian nickt, beginne ich zu lachen. „Wo ist Pavle?“, fragt Constantin. „Ich wette, der zockt“, meint Julian. Ich nicke und verdrehe die Augen. „Okay, den Burschen knöpf ich mir mal vor …“, kündigt Julian an und krempelt sich die Ärmel hoch. Ich beobachte mit gemischten Gefühlen, wie er sich der Doppelhaushälfte nähert, in der Jordana, Pavle und ihre Eltern wohnen.
Meine Aufmerksamkeit wird abgelenkt, als Jeafree anfängt, halblustige Flachwitze zu erzählen und Constantin sich nach jedem Witz gegen die Stirn schlägt. „Jeafree, deine Witze sind so langweilig …“, versucht Conni seinem Freund zu erklären, doch der lässt sich nicht beirren. „Pass auf, pass auf!“, sagt er voller Eifer. „Was ist gelb und kann nicht schwimmen?“ Ich stöhne und gebe ihm einen Schlag auf den Hinterkopf, bevor er auflösen kann.
Irgendwo im hinteren Teil unserer Straße entstehen seltsame Laute und ich sehe Julian, der mit Pavle im Schwitzkasten auf uns zukommt. Als er bei uns ankommt, sage ich zu ihm: „Du hast dich hiermit der Kindesentführung schuldig gemacht, ich kläre dich nun über deine Rechte auf …“
„Er wollte es“, unterbricht Julian mich. Mit der einen Hand hält er Pavle den Mund zu, mit der anderen wehrt er seine Schläge ab. Pavle grunzt wieder und sein Gesicht hat fast dieselbe Farbe, wie seine feuerroten Haare. „Er weiß es nur noch nicht“, erklärt Julian mit etwas verkniffenem Gesicht während er versucht, sich vor den Schlägen und Tritten zu schützen.
Jeafree versucht wieder, einen Witz zu machen und Julian hat jetzt plötzlich doch eine Hand frei, um ihm auf den Hinterkopf zu schlagen. „Jeafree, du bist so dumm …“, setzt Julian an und ich weiß, dass das wieder in Beleidigungen und Überheblichkeit von Julians Seite, Tränen und Wut von Jeafrees Seite und schließlich in einer Prügelei enden wird, die den ganzen Tag verderben kann, also sage ich: „Wisst, ihr Jungs: Ich glaube ja, ihr seid so zwei Kerle von dem Typ „Beide-schwul-aber-wissen‘s-noch-nicht“ und wenn ihr keine Brüder wärt …“ Weiter komm ich nicht, denn Julian und Jeafree haben plötzlich jeder zwei Hände, mit denen sie gemeinsam ziemlich gezielt auf jemanden einprügeln könne: Mich.
„Mädchen schlägt man nicht!“, schreie ich und teile selbst kräftig aus. Jeafree kann ich noch abwehren, doch bei Julian wird das schwieriger. Ich beherrsche zwar Kampfsport, doch natürlich würde ich den gegen Julian nie einsetzen, auch nicht bei einer noch so üblen Prügelei. „Okay, okay!“, rufe ich deshalb, während Julian meinen Nacken in seiner Armbeuge hält. „Ich distanziere mich hiermit ausdrücklich von meiner vorhergegangenen Aussage“, sage ich formell und Julian lässt mich los. Ich grinse, als ich mich mit ein paar Schritten hinter Jette in Sicherheit gebracht habe. „Aber ihr müsst schon zugeben, dass …“, beginne ich, doch Julian droht mir mit seiner Faust.
„Kennst du die, Franka? Willst du nochmal dran riechen?“, fragt er mich. Ich schüttle den Kopf. Solche Sprüche erinnern mich immer an unsere Kindheit und die Prügeleien damals, als er sieben war und ich neun. An den kleinen Jungen, mit dem ich gerauft habe, damals, als ich noch größer war als er und immer gewonnen habe. Jetzt ist Julian fünfzehn und einen Kopf größer als ich. Den kleinen Jungen gibt es nicht mehr – und das kleine Mädchen auch nicht.
„Wo bleibt Nele?“, fragt Jette und schaut sich um. „Vielleicht schreibst du ihr besser noch mal eine SMS“, sage ich zu Julian, als ich sie sehe. Meine jüngere Schwester Nele kommt aus unserem Haus, das Handy in der Hand. In dem Moment bekommt Julian eine SMS. „Bin gleich da“, liest er vor. Wir lachen und Jette winkt Nele. Dann rennen sie und Jordana auf sie zu.
Pavle hat sich mit seinem Schicksal abgefunden und versucht nicht einmal, zu entkommen, erstrecht nicht mehr, als wir verkünden, dass wir Fußball spielen wollen. Wir gehen also zu Julian und Jeafree in den Garten und teilen uns in zwei Mannschaften. Als gerade das erste Tor fällt, höre ich Jeafree jemanden rufen und sehe Robin, der die kleine Mauer runter geklettert kommt und auf uns alle zu tapst.
Jeafree hebt ihn hoch und fragt den Dreijährigen, ob er mitspielen will. Robin nickt energisch und rennt los, kaum dass der Junge ihn auf den Boden setzt. Jordana spielt ihm den Ball zu und Robin schießt ihn irgendwo ins nirgendwo. Nele rennt los und holt sich den Ball zurück.
Dann kicken wir uns eine Weile den Ball zu, bis Robin von seiner Mutter zum Mittagessen gerufen wird. Robin aber weigert sich, ohne einen von uns als Begleitung den Heimweg anzutreten. Er greift nach Julians Hand und klammert sich an meine Beine, als Julian seine Hand aus seinem Klammergriff befreien will. Ich und Jeafree begleiten ihn schließlich rein, die anderen folgen uns zwar, jedoch mit etwas Abstand, damit sich die Eltern von Robin und dessen jüngerem Bruder Jona nicht überrannt fühlen. Robin ist glücklich, als wir ihm Jacke und Schuhe ausziehen und zieht dann Jeafree hinter sich her ins Wohnzimmer, wo er sich statt an den Tisch auf den Teppich setzt und mit seinen Spielzeugautos nach Jeafree wirft, um ihn zum mitspielen zu animieren.
Ich gehe in der Zwischenzeit zu Jona, dem jüngsten Mitglied in unserer kleinen Bande, der in seinem Babystuhl schon am Tisch sitzt und mich mit seinen großen, blauen Augen interessiert anstarrt. Der Rest der Kinder hat sich im Flur versammelt, unsicher, ob sie eintreten sollen, oder nicht.
Erst, als Andrea sie hinein winkt, ziehen sie sich die Schuhe aus und kommen auch ins Wohnzimmer. Innerhalb weniger Sekunden ist das Wohn- und Esszimmer der Familie voller Kinder. Jette, Constantin und Pavle sitzen bei Robin und Jeafree und spielen mit den Autos.
Jordana steht bei mir neben Jona, der mit seinen kleinen Fingerchen meinen Daumen umschlungen hat und daran kaut, während Julian und Nele mit dem Kater Cooper spielen, der jedoch gar nicht zum Spielen aufgelegt ist.
Als er meiner Schwester Nele dreimal kräftig in die Hand beißt und an ihrem Handgelenk reißt, als wäre er ein Tiger und versuche, einer Gazelle das Genick zu brechen, schubst Julian ihn weg und die beiden stehen auf. Sabine, die Mutter der beiden, erklärt, dass Jona vorhin wohl auch versucht hatte, mit Cooper zu spielen, der Kleine jedoch nicht verstanden hatte, dass man einer Katze besser nicht zu sehr auf den Bauch drückt, und der Kater jetzt deswegen etwas ungehalten war.
Sie ruft ihre Familie zum Essen und Jeafree setzt Robin auf seinen Kinderstuhl, wir verabschieden uns, doch Andrea fragt uns noch, ob am nächsten Tag jemand Zeit hätte, auf die beiden Kinder aufzupassen. Wir bejahen alle, wobei meine Schwester vergisst, dass sie ein Basketballspiel hat. Als ich sie darauf hinweise, meint sie, sie würde das Spiel dann für Robin und Jona einfach ausfallen lassen.
Jeafree erklärt Julian, dass er sein Referat noch fertig machen müsse, Constantin weist Jette auf ihr Saxophonkonzert hin und Jordana versucht nun natürlich auch ihrem älteren Bruder Pavle eins reinzuwürgen, was ihr allerdings nicht gelingt, da Pavle morgen Abend tatsächlich nichts zu tun hat. Jordana erfindet daraufhin ein Fußballspiel, an dem Pavle beteiligt sein müsse, als niemand darauf hereinfällt, behauptet sie, Pavle habe ein Gitarrenvorspiel, und schließlich meint sie, Pavle wäre eh noch viel zu klein, um auf Robin und Jona aufzupassen.
Ich erkläre mich bereit, am nächsten Abend auf Jona und Robin aufzupassen und Sabine meint, wenn ich mir das zutrauen würde, könnte ich ja auch noch ein paar der anderen Kinder mitbringen, solange wir dafür sorgen könnten, dass Jona und Robin um sieben im Bett liegen. Sie würden auch nicht sehr spät nach Hause kommen, spätestens um neun wären sie wieder da. „Das ist gar kein Problem, ich komme mit denen schon klar“, winke ich lachend ab. Ich habe zwar noch nie Abendessen für so viele Personen gemacht, aber immerhin können mir die anderen ja auch mal helfen, wenn sie schon dabei sind und sich den Bauch vollschlagen. Ich frage, was Jona zu essen bekommt und Sabine zeigt mir, wo die Babynahrung ist.
„Das bekomme ich hin“, sage ich zu ihr. Ich habe schon ein paar Mal auf die beiden aufgepasst und ich hatte jede Menge Zeit, an Jordana und Pavle zu üben. Vielleicht sind sie ja deswegen so verkorkst? Ich muss bei diesem Gedanken lachen. Wenn man sich mal meine Schwester ansieht, ist das auf jeden Fall möglich …
Da sich natürlich keine Einigung hat erzielen lassen, wer nun letzten Endes mit zum Babysitten darf, kommt es, dass wir am Sonntag um viertel nach fünf zu acht bei der kleinen Familie auf der Matte stehen. Sabine öffnet etwas überrascht über den plötzlichen Andrang vor ihrer Haustür die Tür, sagt jedoch nichts, außer, dass sie uns hereinbittet. Im Wohnzimmer haut Robin auf ein kleines Kinderkeyboard, während Jona erneute Annäherungsversuche zum Kater übt.
Als Cooper sich umdreht, und ihm eine scheuern will, springt Sabine auf und zieht den Kater von ihrem Sohn. „Nein, Schatz, mach das nicht“, sagt sie schnell und ich hoffe für Jona, dass er mit Schatz gemeint ist, und nicht der Kater …
Als sich die Eltern der beiden Kleinen von uns verabschieden, verspricht Sabine, sich um acht einmal bei uns zu melden und allerspätestens um neun zurück zu sein. „Die Handynummer liegt auf dem Tisch, mach doch bitte gegen sechs Uhr Abendessen, Franka. Jona und Robin müssen um halb sieben ins Bett, damit sie um sieben schlafen“, erklärt mir Sabine noch einmal und verlässt mit ihrem Mann das Haus. Ich nicke nur und versuche einen Überblick über die jetzt schon etwas chaotische Lage zu bekommen …
Jona übt seine ersten Laufversuche – natürlich in Richtung Kater – Robin verprügelt noch immer das Keyboard. Jette, Jordana, Constantin und Jeafree stehen daneben und unterhalten sich, meine Schwester Nele fängt den Kater ein und bringt ihn aus Jonas Reichweite, während Pavle sich mit Julian auf die Couch setzt und ihm zuschaut, während Julian am Handy spielt. „Irgendwann knacke ich deinen Highscore, versprochen“, sagt Pavle nicht ohne Bewunderung und nimmt Julian das Handy weg.
Ich fange Jona ein und bringe ihn aus der Gefahrenzone namens Cooper. Jona ist total knuddelig und weich und als ich ihn auf den Teppich setze, schaut er mich wieder mit riesengroßen, tiefblauen Augen an. Ich drücke ihm ein Spielzeugauto in die Hand und er beobachtet gespannt, wie sich seine kleinen Finger darum schließen und ich das Auto loslasse. Dann wedelt er mit dem Auto und freut sich. Ich schaue nach Robin, doch den haben Jeafree, Jordana und Jette im Griff.
Als ich mich zu Jona setze, schmeißt der das Auto in hohem Bogen durch die Luft. Er hickst vor Freude und krabbelt dann zum Fernseher. Dort zieht er sich hoch und schaut sich um. Seine Ärmchen sind gerade so lang, dass er sich damit auf das niedrige Sideboard stützen kann, auf dem der Fernseher steht. Ich nehme seine Hände in meine und er tapst auf mich zu. Als er sich auf den Boden fallen lässt, habe ich das Gefühl ein Kichern von ihm zu hören. Er krabbelt zurück zum Fernseher und ich strecke ihm die Arme entgegen.
„Komm her, mein Süßer“, sage ich und Jona dreht sich zu mir. Desinteressiert hangelt er sich zu seinem Bruder und Jette, Jordana und Jeafree. Er will auch ans Keyboard, doch Robin lässt ihn nicht. Ich hebe Jona hoch und trage ihn durchs Zimmer, damit er seinen älteren Bruder etwas in Ruhe spielen lässt. Er hickst und streckt seine Hände nach Cooper aus, der durchs Wohnzimmer streift. Der Kater wird ihm heute noch eine üble Kratzwunde verpassen, wenn Jona nicht endlich seine kleinen Händchen bei sich behält, also lasse ich erst den Kater raus und setzte Jona dann wieder auf den Teppich.
Ich habe noch nie für so viele Leute gekocht, aber ich habe beschlossen, trotzdem Pfannkuchen zu machen. Ich frage, wer mitessen will und Pavle fragt mich, ob ich Pfannkuchen mache. Als ich bejahe, sind alle hellauf begeistert. „Ich esse fünf“, sagt Jordana begeistert und trommelt zufrieden auf ihrem Bauch.
Ich weiß, dass sie keine fünf Pfannkuchen essen wird, doch ich habe trotzdem nicht genug Zutaten hier, um für uns alle Pfannkuchen zu backen, weshalb ich jetzt Jeafree und Pavle nach Hause schicke, um die restlichen Zutaten zu holen.
Robin hört das Zischen, als ich Öl in die Pfanne gieße, und sein Blick schießt zu mir herum. „Hunger“, quiekt er und kommt zu mir. Mit seinen kleinen Fäustchen krallt er sich in mein Hosenbein, als er fordernd zu mir aufblickt.
Ich nicke. „Bald gibt’s essen, ich hole euch dann. Jetzt kannst du noch ein bisschen spielen gehen“, sage ich.
Als ich den ersten Pfannkuchen gemacht habe, lege ich ihn auf einen großen Teller und mache die nächsten. Die anderen decken in der Zwischenzeit den Tisch. Ich höre Jeafree, der versucht, Robin dazu zu bringen, ihm zu verraten, wo die Teller sind. Robin weigert sich weiterhin. Mit verschränkten Armen steht er auf dem Teppich und schüttelt stur den Kopf. Erst als Nele ihm erklärt, dass es halt dann kein Essen geben würde, hilft der Kleine beim Decken des Tisches.
Ich lege alle Pfannkuchen auf einen Teller und stelle ihn auf den Tisch, damit sich jeder nehmen kann. Jona wird von mir in seinen Kinderstuhl gesetzt und ich stelle dir Babynahrung bereit. Dann rennen Jeafree, Julian, Constantin und Nele noch einmal zu Julian und Jeafree nach Hause, um Stühle zu holen. Ich stelle noch zwei Sessel aus dem Wohnzimmer an den Tisch. Jeafree, Julian, Nele und Constantin kommen mit je einem Stuhl zurück und ich frage mich, ob jetzt Julians und Jeafrees Eltern ohne Stühle essen müssen, denke aber nicht weiter drüber nach.
Wir essen und Jona drückt sein Unwohlsein über diese Ignoranz durch lautes Quengeln aus. Ich beschließe, mit der rechten Hand Jona zu füttern und mit der linken mich selbst. Es klappt sogar fast. Ich gebe mein Bestes und kümmere mich nach meinem dritten Pfannkuchen ausschließlich um Jona. Jordana, die zuvor den Mund so weit aufgerissen hat, beschließt, sich einen Pfannkuchen mit Robin zu teilen und danach satt zu sein.
Dafür essen Julian und Constantin für drei. Die beiden Jungs hauen rein, als hätten sie seit Tagen nichts zu essen bekommen. Jeder von ihnen isst fünf Pfannkuchen, Julian teilt sich noch einen mit Nele und am Ende sind nur zwei Pfannkuchen übrig.
Ich hebe Jona aus seinem Babystuhl. Ein unguter Geruch schlägt mir entgegen.
Ich hebe ihn Jeafree entgegen. „Das kannst du machen“, sage ich. Er schnüffelt, dann riecht auch er es und in dem Moment wird er bleich. „Komm schon, du musst ihm nur die Windel wechseln“, beruhige ich ihn, doch Jeafree fährt herum und schaut Robin an. „Robin, musst du auf die Toilette?!“, fragt er ihn mit einem schrillen Unterton. Robin lacht verlegen und kann gar nicht mehr aufhören zu grinsen. Julian hebt ihn aus seinem Stuhl und schnüffelt an seinem Po. „Einer Jona, einer Robin“, sage ich. An dem Blick, den Julian und Jeafree mir zuwerfen, erkennt man wieder, dass sie Brüder sind. „Ihr kennt die beiden am besten“, sage ich. „Und ihr seid Jungs. Soll Pavle ihnen die Windel wechseln?“ Pavle verzieht das Gesicht.
Letzten Endes wickelt Julian Jona und ich helfe ihm dabei, während Nele und Jeafree Robin in der Badewanne abbrausen und ihm dann seinen Schlafanzug anziehen. Die vollgepinkelten Klamotten schmeißen sie in die Wäsche. Julian und ich sind mit Jona beschäftigt. „Du solltest ihn abdecken, wenn du nicht willst, dass er dir ins Gesicht pinkelt“, sage ich. „Woher weißt du denn das?“, fragt Julian. „Hast du einen Schwangerschaftsratgeber verschluckt?“
„Hat meine Mum gesagt“, antworte ich. „Seit wann habt ihr einen Bruder?“, fragt Julian mich, befolgt meinen Ratschlag aber. Ich verlasse das Zimmer und schaue, wie es bei Robin, Nele und Jeafree läuft. Jette, Constantin, Jordana und Pavle stehen unschlüssig im Flur rum. „Habt ihr nichts zu tun?“, frage ich. Alle schütteln synchron den Kopf.
Auch wir könnten Geschwister sein.
„Dann räumt den Tisch ab“, sage ich. Alle nicken, wohl etwas glücklich darüber, dass sie sich nicht mit vollgemachten Hosen beschäftigen müssen. Als ich ins Bad kommt, sind Jeafree und Nele dabei, Robin abzutrocknen. Ich reiche ihnen den kleinen Bademantel, der an der Tür hängt und wir wickeln ihn darin ein.
Ich gehe wieder zu Julian und Jona, wo ich beinahe einen Herzinfarkt bekomme. „Franka, hilf mir mal, ich find die Windeln nicht“, sagt Julian, der an einem Schrank steht und die Schubladen durchwühlt. Jona ist gerade dabei, seine neuen Laufkünste auf dem Wickeltisch auszuprobieren – gefährlich nahe an der Kante. „Bist du verrückt?!“, schreie ich. Ich stürze auf Jona zu und hebe ihn instinktiv hoch, um ihn vorm Runterfallen zu schützen. Leider rutscht dadurch das Handtuch, mit dem Julian ihn abgedeckt hat, runter und er nutzt die Chance, um mich voll zu pinkeln. „Jona!“, rufe ich entsetzt und etwas angeekelt.
„A-ka!“, gackert Jona im selben Tonfall, den ich angeschlagen habe und freut sich. Julian lacht schallend. Ich setze den ziemlich leicht – beziehungsweise gar nicht – bekleideten Jona auf den Boden, bevor ich noch nässer werde, reiße mir das T-Shirt vom Leib und schmeiße es nach Julian, ohne mich darum zu kümmern, dass ich obenrum nur noch in Unterwäsche vor ihm stehe. „Ihhhh!“, schreit Julian, was ich einfach mal auf T-Shirt beziehe. In dem Moment kommen Nele und Jeafree mit Robin auf dem Arm rein und ich merke, dass ich rot werde. Ich schnappe mir das nächste, womit ich meine Blöße bedecken kann und erwische das Handtuch.
„Ähm …“ Jeafree wird rot und schaut zu Boden. Stille … Dann beginnt Nele zu lachen. „Hab ich was zwischen euch nicht mitbekommen?“, fragt sie mich. „Bitte, nicht hier vor den Kindern“, sagt Jeafree und lacht ebenfalls, der seine Sprache wiedergefunden hat.
Ich knurre ihn wütend an, er solle mir aus dem Weg gehen, renne in den Flur und werfe mir meine leichte Sommerjacke über. Dann gehe ich wieder hoch und helfe Julian, die Windeln zu finden. Nele und Jeafree helfen auch, bis Robin stolz eine Packung Windeln unterm Regal vorzieht. „Gefunden!“, ruft er. Julian nimmt ihm die Windeln aus der Hand und wir ziehen Jona eine frische Windel an. „Was soll ich damit machen?“, fragt Nele und hebt mir mein vollgepinkeltes T-Shirt hin. Ich reiße es ihr aus der Hand.
„Ich geh gleich kurz und zieh mich um“, verkünde ich. „Wenn Jona und Robin schlafen.“ Jeafree und Nele ziehen Robin den Schlafanzug an und er macht sich einen Spaß draus, ihn sich wieder auszuziehen. „Robin, du musst jetzt schlafen, morgen ist Kindergarten“, erklärt Jeafree ihm und zieht ihm die Hose wieder hoch. Robin ist nicht begeistert und das zeigt er auch, als es ans Zähneputzen geht. Schließlich hat Jordana, die mit dem Rest der Kinder wieder hochgekommen ist, die rettende Idee. Sie verschwindet ohne eine Erklärung und als sie wiederkommt hat sie ihre und Pavles Zahnbürste dabei. Sie reicht sie ihrem Bruder und der putzt sich zusammen mit Jordana am Waschbecken die Zähne. „Mach auch mit, Robin“, sagt Jordana. „Das ist richtig cool.“ Sie weiß, wie sie den Kleinen dazu überreden kann, mitzumachen und ihr Plan geht auf.
Julian hat Jona seinen Schlafanzug angezogen und ihn in sein Gitterbettchen gelegt. Jona streckt die Arme nach ihm aus – er will noch nicht schlafen.
Wir bringen Robin zu ihm ins Zimmer und legen ihn in sein Bett. „Ihr müsst jetzt beide schlafen“, erklärt Nele. „Morgen können wir wieder spielen.“ Robin ist unzufrieden, Jona ist unzufrieden und Jordana und Pavle prügeln sich im Flur. Ich seufze. Der perfekte Abschluss für diesen Abend. Er zeigt wieder einmal, wie wir wirklich sind.
Robin weint jetzt vor Wut und schreit. Ich setze mich zu ihm und drücke ihn ins Bett. „Robin, wenn du jetzt schläfst, dann sing ich dir was vor.“ Der Dreijährige ist unentschlossen, doch dann singen Jette, Jordana und ich dreistimmig „Der Mond ist aufgegangen“.
„Jetzt ist Schlafenszeit“, sage ich und wir verabschieden uns alle. Kaum verlasse ich das Zimmer und mache das Licht aus, höre ich, wie er aufsteht und zum Lichtschalter läuft. „Du musst wirklich schlafen“, sage ich und bringe ihn erneut ins Bett. Er überredet mich, ihm eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, danach lese ich ihm auch noch aus seinem Lieblingsbuch vor und singe noch eine Runde allein „Der Mond ist aufgegangen“, da der Rest die Geduld verloren hat und ins Wohnzimmer geflohen ist. Robin ist immer noch nicht zufrieden, ich hole ihm seinen Teddybär, der unter der Couch liegt und danach den selten hässlichen Plüschlöwen, der auch unter der Couch liegt.
Als der Kleine endlich einschläft und ich mich zu den anderen ins Wohnzimmer setzen kann, bin ich ähnlich müde – vielleicht sogar noch erschöpfter als er.
Es ist zehn nach acht, als die Eltern der beiden Jungs wiederkommen. Durch den Garten von Julian und Jeafree machen wir uns auf den Heimweg, die Jungs verabschieden sich von uns und gehen nach Hause, danach gehen Jette und Constantin ihrer Wege und ich und Nele bringen Pavle und Jordana nach Hause. Die beiden betteln so lange, bis wir uns bereiterklären, sie auch noch ins Bett zu bringen.
Natürlich schlagen die beiden dabei wieder um sich, und erst als die beiden endlich im Bett liegen, kehrt so etwas Ähnliches wie Ruhe ein. Ich sitze bei Pavle und er quasselt mich zu, Nele ist bei Jordana im Zimmer.
Auch sie quatscht, aber ich verstehe kein Wort, bis sie irgendwann „…mindestens so blöd wie Pavle!“ schreit. Pavle springt von Bett und ich stelle mich ihm in den Weg, als er aus dem Zimmer stürmen will ich packe ihn und trage ihn wieder ins Bett.
„Pavle! Leg dich hin und schlaf jetzt. Morgen ist Schule“, sage ich streng. „Aber Jordana…“ – „…ist mir sowas von egal …“, seufze ich. „Ich weiß nur, dass ich morgen um sieben vor deiner Haustür steh, und Nele, Jette, du und ich den Bus verpassen werden, wenn du verschläfst und deswegen nicht rechtzeitig fertig bist.“
Pavle murrt, vergräbt das Gesicht im Kissen und ich schalte das Licht aus, als ich das Zimmer verlasse. Ich warte kurz vor der Tür und horche, doch Pavle steht nicht auf, er ist jetzt still und auch in Jordanas Zimmer ist es ruhig. Nele zieht die Tür hinter sich zu und wir machen uns gemeinsam auf den Heimweg.
Mein Wecker klingelt nicht. Ich wache davon auf, dass Nele sich die Haare föhnt. „Fu…“ Ich fluche nicht zu Ende. Das habe ich mir abgewöhnt. Seit Jordana sechs ist, sagt sie bei jeder Gelegenheit: „Wat se fakk?“, was weder ich, noch ihre Eltern witzig finden. Das war mein Spruch. Und ich werde ihr keinen Weiteren überlassen.
Jetzt springe ich auf. Na super, gestern Pavle einen Vortrag über pünktliches Aufstehen halten, und heute verschlafen. Ich schnappe mir meine Hose und das erste T-Shirt, das ich erwische. Ich ziehe mich an und putze mir die Zähne, dann sprinte ich in den Flur, wo Nele bereits die Jacke anzieht. „Ich dachte, du hättest zur zweiten Stunde Schule …“, sagt sie entschuldigend und fährt sich noch einmal durch die Haare. „Ich hab wohl vergessen, den Wecker zu stellen“, murmle ich und schlüpfe in meine Schuhe.
Ich werfe mir die Jacke über und wir gehen. Pavle steht schon draußen auf der Straße und wartet auf uns. Jette stößt zu uns, als wir an ihrem Haus vorbeikommen und wir gehen zum Bus. In der ersten Stunde habe ich Bio. Ich hasse Bio. Ich hasse Bio, Mathe, Deutsch, Englisch und alles andere, was mit Schule zu tun hat.
Irgendwie überstehe ich die Doppelstunde und als es zur Pause klingelt, bin ich wie fast immer die erste, die draußen ist. Vor der Tür stoße ich mit einer Schar Fünftklässler zusammen. Sie prallen gegen meinen Bauch und zwei von ihnen fallen hin. „Sorry“, sage ich und helfe einem der beiden hoch. Pavle löst sich aus der Gruppe.
„Franka …“, knurrt er. „Ich weiß, ich bin peinlich“, sage ich und lache. „Ist das deine Schwester?“, fragt ein Junge. Pavle und ich nicken synchron. Das ist so viel einfacher als ihnen zu erklären, dass wir nur Nachbarn sind, uns aber wie Geschwister fühlen. Das stößt auch manchmal auf Unverständnis, und ich will, dass Pavle sich mit mir, Nele und vor allem Jette blicken lassen kann, ohne dass irgendjemand aus Jettes oder Pavles Klassen darin gleich irgendeine kinderübliche Liebesbeziehung sieht.
„Hast du dir wehgetan?“, frage ich den Jungen, der hingefallen ist. Er schüttelt den Kopf. Dann lasse ich ihn los und bahne mir einen Weg durch die Fünftklässler, die den Weg versperren.
Mein Tag verläuft ohne besondere Zwischenfälle. Erst in der Mittagspause stoße ich wieder auf Pavle. Er hat eine Pizza in der Hand und steht im Schulhaus neben drei Freunden.
Zwei von ihnen haben einen Tisch in den Gang gestellt, nehmen Anlauf und springen darüber. Die beiden sind ziemlich gut und variieren ihre Sprünge. Sie sind nicht schlecht, es sieht wirklich elegant aus. Pavle sieht nicht ohne Neid zu.
Ich sitze mit meiner Freundin Amelia an der Wand und beobachte die Jungs. Ich sehe, dass Pavle seine Pizza weglegt. „Ich will auch mal“, sagt er zu seinen Freunden und macht sich zum Sprung bereit. „Vergiss es!“, rufe ich und springe auf. „Du wirst da nicht rüberspringen“, sage ich und laufe auf ihn zu. „Wieso nicht?“, fragt er mich. „Weißt du noch, das letzte Mal, als du versucht hast, auf dem Spielplatz über eine Bank zu springen?“ Pavle hat sich damals den Arm gebrochen und hat wochenlang gejammert.
„Damals war ich neun“, sagt er trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust. „Und jetzt bist du zehn“, antworte ich im selben Ton. „Ich bin alt genug, das selbst zu entscheiden, Franka“, entgegnet er. „Nein, bist du nicht. Außerdem bin ich die, die mit dir ins Krankenhaus muss, wenn du gleich heulend auf dem Boden liegst.“ Da Pavle keine Geschwister hier auf der Schule hat, und ich nicht von ihm verlangen kann, dass er allein ins Krankenhaus gebracht wird, wird die Wahl nämlich auf mich fallen. Außerdem sehe ich es auch etwas als meine Pflicht, meinen „kleinen Bruder“ vor allem Übel zu beschützen.
„Vielleicht falle ich ja gar nicht hin“, sagt Pavle provozierend und ich merke, dass ich ihn in seinem Stolz gekränkt habe. Jetzt hab ich verspielt, er wird sicher nicht mehr auf mich hören. „Ich will nicht, dass du da rüberspringst, Pavle“, wiederhole ich langsam und bittend.
„Du hast mir gar nichts zu sagen. Du bist nicht meine Mutter. Du bist ja nicht mal meine Schwester.“ Stille.
Aua … Das tut verdammt weh, obwohl es stimmt. Das hat er noch nie zu mir gesagt. Das habe ich auch noch nie zu ihm gesagt, weil wir alle stolz darauf sind, neun Geschwister zu haben, und wir unsere Geschwister lieben. Ich muss ihn gerade wirklich gekränkt haben.
„Weißt du was?“, sage ich und ich spüre, dass sich die Enttäuschung in pure Wut verwandelt. „Mach doch, was du willst, wenn du eh alles besser weißt. Ich würde mir grad wünschen, dass es dich richtig auf die Schnauze legt, damit du lernst, dein großes Maul im Zaum zu halten.“ Ich stoße ihn grob aus dem Weg und setze mich wieder zu meiner Freundin an den Rand.
„Das wirst du leider nicht erleben!“, schreit Pavle mich an. „Ich bin nämlich super in Sport.“ Er beobachtet mich aus den Augenwinkeln, als er Anlauf nimmt. Er will, dass ich seinen Sprung sehe und ich kann mich nicht daran hindern, ihm zuzusehen. Ich hoffe natürlich, dass er sich nichts tut, unter anderem auch, weil ich stolz auf ihn sein will, doch andererseits will ich, dass er lernt, seine blöde Klappe zu halten, und einfach mal zu tun, was man ihm sagt.
Pavle sprintet los, aus den Augenwinkeln beobachtet er jede meiner Reaktionen. Seine Schritte sind gut abgemessen und einkalkuliert, er sieht wieder zu mir, macht einen letzten Schritt und springt ab …
RUMMS!
Ich warte neben Amelia, Pavle und seinen drei Freunden auf der Krankenstation der Schule. Pavle liegt auf der Krankenliege und heult, ich halte ihm einen kalten Lappen an die blutende Nase und stütze seinen Kopf, während Amelia ein feuchtes Tuch auf die Platzwunde an seiner Stirn drückt. Wenn es ihm nicht eh schon so scheiße gehen würde, würde ich ihm zu gern unter die Nase reiben, dass ich Recht hatte.
„Weißt du, Pavle“, sagt einer seiner Freunde. „Mit dir hat man nichts als Kummer.“
„Ich hab gesagt, du sollst das nicht machen“, sage ich jetzt doch und hebe den Lappen nochmal unter den Wasserhahn. Pavle schluchzt auf, als ich ihm den Lappen wieder an die Nase klatsche und sieht mich wütend an. Die Sekretärin kommt rein, und fragt, ob wir noch etwas bräuchten. Wir schütteln den Kopf und sie sagt, dass Pavles Eltern und der Krankenwagen gleich kommen würden. Obwohl ich und Pavle gesagt haben, ein Krankenwagen sei unnötig, wollte die Schule kein Risiko eingehen.
Ich wische vorsichtig die Blutflecken von Pavles T-Shirt, doch gleich tropfen neue darauf, also kümmere ich mich wieder um seine Nase und warte mit der T-Shirt-Säuberung, bis die Blutung nachgelassen hat. „Tut’s noch arg weh?“, fragt Pavles Freund.
Pavle nickt und schluchzt wieder. Er klammert sich an mich und ich streiche ihm über den Kopf. „Ich hab Kopfweh!“, heult er laut dreht sich trostsuchend zu mir, sodass sein Kopf an meinem Oberschenkel liegt. Jetzt tropft das Blut nicht nur auf sein T-Shirt, sondern auch noch auf meine helle Hose. Ich seufze leise. Egal, die Hose wollte ich eh wegwerfen …
Pavles Mutter trifft zeitgleich mit dem Krankenwagen ein. Ein Arzt untersucht Pavles Kopf und seine Nase. „Brauchen wir wirklich einen Krankenwagen?“, fragt Pavles Mutter in die Runde. „Hab ich auch schon gesagt“, sagen Pavle und ich gleichzeitig.
Der Arzt sagt, dass sie Pavle gern zur Beobachtung zumindest über Nacht mitnehmen würden, doch Pavle weigert sich. „Ich will nicht“, sagt Pavle und will sich aufsetzen. „Ich geh jetzt einfach wieder in den Unterricht.“
„Das kannst du jetzt eh vergessen“, sage ich und drücke ihn wieder auf die Liege. „Hättest du mal getan, was ich gesagt habe …“, sage ich und zucke entschuldigend mit den Schultern. Wenn Blicke töten könnten …
Die Ärzte bestehen darauf, Pavle mitzunehmen und Pavle besteht darauf, hierzubleiben. „Ich will nicht“, wiederholt er. „Pavle, sei vernünftig“, bittet seine Mutter ihn. „Wenn die wollen, dass du mitgehst, solltest du es vielleicht tun“, sagt Pavles Freund. „Das denk ich auch, wer weiß, was da sonst noch passiert“, stimmt Amelia ihm zu.
„Das steht sogar völlig außer Frage“, werfe ich meine Meinung in den Raum. „Du bist grad über einen Tisch geflogen und hast deinen Sturz elegant mit dem Kopf abgefangen. Natürlich kommst du jetzt erst mal ins Krankenhaus.“ Pavles Blick zischt so schnell zu mir herum, dass ich plötzlich meine Meinung ändere und denke, dass es ihm gar nicht so schlecht gehen kann. „Dann kommst du mit, Franka“, sagt Pavle bestimmt zu mir. „Ich will da nicht allein hin.“
„Allein bist du eh nicht“, sagt seine Mutter tröstend. „Ich komm ja auch mit.“
„Ich kann auch mit, wenn du unbedingt willst“, sag ich. „Mit der vollgebluteten Hose geh ich jetzt eh nicht mehr in den Unterricht. Die denken ja alle, ich hab meine Tage.“
Ich will Pavle jetzt auch eigentlich gar nicht allein lassen …
Pavle wendet sich zu seiner Mutter. „Darf Franka mit? Ich will nicht ohne meine Schwester gehen.“ Kluger Schachzug. Als seine Schwester ist es wahrscheinlicher, dass ich mit ihm kommen darf. Zum Glück ist mein Name genauso bescheuert, wie Pavles.
„Von mir aus“, meint unsere Mutter. Sie zwinkert mir zu.
Der Notarzt packt Pavle und mich in den Krankenwagen, weil Pavle wieder einen Aufstand macht, als er hört, dass er da allein rein muss. Als Pavle dann noch erfährt, dass sie ihm noch eine Infusion legen müssen, um ihm Schmerzmittel zu geben, und im Notfall einen Zugang zu haben, rastet er völlig aus. „Nein! Ich hab Angst vor Nadeln. Franka, ich will das nicht. Sag denen, sie sollen mich in Ruhe lassen“, bittet er mich, doch ich drehe mich nur zu einem der Rettungssanitäter. „Soll ich ihn bewusstlos schlagen?“, frage ich den jungen Mann und knackse mit den Fingerknöcheln. „Viel fehlt nach dem Sturz eh nicht mehr …“
Pavle erstarrt und wird blass, obwohl er weiß, dass ich ihm nie etwas tun würde. Aber mit dem Satz habe ich klar gezeigt, auf wessen Seite ich stehe. Und das ist nicht seine. „Du kannst es dir aussuchen“, sage ich gönnerhaft zu Pavle. „Entweder, du hörst mit dem Theater auf, oder …“ Ich lasse den Satz in der Luft hängen und knackse nochmal mit den Fingern. Pavle ist immer noch etwas bleich, während der Arzt ihm in die Ellenbogenbeuge sticht, was auch an Pavles Angst vor Spritzen liegen könnte, doch ich beschließe, ihn zu beruhigen. „Das war keine Drohung“, sage ich. Ich lächele frech und streiche ihm über die roten Haare. „Das war nur ein Angebot.“
Wir kommen im Krankenhaus an und ich beobachte, wie sie Pavle in ein Zimmer bringen, wo er sich umzieht und in eines der Betten legt.
Ich setze mich zu ihm und unterhalte ihn, bis der Arzt sagt, er brauche Ruhe und solle schlafen. Ich verabschiede mich, verspreche aber, ihm heimlich bei Gelegenheit meinen Gameboy mitzubringen und Pavle freut sich.
Als ich draußen bin, schnappe ich mir den nächsten Bus, der mich nach Hause bringt. Dort angekommen schmeiße ich meine Hose in die Wäsche – vielleicht gehen die Flecken ja doch raus – ziehe mir eine Jogginghose an und klingle nebenan.
Jordana öffnet mir nach dem dritten Klingeln die Tür. „Hey, ist dein Papa da?“, frage ich. Jordana schüttelt den Kopf. „Und Mama und Pavle auch nicht“, sagt sie und ihre Stimme klingt weinerlich. „Ja, ich weiß“, antworte ich und komme rein. „Wo sind sie?“, fragt Jordana mich. „Hat deine Mama dich nicht angerufen?“, frage ich. Jordana schüttelt den Kopf. Ich schaue auf den Anrufbeantworter. Doch, hat sie vermutlich, nur ist Jordana nicht rangegangen. Zwei Nachrichten sind auf dem Anrufbeantworter. Ich klicke auf den kleinen grünen Button und spiele Jordana die Nachrichten vor. Eine ist von ihrer Mutter, die ihr erzählt, sie solle sich keine Sorgen machen, sie müsse mit Pavle zum Arzt, eine ist von ihrem Vater, der sagt, dass er später nach Hause kommt.
„Was ist mit Pavle?“, fragt Jordana mich interessiert. „Der ist über einen Tisch geflogen“, antworte ich ihr knapp. „Ich war grad mit ihm im Krankenhaus.“ Dann erzähle ich Jordana, dass es ihm gut geht, und was genau passiert ist.
Als ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe, höre ich Jordanas Magen knurren. Sie blickt mit ihren blauen Augen zu mir hoch und ich weiß, was ihr Blick mit sagen möchte. „Hast du gegessen?“, frage ich Jordana. Sie nickt. „Aber ich glaube, ich könnte noch ein bisschen Schokolade vertragen“, meint sie und krabbelt näher zu mir. Dabei klimpert sie mit den Wimpern.
Wir gönnen uns einen Schokoriegel und setzen uns dann aufs Sofa. Wir spielen ihr Lieblingsbrettspiel, bis ich höre, wie sich im Türschloss ein Schlüssel dreht und ihr Vater das Haus betritt.
Seine Frau hat ihn nach Pavles Unfall angerufen, doch ich erkläre noch einmal alle Details. „Hm, das hört sich aber nicht gut an“, meint er. „Sicher nur eine leichte Gehirnerschütterung“, winke ich ab und versuche, ihn zu beruhigen. „Die Platzwunde hat auch gar nicht so stark geblutet.“
Ihr Vater lädt mich zum Abendessen ein, doch ich lehne ab und sage, ich müsse auch mal wieder nach Hause, meine Eltern wüssten sicher schon nicht mehr, wie ich aussehe.
Ich gehe durch den Garten der Familie in unseren Garten. Dabei trete ich fast in den Gartenteich, der völlig überwuchert ist und schon fast in den Büschen liegt. Unsere Meerschweinchen sind im Freigehege, das nahe am Gartenteich liegt. Im Gartenteich funkeln ein paar Goldfische. Meine Mutter hasst diesen Teich. Sie findet ihn kitschig, hässlich … furchteinflößend. Dieses Wort hat sie einmal benutzt, als ich noch ganz klein war.
Der Teich besteht nur aus einer Form, die einer acht ähnelt und hat eine Länge von knapp zwei Metern. Tief ist er auch nicht wirklich. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Meine Mutter wollte trotzdem, dass mein Vater ihn zuschüttet oder rausreißt – doch er hat es nie getan. Der Teich war früher im Garten meiner verstorbenen Großmutter und mein Vater wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, das Erinnerungsstück wegzuschmeißen. Manchmal glaube ich, meine Mutter hasst ihn dafür, genauso, wie sie den Teich hasst.
Ich verschwende keinen weiteren Gedanken an den Teich, klettere die Treppe hoch, die die Witterung schon ziemlich mitgenommen hat und gehe durch die geöffnete Terrassentür.
Ich setze mich vor den Fernseher. Es dämmert fast, als ich höre, wie sich der Schlüssel in der Tür dreht und Nele den Hausflur betritt. Sie kommt vom Musikunterricht.
Ich schaue raus. Es ist kälter geworden und die Wolken fangen an, sich gelblich zu verfärben. Ich hole unsere Meerschweinchen rein, Nele geht in ihr Zimmer. Meine Eltern kommen erst spät abends zurück als Nele und ich schon gegessen haben. Den ganzen Abend spricht niemand ein Wort.
Als ich am nächsten Nachmittag mit Amelia die Schule verlasse, regnet es. Ursprünglich wollten wir zusammen shoppen gehen, doch jetzt will Amelia nicht mehr. Ich kann das verstehen, ich will bei dem Wetter auch nicht mehr, doch ich muss: Nele hat in ein paar Tagen Geburtstag, sie wird sechzehn. Und ich brauche unbedingt ein Geschenk für sie. Also renne ich durch den Sommerregen zum Bus und bin froh, als ich mich im Trockenen befinde.
Als ich den Bus in der Stadtmitte verlasse, regnet es nicht nur, es ist auch kalt geworden und ein unangenehmer Wind geht. Ich hetze durch die Gassen, der Regen klatscht mir auf die Beine und will mir die Kapuze vom Kopf reißen. Ich habe keine Hand frei, um sie festzuhalten: Meine rechte Hand trägt meinen schweren Schulordner, die andere habe ich zu einer Faust geballt und in der Jackentasche vergraben. Ich sprinte in den erstbesten Laden und schaue mich um. Ich kaufe Nele eine CD, lasse sie direkt an der Kasse schön einpacken und verlasse den Laden wieder. Draußen knicke ich, beladen wie ich bin, in einer Pfütze um und das Wasser läuft seitlich in meinen Schuh. Ich fluche, widerstehe jedoch dem Impuls wütend aufzustampfen. Das wäre der Sache nicht sehr dienlich.
Ich renne zur Bushaltestelle und verpasse meinen Bus um ein paar Minuten. Wütend stehe ich rum und beobachte, wie der eisige Wind die Oberfläche der Pfützen kräuselt, wie die Meeresoberfläche an einem stürmischen Tag.
Eine dreiviertel Stunde warte ich auf den nächsten Bus. Als ich einsteige, zittere ich vor Kälte. Dafür, dass es Ende Juni ist, ist es sehr dunkel. Die Wolken verdecken die Sonne und in der Ferne grollt ein Donner, der für heute Nacht ein Gewitter ankündigt.
Es ist erst Dienstag, doch ich fühle mich von der Schule so ausgelaugt, dass ich schon wieder ein Wochenende nötig hätte … Oder Ferien. Ich freue mich auf die Sommerferien, doch es sind noch vier Wochen bis dorthin. Ich seufze und lasse mich auf einen freien Sitzplatz am Fenster fallen. Ich starre raus, in die regnerische Außenwelt. Meine Armbanduhr sagt mir, dass es kurz nach halb fünf ist und ich hoffe, dass ich vor dem Abendessen noch bei Pavle vorbeischauen kann, der heute aus dem Krankenhaus entlassen wird.
Ich strukturiere den Rest meiner Woche. Am Donnerstag schreiben wir Mathe, also werde ich meine Freizeit damit verbringen, zu lernen. Morgen muss ich zu Jette und ihr bei Latein helfen. Sie schreibt am Freitag. Ich war nie wirklich gut in Latein, doch es ist Jettes erstes Jahr, und das bekomme ich grad noch hin.
Am Donnerstag habe ich Gesangsunterricht und wenn ich nach Hause komme, werde ich Bio pauken. Ich lerne am Vortag einfach so viel ich kann, kotze es am nächsten Tag aufs Blatt und vergesse es so schnell wie möglich wieder, damit Platz für das nächste Fach ist. Ich hatte immer gehofft, ich könnte Jette und auch allen anderen das ersparen, deshalb fange ich mit Jette frühzeitig an, zu lernen, doch das bringt nichts. Wer Abitur machen will, muss so lernen. Wenn ich morgen um fünf zu Jette komme, um mit ihr Latein zu erarbeiten, wird sie schon zwei Stunden Hausaufgaben gemacht und für die Erdkundearbeit nächsten Montag gelernt haben. Am Freitag schreibt sie neben der Lateinarbeit einen Englichvokabeltest, der ihre Endnote noch ins Wanken bringen könnte. Ich gönne ihr die Zwei. Sie ist gut in Englisch, hätte die Eins verdient, doch die letzte Arbeit hat sie in den Sand gesetzt. Damals musste sie Mathe lernen. Jetzt droht sie, auf die Drei abzurutschen.
Vielleicht werde ich sie auch noch Vokabeln abfragen, bevor ich mich an meine eigenen Aufgaben setze. Ich lehne meinen Kopf resigniert an die kalte Fensterscheibe. „Wo bleibt da der Platz für die Kindheit?“, seufze ich. Der Mann vor mir dreht sich zu mir um und schaut mich verdattert an und ich senke schnell den Blick. In Jettes Alter war mir die Schule egal. Nachmittags habe ich draußen gespielt, mit Julian und Nele. Wir haben Höhlen im Wald gebaut, aus Blättern und Ästen. Ich habe nie auf eine Arbeit gelernt. Vielleicht hätte ich es tun sollen, dann wäre ich jetzt nicht so weit hinten dran … Oder war es richtig, was ich getan habe? Ich hatte eine Kindheit, was man von Jette, Pavle oder sogar Jordana nicht behaupten kann. Ich war glücklich, jetzt bin ich es nicht mehr. Wegen der Schule, wegen den Noten. Ist Jette glücklich?
„Was man nie hatte, kann man nicht vermissen“, tröste ich mich, doch es macht mich traurig. Unglaublich traurig …
Mittwochnachmittag stehe ich um kurz vor fünf bei Jette. „Sind deine Eltern nicht da?“, frage ich Conny, der mich reinlässt. „Nee. Und ich geh gleich zum Schlagzeugunterricht“, antwortet er. Ich nicke und setze mich zu Jette an den Tisch. Ihre Augen sind verheult.
„Was ist los, Kleines?“, frage ich und nehme sie in den Arm. „Ich schaffe das nicht, ich schaff das nie im Leben“, heult sie verzweifelt. „Conny hat mich vorhin schon Vokabeln abgefragt, aber ich komme immer durcheinander. Ich kann mir das einfach nicht merken. Und dann auch noch Englisch und Latein am gleichen Tag.“ Sie schluchzt in mein T-Shirt. Ich schaue auf den Tisch, lasse meinen Blick über die Hefte schweifen.
Mein Blick fällt auf die Mathehausaufgaben und ich entdecke auf Anhieb vier Fehler. Ich korrigiere sie stillschweigend, dann rechne ich die Aufgabe zu Ende und packe das Heft in ihren Schulranzen. Jette steht neben mir und schaut mir schniefend zu.
„Jetzt komm mit“, sage ich zu ihr und nehme sie an der Hand. „Wohin gehen wir?“, will sie wissen, als ich in den Flur gehe und meine Schuhe wieder anziehe. Ich antworte nicht und Jette folgt mir nach draußen die Straße entlang und dann in den Wald. Hier unter dem Blätterdach ist der Regen kaum noch zu spüren und die Luft ist frisch und abgekühlt. Ich hoffe, dass Jette nach einer kleinen Pause besser arbeiten kann, doch dann bleiben wir einfach, bis es dunkel wird. Ich weiß, dass Jettes Eltern jeden Moment zurückkommen werden, und dann werden sie ausrasten, wenn Jette nicht am Schreibtisch sitzt.
„Wir müssen zurück“, sage ich. Jette nickt traurig, fügt sich aber ihrem Schicksal. Es ist kurz nach halb neun, als wir zu Hause eintreffen. Jetzt wird Jette sich an den Schreibtisch setzen und Latein lernen. Danach Englisch. Und dann Erdkunde. Am Freitag wird sie die Lateinarbeit in den Sand setzen, dann den Englisch Test, die Drei im Zeugnis bekommen, und am Sonntagabend nach einem verträumten, vertanen Samstag verzweifelt auf Erdkunde lernen, um diese Arbeit nicht auch noch zu versauen. So wie ich meine Mathearbeit versauen werde …
Ich dusche und setze mich an den PC, dort schreibe ich bis um halb elf mit meiner Freundin Helen, die Liebeskummer hat. Danach setze ich mich an die Biohausaufgaben und gehe um halb zwölf ins Bett. Ohne Mathe gelernt zu haben. Ohne meine Aufgaben für den Gesangsunterricht geübt zu haben. Ohne Abendessen …
Ich wache wieder zu spät auf. Um fünf war ich einmal wach, dann bin ich gegen sechs eingeschlafen, als ich den Entschluss gefasst hatte, jede Minute aufzustehen. Nele weckt mich um sieben, um ich zu fragen, wann ich Schule habe.
Wieder ziehe ich mich im Schnelldurchlauf an. Das habe ich so langsam wirklich zur Perfektion gebracht.
Meine Haare sind noch nass, da ich sie mir gestern Abend zusammengebunden hatte, doch ich föhne sie nicht. Dafür bleibt keine Zeit, außerdem regnet es eh. Nele ist völlig verstört, da sie fürchtet, an ihrem Geburtstag könnte es regnen. Das wäre das erste Mal in ihrem ganzen Leben und auch ich hoffe, dass sich das Wetter bessert.
Ich hole Jette, dann treffen wir uns wieder mit Nele, die sich jetzt doch für die etwas wasserfestere und dafür etwas weniger schickere Jacke entschieden hat. Es ist unser Glück, dass der Bus Verspätung hat, denn sonst wäre ich für das Zuspätkommen meiner Geschwister verantwortlich. Pavle geht zwar nach seinem Unfall noch nicht wieder in die Schule, doch Jette hat natürlich brav auf uns gewartet, da wir ihr am Vortag nicht abgesagt haben. Die Verspätung des Busses führt allerdings dazu, dass ich knapp zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn in den Klassenraum stolpere und meine Mitschüler aus ihren Grübeleien über der Matheklausur reiße.
Ich entschuldige mich bei meinem Lehrer und erkläre ihm knapp den Grund meiner Verspätung. Er nickt nur und reicht mir mein Heft. Ich setze mich an einen leeren Platz in der vordersten Reihe und schlage meine Kapuze zurück, wodurch das Heft in meiner Hand nass von den Regentropfen wir. Ich wische sie schnell weg und schlage es auf, dann mache ich mich halbherzig an die Aufgaben. Ich gebe wirklich mein Bestes und gebe die Arbeit mit einem recht guten Gefühl ab. Vielleicht wird’s ja doch mal was Gutes …
Als ich die Schule verlasse, bin ich völlig fertig. Der Tag war lang und je länger ich mit meinen Freundinnen über die Matheklausur spreche, desto schlechter wird mein Gefühl, bis meine zuvor euphorische Stimmung wieder den Normalpunkt erreicht hat.
Ich fühle mich krank, so als hätte ich Fieber und beschließe, den Gesangsunterricht zu schwänzen. Kurzfristig sage ich meiner Gesangslehrerin ab und erzähle ihr, ich wäre krank. Dann fahre ich mit dem Bus direkt nach Hause. Als ich aus dem Bus steige, regnet es nicht mehr, die Wolken haben sich sogar etwas verzogen und einzelne Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken. Sie tauchen den nassen Asphalt in ein glänzendes, dunkles Meer, dessen Schönheit ich nicht lange bewundere. Zu Hause angekommen werfe ich meine Tasche in den Flur und sitze dann eine Weile lang am Gartenteich. Ich mag den Teich, dort kann ich in Ruhe meine Gedanken schweifen lassen, während ich die Fische im Wasser plätschern höre. Ich wünschte mir, der Teich wäre größer, mit größeren Goldfischen darin. Koi-Karpfen vielleicht oder so etwas.
Ich tatsche mit einem kleinen Zweig ins Wasser und erschrecke damit die Fische. Ohne jeden Grund stielt sich dabei ein Lächeln auf meine Lippen und ich freue mich, so wie Robin sich freut, wenn er mit unseren Meerschweinchen spielen darf. Das macht er gerne und er will gar nicht mehr von ihnen weg, wenn er einmal am Spielen ist. Unsere Meerschweinchen findet er aus irgendeinem Grund interessanter, als seine Hasen.
Ich füttere die Fische mit etwas Fischfutter, dann gehe ich ins Haus und mache mir eine Kleinigkeit zu Essen. In der Mittagspause hatte ich keinen Hunger und jetzt ist es schon kurz nach halb fünf. Es ist wieder erstaunlich warm geworden und ich lasse die Terrassentür offen. Unsere Katze stolziert herein und es dauert nicht lange, bis auch Jordana von der Musik im Radio angelockt wird. Sie steht am Fliegengitter der Terrassentür und weiß nicht, ob sie reinkommen soll.
„Jordana hinter Gittern“, lache ich, als ich sie sehe. „Gewöhn dich schon mal an die Aussicht.“ Sie versteht den Witz nicht. Ich lasse sie trotzdem rein. Wir spielen eine Weile lang mit der Katze, ich frage sie, wie es in der Schule läuft. Alles nur belangloses Zeug. Unter der Woche sind wir alle mit anderen Gedanken beschäftigt. Nur am Wochenende tauen wir auf und können uns wie das fühlen, was wir so gerne wären: Geschwister.
Wir schauen gemeinsam einen Film, sie klammert sich vor Aufregung an mich, obwohl der Film eher witzig ist, doch Jordana sieht nicht viel Fern. Sie mag den Film trotzdem. Ich mache mir Abendessen und Jordana isst ein Brot mit.
Ich weiß nicht, wo Nele steckt. Hat sie heute Nachhilfe? Ich weiß es nicht. Wenn sie in einer Stunde nicht da ist, werde ich sie anrufen.
Die Sorge ist unbegründet, denn Nele trudelt um halb acht ein. Sie war mit einer Freundin in der Stadt, shoppen. Jordana ist direkt nach dem Essen rübergegangen und ich finde etwas Zeit, um Bio zu lernen.
Das hätte ich mir jedoch getrost sparen können, denn am Freitag bin ich krank. Ich habe Fieber und Husten, dazu kommen im Laufe des Vormittags Kopf- und Halsschmerzen. Wahrscheinlich hat mich jetzt eine schöne Sommergrippe erwischt. Natürlich aufs Wochenende. „Ein guter Arbeitnehmer wird am Wochenende oder in den Ferien krank“, meint meine Mutter nur bevor sie geht.
Ich will kein guter Arbeitnehmer sein, nicht mal ein guter Schüler. Ich wäre lieber unter der Woche krank, wenn es sich richtig lohnt. Auch wenn ich dann alles nachtragen muss.
Ich döse ein und wache um halb zehn wieder auf. Ich mache mir einen Tee, lege mich aufs Sofa und schaue eine DVD, doch bei der Hälfte schlafe ich ein. Ich will nicht am Freitag krank sein. Das versaut mir das Wochenende mit meinen Geschwistern.
Wir wollten alle zusammen ins Schwimmbad, wenn das Wetter gut ist. Es ist nicht weit bis dort, wir können mit dem Fahrrad durch den Wald fahren und sind dann schon da. Es würde keine viertel Stunde dauern und wir würden so lange bleiben, wie wir wollen.
Wenn es nicht warm genug geworden wäre, würden wir den ganzen Tage Fußball spielen, oder Verstecken. Irgendwann würden Julian und ich anfangen, zu jonglieren und er würde seine Fackeln anzünden und mit ihnen weitermachen, dann mit den Flowersticks und ich mit den Pois. Wir haben das lange geübt. Julian ist noch viel besser als ich, er verdient mit seiner Feuershow sogar richtig Kohle.
Ich bin noch nicht soweit, aber irgendwann werden wir damit zusammen um die Welt touren und richtig fett Kohle einstreichen. Davon träumen wir wenigstens.
Abends ist die Feuershow spektakulärer, und wenn es dunkel und kalt wird, würden wir die Feuer löschen und mit dem Feuerspucken anfangen, damit uns wärmer wird. Ich übe noch, aber bald kann ich es auch und dann stehe ich Julian in nichts mehr nach. Die andern würden es auch versuchen wollen, und dann würde ich Jordana helfen, die Flowersticks zu halten, damit sie sich nichts tut. Wenn wir keine Lust mehr haben und es spät wird, würden wir uns Taschenlampen holen und das Zelt im Garten von Julian und Jeafree aufbauen. Dort würden uns unsere Eltern dann spät nachts finden, übereinandergestapelt und zusammengekuschelt, wie es sich für Geschwister gehört. Und ich würde alle mit meiner Erkältung anstecken …
Mann, dieses Wochenende kann ich knicken. Jette soll ihre Erdkundearbeit nicht nachschreiben müssen, weil sie krank ist. Und mich lässt meine Mum mit Fieber eh nicht aus dem Haus.
Gegen Mittag schlafe ich wieder ein und erwache erst wieder, als mein Vater von der Arbeit kommt. „Na, meine Kleine?“, fragt er mich. Ich huste zur Begrüßung. Mein Vater fragt mich, ob ich mich imstande fühle, ihm beim aufbauen der Gartenmöbel für Neles Geburtstag zu helfen. Nele hat zwar erst am Dienstag Geburtstag, doch er will jetzt schon anfangen. Ich huste anstelle einer Antwort und mein Vater lacht.
Dann verabschiedet er sich, sagt, ich solle rufen, wenn ich etwas brauche und verschwindet. Ich höre ihn im Garten handwerkeln, aber sein hämmern und gelegentliches Fluchen, wenn ihm etwas auf den Fuß fällt, wird fast vollständig vom Gesang der Vögel übertönt. Ich will auch ein Vogel sein, ein freier, kleiner Vogel, der einfach wegfliegen kann. Dann würde ich meine Geschwister mitnehmen, immer weiter mit ihnen gehen, damit ihnen nichts passieren kann, und ihnen niemand etwas tut. Damit es ihnen gut geht. Immer weiter, soweit wir wollen. Wohin wir kommen, und alles mitnehmen, was uns der Tag bringt.
Ich träume weiter vor mich hin und bemerke kaum, dass ich wegdämmere.
Ich erwache erst in der Nacht, als meine Mutter in der Küche etwas fallen lässt und laut flucht. Es ist nach elf. In Neles Zimmer brennt kein Licht mehr, was ich durch die Glastür sehe, als ich aufstehe und in den Flur gehe. Meine Mutter flucht in der Küche nochmal, nicht minder leise. „Sei still, Nele will schlafen!“, zische ich wütend ins Treppenhaus. Nele hatte heute einen anstrengenden Tag hinter sich und morgen hat sie ein Basketballspiel. Da muss sie ausgeschlafen sein. Ich höre, dass meine Mutter unten etwas knurrt, doch dann ist es leiser.
Ich gehe wieder in mein Bett. Meine Mutter kann man mit drei knappen Sätzen beschreiben: Egoistisch, Workaholic und mit mir und meiner Schwester absolut überfordert. Sie kann mit uns überhaupt nicht umgehen und lebt scheinbar nur für ihren Job. Mein Dad war der, der Nele und mich erzogen hat. Meine Mutter hat sich schon immer reichlich wenig für uns interessiert.
Jetzt poltert sie die Treppe hoch und kommt in mein Zimmer. „Was bist du überhaupt noch wach?“, fragt sie wütend. „Tagsüber nicht in die Schule können, aber die Nacht durchmachen, was? Das passt zu dir.“
„Ich hab schon geschlafen“, verteidige ich mich. Meine Mutter knipst wortlos das Licht aus, obwohl ich immer mit Licht schlafe. „Mit Licht schlafen ist ungesund“, sagt sie. „Wahrscheinlich bist du davon krank geworden.“ Ich schnaube. Ich schlafe immer mit Licht, weil ich mich im Dunkeln unwohl fühle, das weiß sie ganz genau. „Ja, und wenn ich siebzig bin und davon Krebs bekommen habe, werde ich in irgendeiner Vorlesung für Schüler sitzen, und wenn die mich fragen, wie ich Krebs bekommen hab, dann wird ich antworten: Weil ich in meiner Jugend ein paar Jahre mit Licht geschlafen habe.“ Meine Mutter hört mich nicht, sie verlässt wortlos das Zimmer. Ich schalte das Licht wieder an und kuschle mich unter die Decke. Dann lese ich zwei Stunden, bevor mir vor Müdigkeit das Buch aus der Hand fällt.
Ich habe wieder Albträume. Die ganze Nacht. Ich hatte früher schon oft Albträume gehabt, doch seit Robins Geburt sind sie schlimmer geworden. Und Jonas Geburt hat sie noch einmal verschlimmert. Ich träume immer von ihnen, oder von Jordana, von Pavle oder auch von Nele oder Julian. Immer passiert ihnen irgendetwas Schreckliches.
Meistens hat es mit Wasser zu tun, aber da ist noch mehr. Irgendetwas, was dafür sorgt, dass ich am nächsten Tag noch einen viel stärkeren Beschützerinstinkt in mir wahrnehme und meine Geschwister gar nicht mehr aus den Augen lassen will …
Am Samstagmorgen klingen Conny und Jeafree bei uns und fragen, ob wir rauskommen. Ich teste, ob ich laufen kann und beschließe, dass mir ein bisschen frische Luft nur gut tun kann. Also komme ich raus. Draußen sind schon Jette und Robin. Robin kommt auf mich zu und streckt die Arme nach mir aus. „Meersweinsen“, ruft er und meint damit unsere Meerschweinchen. Er will sie streicheln und mit ihnen kuscheln. Nele hat sie schon raus gebracht, bevor sie aufgebrochen ist und er kann sie hinter dem Gartenzaun an den saftigen, grünen Grashalmen knabbern sehen.
Also folgen Robin und der Rest des Rattenschwanzes mir in den Garten, wo ich den Kleinen ins Freigehege zu den Meerschweinchen setze. Als er fertig gespielt hat, will er auch die Fische im Gartenteich ansehen. Wir gehen gemeinsam hin, damit ihm nichts passiert. Jeafree sagt ihm, dass er da nie alleine hindarf, weil das Wasser gefährlich ist und er hält Robin fest, damit er die kleine Hand in den Gartenteich stecken kann.
Meine Mutter kommt auf die Terrasse. Als sie uns so sieht, wird sie blass. „Franka, nimm den Jungen da weg!“, schreit sie mich an. Sie kommt auf uns zugerannt. Jette, Jeafree, Conny und ich sind zu perplex, um Robin aus der Gefahrenzone zu bringen, als meine Mutter ihn am Arm packt und vom Teich wegreißt.
„Franka, wie kannst du nur zulassen, dass sich der Junge in eine solche Gefahr begibt?“ Sie schreit mich an, lässt mir keine Zeit zu erklären und setzt gleich zum nächsten Wortschwall an: „Ich hätte nie gedacht, dass du so unverantwortungsbewusst bist! Robin hätte ertrinken können!“
„Aber Mama, wir waren doch alle bei ihm. Jeafree hat ihn festgehalten …“, verteidige ich mich konsterniert. „Ich will nichts mehr hören. Raus aus dem Garten, alle. Sofort!“, schreit meine Mutter. Robin weint und Jeafree hebt ihn hoch, um ihn wegzubringen. „Ich will nie wieder sehen, dass eines der Kinder hier am Teich spielt, Franka, hast du gehört?!“
Ich ignoriere meine Mutter, zu verständnislos für ihren Wutausbruch. Meine Mutter hatte schon zuvor zu heftigen Wutausbrüchen geneigt, doch nie so grundlos. Außerdem ist es mir peinlich, dass sie mich und die anderen Kinder so angeschrien hat und ich schäme mich für sie. Schnell verschwinden wir aus unserem Garten.
Wir gehen zu Jette und Conny in den Garten und spielen an ihrem Teich weiter …
Um halb eins ruft mich meine Mutter zum Essen. Ich behaupte zwar, ich hätte keinen Hunger, doch ich muss mich trotzdem an den Tisch setzen, da lässt meine Mutter nicht mit sich diskutieren. Sie erwähnt den Vorfall heute Vormittag mit keinem Wort und tut, als wäre nichts geschehen.
Ich beobachte, wie mein Vater, meine Mutter und meine Schwester schweigend essen, als sie fertig sind stehe ich auf und gehe in mein Zimmer. Ich habe keine Lust mehr, rauszugehen, und ich bin wieder ziemlich erschöpft und müde. Ich will an Neles Geburtstag gesund sein, also lege ich mich wieder hin und versuche, eine Runde zu schlafen.
Doch die Ruhe ist mir nicht vergönnt. Um kurz nach drei ruft mein Vater mich und hält mir das Telefon hin. Julians Mutter ist dran. „Franka, hast du Julian gesehen?“, fragt sie mich. Ein besorgter Unterton schwingt in ihrer Stimme mit. „Nein … Ist er weg?“, frage ich sie. „Er ist gestern nach der Schule zu einem Freund gegangen und wollte sich heute Morgen melden. Er wollte schon vor vier Stunden hier sein.“
„Hast du auf seinem Handy angerufen?“, frage ich um sie zu beruhigen. Julian verspätet sich öfters, vielleicht haben sie auch einfach nur verschlafen. Wenn sie die ganze Nacht durchgefeiert haben, kann ich mir das gut vorstellen.
„Ja, natürlich, er hat es ausgeschaltet“, entgegnet seine Mutter. „Franka, ich mache mir wirklich Sorgen, ich hab bei allen seinen Freunden angerufen, die ganze Klassenliste, niemand weiß, wo er ist.“ Sie schweigt kurz, bevor sie fortfährt. „Er war auch mit niemandem verabredet. Er hat mich angelogen. Franka, in einer halben Stunde hat er ein Fußballspiel, das würde er nie ausfallen lassen.“ Ich gehe in meinem Kopf sämtliche von Julians Kontakten durch und rate seiner Mutter, zum Stadion zu fahren, um dort nach ihm zu suchen.
„Vielleicht ist er ja schon direkt dorthin gegangen“, meine ich, doch daran glaube ich nicht. Ich weiß, dass Julian einen Freund hat, der auf keiner Klassenliste steht, und bei dem er öfters unterkommt, wenn es ihm scheiße geht. Und ich weiß, dass Julian gestern eine Mathearbeit geschrieben hat …
Ich klingle an der grün gestrichenen Holztür. Es war schwer, meinen Eltern zu erklären, dass ich noch wegmusste, doch ich habe es geschafft. Ich musste es schließlich schaffen. Für Julian. Ich muss wissen, ob er wirklich hier ist, vielleicht ist ihm ja wirklich etwas passiert und dann braucht er meine Hilfe.
Ein großer, braun gebrannter Typ öffnet mir die Tür. „Julian ist bei dir, nicht wahr?“, frage ich Nick. Er verdreht die Augen und ruft in die Bude: „Julian, deine Braut ist da!“ Er öffnet die kleine Kette, die es Eindringlingen im Notfall unmöglich macht, die Tür von außen aufzustoßen und in die Wohnung zu gelangen, dann gibt er der Tür einen Stoß und diese schwingt auf. Ein muffiger Geruch, der den üblen Geruch im Hausflur noch übertrifft, schlägt mir entgegen und ich trete widerwillig ein.
Julian liegt mit nacktem Oberkörper auf einer ranzigen Couch, den Blick auf einen flackernden Fernseher gerichtet. „Was willst du?“, fragt er mich, ohne aufzusehen. „Ist Mathe so scheiße gelaufen?“, frage ich.
„Es geht nicht um Mathe“, meint Julian und sieht mich nicht an. „Um was denn dann?“, will ich wissen. „Hau ab, Franka. Ich will meine Ruhe. Du kannst mir nicht helfen“, meint er, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
„Deine Mum macht sich Sorgen.“
„Sag ihr, es geht mir gut. Ich will über mein Leben nachdenken.“
„Damit wird sie sich wohl kaum zufrieden geben“, meine ich und setze mich neben Julian. „Rede mit mir“, bitte ich ihn und greife nach seinem Oberarm. „Was hast du vor? Ist was passiert?“
„Nick, schmeiß sie raus“, sagt Julian und schubst mich von der Couch. Ich knalle auf den Boden, doch Nick zieht mich schon hoch. „Was soll ich deiner Mum sagen?“, rufe ich, während Nick mich zur Tür schleift. „Leck mich!“, schreit Julian. Ich schnaube wütend. Das wird sie kaum hören wollen.
„Sie ist deine Mutter!“, rufe ich Julian zu und will ihn damit zur Vernunft bringen, doch er hört mir nicht zu und Nick schleift mich wortlos weiter.
„Es ist deine Aufgabe, sie zu beschützen, nicht meine!“, schreie ich, bevor Nick mir die Tür vor der Nase zuschlägt. Ich seufze, schlage die Hände vors Gesicht und lehne mich an die hässliche Holztäfelung, die den Hausflur ziert. Ich lasse mich zu Boden gleiten und dort bleibe ich sitzen … Lange.
Planlos schlendere ich durch die Gassen. Ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen. Julians Mutter ruft mich zweimal auf dem Handy an, doch ich gehe nicht ran. Was soll ich ihr schon sagen? Als ich Hunger bekomme, bestelle ich mir beim nächsten McDonalds einen Cheeseburger und esse ihn an einem Tisch. Von dort aus schaue ich aus dem Fenster auf die Straße und beobachte die Menschen, die an mir vorbeiziehen. Ich schreibe Julian eine SMS, obwohl ich bezweifle, dass er sie lesen oder gar ernst nehmen wird: „Am Dienstag hat Nele Geburtstag. Wir würden uns freuen, wenn du vorbeischauen würdest.“
Ich warte, starre auf das Display … Hoffe einfach nur, dass Julian zurückschreibt, mir irgendetwas erklärt. Doch das tut er nicht. Ich seufze und schreibe einen Smiley hinterher, doch natürlich interessiert Julian auch das nicht. Ich gönne mir noch einen Cheeseburger, dann eine kleine Cola, um alles herunterzuspülen. Als ich fertig gegessen habe, stehe ich auf und gehe.
Draußen ist die Sonne durch die Wolken gebrochen und legt über die feuchten Pflastersteine einen leuchtenden Glanz. Einige Menschen eilen mir entgegen, andere gehen denselben Weg wie ich und ich gehe in ihrer Masse unter.
Ich setze mich in einen Bus, der mich zurück nach Hause bringen soll. Sollte Julian am Montag nicht in der Schule sein, werde ich ihn notfalls nach Hause prügeln. Ich will nicht, dass er nicht mal einen Monat vor dem Abschluss die Schule derartig schleifen lässt. Er sollte zu Hause hocken und lernen, nicht irgendwo herumstreunen.
Es reicht schon, dass er in Mathe eine Niete ist, wenn er jetzt noch schwänzt, wird er auch in NWA, Englisch und Französisch hintendran sein, und dann kann er sein Abi vergessen, denn mit den Lücken wird er an keinem Gymnasium genommen. Selbst wenn, könnte er sie nie wieder aufarbeiten.
Als ich nach Hause komme, steht Nele frisch geduscht im Flur. Die Tasche mit den verschwitzten Sportklamotten steht noch auf der Treppe, eine kleine, schickere hat sie sich um die Schulter gehängt.
Sie schaut in den Spiegel, klimpert mit den stark geschminkten Wimpern und fährt sich durch die gestylten Haare. „Bist du in einen Farbtopf gefallen?“, frage ich sie, als ich kurz verweile, um sie zu mustern. Sie wirft mir einen verächtlichen Blick zu und bewundert sich wieder im Spiegel. „Wohin gehst du?“, frage ich. „Geht dich nichts an“, meint Nele süffisant. „Triffst du dich mit einem Kerl?“, will ich wissen und schlüpfe aus den Schuhen. „Vielleicht“, entgegnet Nele, während sie eine Strähne zurecht zupft. „Mit wem? Kenn ich ihn?“, frage ich weiter. Ich rücke meine Schuhe gerade hin und beobachte Nele, die sich wieder nervös die Haare mit den Fingern kämmt.
„Nein, tust du nicht.“
„Aber er wohnt schon hier in der Nähe, oder?“, frage ich.
„Jaa“, sagt sie gedehnt und ich weiß, dass es nicht stimmt. „Ich geh jetzt“, erklärt sie mir knapp und wirft sich eine Jacke über. Die Türklinke hat sie schon in der Hand. „Warte nicht mit dem Abendessen auf mich, ich komm heute über Nacht nicht nach Hause.“ Nele will die Tür hinter sich zuziehen, doch ich halte sie fest. „Moment mal“, sage ich und ziehe sie wieder ins Haus. „Du bist erst fünfzehn. Du wirst nicht einfach über Nacht bei einem Jungen übernachten, den wir nicht kennen.“ Nele verzieht ihre Überlegenheit zur Schau tragend das Gesicht und blickt mit provozierend an. „Das hast du doch in meinem Alter auch schon gemacht“, meint sie unschuldig. Das stimmt. Das gebe ich aber nicht zu. „Wissen Papa oder Mama, wo du bist und mit wem du dich triffst?“, hake ich nach.
„Was interessiert dich das überhaupt?“, will Nele wieder etwas genervter wissen. „Ich werde in ein paar Tagen sechzehn, du bist nicht meine Mutter. Mum weiß Bescheid, ich geh jetzt, sonst verpass ich meinen Bus.“ Weg ist sie. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und gehe in die Küche, wo ich mir einen Joghurt hole und mich auf die Terrasse setze. Dort genieße ich die Sonne und schaue unseren Meerschweinchen beim Grasen zu. Die Sonne wärmt mein Gesicht und ich checke noch einmal, ob Julian mir zurückgeschrieben hat.
Hat er nicht.
War ja klar.
Ich hasse ihn dafür, dass er einfach verschwunden ist. Er hat nicht nur mein Wochenende ruiniert, ich mache mir auch Sorgen um ihn. Nick ist kein guter Umgang für ihn. Ich denke es und komme mir vor, als wäre ich seine Mutter. Das bin ich nicht. Ich bin seine Schwester. Also darf ich mir doch Sorgen um ihn machen, oder?
Oder?
Ich frage mich, ob Jeafree mitbekommt, was mit seinem großen Bruder los ist. Ich muss ihn dazu auf jeden Fall befragen. Ich schnappe mir meine Sonnenbrille und gehe wie ein Geheimagent zu Jeafree. Dort klingle ich. Jeafrees Vater lässt mich rein, schaut mich etwas schief an und sagt mir dann, dass Jeafree in seinem Zimmer wäre. Ich nicke und gehe die Treppe hoch. Ich klopfe an die Tür und gehe rein. Jeafree liegt auf dem Bett mit dem Laptop auf dem Schoß. Er ist noch immer im Schlafanzug und ich glaube kaum, dass er heute schon besonders viel gemacht hat. Ich reiße als erstes das Fenster auf, um etwas frische Luft hereinzulassen, und setze mich dann zu ihm. „Hast du mitbekommen, was mit Julian los ist?“, frage ich ihn. „Nur, dass er nicht mehr da ist“, sagt Jeafree und ich höre einen bitteren Unterton in seiner Stimme.
„Und wieso ist er nicht mehr da?“, will ich wissen. „Gab es Streit? Hier?“ Jeafree schüttelt den Kopf. „Nicht in der letzten Zeit.“
„Hatte er Stress mit Freunden? Du siehst ihn doch in den Pausen manchmal, oder? Steht er allein rum, oder in einer Gruppe?“ Jeafree schüttelt den Kopf. „Was?“, frage ich genervt nach. „Auf eine Oder-Frage kannst du nicht den Kopf schütteln.“
„Nein, er hat keine Probleme mit Freunden, er hat auch keine Probleme in der Schule, er hat am Dienstag eine Zwei in Englisch und am Donnerstag eine 1-2 in NWA nach Hause gebracht“, sagt Jeafree genervt.
Er konzentriert sich auf den Bildschirm und beachtet mich nicht weiter. Ich seufze und warte darauf, dass er merkt, dass etwas nicht stimmt. Irgendwann macht Jeafree tatsächlich den Laptop aus und stellte ihn auf den Boden.
„Was ist mit dir?“, fragt er mich. „Ich mache mir Sorgen um deinen Bruder, was du nicht zu tun scheinst“, sage ich erschöpft. „Er war schon öfter über Nacht weg, komm mal runter.“ Auch Jeafree ist jetzt genervt von meiner Überfürsorglichkeit. „Er ist aber nicht nur über Nacht weg, er ist bei Nick, hängt auf seinem Sofa und hat nicht vor, zurückzukommen“, erkläre ich ihm die Lage der Tatsachen. „Und wenn er weiter bei Nick abhängt, wird er ganz schön Stress bekommen. Erst mit den Bullen und dann mit deiner Mum, wenn die ihn auf der Wache abholen muss“, meine ich.
Jeafree zieht die Augenbrauen hoch. „Jetzt mal doch nicht den Teufel an die Wand“, antwortet er nicht ganz überzeugt. „Du weißt nicht, wie Nick drauf ist, oder?“, frage ich ihn. „Der Junge vertickt Drogen. Der hat nicht mal einen Schulabschluss. Glaubst du, der lässt Julian da umsonst wohnen?“ Ich schüttle verzweifelt lachend den Kopf und Jeafree sieht mich nicht mehr ganz so genervt an, eher etwas nervös.
„Dafür ist Julian viel zu schlau“, behauptet er und meidet meinen Blick. „Er ist dumm genug, um einfach so über Nacht weg zu bleiben und mit Nick befreundet zu sein, außerdem geht es ihm echt scheiße. Ich weiß nur nicht, wieso, und das muss ich herausfinden. Und du hilfst mir dabei“, sage ich.
„Ich?“, ruft Jeafree und ich zische ihn an: „Nicht so laut!“ Jeafree zuckt zusammen und schaut mich erwartungsvoll an. „Nicht nur du. Auch Conny und Nele. Ich brauche euch alle.“ Ich schau mir Jeafree genauer an. „Auch wenn du mir nicht wegen deiner Muskeln, sondern eher wegen deiner Masse helfen wirst.“ Jeafree sieht mich beleidigt an.
„Aber dafür hab ich ja Muskeln für zwei“, meine ich überheblich. Da ich schon lange Kampfsport mache, bin ich gut trainiert und kann meine Technik auch einsetzen. Im Notfall könnte ich Nick eine reinhauen. Es würde ihm zumindest weh tun und wenn ich ihn richtig treffen würde, würde er vielleicht sogar k.o. gehen. Das machte mich zuversichtlich.
„Hör zu, wann hast du am Montag Schulschluss?“, frage ich ihn. „Um vier“, meint er und gähnt. „Gut. Ich und Nele haben keinen Nachmittagsunterricht. Wir treffen uns um fünf in der Stadtmitte am McDonalds, wenn Julian am Montag nicht in der Schule auftaucht. Den Rest mache ich.“
Ich stehe auf und gehe auf direktem Weg zu Conny, um ihn in unseren Plan einzuweihen. „Ich weiß nicht … Ich schreib am Dienstag Bio“, meint der Achtklässler, als ich in seinem Zimmer stehe. „Scheiß auf Bio, verdammt noch mal!“, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust. „Julian braucht unsere Hilfe und ich brauche dich.“
„Wie soll ich das meiner Mum erklären?“, fragt Constantin. „Sag einfach, du lernst mit einem Freund“, schlage ich nach einer kurzen Pause zum Nachdenken vor. Conny zögert und überdenkt meinen Plan. „Könnte funktionieren“, gibt er schließlich zu. „Okay, ich werde da sein.“
Ich bin zufrieden und gehe nach Hause. Jetzt muss ich das nur noch Nele einbläuen. Und sie muss mitmachen, denn nur mit Conny und Jeafree wird alles unglaubwürdig.
Nele wird die härteste Nuss, aber wenn ich ihr weiß mache, dass es absolut notwendig ist, hoffe ich, wird sie den Ernst der Lage verstehen.
Jeafree soll mit eine SMS schreiben, wenn Julian nicht in die Schule kommen sollte.
Meine Schwester ist am nächsten Tag überraschend schnell bereit, mitzuspielen, als ich ihr ihre Rolle erkläre. „Also fahren wir morgen auf halb fünf ins Stadtinnere?“, fragt sie mich. Ich nicke. „Und dann holen wir Julian nach Hause“, ergänze ich. Nele schweigt und schaut mich prüfend an. „Wieso soll ich das machen? Warum machst du das nicht?“, fragt sie mich. Ich schüttle den Kopf. „Nick kennt mich. Wir müssen sowieso hoffen, dass uns Lara aufmacht.“ Lara ist Nicks Mitbewohnerin, die von seinen Drogendeals zwar genervt ist, jedoch mitspielt. Und wir müssen hoffen, dass sie wie sonst so oft als Erste an der Tür war. Und wenn wir noch mehr Glück haben, ist Nick mal wieder völlig stoned. Deswegen tauchen wir auch erst so spät auf.
Ich weiß, dass es riskant ist und richtig übel in die Hose gehen könnte. Ich verabscheue mich dafür, dass ich Conny und Jeafree da mit rein ziehe, doch wenn ich Julian lebend wiederhaben will – möglichst bevor er jemanden umgebracht oder gedealt hat – muss ich zu diesen Maßnahmen greifen. So hart es mir erscheint.
Ich beschließe trotzdem, nicht völlig ohne Absicherung zu Nick zu gehen. Ich schreibe einen Zettel an Helen, meine beste Freundin, den ich ihr morgen nach Schulschluss geben würden. Ich schreibe darauf: „Julian hat sich wieder in Schwierigkeiten gebracht. Conny, Jeafree, Nele und ich werden ihm helfen. Wenn ich dich heute Abend bis halb sechs noch nicht angerufen habe, hol die Polizei.“ Ich schreibe auch noch Nicks Adresse darauf und schreibe, sie solle auf keinen Fall etwas Dummes machen. Doch ich weiß, dass ich mich auf Helen verlassen kann. Wenn ich sage, ich muss etwas alleine packen, dann hält sie mich nicht auf.
Ich falte den Zettel fein säuberlich zusammen und stecke ihn in meinen Schulranzen.
Am liebsten würde ich Helen den Zettel am nächsten Tag sofort geben und sie in meinen Plan einweihen, doch dann würde sie mit mir kommen wollen. Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht, doch ich will sie da nicht hineinziehen.
Also warte ich ungeduldig auf die letzte Stunde. „Was ist los mit dir?“, will Helen im Englischunterricht von mir wissen. „Du wirkst total nervös.“ Na super, ausgerechnet heute muss ihr das auffallen. Wieso kann sie sich nicht wie sonst auf die Aufgaben konzentrieren. „Talk English, please“, sagt unsere Lehrerin. Ich zucke mit den Schultern und schaue Helen entschuldigend an. Ich kann jetzt nicht reden, soll das heißen. Soll sie es auf den Englischunterricht beziehen und nicht auf meine Situation.
Als es klingelt sage ich Helen: „Komm mit, ich werde dir erzählen, warum ich so nervös bin.“ Unsere Taschen sind schnell zusammengepackt, dann ziehe ich sie am Handgelenk die Treppen hinunter und raus auf den Schulhof. Vor der Schule tue ich völlig überrascht, dass mein Bus schon da ist. „Ich hab‘s aber aufgeschrieben. Dachte mir schon, dass ich keine Zeit haben werde, es dir zu erklären“, sage ich kichernd und strecke ihr den Zettel entgegen. Als Helen den Zettel auffalten will, halte ich ihre Hände fest. „Nicht hier“, sage ich und kichere wieder mit einem breiten grinsen im Gesicht. Sie grinst zurück. „Geht es um einen Jungen?“, will sie wissen. Ich tue verlegen. Ganz Unrecht hat sie ja nicht, auch wenn es nicht auf die Art um einen Jungen geht, wie sie annimmt.
Ich drücke sie kurz, sage ihr, sie soll den Zettel zu Hause öffnen und sich keine Sorgen machen. Dann laufe ich zum Bus, bevor sie auf meinen letzten Satz eingehen kann. Sie schaut mir verwirrt nach und ich winke ihr aus dem Bus heraus.
Helen setzt sich auf ihr Fahrrad und fährt nach Hause, in die entgegengesetzte Richtung, wie ich. Als ich zu Hause ankomme, mach ich Mittagessen für Nele und mich und setze mich danach an meine Hausaufgaben. „Ich hab morgen Geburtstag, ich hab morgen Geburtstag.“ Nele kommt singend in mein Zimmer und zwickt mich in den Arm. Jetzt ist sie wieder ernst. „Glaubst du, wir sollen das wirklich machen?“, fragt sie mich. „Ich würde meinen Geburtstag gern noch erleben.“ Ich zucke mit den Schultern. „Haben wir eine Wahl?“ Ich hoffe insgeheim, dass Julian heute in der Schule war, glaube aber nicht daran. Mein Wunsch geht nicht in Erfüllung. Um kurz nach vier schreibt mir Jeafree, dass Julian nicht aufgetaucht sei. Nele und ich rennen zum Bus, um uns mit Jeafree und Conny zu treffen.
Wir müssen noch ein Stück laufen und dann mit der Straßenbahn fahren, daher sind wir erst eine Viertelstunde nach der verabredeten Uhrzeit am Treffpunkt.
„Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr“, sagt Conny und sieht sich nervös um. Ich weiß nicht, warum ich ihn mitgeschleppt habe. Jeafree habe ich dabei, weil ich hoffe, er könnte Julian dazu bewegen, zurückzukommen, Nele habe ich dabei, weil sie meine „Schauspielerin“ ist und Nick und Lara mich kennen und ich bin dabei, weil es meine Idee war und ich im Notfall zuschlagen werde. Und Conny? Er ist ein Jahr älter als Jeafree, aber nur fast so groß. Er ist schnell. Im Notfall könnte er weglaufen und Hilfe holen.
Ich führe sie zu Nicks Wohnung, draußen erkläre ich ihnen den Plan. Schon im Treppenhaus stinkt es nach Zigarettenqualm und alles sieht unordentlich aus. „Die richtige Bude für diesen Junkie“, meint Nele. Ich drücke ihre zwei Zwanzig-Euro-Scheine und einen Zehner in die Hand. Mein Erspartes. Ich hoffe, es wird sich lohnen.
Ich drücke mich mit Conny und Jeafree an die Wand, damit Lara uns nicht sieht, wenn sie öffnet. Nele klopft.
Ich höre Schritte und atme tief durch. Jemand öffnet. „Ist Nick da?!“, fragt Nele im Tonfall eines Heroinabhängigen, dessen letzte Dosis schon viel zu lange Zeit zurückliegt, und hält Lara das Geld hin. Sie seufzt, öffnet die kleine Kette an der Tür und ruft: „Nick?“ Ich stoße mich von der Wand ab, renne an Nele vorbei, stürme in die Bude, stoße Lara aufs Sofa und sehe mich nach Julian um. Verdammt, wo ist er? „Liegen bleiben“, sage ich zu Lara in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zulässt, als Nick mir entgegenkommt. „Was zur Hölle …“, beginnt er. Ich stoße ihn zurück. „Wo ist Julian?“, frage ich ihn. Ich lasse ihm keine Zeit zu antworten. Nele, Jeafree und Conny stehen direkt hinter mir. Nick ist so perplex, dass der zwei Jahre ältere Junge sich nicht einmal wehrt, als ich ihn in sein Schlafzimmer stoße und die Tür zuknalle.
Nele, Conny und Jeafree lehnen sich gegen die Tür, damit er nicht abhauen kann, Lara liegt noch immer auf dem Sofa und schaut mir zu, wie ich die Wohnung durchwüste. „Julian! Julian!“, rufe ich. „Ich weiß, dass du hier bist!“
„Gib‘s auf, Franka!“, schreit Nick aus seinem Zimmer und stemmt sich gegen die Tür. „Julian hab ich seit Samstagabend nicht mehr gesehen. Der Vogel ist ausgeflogen.“ Ich sause zu ihm, meine Geschwister machen mir Platz und ich reiße die Tür auf. Nick steht direkt vor mir. „Wo ist er hin?“, frage ich und stoße ihn nochmal zurück. Er soll gar nicht erst denken, er könnte sich mit mir anlegen, nur ein ich ein Mädchen bin.
„Keine Ahnung“, sagt Nick wenig interessiert und quetscht sich an mir vorbei. Ich stöhne. „Du rufst mich sofort an, wenn er sich meldet, verstanden?“, frage ich energisch und lasse ihm meine Handynummer da. „Falls ich mitbekomme, dass du mir etwas verschweigst, werde ich sie dir auf den Handrücken tätowieren“, drohe ich und halte ihm meine Nummer unter die Nase. „Schon gut.“ Er nimmt mir den Zettel ab. Meine Geschwister und ich treten den Rückzug an. „Und was jetzt?“, fragt Jeafree mich vor der Tür. Er sieht fertig aus, er macht sich Sorgen um seinen Bruder und vermisst ihn. Wir wissen jetzt alle, dass irgendetwas mit Julian nicht stimmt. Er hat niemanden außer Nick, zu dem er einfach abhauen könnte und trotzdem ist er weg.
Wo ist er?
„Ich hab keine Ahnung“, flüstere ich. „Aber ich werde ihn finden.“
Ich bitte Nele, die Jungs nach Hause zu bringen. Sie verabschieden sich und ich mache mich auf die Suche nach Julian. Ich frage mich, ob Julians Mutter schon die Polizei verständigt hat, oder ob sie ihn nur für einen pubertären Jungen hält, der ein Wochenende bei einem Freund untergekrochen ist. Dass er heute nicht in der Schule war, wird ihr einen heftigen Schlag verpassen. Spätestens heute Abend wird sie die Polizei verständigen, da bin ich mir sicher.
Ich rufe sie an und warte, dass jemand abnimmt. Ich melde mich und erzähle ihr, dass ich Julian zurückholen wollte, er aber weg ist. Sie ist sauer, dass ich damit nicht gleich zu ihr gekommen bin. Sehr sauer sogar. „Es tut mir richtig leid“, sage ich zerknirscht. „Ich finde ihn schon. Ich verspreche dir, ich bringe ihn nach Hause.“
Julians Mutter antwortet nicht und ich frage, ob sie schon die Polizei verständigt hat. Sie verneint. Sie hatte damit gerechnet, dass er sich irgendwo verkrochen hatte und ich frage sie, ob sie mitbekommen hat, dass er irgendwelche Probleme hatte. Sie verneint auch das. Ich seufze. „Ich suche ihn. Mach dir keine Sorgen“, sage ich und verabschiede mich. Ich habe keine Ahnung, wo ich suchen soll.
Ich rufe Helen an, sage ihr, es wäre alles okay, und sie solle alles vergessen. Sie löchert mich mit Fragen, doch ich bin nicht in der Lage, sie ihr zu beantworten. Verdammt, mein Bruder ist verschwunden.
Mein Handy und meinen Geldbeutel in der Tasche durchkämme ich die halbe Stadt. Am Abend stehe ich an der Bushaltestelle, um zu lesen, dass der letzte Bus bereits vor zwanzig Minuten abgefahren ist.
Es ist spät, zehn nach elf. Ob meine Eltern gemerkt haben, dass ich nicht da bin? Ich muss sie anrufen und ihnen sagen, dass ich über Nacht nicht nach Hause komme. Ich warte auf das Tuten und bete, dass der Anrufbeantworter drangeht, doch der Wunsch wird mir nicht erfüllt. „Franka, verdammt noch mal, wo bist du?“, schreit mein Vater mich an, als ich mich melde. „Es ist viertel nach elf.“
„Ich komme heute Nacht nicht nach Hause, Dad“, sage ich und lege auf. Dann entferne ich den Akku aus meinem Handy. Hoffentlich will Nick mich heute Nacht nicht anrufen …
Und jetzt? Ich laufe zu Helen.
Helen ist mäßig begeistert, als ich um kurz vor zwölf an ihr Fenster klopfe und sie aus dem Schlaf reiße. Immerhin ist sie froh, dass ich am Leben bin. „Du hast mir heute gleich zweimal einen gewaltigen Schrecken eingejagt“, sagt sie und lässt mich durch das Fenster rein. Ich gähne und lege mich wortlos in ihr Bett. „Was ist los?“, sie löchert mich mit Fragen, doch ich sage ihr nur, dass Julian verschwunden ist. „Verschwunden?“ Sie sieht mich verständnislos an. „Was meinst du mit verschwunden?“ Ich stöhne. „Er ist am Freitag nach der Schule nicht nach Hause gekommen, am Samstagmorgen, hab ich ihn bei Nick angetroffen und als er heute nicht in der Schule war, wollte ich ihn nach Hause holen. Da meint Nick, dass er seit Samstagabend schon nicht mehr da war.“ Helen pfeift durch die Zähne.
„Das hört sich nicht so toll an …“, meint sie.
„Was glaubst du, warum ich mitten in der Nacht bei dir aufkreuze? Ich habe Julian den ganzen Abend gesucht“, sage ich verdrossen.
„Ich werde dir morgen nach der Schule helfen, ihn zu suchen“, verspricht sie mir. Ich seufze. „Danke.“ Aber das wird mir nichts helfen … Jetzt will ich erst mal schlafen. Wir sind zu müde, um eine Matratze in Helens Zimmer zu schaffen und wir wollen ihre Familie mit dem Krach nicht wecken, also schlafen wir in einem Bett. Sie fragt mich nicht, was ich morgen früh vorhabe. Ob ich in die Schule gehen werde, oder nicht. Ich weiß es selbst noch nicht. Ich habe kein Schulzeug dabei und sehe es als verschwendete Zeit an, acht Stunden in der Schule zu sitzen, während Julian dort draußen irgendwo allein herumläuft.
Ich denke die halbe Nacht über morgen nach, frage mich, wo Julian steckt. Ob er schläft, isst … Ob er bei einem Freund untergekommen ist. Ist er vor Nick geflohen, weil der Geld sehen wollte? Was, wenn er irgendwo unter eine Brücke schläft? Na ja, es ist Sommer, er wird schon nicht erfrieren… Aber mir ist unwohl bei dem Gedanken, dass er so ungeschützt irgendwo rumliegen könnte. Wenn ihn jemand zusammenschlägt, um an sein Geld zu kommen? Hat er überhaupt welches? Ob er sein Handy eingeschaltet hat?
Im Dunkeln taste ich nach meinem, baue den Akku wieder ein und wähle Julians Nummer. Vergeblich warte ich darauf, dass er abnimmt. Die Mailbox springt an und ich höre seine Stimme, die mir verkündet, dass er momentan nicht erreichbar ist. „Julian?“, sage ich.
Ich stocke.
Eine Weile lang atme ich einfach nur in den Lautsprecher. Er wird mich für bekloppt halten, falls er seine Mailboxnachrichten abhört. „Julian, wir vermissen dich“, flüstere ich, um Helen nicht zu wecken, die schon wieder friedlich schläft. „Komm nach Hause.“
Stille.
Ich lege auf. Es dauert einen Moment, bis mein Blick auf meine Handyuhr fällt. 0:43. 1. Juli. Heute wird meine Schwester sechzehn.
Ich wache auf, als Helens Wecker klingelt. „Morgen Franka. Wie sieht’s aus?“, fragt sie mich müde und reibt sich über die Augen, als sie den Wecker abstellt. „Aufstehen?“ Ich verkrieche mich im Bett. Es ist sechs Uhr morgens.
Ich muss in die Schule.
Julian muss in die Schule.
Nele hat Geburtstag.
Ich fange an, zu heulen. Helen nimmt mich in den Arm. „Gib mir mein Handy“, schluchze ich. Helen schaut mich schief an und gibt mir mein Handy. Ich schreibe meiner Schwester eine SMS: „Alles Gute zum Geburtstag, Schwesterchen“, schreibe ich. „Ich liebe dich.“
„Heute hat doch Nele Geburtstag, oder?“, fragt Helen und ich nicke stumm. Mein Handy lasse ich wieder auf den Boden sinken und vergrabe meinen Kopf in den Kissen. „Gehen wir in die Schule?“, fragt Helen mich nach einer Pause. „Wir?“, frage ich. Helen zuckt mit den Schultern. „Ich glaub, du brauchst mich jetzt dringender, als mein Deutschlehrer“, lacht sie und nimmt mich wieder tröstend in den Arm.
Ich muss ich lächeln, dann heule ich wieder. Es ist alles zu viel. Meine Eltern sind sauer auf mich, sie verstehen mich nicht, dabei will ich doch nur helfen. Ich muss Julian finden, der irgendwo allein umherstreunt, und ich muss Nele einen schönen Geburtstag bereiten.
„Komm“, sagt Helen und deckt mich wieder zu. „Wir schlafen noch eine Runde.“
„Heute Nachmittag muss ich unbedingt zurück“, sage ich. „Wenn ich Nele schon nicht in der Schule sehe …“ Helen nickt. „Überleg dir das nachher. Lass uns schlafen, ich bin müde.“
Obwohl meine Gedanken Purzelbäume schlagen, dauert es nicht lange, bis mich die Müdigkeit überfällt. Wir schlafen wieder ein.
Ich wache davon auf, dass mein Handy klingelt. Ich wünsche mir, dass es Julian ist. Zweite Wahl wäre Nick, der sagt, dass Julian zurückgekommen ist. Schnell gehe ich ran, bevor es Helen weckt, die noch immer friedlich schläft. Es ist Nele. „Wo bist du, Franka?“, fragt sie mich. „Mama und Papa sind heute Morgen völlig ausgerastet!“
„Macht euch keine Sorgen, ich bin bei Helen. Es geht mir nicht so gut. Wir sind beide zu Hause.“ Ich schweige einen Moment. „Heute Nachmittag komme ich vorbei.“
„Lass mal“, sagt Nele schnell. „Ich brauche jetzt keinen Stress an meinen Geburtstag. Wir feiern ja eh erst am Wochenende.“ Wieder sind wir kurz still. „Ich hab deine SMS bekommen“, sagt sie. „Ich hab dich auch lieb. Ich muss jetzt auflegen, die Pause ist um.“ Bevor ich mich verabschieden kann, hat sie aufgelegt.
Ich kann nicht mehr weinen, obwohl es mir danach wäre. Ich kuschele mich wieder ins Bett und schlafe weiter.
Um halb zwölf kommt Helens Mutter rein, um Helen die frische Wäsche zu bringen. „Helen, was machst du denn noch hier?“, fragt sie erstaunt, als sie ihre Tochter entdeckt. „Geht es dir nicht gut?“ Helen schüttelt den Kopf, setzt sich auf und gibt den Blick auf mich frei. „Franka? Was läuft denn hier ab?“
„Mama“, sagt Helen warnend. „Franka hat jetzt ganz andere Probleme.“ Damit gibt sich Helens Mutter natürlich nicht zufrieden, aber ich muss furchtbar aussehen, denn sie löchert mich nicht sofort mit Fragen. Stattdessen nimmt sie uns mit hoch und wir setzen uns an den Esstisch. Sie macht uns einen Kakao und ich erzähle alles. „Ich wäre ja nach Hause gegangen“, verteidige ich mich. „Aber es ist einfach kein Bus mehr gefahren. Und ich wollte nicht, dass meine Eltern mich abholen müssen. Das hätte sie nur noch wütender gemacht.“
„Und warum seid ihr nicht in die Schule gegangen?“
„Damit sie dauernd dran denken kann, dass Julian irgendwo da draußen ist und vielleicht verletzt ist?“, fragt Helen ihre Mutter. Beim Gedanken daran fange ich wieder an, zu heulen. „Damit sie aus dem Fenster schauen und sich dafür hassen kann, dass sie nichts tut?“ Helen nimmt mich in den Arm. „Eure jetzige Lösung ist nicht gerade besser“, meint Helens Mutter und mustert uns mit kritischem Blick. „Dann geht Julian doch wenigstens suchen.“
„Deine Mum hat Recht“, sage ich zu Helen und wische mir die Tränen weg. Ich stehe auf, jetzt voller Tatendrang. Irgendjemand muss Julian finden, bevor ihm etwas passiert. Und das werde ich sein. Ich werde nicht hier herumsitzen und warten, ohne zu wissen, wo er sich befindet. „Ich geh Julian suchen.“
„Ich komme mit“, sagt Helen. Helens Mutter sieht uns hilfsbereit an. „Wenn ihr ein paar Minuten wartet, kann ich euch fahren. Ich wollte eh noch einkaufen.“
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, wo ich Julian suchen soll. Egal. Ich muss irgendetwas etwas tun, irgendwo anfangen. Ich habe es Julians Mum versprochen.
Helens Mutter fährt uns wieder ins Stadtinnere. Zum Glück habe ich immer ein Foto von meinen Geschwistern im Geldbeutel, also fangen wir an, die Leute zu befragen. „Entschuldigung, haben sie diesen Jungen gesehen?“, frage ich einen Mann und halte ihm Julians Foto unter die Nase. Er schüttelt den Kopf und geht weiter. Helen schlägt sich ein paar Meter entfernt von mir durch: „Have you seen a boy, sixteen years old, tall, brown hairs?“
Wir suchen den ganzen Mittag, doch niemand hat Julian gesehen. Er scheint wie vom Erdboden verschluckt. „Hast du was gefunden?“, frage ich Helen. „Negativ“, meint sie. Wir setzen uns in den Starbucks, als es anfängt, zu regnen. „Dein Bruder hat sich ein Scheißwetter ausgesucht“, meint Helen unzufrieden. Ich schaue raus. „Er wird sich erkälten“, murmle ich. „Quatsch, der ist ein Kerl. Ein bisschen Regen schadet ihm nicht, er ist ja nicht aus Zucker“, muntert Helen mich auf und zwickt mich in die Seite, was seinen aufmunternden Sinn jedoch verfehlt.
Wir trinken einen Kaffee und wärmen uns auf.
Um drei Uhr gehen wir wieder raus. Wir suchen jetzt nicht mehr im Stadtinneren, sondern in der ganzen Umgebung. Wir suchen seine Lieblingsplätze ab, den McDonalds, in dem wir immer waren, den Stadtpark, in dem wir früher die Enten gefüttert haben, als wir kleiner waren. Dann fahren wir mit dem Bus zu seiner Schule und suchen dort in der Umgebung, doch wir finden nichts. Wir suchen auf dem Sportplatz, wo er Fußballtraining hat, fahren zu mir nach Hause und suchen im Wald, in dem wir früher oft gespielt haben. Nichts. Julian ist und bleibt verschwunden.
„Was, wenn er sich einfach ein Zugticket gekauft hat, und jetzt schon kilometerweit weg ist?“, frage ich. Helen zuckt die Schultern. „Glaub ich nicht.“
„Und wenn doch?“, beharre ich. „Dann können wir es auch nicht ändern. Suchen wir dort, wo wir ihn finden können.“ Wieder in der Stadtmitte hat Helen die zündende Idee. „Lass uns mal ein paar von den Punks am Bahnhof fragen“, meint sie. „Die lungern doch eh den ganzen Tag nur rum. Wenn jemandem was aufgefallen ist, dann denen. Und dann wissen die auch, wenn er am Bahnhof war und mit dem Zug weggefahren ist.“
Ich halte das für eine gute Idee und wir machen uns auf zum Bahnhof. Dort schauen wir uns nach den Jugendlichen um, die dort für gewöhnlich rumhängen. Helen quatscht einen von denen ungeniert an. „Hey! Meine Freundin sucht ihren Bruder“, sagt sie und zeigt ihm das Foto. „So sieht er aus. War der irgendwann mal hier?“
„Julian?“, fragt mich der Typ ohne den Kopf von der Wand zu heben, an die er sich gelehnt hat. Ich nicke und Hoffnung keimt in mir auf. „Der hat mal eine Nacht bei uns gepennt, ist aber schon seit zwei Tagen wieder weg.“ Ich seufze. „Danke für die Hilfe. Weißt du, wo er hin ist?“, frage ich. „Keine Ahnung. Hat gemeint, er hätte was zu erledigen.“ Ich nicke. „Danke.“
Wir gehen. Julian wurde also am Sonntagmorgen noch von den Punks gesehen. Er musste also von Nick direkt zu denen gegangen sein, hatte dort die Nacht verbracht und war dann wieder aufgebrochen. Was hatte er zu erledigen?
Ich rufe Julians Mutter an. „Franka, wo bist du? Nele und deine Eltern machen sich Sorgen“, begrüßt sie mich. „Ich suche Julian“, sage ich leise. „Ich hab dir versprochen, ich bringe ihn zurück. Er wurde am Sonntagmorgen gesehen. Er hat gesagt, er hätte etwas zu erledigen. Weißt du, was er vorhat?“ Julians Mutter sagt, sie habe keine Ahnung. Jetzt erst fällt mir auf, dass sie generell nicht viel von ihren Söhnen weiß. „Ich werde auch heute nicht nach Hause kommen, das hab ich Nele bereits gesagt. Wenn meine Eltern sich melden, sag ihnen, es geht mir gut.“ Ich lege auf, bevor sie Zeit hat, mir zu widersprechen.
Helen sieht mich an. „Neuigkeiten?“
„Meine Eltern machen sich Sorgen. Gilt das?“, frage ich emotionslos.
Ich habe noch die fünfzig Euro dabei, die ich mir für unseren Plan, Nick zu überrumpeln abgespart habe, und lade Helen zum Essen ein. Wir setzen uns in einen chinesischen Imbiss und teilen uns eine Ente.
Wir fragen auch den Wirt, ob er Julian gesehen hat, und bitten ihn, als er verneint, die Augen offen zu halten.
Ich habe langsam nicht mehr sonderlich viel Hoffnung, dass wir Julian noch finden werden. Ich rufe ihn wieder an. „Julian, ich vermisse dich. Wir machen uns alle schreckliche Sorgen. Bitte melde dich doch wenigstens, damit ich weiß, dass es dir gut geht“, spreche ich ihm auf die Mailbox.
Wieso meldet er sich einfach nicht? Ich beschließe, nochmal zu Nick zu gehen, und ihn zu fragen, ob er weiß, ob mit Julians Handy etwas los ist.
Helen begleitet mich. Lara öffnet mir die Tür, löst jedoch die kleine Kette nicht. „Ich will Nick sprechen“, sage ich. Sie zögert und ruft ihn dann. Nick kommt an die Tür. Als er mich erkennt verdüstert sich sein Blick. „Weißt du, ob Julians Handy kaputt ist?“, frage ich Nick. Er schüttelt den Kopf. „Nee, das müsste funktionieren.“ Wir unterhalten uns noch immer durch die Tür. „Vielleicht ist sein Akku leer. Er hatte zwar ein Ladekabel dabei, aber wenn er keine Steckdose hat, bringt ihm das nicht viel.“
Ich drehe mich um, ohne mich zu verabschieden oder zu bedanken. Helen folgt mir. Nick hat mir trotzdem geholfen, denn als wir zwei Stunden später im Starbucks sitzen und uns einen weiteren Kaffee gönnen, klingelt mein Handy. Ich krame danach, erwische es jedoch nicht schnellgenug. Als ich es habe, hat der Anrufer aufgelegt. Als ich schaue, wer versucht hat, mich zu erreichen, sehe ich, dass es Julian war.
Mein Herz macht einen Satz und ich rufe ihn zurück, doch er geht nicht dran. Wahrscheinlich hat er einfach Schiss bekommen und deshalb aufgelegt. Ich spreche ihm diesmal nicht auf die Mailbox, aber eines weiß ich jetzt. Julian hat sich erst neulich bei mir beklagt, dass sein Handyakku immer höchstens zwei Tage hält. Samstagabend hatte er bei Nick das letzte Mal die Gelegenheit, sein Handy an einer Steckdose aufzuladen. Also hätte gestern der Akku bereits leer sein müssen. Er war also zwischenzeitlich vermutlich an irgendeiner Stromquelle gewesen, um sein Handy aufzuladen.
Ich teile meinen Geistesblitz mit Helen, weiß jedoch nicht, was es mir bringen soll, denn Strom hat ja in der heutigen Zeit jeder Haushalt. Aber ich weiß, dass Julian nicht auf der Straße schläft.
„Sollen wir wieder nach Hause?“, frage ich Helen. „Es ist unwahrscheinlich, dass wir Julian auf der Straße antreffen werden und ich müsste dringen mal telefonieren und mir ein paar Sachen aufschreiben.“
Als wir bei Helen sind, rufe ich Julians Mutter an, und bitte sie, mir Julians Klassenliste und das Klassenfoto zu schicken. Sie schickt sie mir beides per Mail und Helen druckt es aus.
„Und jetzt?“, fragt sie mich. Ich glaube, sie hält mich für durchgeknallt. „Wir müssen jetzt die gesamte Klassenliste abklappern und hoffen, dass Julian dort irgendwo steckt“, sage ich. Helen seufzt. „Na gut …“, meint sie noch immer zweifelnd, als ich sie bittend anschaue. „Aber glaubst du wirklich, wir werden ihn da finden? Du hast doch auch nicht nur Freunde aus der Schule.“
„Es ist ein Anfang, und je mehr Leute wir absuchen, umso besser“, entgegne ich. Mir ist schon klar, dass die Chance, Julian bei einem seiner Freunde anzutreffen, ziemlich gering ist, aber vielleicht können die mir trotzdem weiterhelfen. Vielleicht hat jemand einen Grund bemerkt, weshalb Julian abgehauen sein könnte.
Helen und ich bearbeiten die Klassenliste. Julians enge Freunde umkreisen wir zweimal mit rot, und ich suche die Leute, die ich kenne auf dem Klassenfoto. Dann schreiben wir die Namen drüber. Die restlichen suchen wir auf Facebook und identifizieren sie aufgrund ihrer Profilbilder.
Bald haben wir die Klassenliste in fünf Spalten geteilt: Enge Freunde, von denen Julian oft erzählt hat, bei denen er schon war oder die ich sogar persönlich kenne; Bekannte, von denen Julian ab und zu spricht und mit denen er sich eher selten trifft; Mädchen, für die er im Laufe seiner Schulzeit geschwärmt hat; Mädchen, für die er aufgrund ihres Aussehens schwärmen könnte; und Leute, die mir absolut unbekannt sind.
Wir machen eine Liste und teilen die Leute ein. Wir schreiben Name und Adresse darauf und berechnen dann mithilfe von Google-Earth die beste Route. Wir machen einen Plan für den nächsten Tag. Da die meisten von Julians Klassenkameraden sich morgens in der Schule befinden würden, würden wir erst später anfangen, zu suchen. Ich weiß, dass Julian mittwochs keinen Nachmittagsunterricht hat, also würden wir die Nachmittagsdoppelstunde Sport schwänzen, um mehr Zeit zu haben.
Helen bringt den Vorschlag, auch die letzte Stunde zu schwänzen, damit wir zu Julians Schule fahren könnten, um ein paar Leute abzufangen. Ich halte das für eine gute Idee.
Wir schauen unsere Liste an, die Route, die wir berechnet haben, und sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis.
Wir hauen nach der fünften Stunde einfach ab und springen in den nächsten Bus, der uns zu Julians Schule bringt. Dort gehen wir ins Sekretariat und fragen die Sekretärin, wo die 10 a jetzt Unterricht hat. Sie sagt uns, dass die jetzt Religion haben, dass der Unterricht für die Katholiken jedoch ausgefallen sei, da der Lehrer auf einer Fortbildung ist. Dann teilt sie uns den Raum mit, in dem sich der Rest jetzt aufhält.
Helen und ich stellen uns mit Klassenfoto und Klassenliste davor auf und warten noch zwanzig Minuten, bis die Leute rauskommen. „Halt die Augen offen“, sage ich zu Helen. Mein Herz klopft wild, als sich die Tür öffnet und die ersten Leute in den Schulflur strömen. „Da“, sage ich. „Das müsste Kim sein.“ Kimberley Halling fällt unter die Kategorie „Mädchen, in die Julian verschossen war“. Sie hat sich seit dem Klassenfoto am Anfang des Schuljahres kaum verändert. Sie hat dunkelblonde Locken, ist schmal und zierlich gebaut, doch ihre Figur ist fraulicher geworden. „Bist du Kim?“, frag ich sie. Sie bleibt stehen, schaut mich verwundert an und nickt. „Ich bin Franka, eine Freundin von Julian. Julian ist verschwunden, wie du vielleicht weißt, weißt du, wo er sein könnte?“ Sie schüttelt nur den Kopf. „Keine Ahnung.“ Ihre Antwort scheint glaubwürdig und ich sehe keinen Grund, weshalb sie mich anlügen sollte.
Ich bedanke mich und lasse sie vorbei. Helen hakt Kimberley auf unserer Liste ab. Sie hat in der Zwischenzeit einen Jungen namens Tobias Kolensky befragt, der in die Kategorie „Bekannte“ fällt, doch auch der hat keine Ahnung, wo Julian sich aufhalten könnte.
Wir verlieren einige Leute aus den Augen, bevor wir sie befragen könne, doch wir können sechs Leute abhaken, davon fallen drei Mädchen in die Kategorie „Mädchen, in die Julian verschossen war“ und ein Junge in die Kategorie „Enge Freunde“. Jetzt würden wir zu den Leuten nach Hause fahren, und sie befragen.
„Sieh‘s positiv“, sagt Helen, als wir im Bus sitzen und in das Dorf fahren, in dem fünf von Julians Klassenkameraden wohnen. „Fast ein Viertel von seiner Klasse haben wir schon.“
„Ich wünschte, wir hätten auch noch die Klassenliste von den Parallelklassen“, sage ich und seufze. „Vielleicht können Jeafree und Constantin helfen“, schlägt Helen vor. „Sollen sie in das Sekretariat einbrechen?“, frage ich ungehalten. Helen schweigt.
Wir steigen an der ersten Haltestelle im Dorf aus und Helen holt die Karte raus. Sie tippt die erste Adresse in ihr Handynavi ein und wir machen uns auf den Weg.
„Müller. Was für ein scheiß Name“, knurre ich. Auf dem Mehrfamilienhaus steht der Name „Müller“ nämlich gleich drei Mal.
Ich klingle beim ersten Namensschild. Niemand öffnet. Also Müller Nummer zwei. Es summt, wir treten ein und eine ältere Dame steht im Flur. „Hallo“, sage ich freundlich. „Ich suche Jana. Ich bin eine Freundin.“
„Jana ist meine Enkelin. Sie wohnt in der Wohnung unter mir“, gibt die Frau Auskunft. „Klingle einfach direkt an der Tür.“ Ich bedanke mich und Helen und ich betreten das Mehrfamilienhaus. „Hol mal das Klassenfoto raus“, sage ich leise und klingle an der Tür. Ein kleines Mädchen öffnet mir die Tür. „Ist Jana da?“, frage ich. Das Mädchen – ihre Schwester? – nickt und ruft Jana.
Das Mädchen kommt an die Tür und ich weiß, warum ich sie in die Kategorie „Mädchen, in die Julian verknallt sein könnte“ gepackt habe: Sie hat blonde, hüftlange Haare, die sie offen trägt, ihr Gesicht ist hübsch mit hohen Wangenknochen und einer kleinen Stupsnase und ihre Augen sind hellblau. „Ich suche Julian. Er ist ein Freund von mir. Weißt du, wo er sein könnte?“ Jana schüttelt den Kopf und ihre langen, hellen Haare wippen dabei um ihr Gesicht. „Tut mir leid, nein. Er war schon gestern nicht in der Schule.“ Ich bedanke mich. Schon wieder Ernüchterung.
Wir klappern das Dorf nach den anderen Klassenkameraden ab, setzen uns in den nächsten Bus, fahren ein Dorf weiter, suchen dort nach Julians Freunden und Klassenkameraden und fahren kein bisschen schlauer weiter.
Wir haben die Hoffnung schon fast aufgegeben, als wir an einem Mehrfamilienhaus klingeln. Hier wohnt Alexander Berthold. Ich glaube kaum, dass er etwas über Julian weiß, denn Julian hat noch nie von ihm gesprochen.
Ich muss zweimal klingeln, bis mir ein groß gewachsener Junge die Tür öffnet. Zigarettenqualm schlägt mir entgegen. Der Junge hat kupferbraune Haare, ist braun gebrannt und sieht einem Menschen ähnlich, den ich sehr gut kenne. Berthold … Dieser Nachname …
Wieso bin ich nicht sofort darauf gekommen? Wenn mir jemand helfen kann, dann Alexander. „Hey. Ich bin wegen Julian hier, er geht in deine Klasse. Weißt du, wo er ist?“, will ich wissen. Ich gehe mit Alexander von Anfang an genauso um, wie mit seinem großen Bruder Nick. „Hast du schon mal bei Nick gesucht?“, fragt er mich. „Die kennen sich doch.“
„Er war da, aber jetzt ist er weitergezogen. Und ich will wissen, wieso er nicht nach Hause kommt“, sage ich ruppig.
„Da kann ich dir auch nicht helfen“, entgegnet Alexander und will mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Ich stelle mich in die Tür. „Hast du noch Kontakt zu Nick?“, will ich wissen. „Mäßig“, antwortet Alex und mustert mich von oben bis unten. „Bist du sicher, dass du nichts über Julian weißt?“ Ich bin hartnäckig.
„Kleine, zieh Leine bevor ich die Geduld verliere.“ Er verschweigt mir etwas, ich sehe es in seinen Augen. Er ist nicht so knallhart, wie er zu sein scheint. Er ist nervös. „Gut. Dann kann ich gleich zur Polizei gehen, die nach Julian suchen lassen und deinen Bruder ans Messer liefern“, meine ich und drehe mich um. Alex packt mich und ich erschrecke mich so sehr, dass ich aufschreie. „Kommt rein“, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen. Helen und ich treten ein und Alex führt uns ins Wohnzimmer.
„Setzen“, sagt er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zulässt. Helen und ich setzen uns auf ein dunkles Sofa. Es riecht hier drinnen unangenehm nach Zigarettenqualm und auf dem kleinen Holztisch vor dem Sofa steht eine halbvolle Schnapsflasche. „Also. Was wollt ihr wissen?“, fragt Alex uns und nimmt gegenüber von uns Platz. „Julian ist am Freitag nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Wieso nicht?“, frage ich und lehne mich zu ihm.
Alex seufzt. Ich weiß, dass er eine Ausrede parat hat, und ich weiß, dass er lügt, als er sagt: „Wir haben Mathe geschrieben. Und Julian ist eine Niete in Mathe.“
„Julian ist schlecht in Mathe, aber das hat ihn nie interessiert und seine Eltern auch nicht. Julian war immer ein guter Schüler und er hätte wegen einer schlechten Note keine Probleme bekommen“, widerspreche ich ihm. „Sag mir, was du weißt, oder die Polizei wird dich danach fragen.“ Eine Weile schweigt Alex, dann schaut er mich an und ich weiß, dass sein nächster Satz keine Lüge werden wird. „Ich weiß, dass Julian Probleme hatte. Mit einem Typen aus der Schule. Und mit Drogen-“
Ich springe auf und packe Alex, der mir im Sessel gegenüber sitzt. „Du lügst“, behaupte ich, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. Alex schlägt mir ins Gesicht und ich taumle zurück. „Dann glaub‘s mir halt nicht!“, schreit er. „Julian hätte nie Drogen genommen!“, schreie ich Alex an. „Das habe ich auch nicht gesagt!“, schreit Alex zurück. Ich verstumme und warte darauf, dass er mir die Antwort auf meine Fragen liefer.
„Er hat für Nick gedealt. Schon eine Weile“, sagt er nach eine Weile etwas ruhiger. „Wieso sollte er das?“, frage ich genauso ruhig. Alex lacht. „Weißt du, wie viel Taschengeld er bekommen hat?“ Alex grinst verächtlich. „Der konnte ja nicht mal ein Mädchen auf ein Eis einladen. Deshalb hatte er nie eine Freundin.“ Er sagt die Wahrheit, und das tut weh. Es macht seine Geschichte so glaubwürdig. Julian hat zehn Euro Taschengeld im Monat bekommen und das meiste hat er für den Führerschein gespart. Ab Mai sparte er schon wieder auf die Weihnachtsgeschenke. Da kam ihm so ein kleiner Nebenverdienst gerade Recht. Und seit Neuestem war Julian recht großzügig. Er warf mit seinem Geld geradezu um sich.
„Du hast gesagt, er hatte Probleme mit einem Typen in der Schule?“, fragt Helen. „Wie heißt der?“ Alex lacht. „Wenn ich euch den Namen sag, bringt mein Bruder mich um. Und euch wahrscheinlich auch.“
„Laber keinen Scheiß, sag uns den Namen“, sage ich wütend. „Das ist kein Scheiß.“ Alex steht auf. „Als ich zwölf war, hab ich gesehen, dass mein Bruder geraucht hat. Das hab ich meiner Mum gepetzt und Nick hat mich daraufhin halb totgeprügelt.“ Er kommt näher. „Ich weiß, dass er eine Knarre hat. Und wenn ich irgendetwas ausplaudere, dann bringt er mich diesmal wirklich um.“
Ich weiß, dass ich bei Alex nicht weiterkomme, denn er hat Angst. Ich frage mich, ob so auch der Rest von Julians Klasse sein wird. Wer wusste davon? Und wer hat nichts gesagt, weil er Angst hatte? Wieso ist Julian davongelaufen? Hatte auch er Angst? Und wenn ja, vor wem? Wohl kaum vor Nick, bei dem er untergekrochen ist. Ich muss diesen Namen wissen.
„Danke.“ Ich stehe auf, Helen folgt mir und wir verlassen das Haus. Wir wissen jetzt, wieso Julian weggelaufen ist. Und ich weiß, dass er möglicherweise in Gefahr ist. Ich rufe Julian an, sobald wir draußen sind. Er hebt wieder nicht ab. Langsam wird es zu einem Spiel. Ich quatsche ihm auf die Mailbox.
„Julian, ich weiß, warum du abgehauen bist. Du hast für Nick gedealt und einer deiner Schulkameraden hat dir deshalb das Leben zur Hölle gemacht. Sag mir, wer das ist und was er macht. Ruf mich zurück.“ Danach rufe ich Julians Mutter an und sage ihr, dass Julian Probleme mit einem Schulkameraden hatte und vermutlich deswegen weggelaufen ist. Ich verspreche ihr wieder, ihn zu finden. Von den Drogen sage ich nichts.
Sie verspricht, in die Schule zu gehen und die Lehrer befragen. Dann lege ich auf. „Was jetzt?“, fragt Helen mich. „Wir müssen rausfinden, wer dieser Kerl ist, und wenn wir dabei draufgehen“, sage ich. Der Typ scheint einflussreiche Freunde zu haben. Alex muss Angst haben, dass sein großer Bruder ihn umbringt, wenn er den Namen seines Kunden verrät. Ist der Kerl überhaupt ein Kunde? Oder nur jemand, der hinter Julians kleines, illegales Geheimnis gekommen ist? Warum sollte Nick versuchen, ihn zu schützen?
Wie auch immer, Constantin und Jeafree sind auf dieser Schule, und wer eine ganze Klassenstufe in solch eine Angst versetzen kann, der wird auch von den unteren Stufen nicht die Finger lassen. Jeafree und Conny müssen etwas mitbekommen haben. Und ich werde herausfinden, was. Dazu muss ich nach Hause. Morgen …
Nach der Schule fahre ich nicht sofort nach Hause. Ich gehe noch einmal zu Nick, auch wenn ich nicht weiß, was ich mir von dem Besuch erhoffe. Ich hatte bis zur zehnten Stunde Schule und es ist fast sieben, als ich bei Nick ankomme. Lara öffnet mir die Tür, was sogar noch besser ist. „Ist Nick da?“, frage ich. Sie schüttelt den Kopf.
Perfekt.
„Gut. Ich wollte sowieso mit dir reden. Kann ich reinkommen?“ Lara mustert mich durch ihre zusammengekniffenen hellblauen Augen, dann seufzt sie, öffnet die Tür und lässt mich rein. Sie ist ein Jahr älter als ich, hat rotblonde Haare, die sie immer zusammenbindet und die ihr in Locken auf den Rücken fallen. „Ich weiß, dass Julian für Nick gedealt hat“, sage ich. Lara erstarrt. Sie weiß es, und nicht nur das. Sie weiß noch viel mehr, das merke ich daran, wie sie meinem Blick ausweicht, wie ihre Hände jetzt langsam in ihre Hosentaschen wandern und sie cool tut, jedoch nervös auf ihrer Unterlippe kaut. Ich gebe nicht auf. „Irgendjemand hat ihm solche Angst gemacht, dass er von zu Hause weggelaufen ist. Jemand aus der Schule. Wer?“
„Weiß ich nicht“, sagt Lara und dreht den Kopf weg. Das war mir klar. „Wenn dir noch was einfällt, melde dich bei mir, okay? Ich will nur meinem Bruder helfen.“ Dann gehe ich wieder.
Ich streune noch ein bisschen durch die Gassen, um den Besuch zu Hause aufzuschieben. Schließlich mache ich mich doch auf den Weg zur Bushaltestelle. Auf halbem Weg bemerke ich Schritte hinter mir, doch niemand ist da. Generell bin ich ziemlich allein.
Ich nehme eine Abkürzung durch eine kleine Seitenstraße. Kein Mensch ist hier unterwegs. Ich weiß nicht, ob das die beste Idee war, mich mit einem Verfolgungswahn auch noch in eine kleine Gasse zu schlagen. Während ich das denke, werde ich gepackt. Ich schreie, doch mein Angreifer hält mir den Mund zu. Ich trete, falle zu Boden und jemand schlägt mir ins Gesicht.
Wer ist das?
Ich habe Panik, spüre, dass ich von dem Schlag ins Gesicht Nasenbluten habe und trete nochmal nach der Person, die auf mir sitzt. Die Person springt auf, hat etwas in der Hand und läuft dann Weg. Als ich mich aufsetze und in meinen Taschen wühle, merke ich, dass mein Geldbeutel weg ist. Verdammt …
Ich komme um halb zehn zu Hause an und schließe die Tür auf. Meine Mutter stürmt aus dem Wohnzimmer und baut sich vor mir auf. „Ah, das Fräulein bequemt sich auch mal wieder nach Hause! Das waren ja volle vier Tage. Franka, kannst du mir erklären, wo du warst, und wie lange du vorhast, zu bleiben?“, beginnt sie zu zetern.
Ich quetsche mich wortlos an ihr vorbei in die Küche und wasche mir mit kaltem Wasser das Blut vom Gesicht. Dann trinke ich erst mal einige Liter Wasser direkt aus dem Wasserhahn. „Franka, ich rede mit dir“, sagt meine Mutter und reißt mich herum.
„Wo kommt das Blut her?“, will sie wissen. Juhuu, sie ist mal zwei Sekunden still. Ich ziehe mein T-Shirt aus und schmeiße es in die Wäsche. „Ich habe Julian gesucht“, antworte ich. „Und vorhin hat mir irgend so ein Scheißkerl ins Gesicht geschlagen und meinen Geldbeutel abgezogen. Mein Handy wollte er wohl nicht“, meine ich, als ich es auf das Sideboard lege und aus meiner Hose schlüpfe, die ich auch in die Wäsche schmeiße. „Und danach durfte ich elf Kilometer laufen, weil mich der Busfahrer ohne meine Fahrkarte nicht in den Bus gelassen hat“, ergänze ich meine Geschichte. „Franka, das müssen wir anzeigen“, meint meine Mutter entsetzt. Ich renne in mein Zimmer. „Ja klar, du kannst Fingerabdrücke an meiner Hosentasche nehmen!“, schreie ich. „Die finden den Typen doch nie im Leben.“
Zum Duschen nehme ich mir keine Zeit, ich stülpe mir nur ein anderes T-Shirt über und schlüpfe in eine Jogginghose, dann trample ich die Treppe wieder runter, schlüpfe in meine Schuhe und nehme meine Sommerjacke vom Haken. „Wohin willst du?“, fragt meine Mutter und will mich festhalten, doch sie ist nicht schnell genug.
„Julian finden.“ Damit bin ich weg. Die Tür hinter mir bleibt geschlossen. Ich laufe zu Jeafree in den Garten, klettere auch den Nussbaum, dessen Äste bis an Jeafrees Zimmerfenster reichen und klopfe an. Es brennt noch Licht, doch Jeafree ist schon im Schlafanzug, als er mir etwas bleich und erschrocken das Fenster öffnet. „Franka, was machst du denn da?“, fragt er mich. „Wenn meine Mum das sieht …“
„Was deine Mum sieht, ist mir egal, ich hab die letzten drei Tage ihren Sohn gesucht. Ich hab rausgefunden, dass er Probleme mit einem Typen in der Schule hat, der wohl die ganze Klassenstufe in Angst und Schrecken versetzt. Es geht dabei wohl auch um Drogen.“ Jeafree schweigt und sieht betroffen weg. „Du weißt etwas, das sehe ich dir an. Du musst es mir sagen. Dein Bruder ist womöglich in Gefahr. Er braucht jetzt unsere Hilfe“, sage ich. „Ich weiß nicht, wie der Typ heißt, aber ich weiß, dass Julian ihm so kleine Tabletten verkauft hat. Als Julian das nicht mehr wollte, hat der Typ gedroht, er geht zur Schulleitung und lässt Julian und Nick auffliegen“, meint Jeafree.
„Was waren das für Tabletten?“, frage ich ihn. „Keine Ahnung“, sagt Jeafree und heftet den Blick auf den Boden. „Ich weiß nur, dass er die für Nick weiterverkauft hat. Auch an die unteren Klassen in der Schule.“
„An wen genau?“, frage ich eindringlich. Jeafree schweigt. „An wen?!“, wiederhole ich laut. „An viele Leute“, weicht der Junge mir wieder aus. „Sag mir Namen“, bitte ich Jeafree. Jeafree verzieht gequält das Gesicht und eine ganz neue Idee formt sich in meinem Kopf. „Du hast ihm ja wohl keine abgekauft, oder?“, frage ich fassungslos und bin kurz davor, dem Jungen ins Gesicht zu springen. Jeafree schüttelt energisch den Kopf und ich glaube ihm, so empört ist er. „Ich doch nicht!“, widerspricht er schnell. „Das musst du mir glauben.“
Ich seufze. „Wieso sagst du mir dann nicht, wer welche gekauft hat? Wovor hast du Angst?“
„Ich kann nicht“, sagt Jeafree. „Ich hab es ihm versprochen!“
„Wem hast du es versprochen?“, hake ich eindringlich nach.
Jeafree zögert.
„Conny.“
Ich klingle Sturm. Als ich den Finger wieder von der Klingel nehme, öffnet mir immer noch niemand. Ich klingle nochmal, so lange, bis Constantins Mutter mir die Tür öffnet. „Franka, du bist wieder da“, sagt sie erstaunt. Na super, meine Mum hat gepetzt. „Wieso klingelst du um diese Uhrzeit bei uns, Jette und Conny schlafen.“
„Das ist mir egal, es ist wichtig“, sage ich und gehe rein, ohne auf eine Einladung zu warten. „Ich glaube, dass Conny Drogen nimmt.“ Connys Mutter fällt die Kinnlade runter. „Franka, weißt du, was du da redest?“, fragt sie mich entsetzt und ich hoffe nur, dass ich Recht habe, sonst wird mich diese Familie auf ewig für diesen Verdacht hassen. Wahrscheinlich denkt Connys Mutter bei meinem Anblick und meinen Worten eher, ich stünde unter Drogen. „Conny ist gerade vierzehn geworden. Er nimmt doch keine Drogen“, sagt sie fast lachend, doch das überzeugt mich nicht.
„Ich weiß es, und Jeafree weiß es auch, und ich weiß, dass Julian ihm diese Drogen verkauft hat. Deswegen ist er auch weggelaufen. Irgendjemand ist dahinter gekommen, hat ihm das Leben zur Hölle gemacht und ihm vermutlich auch gedroht. Ich glaube, dass Conny in echter Gefahr ist“, sage ich eindringlich.
Connys Mutter schüttelt fassungslos den Kopf. „Franka, du solltest nach Hause und dich ausruhen“, meint sie. „Nein. Nein, das kann ich nicht. Du weißt, ich liebe Jette und Conny, als wären sie meine Geschwister und ich würde nie etwas über sie erzählen, das nicht stimmt. Aber Jeafree hat es mir selbst gesagt. Ich wünsche mir auch, dass es nicht stimmt, aber du musst zumindest mit Conny darüber sprechen und dich vergewissern, dass er nichts nimmt.“
Connys Mutter schaut mich immer noch fassungslos an, dann schaut sie auf die Uhr. „Franka, ich hoffe wirklich, dass du hier nicht ohne Grund so ein Theater machst.“ Sie geht die Treppe hoch und ich folge ihr. Sie weckt Conny. „Conny, wir müssen reden“, sagt sie streng. „Mama, es ist mitten in der Nacht“, jammert Conny müde und will sich umdrehen und weiterschlafen. Ich schaue mich in seinem Zimmer um. Wie kann ich beweisen, dass ich Recht habe?
Ich erinnere mich an Connys Geheimversteck: Das Brett, das er als zweiten Boden in seine dritte Nachttischschublade gelegt hat. Früher haben Julian, Conny und ich einmal eine Schatzkarte versteckt, die wir gemalt hatten. Was versteckt er jetzt darunter?
Ich reiße die Schulbade auf. „Hey, was soll das?“ Constantin ist plötzlich hellwach. Ich reiße alles aus der Schublade, was mir im Weg liegt. „Bitte, lass mich Recht haben“, flehe ich und gleichzeitig hoffe ich, dass ich mich geirrt habe. Das Brett hebt sich durch seine hellere Farbe vom restlichen Holz der Kommode ab. Ich hebe es hoch und werde fündig.
Einige Schablonen mit kleinen, lilafarbenen Tabletten schauen mir entgegen, als hätten sie nur auf mich gewartet. „Was ist das?“, frage ich Conny und schmeiße ihm eine davon an den Kopf. „Das sind nur meine Kopfschmerztabletten“, lügt Conny. Seine Mutter nimmt die Tabletten hoch. „Conny, wo hast du die her? Was ist das? Wie lange nimmst du die schon?“ Meine Arbeit ist getan.
Conny sieht mich an und sein Blick sagt, dass ich etwas Unverzeihliches getan habe, doch das ist mir egal, wenn ich ihn dadurch beschützen kann. Ich gehe und höre noch den Anfang eines langen, ernsten Gesprächs zwischen Mutter und Sohn. Ich hoffe, sie wird Conny wenigstens ein bisschen schlafen lassen, damit er morgen nicht völlig übermüdet in die Schule kommt.
Ich muss mich jetzt auch noch darum kümmern, dass Conny Jeafree nicht das Leben zur Hölle macht, oder ihn da womöglich mit reinzieht und sie beide in Gefahr bringt. Und ich muss unbedingt verhindern, dass er sich Nachschub besorgt.
Als ich am nächsten Tag in die Schule gehe und meine Probleme mit Helen teilen will, stoße ich bei ihr auf Unverständnis.
„Ich versteh echt nicht, was du an den Kleinen findest“, sagt sie. „Ich hab wegen Julian und dir die letzten Tage dauernd geschwänzt und jetzt willst du auch noch, dass ich dir helfe, Conny und Jeafree aus der Scheiße zu ziehen? Sie sind ja nicht mal deine Geschwister.“ Ich kann nicht fassen, was sie mir da an den Kopf schmeißt. „Danke für dein Verständnis“, sage ich wütend, wende mich ab und gehe. Soll ich ihr mal meine Hilfe verweigern, wenn es um ihre Geschwister oder ihren neuesten Lover geht? Sie würde völlig ausrasten.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, Pläne zu schmieden, wie ich ohne Hilfe Conny und Jeafree helfen kann. Ich nehme mal an, Connys Mutter hat bereits mit der Schulleitung gesprochen. Das dürfte sich nicht als Vorteil für Conny und Jeafree erweisen. Vielleicht sind die Jungs jetzt sogar in noch größerer Gefahr. Ich muss unbedingt mit ihnen reden, damit die beiden keine Dummheiten machen.
Als ich aus der Schule komme und es schaffe, Jeafree und Conny aus dem Haus zu locken und heimlich mit den beiden zu reden, erweisen sich die beiden als einsichtig und sind bereit, sich von mir helfen zu lassen, obwohl Conny immer noch einen enormen Hass auf mich und vor allem Jeafree hat. Doch da er sich von mir helfen lässt, nehme ich an, dass es ihm damit nicht besonders ernst sein kann.
Ich sage ihnen, sie sollen sich unauffällig verhalten, niemanden provozieren und am besten erst mal gar nicht zur Schule gehen. Die beiden Jungs erklären sich dazu bereit, zumindest Montag und Dienstag zu schwänzen und ihren Eltern zu erzählen, sie wären krank. Bis dahin verspreche ich den Jungs, eine Lösung gefunden zu haben.
Ich versuche Kontakt zu Helen aufzunehmen, um mich mit ihr auszusprechen und sie zu fragen, was los sei, doch sie hat mich sowohl auf Skype als auch auf Facebook blockiert. Ich kann es nicht fassen. Wieso macht sie das? Wieso verhält sie sich so kindisch? Nur , weil ich ihr zur Abwechslung mal von meinem Problemen erzählt habe? Na toll, aber wenn sie etwas von mir will, soll ich sofort springen und ihr zuhören, und jetzt fällt ihr scheinbar ein Zacken aus der Krone, wenn ich mal in einer Woche öfter als ein Mal ihre Hilfe in Anspruch nehmen muss.
Dabei hätte sie mir bei Conny und Jeafree eh nicht helfen können. Sie hätte mir nur einfach einmal richtig zuhören müssen. Ich bin enttäuscht. Maßlos enttäuscht. Vor kurzem konnte sie mich aber noch zwei Stunden vollheulen, als ihr neuester Lover sie wieder einmal verlassen hatte. Dafür bin ich noch gut genug, wenn grad niemand anderes da ist.
Wütend schalte ich meinen PC aus. Toller Tag…
Und morgen? Morgen feiern wir Neles Geburtstag mit der „ganzen, glücklichen Familie“. Mit Oma, Opa, Tante, Onkel, Großtante, Großonkel und vielen Cousins und Cousinen, Großcousins und Großcousinen, die ich eh nicht zuordnen kann. Inklusive deren Kinder, Ehepartner und was sonst noch alles dazu kommt. Wundervoll …
Meine Eltern sind schon früh damit beschäftigt, den Garten zu schmücken, denn das Wetter ist fabelhaft und wir feiern draußen. Mein Vater hat die neuen Gartenmöbel aufgestellt und meine Mutter Kuchen gebacken. Sie sieht ihm zu, wie er den Tisch mit Luftschlangen und Lametta schmückt und dann den Tisch für die Gäste deckt. Es ist zwei Uhr. In eineinhalb Stunden werden die Gäste kommen.
Meine Mutter stoppt meinen Vater, als er euphorisch Luftschlangen im Garten verteilt und in die Büsche hängt. Ein paar fallen auch in den Gartenteich.
„Verdammt noch mal!“, schreit sie ihn an, „Willst du vielleicht noch ein paar Laternen aufhängen und kleine süße Teelichter hineinsetzen? Und dann noch ein paar Seerosen in den Teich und kleine Schwimmkerzen?“ Sie schreit noch immer. Ich und Nele verstehen nicht, was los ist und meine Mutter lässt wieder von meinem Vater ab. Ich fische die Luftschlangen aus dem Teich. „Franka, verschwinde von dort!“, schreit meine Mutter mich an.
„Ich weiß echt nicht, was du hast!“, schreie ich zurück und bleibe, wo ich bin. Ich habe kein Verständnis für ihr Verhalten, zumal ich gerade andere Probleme habe. In meinem Kopf spuken noch immer die Gedanken an Jeafree, Julian und Conny.
Meine Mutter kommt von der Terrasse herunter und zieht mich unsanft vom Teich weg. „Ich weiß, dass du diesen Teich hasst, dabei ist er total niedlich mit den Seerosen und den Goldfischen. Und warum du Robin so erschrecken musstest, als wir mit den Fischen gespielt haben, weiß ich auch nicht. Er hat danach sogar geweint“, beklage ich mich wütend. Meine Mutter holt aus und verpasst mir eine Ohrfeige. Ich bin fassungslos. Das hat sie noch nie getan.
Ich bin so durcheinander, dass mir die Tränen in die Augen steigen. „Spätestens am Montag wird dieser Teich zugeschüttet!“, fährt meine Mutter meinen Vater an. Der will eine Diskussion beginnen, als meine Mutter an ihm vorbeistürzt und zurück in die Küche will. „Mama!“, jammert Nele. Sie ist genauso geschockt von ihrem Ausraster, wie ich. „Wir wollten doch heute so schön feiern.“ Nele sieht Mum gequält an.
Wir verstehen beide die Welt nicht mehr. „Feiern? Ihr wollt hier in diesem Garten feiern?“ Mum schreit jetzt auch noch Nele an. „Wieso nicht?“, rufe ich von unten aus dem Garten hoch zu Mum auf die Terrasse. Wieso schreit sie? Wieso schreit sie Nele an, die doch gar nichts getan hat? Was für ein Problem hat sie mit uns? Wieso hat sie Kinder bekommen, wenn sie eh nicht mit ihnen klar kommt? Ich verspüre das Bedürfnis, mich vor meine Schwester zu stellen, um sie zu beschützen, wie ich es so oft tun möchte. Ich will sie alle beschützen, deswegen bin ich bereit, die Schule zu schwänzen und über Nacht wegzubleiben, um Julian zu finden, deswegen suche ich nach einer Lösung für Conny und Jeafree.
„Nie, niemals könnte ich hier feiern, nach allem, was passiert ist.“ Meine Mutter wendet sich ab und will gehen, doch mein Vater hält sie zurück. „Was ist hier passiert?“, fragt Nele.
Meine Mum sieht uns nicht an, unser Vater auch nicht, als er antwortet: „In diesem Gartenteich ist eure Schwester ertrunken.“
Meine Gedanken schlagen Purzelbäume. Schwester? Ich denke erst an Nele, doch die steht noch immer auf der Terrasse, dann an Jette und Jordana, doch die beiden leben und sie könnten schon längst nicht mehr in diesem winzigen Teich ertrinken.
„Schwester?“ Nele spricht das aus, was ich nur denken kann. Meine Mutter reißt sich los und verschwindet im Haus, mein Vater beginnt zu erzählen. Er weiß, dass er jetzt nicht mehr zurückkann: „Ihr hattet eine Schwester“, sagt er. „Charlize.“ Er schaut mich an. „Sie war ein Jahr älter als du.“ Er starrt auf das Wasser des Gartenteichs, das sich leicht kräuselt. „An ihrem dritten Geburtstag ist sie im Gartenteich ertrunken. Du warst noch nicht einmal zwei und Nele erst ein paar Wochen alt.“ Er schluckt schwer. „Eure Mutter ist drinnen bei dir gewesen“, sagt er zu Nele. „Und du und Charlize, ihr wart auf der Terrasse. Charlize muss nach den Goldfischen gegriffen haben und dabei ist sie ins Wasser gefallen.“ Er schweigt lange. „Als eure Mutter zurückgekommen ist, war sie schon tot und du standest neben dem Teich.“
Ich kann nicht fassen, was ich da höre. „Wieso habt ihr nie mit uns darüber gesprochen?“, fragt Nele. Die Frage erübrigt sich zwar, doch sie stellt sie trotzdem. Mein Vater antwortet nicht. „Ihr habt es einfach vor uns verheimlicht.“ Ich bin wütend. Deshalb diese Angst um meine Geschwister. Die Albträume. Das Wasser … Deswegen will ich sie beschützen, deswegen brauche ich für alles eine Lösung. Ich war dabei, als meine Schwester ertrunken ist.
Ich springe auf und renne in mein Zimmer. Mir ist nicht nach Feiern zumute, und ich verlasse mein Zimmer den ganzen Abend nicht, auch nicht, als ich höre, dass die Gäste kommen. Nele behauptet unten im Flur, als die Gäste kommen, ich wäre krank und ich weiß, sie beneidet mich darum, dass ich einfach ungestört in meinem Bett liegen und enttäuscht sein kann. Mehrere Male versuche ich, Helen anzurufen, meinen Kummer mit ihr zu teilen, doch sie drückt mich weg. Weder Amelia noch sonst jemand aus unserer Clique antwortet auf meine Nachrichten oder SMS.
Ich bin allein mit meiner Wut und meinen Problemen. Wo ist Julian? Mit ihm könnte ich darüber reden. Mit ihm würde ich darüber reden. Jeafree, Conny oder erstrecht den Kleineren würde ich das nicht antun.
Doch Julian ist fort. Er ist einfach weg. Ich heule ihm trotzdem auf die Mailbox und quatsche mir alles von der Seele. Jetzt muss er einfach zurückrufen, sobald er das erfährt. Er kann mich in meinem Zustand nicht auch noch allein lassen. Er muss mir doch helfen. Es sind doch auch seine Geschwister, wir lieben sie doch alle und wir müssen sie doch alle beschützen. Das muss er doch einfach einsehen. Ich brauche ihn doch jetzt.
Draußen ist das schönste Wetter, die Sonne ist kurz vor dem Untergehen und funkelt über die Bergspitzen. Ich will raus. Ich verlasse heimlich das Haus, während Nele mit ihren Gästen unten auf der Terrasse sitzt und so tut, als würde sie sich über die Geschenke freuen, während ihre Gedanken vermutlich ebenfalls ganz wo anders sind. Ob sie mich dafür hassen wird, dass ich mich so einfach aus der Affäre ziehe?
Ich denke nicht weiter darüber nach. Mein Kopf ist voll bis zum Bersten, ich brauche hundert Lösungen für hundert Probleme. Ich kann jetzt nicht einfach in meinem Zimmer sitzen, doch um Julian zu suchen fehlt mir die Kraft. Ich wüsste nicht, wo ich suchen sollte. Ich habe alles getan, was ich konnte, also laufe ich auf den Feldweg hinter dem Haus und gehe joggen.
Als ich Stunden später wieder zurückkomme merke ich, dass ich Julian verpasst habe. Er hat angerufen. Zweimal. Aber er hat keine Nachricht hinterlassen.
Als ich am Montag in die Schule gehe und den Streit zwischen Helen und mir schon fast vergessen habe, merke ich, dass etwas nicht stimmt. Niemand redet ein Wort mit mir. Die anderen Mädels aus meiner Clique sind total abweisend zu mir, niemand begrüßt mich, niemand schaut mich an und niemand redet mit mir. Mich schickt auch niemand weg, als ich mich dazustelle, gerade so, als wäre ich nicht da.
Super, jetzt ignorieren sie mich auch noch. Noch mehr Probleme. Als wäre ich nicht bedient genug. Hat sich die ganze Welt gegen mich verschworen? Mein Bruder wird vermisst, ich erfahre von meiner älteren Schwester, die an ihrem dritten Geburtstag in unserem Gartenteich ertrunken ist und meine Freunde ignorieren mich. Komischerweise schmerz mich das am meisten. Julian wird wieder auftauchen, meine Eltern hatten eh schon immer Geheimnisse vor mir und Nele, doch diese Aktion von meinen Freunden empfinde ich als Verrat. Zumal ich nicht einmal weiß, was ich falsch gemacht habe.
Ich beschließe, die Mädels ebenfalls zu ignorieren und stelle mich zu ein paar anderen Klassenkameraden, die um einiges freundlicher mit mir umgehen. Trotzdem hasse ich meine Freunde, meine Eltern, Julian, mein ganzes Leben. Am selben Tag bekomme ich meine Mathearbeit zurück. Ich hatte mit einer schlechten Note gerechnet, doch eine glatte sechs hätte ich mir nicht zugetraut. Schön, ein Abi kann jetzt nicht nur Julian, sondern auch ich knicken. Das Leben ist so unfair.
Als ich zu Hause bin und merke, dass weder mein Vater noch meine Mutter daran gedacht haben, einzukaufen und ich mir nicht einmal ein Mittagessen machen kann, platze ich.
Nele kommt nach Hause, als ich mit meiner gepackten Sporttasche das Weite suchen will. Scheiß auf Helen, scheiß auf Amelia und den Rest, scheiß auf meine Eltern, die uns unser ganzes Leben lang nur Lügen erzähl haben. Weg hier, wohin auch immer.
„Was hast du vor?“, fragt Nele mich und starrt meine Tasche an. Ich habe nur das wichtigste eingepackt: Meine Busfahrkarte, mein Taschengeld für den Monat, das alles Bargeld darstellt, das ich besitze – ohne Geldbeutel, der mir ja erst kürzlich abhanden gekommen ist – eine dünne und eine dicke Jacke, wenn es nachts kälter werden sollte, eine frische Hose und drei T-Shirts, Unterwäsche und mein Handy.
Das ist alles.
Damit muss ich auskommen, doch ich weiß, dass ich das tun werde.
„Wohin willst du?“, fragt Nele mich, als ich mich an ihr vorbeidrücke und aus dem Schrank einen Schal, eine Mütze und ein paar Handschuhe hole. Wer weiß, wie lange ich weg sein werde. Wer weiß, wann der Winter kommt. „Weg“, sage ich. „Nur weg.“ Nele rennt an mir vorbei in ihr Zimmer und kommt nur mit ihrem Geldbeutel, einer Hose und einem T-Shirt zurück. Sie schmeißt beides in meine Sporttasche, dich ich abgestellt habe um mir die Schuhe anzuziehen. „Was machst du denn da?“, frage ich sie perplex. „Ich komme mit“, sagt meine Schwester und schlüpft in ihre Schuhe. Sie bindet sich ihre Sommerjacke um die Hüften. Ich mache keine Anstalten, sie aufzuhalten. Sie ist ein freier Mensch. Soll sie mitkommen. Jetzt habe ich auch eine Lösung für Jeafree und Conny. „Lauf zur Bushaltestelle“, sage ich zu Nele und rücke ihr die Tasche in die Hand. „Pass auf, dass dich niemand sieht und schreib Julian eine SMS, dass wir kommen. Sag ihm, er muss sich mit uns treffen, wir brauchen seine Hilfe.“
Ich klingle erst bei Conny. Seine Mutter öffnet mir die Tür. „Hallo. Ist Conny da?“, frage ich sie. „Ja, aber er kann leider nicht rauskommen, er ist krank.“ Wenigstens das hatte er geschafft. „Es wird nur ganz kurz dauern, ich muss nur mit ihm reden. Wegen Julian.“ Widerwillig ruft Connys Mutter ihren Sohn nach unten. Sie bleibt in der Tür stehen und geht erst, als sie meinen auffordernden Blick bemerkt.
Ich erkläre Conny, dass Nele und ich zu Julian gehen und er mitkommen kann, wenn er dem Stress wegen den Drogen und den Typen in der Schule erst einmal entkommen will. Ich würde auch Jeafree mitnehmen. Er würde ganz bestimmt mitkommen.
Conny zögert, doch ich weiß, dass er mir zustimmen wird, und wenn wir erst einmal für ein paar Tage Ruhe und keine Angst mehr haben müssen, dann werden wir eine Lösung finden. Dann werden die Junges mit der Sprache herausrücken.
„In zwanzig Minuten fährt unser Bus. Pack deine Sachen und sei rechtzeitig an der Bushaltestelle“, sage ich. Ich weiß, dass ich ihn gepackt habe. Conny will Julian wiedersehen und er will keinen Stress mehr wegen der Tabletten haben. Außerdem hat er Angst, das sehe ich ihm an. Vor den Leuten, vor denen Julian auch Angst hat? Sind das wirklich Typen, vor denen man sich so sehr fürchten muss, dass man sein Zuhause verlässt? Ich sehe ihn an. Ja, es sind solche Typen. Conny ist bereit, alles hinter sich zu lassen, um ihnen zu entkommen. „Wie soll ich hier rauskommen?“, fragt Conny mich. Da kann ich ihm nicht helfen. „Das musst du dir überlegen.“ Ich drehe mich um und weiß, dass Conny kommen wird.
Jeafree öffnet mir die Tür. Ich brauche keine zwei Minuten, um ihm meinen Vorschlag zu unterbreiten. Er ist ganz heiß darauf, seinen Bruder wiederzusehen. Da seine Eltern nicht da sind, kommt er sofort mit mir.
Als Jeafree und ich aus der Straße fliehen wollen, sehe ich Jordana mit einer Freundin und weiß nicht, dass unser Abhauen erst der Anfang der Geschichte sein wird.
Als wir an der Bushaltestelle ankommen, wartet Nele auf uns. „Franka, du …“ Sie stockt. „Du kannst unmöglich Jeafree mitnehmen“, zischt sie mich wütend an. Ich weiß, sie glaubt, mich vor einem Fehler bewahren zu müssen, doch sie kennt das Ausmaß der Geschichte nicht. Ich habe ihr nichts erzählt. „Nele, du hast keine Ahnung, was hier vor sich geht“, sage ich. „Er geht freiwillig mit und Conny wird auch kommen.“ Nele ist sprachlos. „Erzähl ihr von den Tabletten und warum Julian weggelaufen ist“, fordere ich Jeafree auf. Er druckst herum und windet sich, aber schließlich gibt er nach und redet. Nele wird immer blasser. Ihre Gesichtsfarbe erreicht ihren Tiefpunkt als Conny um die Ecke kommt und nicht allein ist. Jette begleitet ihn. „Oh nein, so haben wir nicht gewettet“, sage ich zu ihm. „Du, Jette, gehst schön wieder nach Hause.“ Conny blickt mich schuldbewusst an. „Jette hat mich erpresst. Sie hat mich erwischt, als ich meine Sachen gepackt habe und gedroht, mich auffliegen zu lassen, wenn ich sie nicht mitnehme.“
„Und das werde ich immer noch tun“, erklärt Jette uns allen siegessicher.
Wir haben keine Wahl. Von mir aus soll sie mitkommen. Besser, als wenn sie allein unterwegs ist. Und da ich Jette kenne, weiß ich, dass sie uns folgen wird.
Wenige Minuten später hält der Bus und ich entspanne mich, als ich drinnen sitze. Ganz im Gegensatz zu Nele, die ihre Füße nicht stillhalten kann. „Hör doch auf“, zische ich. Unsere Mitreisenden schauen schon und die werden sich später sich an fünf Kinder mit Reisetaschen erinnern, die die ganze Zeit nervös mit den Beinen gehampelt haben.
Nele wird er noch blasser, dann rot und ist schließlich still. Jeafree stupst mich von hinten an. „Glaubst du, wir werden Julian wirklich finden?“, fragt er mich leise. „Ich bin mir ganz sicher“, sage ich. Er wird uns nicht einfach stehen lassen, wenn er weiß, dass wir seine Hilfe brauchen.
„Ich muss dir was erzählen“, sagt Jeafree leise und sieht sich um. Ich lehne mich zurück, sodass mein Gesicht direkt neben seinem ist, das er zwischen den Lehnen der Sitze zu mir nach vorne gestreckt hat. „Was?“, frage ich genauso leise. „Der Typ, vor dem Julian Angst hat … Der hat ihm welche von den Drogen abgekauft und sie als Druckmittel gegen ihn verwendet. Er hat gesagt, er geht zur Schulleitung und sorgt dafür, dass wir alle von der Schule fliegen. Er wollte Geld von Julian, Schutzgeld sozusagen.“ Ich höre ihm zu und bin froh, dass er so leise redet, dass die anderen Fahrgäste es nicht hören können.
„Julian konnte nicht mehr. Er konnte nur noch weglaufen, um ihm zu entkommen.“ Jeafree versucht, seinen Bruder in Schutz zu nehmen, sein Handeln zu rechtfertigen. Dann lehnt er sich weiter zu mir vor und in seiner Stimme schwingt etwas Besorgnis mit. „Ein paar Leute in der Schule haben gesehen, dass du Fragen gestellt hast.“ Seine Stimme ist nur ein wispern, ich kann seine Worte nur erahnen. „Der Typ kennt deinen Namen. Ich glaube, du hast dich in Gefahr gebracht.“
„Wie heißt er?“, will ich wissen. Jeafree windet sich. „Sag es mir“, fordere ich ihn leise auf.
Der Bus hält an der Haltestelle und wir müssen aussteigen. Auch dieses Mal ist Jeafree mir eine Antwort schuldig geblieben. Aber er wird einsehen, dass wir nur zurückkönnen, wenn wir dieses Problem gelöst haben. Vielleicht habe ich mit meinen Fragen alles nur noch schlimmer gemacht, vielleicht habe ich uns alle da in eine Nummer mit hineingezogen, die viel zu groß für uns ist und wahrscheinlich brauchen wir Hilfe, doch die werden wir hier ganz sicher nicht bekommen. Wenn wir zurückgehen, dann werden uns unsere Eltern erst einmal eine Standpauke halten und bis diese den Ernst der Lage begriffen haben, kann Julian schon sonst was zugestoßen sein.
Und wenn der Typ weiß, wer ich bin, dann weiß er auch, wo ich wohne. Und wo meine Geschwister wohnen …
Wir steigen in der Stadtmitte aus. Julian hat auf Neles SMS noch nicht geantwortet. Wir setzen uns in einen Starbucks und trinken etwas. Ich sage ihnen, sie sollen hier auf mich warten und renne zur nächsten Bank. Damit meine Eltern nicht nachverfolgen können, was ich wann und wo ausgegeben habe, hebe ich mein gesamtes Geld von meinem Konto ab. Als ich es in den Händen halte, weiß ich, dass unser Plan nicht aussichtslos ist.
Als ich wieder im Starbucks ankomme und mich zu meinen Geschwistern setze, zählen wir unser Geld. Jeder hat auf meine Anweisungen so viel mitgenommen, wie er hatte. Ich bringe mit meinem Ersparten fast auf den Cent genau dreihundert Euro mit. Nele verabschiedet sich auch und verschwindet auf der Bank. Sie kommt mit zweihundertfünfunddreißig Euro zurück, zusätzlich hat sie fünfundvierzig Euro bar dabei.
Mann, wir könnten uns damit sogar eine Busreise in eine andere Stadt leisten. Ich halte diese Idee für nicht völlig abwegig. Hier sucht man uns und Conny wird unter anderem immer noch wegen einer Drogengeschichte gesucht, und welches Schicksal Julian und Jeafree nach einem Fluchtversuch auf ihrer Schule droht, will ich mir gar nicht ausmalen.
Solange wir hier bleiben sind wir in Gefahr.
Ich rechne: „Nele und ich haben zusammen…Fünf … Fünfhundertachtzig Euro.“ Conny, Jette und Jeafree legen ihre Ersparnisse auf den Tisch. Diese Ausbeute fällt eher mager aus. Conny bringt 37,50€ mit, Jeafree 44,65€ und Jette gerade mal 14 €.
Ich hab keine Ahnung, ob Julian Geld besitzt. Wenn, dann ist es vermutlich schon aufgebraucht. „Was werden wir jetzt tun?“, fragt Conny mich. „Als erstes Julian finden. Und dann … Dann mal schauen.“ Wir haben zusammen nicht einmal 700 €. Kommen wir damit zu sechs raus aus der Stadt, so weit weg wie möglich und können dort auch noch überleben?
Wir zahlen und gehen. Wir haben den Starbucks gerade verlassen, als ich meinen Augen nicht traue. Jordana und Pavle stehen im Getümmel. „Hast du gepetzt?“, frage ich Conny. Conny schüttelt entsetzt den Kopf. „Niemals. Ich hätte euch doch niemals verpfiffen.“
„Und was machen wir jetzt?“, will Nele aufgebracht wissen. Die beiden haben uns gesehen und kommen auf uns zu. „Was macht ihr hier?“, frage ich sie. „Was habt ihr in euren Taschen?“, fragt Pavle zurück. „Was geht dich das an?“, entgegnet Nele ungehalten. „Wir gehen weiter. Und ihr geht nach Hause“, befehle ich Jordana und Pavle. „Sagt niemandem, dass ihr uns hier gesehen habt.“ Die beiden schauen sich an. „Ihr sucht Julian, oder?“, fragt Pavle mich herausfordernd. Ich bleibe stehen. „Wie kommst du drauf?“, frage ich zurück, ohne ihn anzusehen. „Vielleicht kann ich euch helfen“, meint der Junge. Ich drehe mich zu ihm um und mustere ihn, um herauszufinden, was er vorhat. „Wie willst du uns helfen?“ Pavle grinst provozierend. „Ich weiß, wo er ist.“ Ich weiß, dass er diese Information nicht verschenkt. „Was willst du?“, frage ich ihn. Pavles Grinsen, das er aufgesetzt hat, verschwindet und wird bittend. Seine Stimme ist fast flehend. „Ihr nehmt uns mit. Egal, wohin ihr geht, ihr nehmt uns mit.“
„Kommt gar nicht in Frage.“, sagt Nele.
„Dann werdet ihr Julian nie finden.“ Pavle zieht mich am Ärmel meines T-Shirts näher, bis mein Ohr auf seiner Höhe ist. „Du warst nicht in der Schule, daher kannst du es nicht wissen. Aber da war so ein Mann. Er hat mich nach der Schule abgefangen und Fragen gestellt. Über dich. Er wusste irgendwo her, wer ich bin“, sagt er leise. Mein Blick wandert zu Jeafree und dieser nickt. „Hat er dir seinen Namen gesagt?“, frage ich ihn. Pavle schüttelt den Kopf. „Er hat gesagt, ich soll dir nicht sagen, dass er nach dir gefragt hat. Ich würde es bereuen.“
„Woher willst du wissen, wo Julian ist?“, frage ich nach einer Pause. Pavles Unsicherheit verschwindet und er lächelt wieder. „Er hat sich bei mir gemeldet. Ich hab ihm eine SMS geschickt.“ Das haut mich um. Er meldet sich weder bei mir, noch bei Nele, Jeafree oder seiner Mutter, aber bei Pavle? „Ich glaub dir kein Wort“, sage ich. Pavle zeigt mir ohne zu zögern die SMS. Jetzt bin ich wirklich baff.
„Da steht nicht, wo er ist.“ Es klingt nicht wie eine Aussage, eher, wie eine Frage. „Wir haben telefoniert“, ist Pavles Antwort.
Glaube ich ihm das? Es ist meine einzige Chance, also tue ich es. „Wenn du versuchst, uns zu für dumm zu verkaufen, wir dir das leidtun“, drohe ich ihm, doch er lacht mich nur aus. „Ich habe in den letzten Tagen ganz andere Drohungen gehört“, behauptet er schulterzuckend und dann zeigt er uns den Weg.
Es dauert, bis Pavle stehen bleibt. Wir befinden uns vor einem großen Gebäude, das schon von außen so verramscht aussieht, wie Nicks Wohnung. Im Inneren sieht es jedoch viel schlimmer aus. Ich stolpere über leere Dosen, ein Gestank schlägt mir entgegen, von dem ich gar nicht wissen will, woher er stammt.
„Sag mir bitte nicht, dass Julian wirklich hier ist.“ Jeafree ist so bleich, dass ich Angst habe, dass er sich jeden Moment übergibt. „Mir ist schlecht“, murmelt er jetzt auch noch. „Wartet draußen“, sage ich zu ihm und schicke ihn mit Conny, Jette und Jordana vor die Tür.
Wir öffnen eine Tür mit der Nummer 15. Ich habe keine Ahnung, was die Nummern zu bedeuten haben, sie sind mit einem dicken, schwarzen Edding auf das Holz gemalt. Pavle wartet und ich gehe vor. „Julian?“, rufe ich. Keine Antwort. Es riecht nach Zigarettenrauch und ein süßlicher Geruch liegt in der Luft, den ich nicht zuordnen kann. Auch hier stinkt es bestialisch. Als ich durch das Zimmer laufe, das ein improvisiertes Wohnzimmer darstellen soll, steigt mir auch noch ein beißender, saurer Geruch in die Nase. Der Geruch von Erbrochenem. Ich stoße eine Tür auf und befinde mich in einem Badezimmer.
Julian sitzt auf dem Boden und kotzt vor sich hin. „Scheiße!“, fluche ich. Pavle übergibt sich hinter mir auf den Wohnzimmerboden. Ich packe Julian und habe ihn hoch. Er kotzt mir aufs T-Shirt. „Julian, was machst du hier?!“
„Hey, Franka.“ Er sieht grinst selig und kotzt nochmal. Diesmal mache ich einen Sprung zurück. „Steh auf“, sage ich und ziehe ihn hoch. Er ist total high. „Schau in den Spiegel, verdammt. Das ist ekelhaft. Was ist nur aus dir geworden?“ Julian grinst sein Spiegelbild an. „Ist doch ganz normal“, meint er und grinst wieder. Ich schalte die Dusche an und schubse ihn samt Klamotten drunter. Als er etwas sauberer ist, ziehe ich ihn raus und wickle ihn in ein Handtuch, das auf der Heizung liegt.
Dann holt Nele ihm ein frisches T-Shirt aus meiner Tasche und er zieht sich um. Kurz darauf übergibt er sich nochmal, doch diesmal schaffe ich es, ihn kurz vorher noch über die Badewanne zu halten. „Mir ist schlecht“, murmelt er. „Was hast du genommen?“, frage ich. „Nur ein bisschen geraucht …“, wehrt Julian sich schwach. Ich frage nicht weiter nach, sondern helfe ihm auf. So kann ich ihn nicht mit auf die Straße nehmen. „Hör zu, Julian, unten vor der Tür wartet dein Bruder, Conny, Jette und Jordana. Wir hauen ab. Wir verlassen die Stadt.“
Julian sieht uns verständnislos an.
„Dann müsst ihr keine Angst mehr haben. Wegen der Drogengeschichte. Und dem Typen in der Schule. Ich weiß, dass Conny die Tabletten von dir gekauft hat. Er hat es zugegeben.“ Julian sieht mich mit leerem Blick an. „Ich habe nach dir gesucht und der Kerl weiß, dass ich Fragen gestellt habe. Er hat sogar Pavle bedroht. Wenn wir zurückgehen, sind wir alle in Gefahr.“
„Ich wollte das nicht“, winselt Julian nach einer Pause und beginnt zu schluchzen. „Ich wollte euch alle nicht in Gefahr bringen …“
„Hey …“ Ich drücke ihn tröstend an mich und er schluchzt in mein T-Shirt. „Ist schon gut. Ich bin jetzt hier. Ich passe auf euch auf. Wir verschwinden von hier.“
„Und dann können wir alle zusammen bleiben?“, fragt Julian mich und schaut zu mir hoch. Ich führe ihn zum Sofa. „Klar, dann bleiben wir alle zusammen.“ Ich setze ihn ab. Er muss erst einmal schlafen und dann gehen wir.
Ich prüfe, ob die Fenster verriegelt sind und frage Julian, ob es einen Schlüssel zu der Tür gibt. Er hat entweder keine Ahnung oder es gibt keinen. Dann wird mein Plan, Julian einzuschließen, nicht funktionieren. Wir müssen abwechselnd Wache halten, bis Julian ausgeschlafen hat. Das könnte sich als kompliziert herausstellen, denn bestimmt suchen unsere Eltern bereits nach uns. Und damit wir auch weiterhin nicht auffliegen, muss ich dringend ein paar Sachen besorgen.
Ich bitte Nele, auf Pavle und Julian aufzupassen. Dann verlasse ich die Wohnung. Draußen treffe ich den Rest an. „Hört zu, unser Plan sieht folgendermaßen aus: Wir hauen ab. Raus aus der Stadt. Wer nicht mitkommen will, fährt am besten mit dem nächsten Bus nach Hause. Aber ich gehe ganz sicher und ich werde jeden mitnehmen, der mit mir kommen möchte.“
Alle hören mir zu. Jordana sieht unglücklich aus, doch sie will bei mir bleiben, das wollte sie schon immer. Es tut mir weh, sie so zerrissen zu sehen. Sie ist erst acht. Sie braucht ihre Mum und ihren Dad. Sie sollte sich nicht entscheiden müssen, ob sie bei mir oder bei ihnen bleibt. Aber sie will bei ihrem Bruder bleiben, und bei uns.
Ich sage ihnen, sie können bis heute Abend tun oder lassen, was sie wollen, sollen aber um Punkt sechs wieder hier sein. Jordana, Pavle und Jette sollen nicht allein sein und die drei beschließen, eine Einheit zu bilden und sich etwas umzusehen.
Ich gehe in den nächsten Drogeriemarkt und kaufe eine Schere und Haarfärbemittel. Meine Haare habe ich zusammengebunden und unter der Mütze versteckt, die ich trotz der Hitze angezogen habe. Dann kaufe ich noch ein paar Sonnenbrillen.
Mit einer großen Tüte bewaffnet gehe ich zurück, lade das Zeug ab und verschwinde noch einmal. Ich gehe zum Bahnhof und schaue nach einem Bus. Einem Fernbus, der uns weit, weit weg bringt. Berlin … Das hört sich doch gut an. Und das für nur 70€ pro Person. Heute Abend um acht fährt er. Ich kaufe acht Tickets. Jetzt sind noch knapp hundert Euro übrig. Ob das reicht?
Um sechs sind alle versammelt. Meine Haare habe ich bereits geschnitten und etwas dunkler gefärbt, außerdem blaue und grüne Strähnen rein gemacht. Es sieht nicht schlecht aus. Niemand wird mich erkennen.
Dann mache ich mich an die anderen. Nele färbt sich ihre Haare schwarz und schneidet sie kinnlang. Julian versucht es mit einer rötlichen Tönung, die seine Haarfarbe letzten Endes nur um ein paar Nuancen aufhellt. An den Seiten rasiert er sich die Haare fast vollständig ab. Es sieht etwas komisch aus, aber es muss ja auch nicht perfekt sein. Pavle verpasst er dieselbe Frisur. „Die Haare musst du ihm auf jeden Fall färben“, meint Conny. „Mit den roten Haaren fällt er überall auf.“ Pavle mit braunen Haaren zu sehen sieht grauenhaft aus. Aber niemand wird ihn erkennen. An Jordanas und Jettes Haare wage ich mich nur mit der Schere ran. Jordana will ihr helles Blond behalten und wenn ich Jette die Haare schulterlang schneide und durchstufe wird das reichen.
Conny schneidet sich die Haare kürzer und färbt sie grün. Nicht unbedingt das, was ich mir unter unauffällig vorgestellt habe, aber wenigstens etwas anderes. Jeafree tönt sich die Haare dunkler, schneidet sie jedoch nicht. Wir sehen alle verändert aus. Jette und Jordana wird man am ehesten erkennen, deshalb setze ich ihnen die Sonnenbrillen auf.
Wir verlassen das Haus um zehn nach sieben. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich mit uns zufrieden bin, oder nicht. Ich habe das Gefühl, wir müssten jedem sofort auffallen, doch in einer Großstadt laufen viel komischere Vögel herum, als wir. Wir kommen um halb acht bei den Bussen an und ich sage Jordana, Jette, und Pavle, sie sollen einsteigen. Julian, Nele und ich verpacken das Gepäck und reden mit dem Busfahrer.
Durchs Fenster sehe ich Pavle am Handy spielen. Er ist immer noch darauf konzentriert, Julians Highscore in diesem seltsamen Spiel zu knacken. Julian ist sein Vorbild. Kein Wunder, dass Julian mit ihm telefoniert hat. Jeafree und Conny fragen, ob sie noch helfen können und ich sage, sie sollen einsteigen. Nele geht mit ihnen in den Bus.
„Hältst du das wirklich für eine gute Idee, Franka?“, fragt Julian mich leise. „Was für eine Wahl haben wir? Wenn wir hier bleiben, müssen wir wieder in die Schule und dann gibt es Stress. Du, Jeafree und Conny, ihr werdet richtig Ärger mit den Drogentypen dort an der Schule bekommen und auf Conny wartet noch ein größerer Stress. Und ich komme wahrscheinlich ins Heim wegen Kindesentführung.“ Ich lache leise.
„Wir müssen hier raus. Raus aus der Stadt und ein neues Leben beginnen. Wir gehören zusammen.“ Ich schaue in den Bus. Nele lehnt mit dem Kopf an der kühlen Glasscheibe, Jordana sitzt neben ihr und hat den Kopf auf ihren Schoß gelegt. Jeafree und Conny belegen zwei Plätze und albern herum. Sie sind so glücklich. Das darf niemand zerstören. Das kann ich nicht zulassen. Pavle und Jette sitzen nebeneinander, Jette sieht aus dem Fenster, Pavle spielt am Handy. „Niemand kann uns davon abhalten“, füge ich hinzu. „Schau sie dir mal an.“ Julian und ich drehen uns zu unseren kleinen Geschwistern um. Sie wirken glücklich. Ich bemerke die beiden Polizisten nicht, die sich uns von dem Parkplatz in unserem Rücken aus nähern. Ich sehe, dass Pavles Augen aufleuchten, er springt auf und rennt aus dem Bus, das Handy in der Hand.
„Oh Mann, ich hab‘s geschafft! Julian!“, schreit er und springt die Treppe im Bus herunter. Pavle grinst bis über beide Ohren, als er auf uns zustürmt. „Ich hab den Highscore geknackt! Julian!“ Wenn die Polizisten seinen Namen beim ersten Mal überhört haben, so haben sie es doch nicht beim zweiten Mal getan. „Hey!“, ruft einer der beiden und erst jetzt bemerke ich ihn. Sie rennen auf uns zu und ich bin mir sicher, dass sie ganz genau wissen, wer wir sind. Es gibt wohl kaum so viele Kinder, die von ihren Eltern gesucht werden und sich dazu noch so seltsam verkleidet haben.
Ich drehe mich zu unseren Geschwistern um. Nele sieht uns durch die Scheibe des Fensters. Sie beobachtet uns, unfähig sich zu bewegen, vielleicht hofft sie auch, dass sie und die anderen Kinder im Bus übersehen werden, obwohl die Polizisten die Abfahrt des Reisebusses sicher verhindern werden, wenn sie uns erst einmal haben. Unser Plan ist gescheitert. Wir waren so nah dran und jetzt wurden wir gefunden.
Wie in Zeitlupe drehe ich mich wieder zu Julian und den Polizisten um. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Pavle vor Schreck das Handy aus der Hand fällt und auf das Display dem harten Asphalt zerschellt. „Stehen bleiben!“, sagt der Polizist. Ich sehe Julian, der mit seiner Hand in seinen Hosenbund greift. Ich verstehe nicht, was er da tut, aas hat er vor? Als er seine Hand wieder hervorzieht, sehe ich, was er in seinem Hosenbund unter der Jacke versteckt gehalten hat. Meine Augen brauchen einige Sekunden, bis ich erkenne, dass es eine Waffe ist.
Hat er die etwa von Nick?
„Weg mit der Pistole“, fordert einer der Polizisten ihn auf. Sie legen jetzt ebenfalls die Hände an ihre Waffen, wagen jedoch nicht, sie zu ziehen. Julian hat die Mündung der Pistole noch auf den Boden gerichtet, doch er ist bereit, sie zu benutzen, wenn es sein muss. Ich schüttle den Kopf. Das kann doch nicht sein ernst sein.
„Julian“, flüstere ich eindringlich. Ich zittere am ganzen Körper und stelle mich vor ihn, damit er nicht auf die Idee kommt, tatsächlich zu schießen. Was geht in ihm vor, dass er denkt, er könnte damit Erfolg haben?
„Julian, schmeiß das Ding weg. Mach das nicht.“ Ich werde lauter, das kann er nicht tun, das darf er nicht tun. Wir haben keine Chance mehr, wir können nur darauf setzen, dass uns jetzt jemand glaubt und uns helfen kann.
„Wir waren so nah dran, Franka. So nah dran“, flüstert er. Pavle steht regungslos hinter uns, er ist nicht in der Schussbahn, aber wenn ein Schuss fällt, ist er trotzdem in Gefahr. „Julian, denk an Pavle! Denk an Pavle. Er braucht dich. Wir alle brauchen dich! Mach jetzt keinen Fehler!“ Ich schreie Julian an, doch er hört mir nicht zu. „Weg mit der Waffe!“, wiederholt der Polizist drohend. Will Julian einfach nicht verstehen, in welche Gefahr er uns bringt? Wenn wir jetzt aufgeben, dann können wir vielleicht noch zurück nach Hause, dann wird man uns fragen, warum wir weggelaufen sind und vielleicht wird man uns sogar glauben. Aber wenn er abdrückt, dann hält man uns nur für eine Bande völlig verrückter und psychisch gestörter Kinder, die versucht haben, sich vor ihrer Verantwortung zu drücken und dabei auch nicht davor zurückschrecken, andere Minderjährige in ihren Plan hineinzuziehen.
„Was haben wir davon, wenn du jetzt schießt, Julian?“, schreie ich ihn an, als ich merke, dass er nicht so denkt, wie ich. Meine Augen füllen sich mit Tränen. „Wir waren so nah dran“, wiederholt Julian. „Ja, so nah dran waren wir, Julian, aber wir haben es nicht geschafft. Wir haben es nicht geschafft.“ Aber wir waren so nah dran … Ich greife sanft nach der Pistole in seiner Hand, doch er wehrt mich mit der freien Hand ab. Dann sieht er mich lange und eindringlich an, doch ich weiß, dass das nicht Julian ist. Eigentlich ist Julian viel zu schlau, um das hier jetzt wirklich durchzuziehen. Er kann nicht glauben, dass wir damit durchkommen, das muss an den Drogen liegen. Er weiß nicht, was er da gerade tut.
„Ich lass nicht zu, dass sie uns alles wegnehmen. Was wird denn aus uns, wenn wir jetzt zurück müssen? Der Typ bringt uns doch alle um.“ Julian reißt verzweifelt die Waffe nach oben, schießt jedoch nicht, er zielt auch nicht, nicht wirklich.
„Die werden Jeafree und mich umbringen in der Schule, weil wir geplaudert haben. Mit dem Typen ist nicht zu spaßen. Und Conny bekommt Stress wegen den Drogen. Und unsere Eltern werden dich wegen Kindesentführung anzeigen. Sie werden uns trennen, Franka, und wir werden uns nie wieder sehen. Niemand von uns. Du hast gesagt, wir bleiben für immer zusammen, aber das werden wir dann nicht. Das lass ich nicht zu!“
Julian schreit mich jetzt an, dann macht er einen Schritt nach vorne an mir vorbei. Und dann drückt er ab. Er zielt zu unsicher, sodass er nicht trifft, ich weiß nicht einmal, was und ob er wirklich treffen wollte. Doch kaum ertönt der Schuss greifen die Polizisten nach ihrer eigenen Waffe und feuern zurück. Ich reiße Julians Hand nach unten, damit er nicht weiterschießen kann, trete vor ihn, um ihn vor den Kugeln zu schützen. Ich höre meine Schwester schreien, Pavle schreit und um uns herum fliegen die Kugeln. Ich hoffe nur, dass weder Pavle noch Julian eine abbekommen. An mich selbst denke ich nicht.
Eine der Kugeln streift mich am Arm, als ich Julians Arm nach unten drücke. Der Schmerz ist stark und intensiv, doch er geht in einer zweiten Schmerzwelle unter, deren Ursache ich nicht ganz zuordnen kann. Eine zweite Kugel muss mich getroffen haben, doch wo, das kann ich nicht sagen. Ich fühle, dass meine Beine nachgeben, ich stürze, Neles Schrei mischt sich mit Julians. „Neeeeiiin! Nein! Nein, nein!!!“
Nele stürzt aus dem Bus, gefolgt von Jeafree, Conny, Jette und Jordana. Ich will, dass Jordana, Jette und Pavle verschwinden, weggebeamt werden, einfach verschwinden. Und Jeafree und Conny auch. Sie dürfen nicht hier sein, nicht jetzt. Sie müssen raus aus der Gefahrenzone.
Ich schlage mit dem Kopf auf den harten Asphaltboden. Einen Moment lang ist es still. Julians Pistole fällt mit einem metallischen Klirren direkt neben mir zu Boden, als er sie loslässt. Pavle schlägt die Hände vors Gesicht und Julian kniet sich neben mich. Ich starre in den Himmel, sehe verschwommen Julians Gesicht, die Wolken … Dann nichts mehr …
Ich komme im Krankenhaus zu mir. Nur mein Vater und Nele sind bei mir. Es dauert, bis ich sie überhaupt erkenne und noch länger, bis ich sprechen kann. „Wo … Wo sind … Die anderen …?“
„Du hast ganz großen Mist gebaut, junges Fräulein“, sagt mein Vater tadelnd, statt mir zu antworten. „Papa“, sagt Nele vorwurfsvoll und wendet sich an mich. Ich seufze, doch eigentlich ist mir gerade egal, was mein Vater denkt. Ich will ja nur, dass es meinen Geschwistern gut geht. „Du weißt nicht, was alles passiert ist. Du hast keine Ahnung, in was für einer Gefahr wir wirklich waren. Ich wollte nur, dass wir zusammenbleiben können. Wir sind doch Geschwister …“, rechtfertige ich mich schwach.
„Den anderen geht es gut“, beantwortet Nele meine Frage von vorhin, ohne auf meine Erklärung einzugehen. Doch ich weiß, dass das nicht reicht. Ich will nicht nur, dass sie irgendwo sitzen und unverletzt sind. Ich will, das Julian endlich die Wahrheit sagt, dass Conny und Jeafree seine Aussage bestätigen und dass die Polizei ihnen glaubt und uns alle nicht einfach für einen Haufen missratener Gören hält, die versucht haben ohne jeglichen Grund, auszureißen, denn kaum jemand hatte jemals mehr Grund dafür, als wir. Nele weiß auch, dass ich genau das hören will.
„Julian hat ausgepackt“, sagt sie schließlich nach einer kurzen Pause, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. „Seine Aussage deckt sich genau mit der von Jeafree und Conny. Sie glauben ihnen und haben sogar Pavle dazu verhört. Auch andere Leute aus der Schule haben ausgesagt und sie haben den Kerl identifiziert, der uns allen so einen Stress gemacht hat.“ Ich bin froh und seufze erleichtert auf. Was sonst noch so kommt, ist egal. Wichtig ist, dass sie in Sicherheit sind und man uns glaubt. Mehr brauche ich nicht. Mehr habe ich nie gewollt.
Wir sind wieder alle zusammen. Wir sind draußen auf der Straße, wie immer. Conny hat einen Ball mitgebracht. Julian wirft ihn in die Höhe. „Der ist für Franka!“, schreit er und schießt den Ball so hoch er kann. Ich renne los, Conny rennt los und auch Jette rennt los. Wir erreichen den Punkt, an dem der Ball auf den Asphalt prallt, gleichzeitig, doch niemand ist in der Lage, den Ball festzuhalten, bevor er wieder in den Himmel steigt und außerhalb unserer Reichweite ist. Als der Ball sich unseren Händen wieder nähert springen wir hoch und erwischen den Ball gleichzeitig.
Jeder reißt daran, um ihn für sich zu beanspruchen. Jette lässt los und stolpert. Julian fängt sie auf und wir lachen. Wir haben eine Menge durchgestanden, aber letzten Endes konnten wir zusammenbleiben. Wir können weiterhin wie Geschwister leben und zusammen glücklich sein. In der Konstellation, in der es uns als einzige möglich ist, glücklich zu sein.
Nachdem Julian endlich die Wahrheit erzählt hat, ist natürlich eine Menge Ärger auf uns zugekommen, doch Angst davor hatten wir nicht. Julian sollte eigentlich von der Schule fliegen, was natürlich schrecklich für ihn war, so kurz vor seinem Schulabschluss, doch irgendwie haben seine Eltern es geschafft, die Schulleitung davon zu überzeugen, dass Julian aus Angst gehandelt hat. Ein unangenehmer Gerichtsprozess wegen Drogenhandels kommt dennoch auf ihn zu und auch auf Conny, der leider schon vierzehn und damit strafmündig ist.
Natürlich hätten mich die Eltern meiner Geschwister wegen Entziehung Minderjähriger anzeigen können, doch ich habe nie wirklich damit gerechnet, dass sie es tun würden. Und sie haben es auch nicht getan. Ich glaube, in diesem einen Punkt konnte jeder, der uns einmal zusammen gesehen hatte, nachvollziehen, dass wir lieber zusammen auf der Flucht waren, als getrennt voneinander zu leben.
Julian schaut mich an und grinst, ich lächle zurück. Er hebt Jette hoch und ich werfe ihr den Ball zu. Wir drehen uns um, als wir hören, dass ein Neuankömmling hinzukommt. Robin ruft uns und läuft auf uns zu. Jeafree hebt ihn hoch und grinst ihn breit an, als Robin ihm auf die Nase stupst. Sabine folgt ihrem älteren Sohn mit seinem kleinen Bruder Jona auf dem Arm. Sie setzt Jona bei uns auf der Straße ab und dieser bleibt auf seinen kleinen, wackeligen Beinen stehen. Ich strecke ihm die Arme entgegen. „Komm her, mein Kleiner!“, rufe ich auffordernd, als er mich breit anlächelt. „Fan-ka!“, ruft Jona und tapst auf mich zu. Er taumelt und fällt in meine Arme. „Fan-ka!“
„Franka“, verbessere ich ihn und lache.
„Fran-ka“, quietscht mein jüngster Bruder und freut sich.
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist für die neun ganz besonderen Menschen, die mit mir durch dick und dünn gehen.
Dieses Buch ist Preisträger beim Schreibwettbewerb meiner Schule im Jahr 2014