Es dämmerte noch nicht ganz, als Roderick das Haus verließ. Sein Bogen steckte noch in dem ledernen Futteral, die Sehne war noch nicht gespannt, doch auf dem Rücken trug er nebst einem großen Lederbeutel bereits den Köcher mit den Pfeilen. Dass das Tragen einer Waffe im inneren der Stadtmauern von Lacock nicht gestattet war, ignorierte Roderick – hier stellte sich ihm niemand in den Weg. Immerhin hatte der den Bogen noch nicht gespannt, um den Wachen nicht zu übel aufzustoßen. Er grüßte sie kurz mit einem Nicken und wartete ihre Reaktion nicht ab. Er durchschritt das Tor und sah sich kurz um.
Es war noch immer dunkel, doch bald würde der Marktbetrieb losgehen. Roderick beeilte sich, die Stadt und die Straße hinter sich zu lassen und schlug sich eine halbe Meile entfernt in die Büsche, wo er seinem gewohnten Trampelpfad folgte und sich auf einer kleinen Lichtung niederließ. Er packte seinen Bogen aus und spannte die Sehne. Probeweise legte er einen glatten langen Pfeil ein und zielte. „Was machst du da?“, fragte ihn jemand. Roderick drehte sich blitzschnell um und zielte auf den Jemand, der ihn angesprochen hatte. Der Junge vor ihm zuckte reflexartig zurück.
„Ich bin‘s!“, schrie er und warf sich zu Boden. Roderick lachte. „Du tust so, als hätte ich dich wirklich nicht erkannt!“ Er packte den Pfeil wieder weg und stand noch immer schelmisch lächelnd auf.
„Nicht witzig“, entgegnete Jolyon, der Roderick jetzt mürrisch betrachtete. „Du kannst einem den ganzen Tag verleiden!“
„Verleiden?“, wollte Roderick noch immer lachend wissen. „Du jagst mir schon so früh am Morgen einen gewaltigen Schrecken ein.“ Jolyon rieb sich müde über die Augen. Er schien noch immer gekränkt, doch Roderick lachte nur.
„Ich weiß, dass du kein Frühaufsteher bist, aber gegen ein ordentliches Frühstück hast du wohl nichts einzuwenden?“, fragte er Jolyon. Jolyons Miene hellte sich etwas auf und die beiden jungen Männer setzten sich ins Gras, wo Roderick aus dem Beutel von seinem Rücken einen großen Laib Brot holte und ihn in der Mitte entzweibrach. Dann reichte er Jolyon, der bereits kaute, ein Stück Käse und trank selbst einen großen Schluck aus einer Flasche, die er bei sich hatte. Schweigend verspeisten die beiden ihr Frühstück und als sie fertig waren blitzten bereits die ersten Sonnenstrahlen durchs Laub. Es war ein schöner Tag im Hochsommer, nur wenige Wochen nach Rodericks neunzehntem Geburtstag. Der Juli neigte sich dem Ende zu.
„Warst du heute Morgen schon auf dem Feld?“, fragte Roderick Jolyon, der nach der Flasche griff. Jolyon schüttelte den Kopf und trank. „Die Arbeit liegt noch vor mir, wenn ich wieder zu Hause bin“, erklärte er mit vollem Mund, schluckte und biss gierig wieder in sein Brot. „Großvater kümmert sich um die Felder.“
Roderick schwieg eine Weile, bis sein Freund fertig war und ihm die Flasche zurückgab. „Also los“, sagte Jolyon und wischte die Krümel von seiner Hose. „Machen wir uns an die Arbeit.“ Beide Jungen griffen nach ihren Waffen und standen auf. Natürlich war das Wildern auch für sie verboten, doch niemand interessierte das. Lacock war so arm, dass sie das zusätzliche Fleisch gut brauchen konnten.
Jolyon und Roderick jagten nicht nur für sich, auch wenn sie allein das Risiko trugen. Rodericks jüngere Brüder William und Alan hatten ihn schon tausende Male angebettelt, mit auf die Jagd zu dürfen, doch obwohl Roderick wusste, dass seine Brüder in der Tat tadellose Schützen waren, wollte er sie diesen Gefahren nicht aussetzen. Wenn sie erwischt wurden, konnte Roderick sich zwar darauf berufen, dass ihm der Wald gehörte und er hier die Regeln machte, doch das Jagen war nicht gerade ungefährlich und Roderick wollte vermeiden, dass seine Brüder von einem wilden, angeschossenen Eber verletzt wurden.
Wenn sie gemeinsam auf die Jagd gingen, dann an offiziellen Tagen, an denen sie genug Wachen und Jäger dabei hatten, die dafür sorgten, dass niemand zu Schaden kam. Seine Brüder wollte Roderick bei seinen Ausflügen nicht Jolyon nicht dabei haben. Nur sich selbst und seinem besten Freund Jolyon traute er zu, in den Wald zu gehen und zusätzliche Nahrung zu beschaffen.
In einem Beutel sammelten sie Beeren, die reif waren, denn obwohl es bereits Juli war, hatte der kalte, lange Winter viele Pflanzen eingehen und keine Früchte tragen lassen. Den Beutel verbargen sie in einem hohlen Baumstamm, wo sie es immer taten und gingen dann auf die Suche nach Wild.
Schon bald stießen sie auf einen frischen Wildwechsel. Jolyon war sich sicher, dass hier die junge Ricke vorbeigekommen war, die sie am vorherigen Tag angeschossen hatten und die noch immer hinkte, aber unterwegs war, doch Roderick verspottete ihn. „Glaubst du, sie wartet auf uns? Sie wird meilenweit entfernt sein!“ Doch das Glück war auf ihrer Seite. Sie mussten dem Pfad nur eine halbe Stunde folgen, als sie eine kleine Gruppe von Rehen entdeckten, die unter einer großen Buche grasten. „Ist sie dabei?“, fragte Jolyon. Der Gedanke daran, Recht zu behalten, schien ihn mehr zu erfreuen als die potentielle Beute selbst. „Ich seh es nicht“, antwortete Roderick. Das Rascheln von Laub unter ihren Füßen drohte, sie zu verraten, und als die Rehe den Kopf hoben, blieben beide stocksteif stehen. Der Argwohn der Tiere verflüchtigte sich und sie senkten ihre Mäuler, um weiter in den Genuss des saftigen Grases zu ihren Hufen zu kommen. Roderick bedeutete Jolyon mit einer Geste, leise zu sein und ihm zu folgen. Sie näherten sich der Herde auf wenige Meter und beide zielten. Roderick schielte zu Jolyon, ihre Blicke trafen sich. „Eins…“, formte Roderick mit den Lippen. Bevor er erneut Luft holen konnte, stieß über ihren Köpfen ein Vogel einen schrillen Warnruf aus und flog in die Luft. Die Rehe rissen die Köpfe nach oben, erkannten die Gefahr und suchten ihr Heil in der Flucht. Roderick und Jolyon schossen gleichzeitig und verfehlten beide. Sie rannten der Herde hinterher, doch die Tiere waren zu schnell für sie und hängten sie schon kurze Zeit später ab. Die Jungen schlichen zurück, um ihre Pfeile einzusammeln und sich auf die Suche nach neuer Beute zu begeben.
Diesmal dauerte es länger, bis sie fündig wurden, doch als sie sich zur Mittagspause niederließen, hatten sie jeder ein Kaninchen geschossen und gemeinsam einen Fasan erlegt. Es war eine gute Beute und sie beschlossen, sich für den Rest des Tages den Bach in der Nähe vorzunehmen und zu fischen.
Sie legten sich in den Schatten der Bäume, beide mit einer selbstgebauten Angel in der Hand und redeten über alles Mögliche. Jolyon erzählte Roderick von dem Mädchen im Dorf, auf das er schon lange ein Auge geworfen hatte. Er hatte bereits einige Male mit ihr gesprochen, doch mehr war daraus nie geworden. „Wieso triffst du dich nicht mit ihr?“, wollte er wissen. „Was soll ich denn tun?“, fragte Jolyon ihn bekümmert. „Ich hab einem Mädchen doch nichts zu bieten. Ich muss mich erst einmal um meine Schwester und meine Großeltern kümmern.“
„Deine Eltern haben dir doch einen hervorragenden Hof hinterlassen“, versuchte Roderick ihn aufzuheitern. „Du stehst nicht ganz so schlecht da, wie du vielleicht denkst. Und es wird langsam mal Zeit, findest du nicht?“
„Du bist auch noch nicht verheiratet“, widersprach Jolyon. „Aber du bist auch zwei Jahre älter als ich. Und wer weiß, wie lange das so noch bleibt…“, seufzte Roderick.
Jolyon hob die Augenbrauen. „Erzähl“, meinte er und drehte sich zu Roderick. „Nein… Nicht so, wie du denkst. Schön wär’s“, lachte Roderick. „Du kennst doch meinen Stiefvater. Verdammt, ich bin bereits neunzehn. Für John ist das wie ein Schlag ins Gesicht, dass von uns noch niemand verheiratet ist. Conny hat ihn drei Jahre lang auf Abstand halten können, aber sie ist schon fünfzehn und irgendwann findet John einen Mann für sie. Himmel, er plant sogar schon Alans Hochzeit, und der Knabe ist erst letzten Winter zwölf geworden.“ Roderick schnaubte wütend, doch Jolyon tätschelte ihm tröstend die Schulter, was ihn sich etwas entspannen ließ. Jolyon wusste, dass sein Freund sich sehr schnell aufregen konnte.
„Manchmal frage ich mich, ob John eigentlich weiß, wie wertvoll Conny ist. Ich glaube, er will sie nur endlich unter die Haube bringen, genau wie mich, dabei könnte eine Heirat mit dem richtigen Mann für uns von großen, wirtschaftlichen Interessen sein.“ Er lehnte sich gegen einen Baumstamm und begann, einzelne Grashalme aus dem Boden zu zupfen. „Ich bin mir sicher, John weiß, was er tut“, entgegnete Jolyon. Roderick antwortete nicht mehr und er verdrängte diese Gedanken.
Die Sonne stand im Zenit, als Roderick wieder erwachte. Er schrak aus einem Traum hoch und sah sich um. „Alles in Ordnung?“, fragte Jolyon ihn. Roderick nickte, erschrak dann jedoch ein zweites Mal, als ihm auffiel, wie schnell die Zeit vergangen war. „Oh Gott… Ich bin viel zu spät!“ Er sprang auf, sammelte die Fische, die sie gefangen hatten ein und schlug sie in ein Tuch. „Zu spät?“, fragte Jolyon müde.
„John bringt mich um, wenn ich so spät nach Hause komme“, erklärte Roderick und hängte sich Köcher und Beutel um. „Hast du noch was vor?“, fragte Jolyon. Roderick nickte. Jolyon feixte, doch Roderick war nicht nach Späßen zu mute. „Hilf mir, bitte“, bat Roderick. In Windeseile packten sie ihre Sachen, holten die Beeren aus dem Versteck im hohlen Baum und machten sich auf den Weg zurück nach Lacock.
Als sie in Lacock Manor ankamen und Roderick die Tür öffnete und eintrat, eilte ihnen bereits John entgegen. „Wo warst du?“ Die Frage richtete sich allein an Roderick. Jolyon ignorierte John weitgehend. Johns graue, kleine Augen waren zu noch kleineren Schlitzen verzogen, die Roderick wütend anblitzten. Der Junge senkte den Kopf. „Wir waren auf der Jagd. Es tut mir Leid, wir haben die Zeit vergessen.“ „Ja, dass ihr die Zeit vergessen habt, glaube ich dir sofort“, sagte John und packte seinen Stiefsohn an den Schultern. „Schick deinen Freund nach Hause und beeil dich. Du musst dich noch umziehen und dann müssen wir auch sofort weiter, man erwartete uns in Chippenham.“
Roderick schnitt eine kleine Grimasse zu Jolyon, fügte sich aber ohne Murren. Er hatte es nicht einfach, aber sicher besser, als neunzig Prozent der Engländer. Er hatte ein warmes Bett und immer genug zu essen, auch wenn er sich mit den Problemen der anderen herumschlagen musste. Der Winter war kalt gewesen und Lacock hungerte. Es war an ihm als Lord of Lacock eine Lösung zu finden und er verabscheute seinen Vater dafür, dass er ihn mit dieser Bürde so früh allein gelassen hatte. Doch alles Jammern war sinnlos. Rasch war er gewaschen, umgezogen und stand wieder in der Eingangshalle.
„Das wurde aber auch Zeit“, sagte John, der bereits fertig war. Er musterte Roderick und schüttelte missbilligend den Kopf und ein weiteres Mal hatte Roderick das Gefühl, dass der neue Mann seiner Mutter ihn nicht für voll nahm. „Es wird höchste Zeit, dass du erwachsen wirst!“, sagte John, griff nach Rodericks Arm und führte ihn nach draußen. Ein Stallbursche hatte derweil zwei Pferde gesattelt und Roderick und sein Stiefvater stiegen auf. „Sitz gerade“, ermahnte John Roderick und trieb sein Pferd an.
Die vier Meilen zogen sich in die Länge, da John weiterhin an seinem Stiefsohn herumnörgelte. Als sie in Chippenham ankamen und durch das Stadttor traben, zischte John: „Und tu mir einen Gefallen und sprich deutlich.“ Roderick antwortete nicht. Er starrte auf den Boden und hoffte nur, dass dieses Treffen bald vorbei wäre.
Als sie im Hof abstiegen und dem Stallburschen ihre Pferde übergaben, atmete Roderick tief durch. Gemeinsam mit John betrat er das große Haus. Es war nicht sonderlich eindrucksvoll. Der Baron von Chippenham war nicht ganz so reich, wie Rodericks Familie, doch trotzdem musste Roderick sich mit ihm in Verbindung setzen, um eine Lösung für die Hungerperiode zu finden. Der Baron ließ nicht lange auf sich warten. Ein hagerer Mann, mindestens zweimal, eher dreimal so alt, wie Roderick, mit gräulichem Haar betrat die Halle und hieß Roderick und John willkommen.
Die ganze Besprechung über hielt der Junge sich zurück und antwortete nur mit einem abgehackten „Ja“ oder „Nein“.
Roderick gab sich Mühe, nicht allzu abweisend zu sein. Er las im Gesicht seines Stiefvaters, dass es ihm nicht gelang. Als er irgendwann, erschöpft vom langen Sitzen, auf dem Stuhl nach vorne rutschte und die Beine ausstreckt, bekam er einen Tritt gegen das Knie, worauf hin er den Blick auf den Tisch heftete und sich wieder aufrichtete. „Mylord, ist Euch nicht wohl?“, fragte der Baron ihn. Roderick blickte auf. „Nein, nein … ich meine, doch. Es ist alles in bester Ordnung.“ John maß ihn mit einem verächtlichen Blick, der Roderick schrumpfen ließ, und fuhr dann mit der Besprechung fort. Roderick ließ den Blick im Zimmer umherschweifen, fand jedoch keinen Gegenstand, der ihm interessant genug erschien, ihm seine Aufmerksamkeit länger als wenige Augenblicke zu schenken.
Er atmete auf, als John sich erhob und sich verabschiedete. Von dem Gespräch hatte er kaum etwas mitbekommen, außer, dass man über ein Handelsabkommen nachdachte, das die Preise für die Lebensmittel senken sollte.
Auch Roderick erhob sich, verabschiedete sich und folgte John nach draußen. Schnell stiegen die beiden Männer auf ihre Pferde und trabten aus der Stadt. „Sitz gerade“, forderte John Roderick auch dieses Mal wieder auf, obwohl Roderick kaum im Sattel saß, dann trabte der Mann voraus.
Erst eine halbe Meile später drosselte er das Tempo und ließ Roderick aufholen. „Ihr habt kein Benehmen, Mylord“, sagte John. In ihm brodelte es vor Wut, was Roderick nicht entging. „Roderick, ich verstehe dich nicht. Was ist nur in dich gefahren? Ich kenne dich doch noch als kleinen Jungen. Damals war dein Benehmen tadellos. Tadellos!“, wiederholte John. „Doch seit ein paar Jahren …“
„Ich habe wohl die Lust verloren“, meinte Roderick missmutig. „Ich würde dir nicht raten, die Lust noch mehr zu verlieren, oder du wirst ganz Wiltonshire in schlechtes Licht rücken“, warnte John ihn und eine unterschwellige Drohung schwang in seiner Stimme mit, die Roderick jedoch ignorierte. „Immerhin bist du der Earl of Wilts.“
„Ich hab mir das nicht ausgesucht!“, entgegnete Roderick zornig. „Natürlich hast du das nicht…“, antwortete John und versuchte das Gespräch zu beenden, indem er seinen Stiefsohn etwas besänftigte, doch dieser wollte sich nicht besänftigen lassen. „Ich wollte doch nie …“, begann er noch immer wütend, doch John unterbrach ihn sofort. „Roderick, unser Gespräch ist hiermit beendet“, ermahnte John ihn. Roderick verstummte und wandte den Blick ab. Er wollte seinen Stiefvater nicht noch zorniger machen.
Der Rückweg verging fast noch langsamer, als der Hinweg, obwohl es kaum vier Meilen waren. Roderick fühlte die warmen Strahlen der Sonne auf seiner Haut und schloss für einen Moment die Augen. Er sehnte das Ende des Tages herbei und freute sich auf die Jagd am nächsten Morgen mit Jolyon.
„Roderick“, begann John, als sie gemeinsam Lacock Manor betraten. „Ich möchte mit dir reden.“ Roderick setzte sich zu seinem Stiefvater an den Tisch. „Hör zu, du bist schon neunzehn geworden, und ich denke, es ist Zeit, dass du heiratest“, sagte John und sah seinem Sohn dabei lange in die Augen. Roderick stöhnte und ließ sich in den Sessel plumpsen. Seine gute Haltung war hinüber. John entging dies nicht. „Roderick, ich bitte dich, sitz gerade und hör mir nur dieses eine Mal zu.“ Roderick tat ihm diesen Gefallen.
„Aber nur dieses eine Mal“, dachte er sich und musste lachen. Er hörte seinem Stiefvater immer zu. Er tat immer, was dieser von ihm wollte und er versuchte immer, alle seine Wünsche zu befolgen und das, obwohl er schon lange volljährig war und selbst entscheiden konnte.
„Ich will nicht heiraten“, sagte er deshalb und starrte vor sich auf den Tisch. „Nicht jetzt jedenfalls.“ Es würde der Tag kommen, an dem er viel größeren Profit aus einer Heirat schlagen konnte und das wusste er auch. Natürlich war er auch nicht sonderlich erfreut darüber, eine Fremde nur wegen ihres Namens zu heiraten, doch an die große Liebe glaubte er schon lange nicht mehr. So wurde er nie erzogen. John jedoch schien seine Bedenken nicht zu verstehen.
„Junge, du verstehst das nicht! Es geht hier nicht darum, was du willst. Es geht hier um das Wohl deiner Familie, deines Dorfes und deiner Grafschaft“, sagte er. Roderick seufzte. Das Wohl seines Dorfes. Natürlich lag es ihm am Herzen, aber heiraten, Kinderkriegen … Das hatte doch alles noch Zeit. Wieso musste sein Stiefvater ihn so drängen? Hatte er nicht verstanden, dass Roderick sich darüber seine eigenen Gedanken machen wollte? „Und? Hast du schon eine gefunden? Frag doch mal Will, vielleicht möchte der sie ja“, sagte Roderick mit einem spöttischen Unterton ohne den Blick von der Tischplatte zu heben. Dennoch sah er, wie John jetzt tief durchatmete.
„Nein, ich habe noch keine für dich gefunden. Ich möchte dir die Gelegenheit geben, dir selbst eine Braut zu suchen. Dafür bist du alt genug und ich weiß, dass du deine Wahl mit Bedacht treffen wirst.“ Roderick war erstaunt. Seit acht Jahren hielt ihn John am kurzen Zügel und jetzt plötzlich diese Freiheit …
„Womit hab ich das verdient?“, wollte Roderick wissen und es gelang ihm nicht, den Spott in seiner Stimme zu verbergen. John, der ans Fenster gegangen war, wandte sich zu ihm. „Auch, wenn du es manchmal nicht glauben willst, ich will nur das Beste für dich und deine Geschwister“, sagte er und schien enttäuscht von dem zu sein, was sein Stiefsohn von ihm dachte.
Mit einem Mal schämte Roderick dafür, dass er so wenig von seinem Stiefvater hielt. „Tut mir leid …“, sagte Roderick. John stemmte die Hände auf den Tisch und lehnte sich zu Roderick, der seinen Blick wieder auf den Tisch gerichtet hatte. „Roderick, schau mich an. Schau mich an!“ Der junge Mann sah hoch in die grauen Augen seines Stiefvaters. Mit einem Mal hatte gar nicht mehr das Gefühl, erwachsen zu sein.
„Habe ich dich jemals enttäuscht, oder etwas getan, was nicht zu deinem Besten war?“, fragte John ihn. Roderick schwieg eine Weile. „Antworte mir“, befahl John ihm mit Nachdruck. „Nein, Sir“, sagte Roderick und wandte den Blick wieder ab. „Dann vertrau mir“, bat John. Roderick nickte. „Du kannst gehen“, sagte John und entließ seinen Sohn. Roderick stand auf und ging nach draußen.
Seine achtjährige Schwester Lizzy war im Stall und beobachtete die Pferde. Roderick ging zu ihr und hob sie von hinten hoch. Lizzy lachte. „Na, Kleines?“, sagte Roderick und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Er stellte seine Schwester auf die Boxentür, damit sie das Pferd besser sehen konnte. „Seid ihr schon zurück?“, fragte Lizzy und drehte sich zu ihm, sodass sie ihm in die Arme springen konnte. Roderick nickte. „Ich hab euch zurückkommen sehen“, sagte Lizzy und grinste. „Was hat Vater mit dir besprochen?“ Lizzy nannte John immer „Vater“, obwohl er es eigentlich nicht war. Natürlich, er war der neue Mann ihrer Mutter und war nach dem Tod ihres Vaters drei Jahre lang Rodericks Vormund gewesen, doch Roderick hatte es nie über sich gebracht, den Mann wirklich als seinen Vater anzuerkennen, zumal sich ihre Meinungen, seit Roderick seine eigenen Entscheidungen traf, immer wieder auseinander gingen.
„Ach, dies und das“, antwortete er und zwinkerte. „Er will, dass du heiratest, stimmt’s?“, fragte Lizzy. „Du bist einfach zu schlau für mich“, grinste Roderick und kniff sie zärtlich in die Seite. Lizzy schmiegte sich an ihn. „Er hat auch Will und Conny heute schon darauf angesprochen.“
„Wirklich?“, fragte Roderick. Auch sein Bruder war schon längst volljährig und könnte seine Entscheidungen selbst treffen, wenn er wollte, doch scheinbar fühlte John sich noch immer dafür zuständig, seine Ziehkinder zu ihrem Glück zu zwingen.
Lizzy nickte und Roderick stellte sie auf den Boden. „Solltest du nicht lieber drinnen spielen? Nicht dass dein hübsches Kleid noch dreckig wird“, meinte Roderick zu Lizzy und diese zuckte mit den Schultern. „Komm, gehen wir rein“, sagte Roderick zu seiner Schwester und nahm sie an der Hand.
Beim Abendessen sprach John wieder das Thema „Heirat“ an. „Du schaffst es immer, unangenehme Themen beim Essen anzusprechen!“, sagte Roderick und hörte auf zu essen. Sein Hunger war vergangen. „Roderick, hör nur, was Cornelia zu berichten hat!“, sagte John und blickte zu Conny.
Conny grinste. „Ich werde heiraten!“, sagte sie. „Wurde aber auch höchste Zeit!“, meinte William, nachdem er einen Bissen Fleisch mit etwas Wein herunter gespült hatte. „Wer ist denn der Glückliche?“ Conny begann zu erzählen: „Er heißt David und ist nur ein Jahr älter als ich. Er ist der älteste Sohn des Viscounts of Berkshire.“
„Klingt spannend“, meinte Lizzy wenig interessiert, die mit den Gesprächen ihrer älteren Geschwister wenig anfangen konnte und pikste das Spanferkel auf ihrem Teller mit der Gabel. Dann machte sie „Oink, oink, oink!“ und drehte das Fleisch im Kreis. „Elizabeth!“, ermahnte ihre Mutter Susan sie streng. Lizzy lehnte sich unwillig zurück und ließ das Spanferkel Spanferkel sein.
„Jedenfalls wird er eines Tages Viscount of Berkshire werden!“, fuhr Conny unbeirrt fort. „Und ich habe ihn außerdem schon einige Male gesehen, wenn er seinen Vater begleitet hat.“
„Ich kenne seinen Vater“, mischte Roderick sich ein. „Und?“, wollte Conny wissen. Roderick zuckte die Schultern. „Er ist etwas eigenartig und ziemlich alt.“ Conny verdrehte die Augen und senkte den Blick auf ihren Teller. „Das sagst du doch über alle Männer, mit denen du zusammenarbeitest!“
„Es können nicht alle Männer mit elf Jahren den Thron besteigen!“, pflichtete ihr William bei und gestikulierte wild mit seiner Gabel. „Und das ist auch gut so“, erklärte John und hielt Williams Arm fest, mit dem er durch die Luft wirbelte, während er seinen Blick auf Roderick richtete. „Denn wie wir heute gesehen haben, verlieren diese Leute wohl im Laufe der Zeit die Lust an ihren Pflichten.“
Er sah grimmig zu Roderick herüber. „Musst du darauf herumkauen?“, fragte dieser seinen Stiefvater nicht minder grimmig. „Ich kann diesen Baron von Chippenham nun mal nicht leiden! Er ist ein willensschwacher Mensch und noch dazu ein Narr! Er lässt sich alles einreden, was man ihm sagt“, versuchte sich der Junge zu rechtfertigen.
„Du musst noch viel lernen“, seufzte John. „Du kannst deine Abneigung nicht so einfach zeigen, denn auch wenn der Baron einen schwachen Willen hat, dumm ist er mit Sicherheit nicht“ Roderick sprang auf und warf dabei den Stuhl um, auf dem er gesessen war.
„Ich habe keinen Hunger mehr“, sagte er aufgebracht. Er wollte davon stürmen, doch sein Vater hielt ihn zurück. „Setz dich“, sagte er mit einer Stimme, die gefährlich ruhig war und dennoch keinen Widerstand zuließ. „Du benimmst dich wie ein kleines Kind aber beschwerst dich über andere? Lern erst einmal, dich zu benehmen, bevor du dir erlaubst, über andere ein Urteil zu fällen.“
Roderick setzte sich kerzengerade und so würdevoll, wie es ihm möglich war, zurück an den Tisch und rührte sein Essen den gesamten Abend über nicht mehr an. John erzählte von den Verhandlungen am Nachmittag und versuchte Roderick mehrere Male in das Gespräch einzubinden, doch Roderick blockte ab und sprach kein Wort. Nach dem Essen verließ er schweigend den Raum und setzte sich in den Hof. Wenig später kam seine Schwester Conny zu ihm. Sie setzte sich neben ihn und sah in die Richtung, in die er starrte. „Willst du diesen Kerl wirklich heiraten?“, fragte Roderick seine Schwester. Conny zuckte die Schultern. „Lieber ihn, als irgendeinen alten, stinkenden Kerl!“, sagte sie. „Und ich glaube, Vater hält ihn für den perfekten Ehemann für mich.“ Roderick schnaubte ärgerlich. „Jetzt auch noch von dir, dieses Wort! Vater. Ihr behandelt ihn alle, als wäre er es. Er ist nicht unser Vater, hast du das vergessen?“
„Roderick, warum sollten wir ihm keine Chance geben? Er hat sich gut um uns gekümmert, um dich ganz besonders. Er hat sogar Mutter geheiratet, um dir unter die Arme greifen zu können.“
Roderick schwieg wieder. Ihm war nicht klar, woher diese Abneigung gegen seinen Stiefvater kam. Er konnte nichts dafür, dass Roderick keine Kindheit gehabt hatte. Auch wenn er mit all seinen Höflichkeitsübungen wesentlich dazu beigetragen hatte.
Er stand wortlos auf und ging. „Wo willst du hin?“, rief Conny ihm hinterher. „Nachdenken!“, brummte er.
Im Hof traf er auf Will, der Schwertübungen machte. „Lust auf ein Duell?“, fragte Will ihn. „Ach, nein danke…“, meinte Roderick. Er war nicht in der Stimmung, seinen jüngeren Bruder zu verdreschen. „Nun komm schon!“ Will drückte ihm einen Stock in die Hand. „Nur ein Kampf! Oder hast du Angst, dass ich dich zu Brei schlagen könnte? Ich bin vorsichtig, versprochen!“ Er lächelte seinen Bruder herausfordernd an. Roderick zuckte die Schultern. „Ein Kampf!“, sagte er und ging in Angriffsstellung.
Aus einem Kampf wurden zwei, aus zweien drei und aus drei vierzehn. William landete mehrere Treffer, doch man konnte trotzdem erkennen, dass Roderick die Oberhand behielt. Die beiden Jungen kämpften, bis es dämmerte und sie ihre Kämpfe aufgrund des Mangels an Licht abbrechen mussten und ins Haus gingen.
Als Jolyon und Roderick am nächsten Tag auf der Jagd waren, erzählte Roderick seinem Freund von Connys Absicht, zu heiraten. „Bist du einverstanden?“, fragte Jolyon. „Nein, aber ich bin nicht ihr Vormund. Ich wünschte, ich wäre es. Vater hätte nie zugelassen, dass sie sich an irgendeinen dahergelaufenen Bengel verschenkt. Sie ist viel mehr wert. Manchmal glaube ich, John weiß überhaupt nicht, wie wichtig eine gute Vermählung für uns sein könnte. Wenn Conny oder ich die richtige Person heiraten, könnten wir Lacock mit einem Mal aus der Armut holen.“ Roderick war zornig und schmiss einen kleinen Stein in den Fluss zu seiner rechten Seite.
„Der Junge hört sich doch ganz anständig an. Zukünftiger Viscount of Berkshire ist doch nicht schlecht… Nicht jeder kann Earl seiner eigenen Grafschaft sein“, meinte Jolyon. „Außerdem ist Conny fünfzehn. Wenn dein Vater noch am Leben wäre, glaubst du nicht, er hätte Conny schon längst verheiratet?“ Roderick schwieg. „Ich weiß es nicht. Ist mir auch egal.“
„Vielleicht sollte dir weniger egal sein“, riet Jolyon seinem Freund. „Du hast dich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Und nicht unbedingt zum Besseren“, fügte Jolyon vorsichtig hinzu. „Was soll ich denn tun? John hält mich doch eh am kurzen Zügel! Er bestimmt doch, was ich tue, denke und sage“, maulte der junge Lord. Jolyon sah seinem Freund an, dass er mit seiner jetzigen Situation unzufrieden war. „Komm schon, so schlimm wird es schon nicht sein!“, versuchte er ihn zu trösten.
„Ich wünschte, ich hätte es so gut wie du“, meinte Roderick. „Mein Stiefvater hat mir zwar Zeit gegeben, mir eine Frau zu suchen, aber ewig wird er damit auch nicht warten wollen. Du hingegen hast schon ein Mädchen.“
„Du übertreibst!“, wehrte Jolyon sich, doch seine Wangen begannen zu glühen und er musste grinsen. „Wir haben doch kaum miteinander geredet.“
„Aber wenn dich jemand drängen sollte, zu heiraten, kannst du wenigstens in eine Richtung arbeiten. Ich weiß ja nicht mal, wo ich mich umsehen soll“, sagte Roderick und zupfte ein kleines Buchenblatt aus seinem Haar, das sich darin verfangen hatte.
Die Jungen schwiegen und Roderick beobachtete die glitzernden Fische im Wasser. Es waren viele und mit einem Netz wäre es ein leichtes, sie zu fangen, doch Roderick dachte diese Idee nicht weiter. Seine Gedanken kehrten zurück zu ihrem vorherigen Thema. „Ich will gar nicht heiraten, glaube ich“, brach Roderick das Schweigen und setzte sich auf den Boden am Bach. „Ich habe ganz andere Interessen. Fürs Erste jedenfalls. Sollte ich jemals die Gelegenheit haben, jemanden zu heiraten, mit dem ich Lacock mit einem Mal schuldenfrei machen könnte, würde ich es natürlich tun, aber so lange … Nein. Und ich wünschte, mein Stiefvater würde das akzeptieren.“
Jolyon antwortete nicht. Stattdessen sprach er ein anderes Thema an. „Sie haben schon wieder Männer aus Hampshire abgezogen“, sagte er nachdenklich. „Ich weiß. Sie ziehen nach Jerusalem“, sagte Roderick. „Weißt du genaueres?“, wollte Jolyon wissen. Roderick zuckte die Schultern. „Nicht mehr als du.“
„Wie geht es Alan?“, fragte Jolyon Roderick. Rodericks jüngster Bruder Alan lebte momentan in der Lacock Abbey außerhalb der Stadt, wo er lesen und schreiben lernte. „Ganz gut. Wir schreiben ihm und manchmal kommt er vorbei, aber meistens ist er beschäftigt. In zwei Jahren ist er vierzehn. Dann kommt er zurück“, sagte Roderick, während er einen halben Laib Brot und etwas kaltes Fleisch vom Vortag aus einem Tuch wickelte und es mit Jolyon teilte. „Du vermisst ihn?“, fragte Jolyon und reichte ihm im Tausch gegen das Brot und das Fleisch eine Flasche mit kühlem Bier. „Er ist mein Bruder, oder nicht?“, fragte Roderick zurück und biss in das Brot.
„Natürlich würde ich mir wünschen, dass ich ihn öfter sehen würde, oder dass er hier ist. Er wollte so gerne einmal mit auf die Jagd. Aber ich weiß gar nicht, ob ich ihn jemals mitnehmen kann.“ In der Stimme des jungen Mannes schwangen Trauer und Verzweiflung mit. „Wie kommst du darauf?“, fragte Jolyon ihn und brach ein Stück aus dem Brot heraus. „Meine Zukunft ist momentan völlig ungewissen. Von überall in der Umgebung werden adelige Männer ins Heilige Land geschickt, um zu kämpfen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es auch uns hier trifft. Eigentlich wäre ich meinem Dorf und meiner Familie gegenüber verpflichtet, so schnell wie möglich zu heiraten und einen Sohn zu bekommen, damit die Thronfolge gesichert ist.“
Roderick trank einen großen Schluck aus der Flasche und starrte in den Himmel, beobachtete, wie sich die Blätter in seltenen Windböen regten und das Sonnenlicht, das durch die Bäume viel, auf dem Gras verschiedene, schattige Muster zauberte. „Wenn wir verheiratet sind und vielleicht irgendwann mal selbst Kinder haben, glaubst du, wir werden immer noch zusammen auf die Jagd gehen können?“, fragte Jolyon Roderick mit vollem Mund. Roderick machte es nichts aus, dass Jolyon mit vollem Mund sprach, im Gegenteil. Ihm gefiel es, dass hier niemand auf seine Manieren achtete. Hier waren sie nur zu zweit, er und Jolyon, einfach zwei Männer. Und sie konnten tun und lassen, was sie wollen. Zumindest für ein paar Stunden. „Ich glaube kaum“, antwortete Roderick auf Jolyons Frage. „Ich werde keine Zeit mehr haben. Und du vermutlich auch nicht.“
„Wir könnten unsere Kinder verheiraten“, schlug Jolyon vor und lachte ausgelassen. „Vielleicht… Mein ältester Sohn müsste natürlich irgendwann Lacock führen, aber wenn ich noch einen Sohn oder eine Tochter bekomme… Die Jüngeren allesamt stehen zur freien Verfügung.“ Auch Roderick lachte und schlug Jolyon auf den Rücken, der sich in seiner Hast beim Essen verschluckt hatte. Wie fast alle Bauern war auch Jolyon unterernährt und hatte nicht einen Tag in seinem Leben genug zu essen bekommen. Meistens nahm Roderick nur Proviant mit auf die Jagd, damit sein Freund zu Essen hatte. Jolyon war zwar kräftiger als Roderick doch das lag an der harten Arbeit, die ihm mehr Muskeln bescherte, als Roderick bei seinen Übungskämpfen mit William je würde aufbauen können.
„Wir könnten natürlich auch Alan und Gwendolyn verheiraten!“, schlug Jolyon vor. Gwendolyn war seine jüngere Schwester und sie musste im selben Alter wie Rodericks Bruder Alan sein. „Mal sehen. Wenn die beiden sich mögen“, sagte Roderick. Das letzte, was er wollte, war, dass einer seiner Brüder oder eine seiner Schwestern jemanden heiraten musste, den sie nicht liebten.
„Roderick…“, begann Jolyon nach einer Pause und zögerte kurz. „Hast du dir mal überlegt, dass du das vielleicht etwas zu eng siehst?“, fragte Jolyon ihn vorsichtig. „Was meinst du?“ „Na ja, das alles mit der Liebe. Ich meine jetzt in deinem Fall, nicht in meinem oder in dem unserer Geschwister. Vielleicht musst du gar keine Frau heiraten, die du liebst. Vielleicht reicht es, wenn sie von adeliger Herkunft ist und ihr euch gut versteht.“
„Ich will niemanden heiraten, den ich liebe“, sagte Roderick leise nach kurzem Zögern. „Ich kann wohl nicht darauf hoffen, dass ich eine junge, hübsche Frau adeliger Herkunft finde, in die ich mich verliebe und mit der John zufrieden wäre.
Ich glaube manchmal, es ist uns gar nicht möglich, denselben Menschen zu mögen. Dafür sind wir viel zu verschieden und haben zu unterschiedliche Anforderungen an den Charakter der jeweiligen Person“, meinte Roderick. „Außer natürlich deiner Mutter und deiner Geschwister!“, sagte Jolyon. „Ja… Die lieben wir wohl beide. Obwohl ich glaube, dass auch die Ehe zwischen ihm und meiner Mutter mehr eine Zweckehe war, als eine aus Liebe.“ Jolyon sah ihn eine Weile lang an. „Und glaubst du, deine Mutter ist glücklich?“, wollte er von Roderick wissen. Dieser schwieg und dachte nach. „Ich denke schon. Aber sie kennt es auch nicht anders. Wenn ich könnte, würde ich diesen elenden Prachtbau hinter mir lassen und irgendwo ein normales Leben führen.“
„Und dann hätte dein Bruder den langen Namen mit den vielen Titeln am Hals“, lachte Jolyon. Auch Roderick lachte.
„Stimmt. Das könnte ich ihm nicht antun. Ich glaube, er wäre noch weniger geeignet als ich“, lachte Roderick, doch Jolyon blieb ernst. „Ich glaube gar nicht, dass du ungeeignet bist. Du hast nur etwas anderes von deinem Leben erwartet. Immerhin hattest du ja kaum Zeit, dich auf dein jetziges Schicksal vorzubereiten …“, meinte Jolyon. Beide Jungen schwiegen und sie beide wussten, woran der andere gerade dachte.
Roderick war gerade elf gewesen, als in Lacock ein Feuer ausbrach, bei dem das halbe Dorf und ganz Lacock Manor bis auf die Grundmauern niederbrannte. In diesem Feuer hatte Roderick seinen Vater und Jolyon seine Eltern verloren.
John, ein langjähriger Freund seiner Mutter hatte den damals elfjährigen Roderick unter seine Fittiche genommen und die Vormundschaft für ihn übernommen. Bis zu seinem vierzehnten Geburtstag hatte Roderick Lacock nur unter Johns Regentschaft geführt. Doch auch jetzt noch fühlte er sich völlig überfordert mit seinen Pflichten. „Wieso hast du mich allein gelassen?“, fragte er seinen Vater in Gedanken. „Wieso warst du nicht für mich da, als ich dich brauchte?“ Roderick sah in den Himmel, die gute Laune war verflogen. „Wieso?“, flüsterte er. Doch der Himmel blieb stumm.
„Könntest du dir vorstellen, auch so eine Zweckehe einzugehen?“, fragte Jolyon seinen Freund nach einer langen Pause. „Natürlich. Ich habe schon immer gewusst, dass es darauf hinauslaufen wird“, schnaubte Roderick. „Auch wenn einem die Lieder und Geschichten immer etwas anderes erzählt haben. Weißt du… Irgendwie beneide ich euch Bauern um euer einfaches Leben. Natürlich habt ihr nicht immer etwas zu essen und eure Häuser sind lang nicht so prachtvoll, wie unsere. Aber ihr habt nur eure Sorgen. Wenn ihr im Winter nichts zu essen habt, dann hungert ihr zwar, doch es ist an mir, eine Lösung zu finden. Und du, “ Roderick sah zu Jolyon, „du kannst dein Mädchen aus Liebe heiraten, während ich nur daran denken muss, das Beste für mein Dorf zu tun. Und dann werde ich vielleicht eines Tages eine hässliche Schrulle heiraten, die dreimal so alt ist, wie ich selbst, nur weil sie die Tochter des Herzogs von Cornwall ist… Oder irgendeine andere wichtige Persönlichkeit.“
Zum wiederholten Male seufzte Roderick. Jolyon biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. „Du Armer“, sagte er und unterdrückte ein Kichern. „Das Leben ist nicht einfach. Für niemanden“, meinte er und klopfte seinem Freund auf die Schulter. Er wusste, dass sein Freund etwas sensibel war, und hin und wieder gerne jammerte. Und da er bei sich zu Hause ein Mann sein musste, konnte er nur Jolyon sein Herz ausschütten.
Die Jungen fischten den Rest des Tages und kehrten erst nach Lacock zurück, als es kühler wurde und die Hitze des Tages verschwunden war. In der Ferne brauten sich Gewitterwolken zusammen und die Jungen beeilten sich, ins Dorf zu kommen. Dort tauschten sie auf den letzen Marktständen die Fische gegen Brot, Wein und einen Schal. „Den schenke ich Gwendolyn“, sagte Jolyon. „Sie hat nächste Woche Geburtstag.“ „Richte ihr liebe Grüße von mir aus!“, bat Roderick Jolyon und schenkte der Frau an dem Stand, an dem sie eingekauft hatten, seinen Teil der Fische. Er mochte keinen Fisch und wenn jemand genug zu essen hatte, dann er und seine Familie. Für ihn war das Jagen kein Beruf sondern ein Hobby – ein willkommener Zeitvertreib, um die Tristesse des Alltags zu vertreiben und ein wenig Zeit mit Jolyon zu verbringen.
Dann schlenderten sie noch etwas durch Lacock. Jolyon lud Roderick zu sich nach Hause ein und die beiden machten sich auf den Weg zu dem kleinen Hof. Noch immer schwebten drohende Gewitterwolken am Horizont, doch die Hitze war so drückend, dass sich sie Jungen dennoch an einen Bach in der Nähe von Jolyons Hof setzten und die Füße ins Wasser hingen. Beide hofften, dass das Gewitter bald hereinbrechen würde um die Luft abzukühlen, doch noch waren die Wolken weit entfernt und über ihnen war blauer Himmel. Jolyons Großeltern und seine Schwester waren auf dem Feld.
Roderick war müde, doch er wollte jetzt nicht zurück nach Lacock Manor. Er müsste dafür durch ganz Lacock laufen, wo sich jetzt die Hitze staute und die Sonne auf die Straßen und Häuser brannte. Hier im Schatten, am Waldrand, ein paar kleine Felder zwischen sich und dem Hof, war es so viel gemütlicher. Die Jungen redeten miteinander und schließlich schliefen sie beide ein.
Sie erwachten erst von einem lauten Grollen wieder. Die Gewitterwolken waren weitergezogen und schwebten jetzt direkt über ihnen. Jeden Moment würde der Regen hereinbrechen. Als Roderick sich aufsetzte, wurde ihm schlagartig kalt. „Oh Gott“, flüsterte er. Jolyon setzte sich ebenfalls auf. „Wir haben ja den halben Tag verschlafen“, stellte er gähnend fest und drehte sich zu Roderick. „Was hast du?“, fragte er ihn überrascht, als er den Gesichtsausdruck seines Freundes sah. „Ich hätte heute Mittag mit John nach Swindon reiten sollen!“, sagte Roderick und sprang auf. „Das kannst du jetzt wohl vergessen“, sagte Jolyon. „Es ist schon später Nachmittag!“ Roderick packte hastig seinen Waffen. „Oh Gott, oh Gott, John bringt mich um!“, flüsterte er vor sich hin.
„Soll ich mit dir kommen?“, fragte Jolyon und stand ebenfalls auf. „Das ist nett von dir“, sagte Roderick und nahm sich kurz Zeit, um seinem Freund zuzulächeln. „Aber das würde nichts ändern.“ Jolyon zuckte mit den Schultern. „Ich möchte trotzdem mitkommen“, sagte er und begleitete Roderick nach Lacock Manor. Während sie durch das Dorf liefen, begann es zu regnen.
Schnell flüchteten die Beiden in das große Gutshaus. Ein junger Diener öffnete ihnen die Tür und nahm Roderick die Waffen ab. „Wo ist John?“, fragte Roderick ihn. „Er muss in der Halle sein, Master“, antwortete der Page.
Leider blieb John dort nicht lange. Er musste Rodericks Stimme gehört haben, denn kaum war Roderick durch den Flur auf die Halle zugeschritten, war ihm sein Stiefvater schon auf der Treppe entgegengekommen und sah ihn mit einer Miene an, die Roderick zu verstehen gab, dass er etwas Unverzeihliches getan hatte. „Wo bist du gewesen?“, fragte John mit versteinerter Mimik und eiskalter Stimme. Nur Jolyons Anwesenheit schien ihm ein Grund zu sein, die Fassung zu wahren und seinen Sohn nicht an den Ohren mit sich zu schleifen. „Ich habe die Zeit vergessen. Ich bin eingeschlafen“, sagte Roderick und senkte den Kopf. „Du hast die Zeit vergessen?“, zischte John ihn wütend an und packte ihn am Kragen. Roderick hob abwehrend die Hände, doch sein Stiefvater schlug ihn nicht, sein Blick schoss zu Jolyon. Scheinbar schien es ihm etwas zu drastisch, seinen Stiefsohn vor dessen Freund zu züchtigen.
„Ich möchte, dass du jetzt deinen Freund nach Hause schickst, und dann mit mir kommst“, sagte John mit einer gefährlichen Ruhe.
„Danke, dass du mich begleitet hast, Jolyon“, sagte Roderick, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Jetzt geh.“ Jolyon zögerte, er schien widersprechen zu wollen, doch dann drehte er sich um, und ging. „Begleite unseren Gast zur Tür, Aelfric“, befahl John dem Pagen und der tat, wie ihm geheißen. Erst dann ließ er Roderick los. „Folge mir“, sagte er und ging durch die Halle. Roderick folgte ihm mit gesenktem Kopf. In der Halle schickte er die Diener fort. William, Lizzy und Susan, die am Tisch saßen, ließ er bleiben.
William sah seinen Bruder mitleidig an und Roderick war sich nicht sicher, ob er dankbar dafür war, nicht allein zu sein, oder ob er seiner Strafe lieber allein entgegengetreten wäre. „Weißt du eigentlich, in was für eine Situation du mich gebracht hast?“, fragte John Roderick und packte ihn wieder grob am Kragen. „Ich konnte nicht einmal einen Grund angeben, weshalb wir nicht erschienen sind. Und auch der Bote kam erst viel zu spät an, da du nicht aufgetaucht bist. Sag mir bitte, wie ich das wieder in Ordnung bringen soll“, sagte John und Roderick sah, wie der Kopf seines Stiefvaters vor Wut rot angelaufen war. „Und du hast die Zeit vergessen“, äffte er ihn nach. „Ich weiß nicht mehr, was ich mit dir tun soll, Roderick! Was soll ich tun?“ Er schüttelte ihn. „Ich tue alles, um die Ehre deiner Familie zu schützen und du ignorierst all meine Bemühungen und trittst sie mit Füßen. Machst du das absichtlich?“ Roderick starrte noch immer zu Boden. Er wusste nicht, was er sagen und tun sollte.
„Bist du taub?“, schrie John ihn an und holte aus. Seine Handfläche klatschte auf Rodericks Wange. „Antworte mir, wenn ich mit dir rede!“ John schüttelte ihn erneut. „Ich bin nicht taub, du brauchst nicht so zu schreien!“, wurde Roderick laut und er riss sich los. „Fass mich nicht an!“ Er wollte sich umdrehen und gehen, doch John verlor jetzt völlig die Fassung. „Du bleibst hier, Bursche!“, schrie er Roderick an und packte ihn am Ohr. Er verpasste ihm wieder eine Ohrfeige und Roderick, der bei dem Versuch, auszuweichen stolperte, ging zu Boden. „Dir werde ich Respekt beibringen!“, schrie John ihn an und schlug wieder nach seinem Stiefsohn. Roderick versuchte, sich zu schützen, indem er die Arme über seinen Kopf hob, doch Johns Schläge waren stark und zielgerichtet. Roderick wagte selbst dann nicht, sich zu wehren, als sein Stiefvater begann, ihn mit dem Gürtel zu schlagen. Er konnte die Wut seines Stiefvaters gut verstehen und wusste, dass er alles nur noch schlimmer machen würde, wenn er sich wehren würde. Weder seine beiden anwesenden Geschwister, noch seine Mutter, wagten es, einzuschreiten.
Erst, als Roderick schon fürchtete, John würde ihn totschlagen, ließ dieser von ihm ab. Roderick wischte sich die Tränen vom Gesicht und schluchzte, jedoch mehr vor Wut als vor Schmerz, und auch John wandte sich ab. „Wer behandelt hier wen respektlos?“, fragte Roderick trotzig und wischte sich die Tränen von den Wangen. An seiner Hand war Blut, doch er wusste nicht, woher es stammte. „Geh mir aus den Augen, Junge“, sagte John mit vor Wut bebender Stimme. Roderick ließ sich das nicht zweimal sagen. Er stand auf und rannte in sein Schlafgemach, ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Er schämte sich dafür, dass der Streit so eskaliert war und er schämte sich für die Tränen, die er nicht hatte zurückhalten können.
Er warf sich in seinem Zimmer auf sein Bett und betastete seine Rippen. Er sah einige Blessuren, die teils von den Gürtelschlägen, teils noch von seinen Übungskämpfen mit William herrührten. Die Schläge von dem Gürtel schmerzten, obwohl es nicht sehr viele waren. Schnell wischte Roderick die Tränen wieder weg und diesmal merkte er, dass das Blut wohl von seiner Nase stammen musste. Eine Weile lang lag er einfach nur da und wartete darauf, dass seine Nase aufhörte, zu bluten und seine Rippen nicht mehr schmerzten. Einmal hatte ihn die Gürtelschnalle unterhalb des Auges getroffen und jetzt fühlte er, wie seine Wange anschwoll.
Seine Arme jedoch hatten am meisten abbekommen. Er hatte Striemen auf beiden Unterarmen, mit denen er die Schläge abgewehrt hatte.
John hatte ihn und seine Geschwister selten geschlagen, umso überraschter war Roderick jetzt über die Heftigkeit dieser Tracht Prügel. Das schlimmste jedoch waren nicht die Schmerzen, sondern die Demütigung und dass er wusste, dass er sie verdient hatte. Er hätte John niemals so provozieren dürfen, das wusste er. Was ihm genauso zusetzte, war, dass John ihn vor den Augen seiner Mutter, seiner jüngsten Schwester und seinem Bruder bestraft hatte, und das versetzte Rodericks Stolz einen üblen Kratzer.
Es waren einige Stunden vergangen, in denen Roderick mit sich selbst gerungen hatte, ob er das Zimmer verlassen sollte, oder nicht. Er war hungrig und durstig, doch gleichzeitig wollte er nicht nachgeben. Er würde erst wieder herauskommen, wenn ihn jemand holen würde. Sollte John nur nicht denken, Roderick wäre auf ihn angewiesen. Eher würde er hier drinnen verhungern.
Tatsächlich war es schon später Abend, als Susan das Zimmer betrat. Als Roderick sie sah, drehte er sich schnell weg und beschloss, weiterhin gekränkt zu sein. Er vergrub das Gesicht in den Kissen und sah sie nicht an, nur um seiner Mutter ein schlechtes Gewissen zu bereiten.
Susan setzte sich zu ihm an die Bettkante und streichelte ihm sachte über den Rücken. Roderick schlug ihre Hand weg. „Du tust mir weh“, sagte er. Susan schob vorsichtig das Hemd ihres Sohnes ein Stück nach oben. Rodericks Rücken war von einigen Striemen geziert, jedoch lange nicht so viele, dass Roderick wegen ihnen wirklich solche Schmerzen haben müsste und Susan wusste, dass ihr Sohn jetzt einfach nur ein wenig leiden wollte. Sie wusste, dass die Schläge eher seinen Stolz, als seinen Körper getroffen hatten und strich ihm über den Rücken. „Mein Kind“, sagte sie und fuhr liebevoll durch seine Haare. „Wieso musstest du deinen Vater auch so reizen?“
„Er ist nicht mein Vater!“, knurrte Roderick und drehte sich erstaunlich flink auf den Rücken, um Susan wütend anzufunkeln. „Vater hätte mich nie geschlagen.“ Susan schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass das nicht stimmt“, entgegnete sie scharf. „Und die weißt auch, John das ebenfalls nur sehr selten tut und auch nur dann, wenn er sich wirklich nicht mehr anders zu helfen weiß.“ Susan schwieg eine Weile und drehte dann Rodericks Gesicht zu sich. „Du darfst so nicht mit ihm reden. Er ist mein Mann und damit dein Vater. Du bist nicht immer einfach, und ich glaube, das weißt du selbst. Jetzt hör auf, zu weinen“, sagte sie. „Ein Mann weint nicht!“
Roderick wischte sich die Tränen ab und drehte sich wieder weg und lauschte dem Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte, während seine Mutter seinen Rücken liebkoste. Roderick hörte seinen Magen knurren – er war jetzt sehr hungrig. Er hatte beinahe den ganzen Tag noch nichts gegessen, doch seine Mutter kam ihm zuvor. „Dein Vater hat angeordnet, dass du heute ohne Abendmahl ins Bett gehst“, sagte sie und strich über seinen Nacken. „Aber ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen“, jammerte Roderick, drehte sich wieder um und sah seine Mutter Mitleid heischend an.
Sie küsste ihn auf die Stirn. „Sei tapfer“, sagte sie und streichelte ihm über die verletzte Wange. „Ich weiß, dass du es sein kannst. Du wirst allmählich zu einem richtigen Mann, mein Kleiner“, murmelte sie leise, während sie ihn von oben bis unten musterte. Zwar verhielt Roderick sich bisweilen noch unreif, was Susan auf den frühen Verlust seines Vaters und der Verpflichtung, früh erwachsen zu werden, schob, doch seine Schultern waren breit, seine Arme und seine Brust muskulös, was von den vielen Übungskämpfen mit seinem Bruder herrührte, und sein Gesicht hatte schon lang alle kindlichen Züge verloren.
Noch immer streichelte Susan über die Wange ihres ältesten Sohnes. „Jetzt schlaf“, sagte sie. Sie stand wieder auf und verließ das Zimmer. An der Tür drehte sie sich kurz noch einmal zu ihm. „Und wasch dir das Gesicht“, sagte sie. Roderick wartete, bis seine Mutter verschwunden war, dann rief er Roy, seinen Kammerdiener, herein, damit er ihn beim Ausziehen der Kleidung half. Er ließ sich eine Schüssel mit Wasser bringen und wusch sich das getrocknete Blut vom Gesicht, anschließend ging er schlafen.
Aufgrund des Platzregens gingen Jolyon und Roderick am nächsten Tag nicht auf die Jagd. Ihre Beute war reichhaltig gewesen und sie konnten sich diesen Tag Entspannung gönnen, außerdem waren die Waldwege gefährlich, wenn sie von einem langanhaltenden Regen aufgeweicht wurden, denn es kam oft zu größeren Erdrutschen, die verirrten Wanderern oder Jägern sehr gefährlich werden konnten.
Roderick saß im Hof unter dem Vordach und beobachtete den Regen, der die Luft abkühlte und sie sauber wusch. Seine Schwestern spielten drinnen Karten und seine Mutter nähte. Roderick beschloss, einen Brief an Alan zu schreiben und ihn zu fragen, ob er zur Hochzeit seiner Schwester kommen würde, sobald ein Termin feststand. Wieder dachte er an das, was sein Stiefvater von ihm verlangte, verdrängte den Gedanken jedoch bald wieder.
Trotz des Wetters schickte er sofort einen Boten los, der den Brief zu einem Bruder in die nahgelegene Abtei bringen sollte und ging dann ins Haus.
Es dauerte lange, bis der Bote wiederkehrte, dann jedoch hatte er bereits einen Brief von Alan bei sich. Er versuchte sich für die Verspätung zu entschuldigen, der Junge habe ihn gebeten, zu warten und seinen Brief gleich mitzunehmen, doch Roderick wollte nichts hören, er wollte den Brief lesen. Er entließ den Boten mit einer schnellen Handbewegung und setzte sich an den Tisch, wo er das Siegel aufbrach und den Brief öffnete. Alans Schrift hatte sich verändert – vor nicht allzu langer Zeit war seine Schrift noch krakelig und unsauber gewesen, doch in der Zwischenzeit war sie akkurat und sauber, die Handschrift eines Jungen, der täglich mehrere Seiten schrieb.
Alan berichtete von der Schule, erzählte, was er gelernt hatte und wie sehr er sich freue, bald wieder nach Hause zu dürfen, um der Hochzeit seiner Schwester beizuwohnen. Er hoffte, es ginge zu Hause allen gut und der Platzregen würde bald aufhören.
Roderick brachte den Brief in sein Schlafzimmer, wo er alle Briefe seines Bruders sammelte und kam nicht umher, die Schriften miteinander zu vergleichen. Man merkte, dass Alan sich verändert hatte und älter geworden war – man sah es seinen Briefen an.
Gegen Abend endete der Regen und die Wolken rissen auf. Sie ließen zarte Abendsonnenstrahlen durch und der Boden trocknete.
Die Luft war noch kühl und roch nach Regen, als Roderick und John, der seit dem Vorfall am vorherigen Tag kaum ein Wort mit ihm gesprochen hatte, in den Hof gingen, wo John seinen Stiefsohn unter seinem prüfenden Blick ein paar Runden reiten ließ. John hatte wieder etwas an Rodericks Haltung zu Pferd auszusetzen und ließ den Jungen im Hof Runden traben. „Füße zurück, Fersen tief. Und sitz gerade. Du hängst auf deinem Gaul wie ein nasser Sack“, sagte John. Er schüttelte enttäuscht von seinem Stiefsohn den Kopf und beendete die Übung. Roderick gab das Pferd einem Stallburschen und folgte John zurück ins Haus. Drinnen spielte er mit Will Schach, bis es Zeit wurde, ins Bett zu gehen.
Roderick wurde schon beim Aufwachen von großer Hitze empfangen. Am liebsten wäre er liegen geblieben, doch Jolyon wartete mit der Jagd auf ihn und im Gegensatz zu Roderick konnte Jolyon sich keinen verlorenen Arbeitstag leisten.
Der Waldboden war von Rissen durchzogen, aus denen die Sonne die Feuchtigkeit gezogen hatte und die beiden jungen Männer beschlossen, sich an den Bach zu setzen und zu fischen, da ihnen die Hitze schwer zu schaffen machte.
Natürlich waren Jolyon die Striemen auf der Haut seines Freundes aufgefallen, doch als er nachfragte, wich Roderick ihm aus. „Es ist nur halb so schlimm, wie es aussieht“, behauptete er und wechselte das Thema. Ungern wurde er nun auch noch von seinem Freund an die Prügel erinnert, die er zwei Tage zuvor empfangen musste. Am schlimmsten fand er, dass die Gürtelschnalle ihn im Gesicht getroffen hatte, denn seine Wange war angeschwollen und hatte sich blau verfärbt. Jolyon behauptete zwar, es sähe aus wie eine Verletzung nach einem ehrenvollen Faustkampf, doch Roderick hatte das Gefühl, alle Menschen könnten sehen, dass sie von einem Schlag mit einem Gürtel herrührte.
Die beiden jungen Männer dösten vor sich hin und zuckten nur hoch, wenn ein Fisch angebissen hatte. Die Sonne wanderte – selbst im Schatten war es unerträglich und die beiden gingen schwimmen. „Weißt du was?“, fragte Roderick Jolyon. „Ich werde mal mit deinem Mädchen reden. Vielleicht kann ich irgendwas machen.“ Er zwinkerte Jolyon zu, doch war der blass geworden. „Das machst du nicht“, sagte er erschrocken. „Auf keinen Fall wirst du mit ihr reden.“
„So bekommst du niemals ein Mädchen ab“, lachte Roderick. „Ich habe hier das Sagen. Und wenn ich mit ihr reden will, werde ich mit ihr reden.“
„Wenn das schief läuft, Roderick, werde ich nie wieder ein Wort mit dir sprechen“, drohte Jolyon.
„Das Risiko geh ich ein“, entgegnete Roderick.
Als der Nachmittag anbrach machten sich die beiden auf den Heimweg. Wie es der Zufall wollte, liefen sie dabei Violet, Jolyons heimlicher Liebe über den Weg. „Sprich sie an“, flüsterte Roderick ihm zu. Jolyon war entsetzt. „Ich weiß doch nichts außer ihrem Namen über sie.“ Er beobachtete Violet, die einen großen Korb mit Gemüse trug. „Frag, ob du ihr den Korb abnehmen darfst“, sagte Roderick. „Hilf ihr beim Tragen. Schau nur, wie ihre zarten Hände unter dem Gewicht des Korbes leiden.“ Roderick schmunzelte und Jolyon war immer noch wie versteinert. „Wenn du nicht willst, dann will ich“, sagte Roderick und schickte sich an, Nägel mit Köpfen zu machen. „Roderick!“ Jolyon wollte ihn zurückhalten, doch sein Freund war schon auf und davon.
Roderick ging mit festen Schritten auf das Mädchen zu. „Sei gegrüßt“, sprach er sie an. Sie sah ihn an, senkte dann jedoch, als sie ihn erkannte, scheu den Blick. „Mylord… Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte sie ihn und sah kurz zu ihm hoch. Sie war zierlich, jedoch nicht klein, nur einen guten Kopf kleiner als Roderick selbst, obwohl Roderick groß und stattlich gewachsen war. Ihr Haar war hell, fast so hell wie das von Conny und ihre Augen, die Rodericks Blick kurz standhielten, waren wasserblau, so wie die der meisten Menschen hier.
Doch etwas Grundlegendes unterschied sie von den vielen Mädchen hier in der Gegend, etwas, was sie besonders anziehend zu machen schien, denn es fiel sogar Roderick auf: Es war ihre Ausstrahlung, ihr frecher Trotz, mit dem sie Roderick trotz ihrer Scheu und ihrer Unsicherheit die Stirn bieten konnte. Der Blick, der Roderick noch immer fragend, aber zugleich auch stolz und selbstbewusst maß, als würde sie die Gefahr abwägen, die von ihm ausginge.
Roderick lachte und griff nach ihrem Korb. „Erlaub mir, dass ich dir den hier abnehme“, sagte er. Violet sah fast entsetzt aus. Ihre Selbstsicherheit war nun verschwunden, was Roderick ein kleines, triumphierendes Lächeln entlockte. „Oh nein, Mylord, das geht doch nicht…“ Dass das Mädchen sich sträubte, war Roderick nur zu recht. „Wie du wünschst“, sagte er. „Dann erlaube zumindest meinem Freund, dich zu begleiten“, sagte er und stellte ihr Jolyon vor.
Das Mädchen sah die Männer überrascht an, willigte jedoch ein, sich von Jolyon helfen zu lassen. Als Jolyon ihr den Korb abnahm und ihr zum Markt folgte, nahm Roderick seinem Freund die Beute ab, die sie im Laufe des Tages gemacht hatten und machte sich auf den Weg zum Hof von Jolyons Großeltern. Es war ein guter Hof mit einem großen Stall, in dem die Familie Schafe und Schweine und sogar ein paar Kühe hielt. Außerdem hatte die Familie ein großes Grundstück mit vielen Feldern gepachtet.
Roderick klopfte an und als er aus dem inneren des Hauses die Stimme von Jolyons Großmutter hörte, die ihn hereinbat, trat er ein. Die alte Frau stand am Herd und schälte Gemüse. Sie drehte sich um und wischte sich die Hände an der Schürze ab, als sie Roderick erkannte. Dann wartete sie darauf, dass er etwas sagte, denn es war ihr nicht gestattet, ihn zuerst anzusprechen. Roderick wickelte einen toten Feldhasen aus einem Tuch und brachte ihn der alten Frau. „Ich glaube, der Eintopf könnte etwas Fleisch vertragen“, sagte er. „Was verschafft uns die Ehre, Mylord?“, fragte Jolyons Großmutter und kam näher. „Jolyon muss noch etwas erledigen. Er wird später kommen, daher habe ich mir die Freiheit herausgenommen, unsere Beute höchstpersönlich hier abzuliefern.“
Er hatte die Worte kaum gesprochen, als ein junges Mädchen die Treppe heruntergelaufen kam. „Haben wir Besuch, Großmutter?“, fragte Gwendolyn, Jolyons Schwester. Roderick war wieder verblüfft darüber, wie ähnlich sich die beiden Geschwister sahen. Jolyons Haar war dunkelbraun und leicht gelockt, ebenso wie das seiner Schwester, das ihr in Wellen über die Schultern viel. „Gwendolyn, wie schön, dich zu sehen“, sagte Roderick. Gwendolyn lächelte und deutete einen Knicks an. „Die Ehre ist ganz meinerseits, Mylord“, sagte sie und Roderick hasste es, dass dieses Mädchen, das für ihn wie eine Schwester war, ihn so distanziert behandeln musste. Er ging auf sie zu und fasste sie an den Schultern. „Lass dich ansehen. Hübsch bist du geworden. Wie alt bist du nun? Elf, nehme ich an?“
Gwendolyn war errötet und sah Roderick jetzt aber stolz in die Augen. „Ich bin vorige Woche zwölf geworden, Mylord.“ Roderick nickte. „Natürlich. Du hast nur wenige Wochen nach mir Geburtstag“, erinnerte er sich. „Na, dann wünsche ich dir viel Glück für die kommenden Jahre. Du wirst wohl bald heiraten, nehme ich an?“ Roderick lehnte sich an einen Stuhl, woraufhin Gwendolyn ein weiteres Mal errötete und auf ihn zueilte „Wie unhöflich von mir, bitte, setzt Euch doch“, sagte sie und zog den Stuhl zu sich. Roderick setzte sich und auch Gwendolyn nahm an dem kleinen Holztisch Platz. „Was das Heiraten betrifft, so weiß ich es noch nicht …“, meinte Gwendolyn und beobachtete Roderick scheu und zugleich aufmerksam.
„Kann ich Euch etwas anbieten? Etwas zu trinken vielleicht?“, fragte sie dann. „Nein, danke“, lehnte Roderick ab. Gwendolyn schwieg eine Weile und auch Roderick wusste nicht so recht, was er sagen sollte, bis es schließlich beiden unangenehm wurde. „Nun ja, etwas Wasser vielleicht?“, sagte er und Gwendolyn nickte eifrig. Sie stand auf und eilte in die Küche, ihre Großmutter machte ihr Platz und reichte ihr einen Becher. „Wünscht Ihr Wasser, oder vielleicht doch etwas Wein?“, fragte die Großmutter Roderick.
„Wir haben vielleicht keinen teuren Wein aus Burgund…“ Gwendolyn eilte auf Roderick zu und stellte einen einfachen Krug vor ihm auf den Tisch, „…aber dieser hier ist dennoch süß und auch Jolyon trinkt ihn gerne. Er wird Euch schmecken!“ Sie schenkte Roderick ein. Roderick dankte ihr und nahm einen kleinen Schluck. Der Wein war tatsächlich köstlich, etwas grober als das, was er von zu Hause gewohnt war, doch Roderick mochte ihn. „Soso, zwölf… Dann bist du nur wenig jünger als Alan, mein Bruder.“
„Ich kenne Euren Bruder, Mylord“, sagte Gwendolyn. „Wir haben einige Male miteinander gesprochen, als wir jünger waren. Er war oft bei Euch, wenn Ihr meinen Bruder besucht habt und auch in Lacock sind wir uns häufig begegnet.“ Roderick starrte auf den einfachen, hölzernen Kelch und rieb mit dem Daumen darüber.
„Ja, mein Bruder Alan ist ein netter Junge. Es ist schade, dass er im Moment nicht da ist, ich vermisse ihn sehr. Er ist schon viel zu lange weg. Er wohnt momentan in der Abtei zu Lacock, um dort Lesen und Schreiben zu lernen. Kannst du lesen?“, fragte Roderick. „Nein, Mylord“, antwortete das Mädchen.
Roderick lächelte. „Vielleicht kann Alan es dir beibringen, wenn er wieder hier ist. Er würde sich sicher freuen, so ein hübsches, kluges Mädchen zu unterrichten!“, sagte Roderick und lächelte ihr zu. Gwendolyn errötete wieder. „Ich weiß nicht, Mylord … Euer Bruder wird doch sicherlich schwer beschäftigt sein, wenn er wieder da ist, oder?“ Roderick seufzte. „Das werden wir sehen. Ich hoffe, wir werden mehr Zeit miteinander verbringen, wenn er zurück ist. Verbringst du denn viel Zeit mit deinem Bruder?“, fragte er das Mädchen. „Viel zu wenig leider …“, sagte Gwendolyn. „Meistens ist er mit Euch auf der Jagd und wenn er denn hier ist arbeitet er auf dem Feld. Ich helfe ihm zwar, so oft ich kann, denn Großmutter ist alt und mein Großvater krank, aber … Ich sehe ihn trotzdem viel zu selten“, murmelte sie. Roderick nickte.
„Weißt du, Gwendolyn, ich bin sehr froh, dass ich deinen Bruder habe. Er bedeutet mir sehr viel. Jolyon ist für mich selbst wie ein Bruder. Und weißt du, was das für bedeutet?“ Roderick beugte sich zu dem Mädchen vor. Gwendolyn schüttelte neugierig den Kopf. „Nein, was denn?“, fragte sie und beugte sich auch zu Roderick hervor. „Das bedeutet, dass du für mich auch wie eine Schwester bist“, lächelte er und strich ihr freundlich über die Wange. Gwendolyn lächelte. „Das ist sehr freundlich von Euch, Mylord.“ Roderick zögerte.
„Gwendolyn, wir beide waren früher wie Geschwister. Ich war fast jeden Tag bei euch. Ich möchte nicht, dass du mich mit „Mylord“ anredest. Ich bin für dich weiterhin Roderick, der beste Freund deines großen Bruders, verstanden?“ Gwendolyn lächelte, sehr geschmeichelt und neigte den Kopf. „Wie Ihr wünscht, Myl… Roderick.“ Roderick lächelte sie freundlich an. Er war froh, das geklärt zu haben, denn es fühlte sich falsch an, von dem Mädchen mit so viel Distanz und Respekt behandelt zu werden. Dem Mädchen, das ihm früher so nahe stand und für ihn wie eine Schwester war. Dem Mädchen, für das er sorgen würde, sollte Jolyon jemals etwas passieren.
„Du bist ein kluges Mädchen“, sagte er dann, „lass dir mit dem Heiraten nur Zeit.“ Gwendolyn nickte und Roderick erhob sich. „Ich muss jetzt gehen, man wartet mit dem Essen auf mich!“, sagte er und verabschiedete sich.
Als Roderick zu Hause ankam, war der Tisch bereits gedeckt und seine Familie wartete. Roderick gab seinen Bogen George, einem Diener und setzte sich dann zu seiner Familie. „Wie war eure Jagd?“, fragte seine Mutter ihn. „Hattet ihr Erfolg?“
„Ja“, antwortete Roderick. „Aber es ist sehr heiß draußen. Die meiste Zeit lagen wir am Bach und haben gefischt.“
„Du musst mich unbedingt einmal mitnehmen“, sagte William und steckte sich ein Stück Brot in den Mund, das er mit einem großen Schluck Met hinunterspülte. Roderick seufzte. „Das hab ich dir doch wirklich schon oft genug erklärt, ich nehme dich nicht mit“, sagte er. „Wieso nicht?“, wollte sein Bruder wissen. „Es gibt keinen Grund, warum ich nicht mitkommen könnte. Ich bin ein guter Schütze und wenn ihr ohnehin den ganzen Tag nur am Bach liegt …“
„Wenn du jagen willst, dann lass dich zum Förster ausbilden“, unterbrach Roderick ihn. „Ich nehme dich nicht mit. Das Jagen ist mein Hobby und ich will dich nicht dabei haben.“ Er wollte sich wieder dem Essen widmen, biss in sein Brot und nahm einen Schluck Met, doch Will ließ einfach nicht locker. „Du bist egoistisch“, sagte William wütend. „Wenn du Jolyon nicht dabei hättest, würdest du mich mitnehmen, aber du bist lieber mit ihm zusammen, als mit mir!“
„Vermutlich“, sagte Roderick mit vollem Mund und schluckte erst danach. „Roderick!“, ermahnte John ihn. „Was ist? Ich allein bestimme, mit wem ich jagen gehe“, sagte Roderick, obwohl er wusste, worauf sein Stiefvater hinauswollte. „Schluck bitte herunter, bevor du sprichst“, sagte John, ohne auf ihn einzugehen. Roderick lächelte triumphierend. „Siehst du?“, fragte er William. „Sogar John ist es egal, ob du mit willst, oder nicht.“
William schnitt eine Grimasse, von der John leider nichts mitbekam, doch Roderick ließ sich auf keinen weiteren Disput mit seinem jüngeren Bruder ein. Er lachte verächtlich, ließ sich von einem Diener noch etwas Met einschenken und steckte sich eine Gabel voll Linsen in den Mund.
„Ich sehe wirklich keinen Grund, warum du deinen Bruder nicht einmal auf die Jagd mitnehmen kannst“, sagte seine Mutter. „Es wäre doch nur ein einziges Mal.“
„Du weißt genau, dass ich ihn nicht nur einmal mitnehmen kann. Wenn ich es einmal tue, dann wird er mich nie wieder alleine gehen lassen, Mutter“, sagte Roderick. „Woher weißt du das?“, fragte William seinen älteren Bruder. „Ich kenne dich gut genug, um das mit Gewissheit sagen zu können“, antwortete Roderick. „Roderick, ich will doch nur …“, begann William wieder flehend. „Schluss jetzt“, unterbrach Roderick ihn. „Ich will nichts mehr hören. Wenn du jagen gehen willst, dann such dir einen Gefährten, der mit dir kommt, aber nicht mich!“
Dann wandte Roderick sich seinem Essen zu und plauderte mit Lizzy.
Als Roderick am Abend in seinem Zimmer saß und ein Buch las, klopfte John an die Tür und trat ein. Seit den Prügeln, die Roderick von ihm empfangen hatte, war Roderick seinem Stiefvater aus dem Weg gegangen. Jetzt jedoch kam John auf ihn zu. Den Streit schien er zu ignorieren.
„Roderick, euer Großonkel kommt in ein paar Tagen zu Besuch. Das wollte ich dir nur sagen.“ Er schwieg eine Weile, als dachte er darüber nach, was er als nächstes sagen sollte. Roderick überflog die Zeilen nur, er wartete ab, was sein Stiefvater tun würde. „Ist alles in Ordnung?“, fragte dieser ihn. Roderick zuckte die Schultern. Die Schläge hatte er ihm längst verziehen, obwohl seine Wange noch immer schmerzte und er die Schwellung fühlte, wenn er sein Gesicht wusch, obwohl sie zurückgegangen war. Jetzt zierte ein dunkelblauer Striemen seine linke Wange.
John kam jetzt näher. „Was liest du?“, fragte er den Jungen. Roderick schlug wortlos das Buch zu, um seinem Stiefvater den Buchrücken zu zeigen. Der las den Titel und sah seinen Sohn dann an. „Gefällt es dir?“, wollte er wissen. „Ich habe es schon gelesen“, sagte Roderick. „In der Schule. Als ich Latein gelernt habe. Ich musste es übersetzen.“ John setzte sich neben seinen Sohn auf das Bett, auf dem Roderick lag. „Und weshalb liest du es nochmal?“ Roderick zuckte mit den Schultern. „Ich lese es nicht, ich denke nach.“ Roderick hatte gemerkt, dass er John so leicht nicht würde abschütteln können. „Worüber?“, fragte sein Stiefvater ihn. „Über alles“, sagte Roderick abwehrend und drehte sich mit dem Buch etwas von seinem Vater weg. „Und über was genau? Vielleicht kann ich dir helfen“, meinte John. Scheinbar wollte er sich mit seinem Stiefsohn wieder gutstellen, obwohl dieser schon längst nicht mehr nachtragend war. Roderick seufzte und legte das Buch endgültig weg.
„Hast du meine Mutter aus Liebe geheiratet?“, wollte er wissen. John lächelte und senkte den Kopf. „Nun, Junge, bei allem Respekt, das ist wohl kaum ein Thema, das dich angehen würde.“ Roderick setzte sich auf. „Vergiss einen Moment, dass ich der Sohn deiner Frau bin. Bitte. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
John hob den Kopf und sah seinen Stiefsohn an. „Deine Mutter und ich waren schon immer gute Freunde. Sie war die einzige Tochter des Earls of Surrey und dieser war ein guter Freund meines Vaters. Dass deine Mutter dann deinen Vater heiratete, war nur deinem Großvater zu verdanken, der schneller war, als mein Vater und einen besseren Brautpreis zahlte. Ansonsten wäre ich der erste Mann deiner Mutter geworden. Ich habe sie gemocht, aber geliebt habe ich sie damals noch nicht. Liebe kommt mit der Zeit.“
John schwieg. „Als dein Vater starb und deine Mutter mit dir und deinen jüngeren Geschwistern alleine war, habe ich nicht eine Minute gezögert. Und ich glaube, es war nicht zu eurem Nachteil, nicht wahr?“, fragte er Roderick, doch der gab ihm darauf keine Antwort. „Roderick, es gibt einige wunderschöne Mädchen in den Grafschaften in der Nähe. Mädchen mit Vätern von Rang und Namen, und sie würden alles für dich tun.“ John zwinkerte Roderick zu, doch der verzog das Gesicht.
„Aber wenn ich sie nicht mag? Oder wenn ich damit einen Fehler mache?“, fragte Roderick seinen Stiefvater, der jetzt die Geduld zu verlieren schien. „Ich weiß überhaupt nicht, wer dir diesen Floh von der großen Liebe ins Ohr gesetzt hat, Junge!“, sagte er aufgebracht und Roderick zuckte zusammen, über den plötzlichen Ausbruch seines Stiefvaters erschrocken. „Hör zu, es gibt wichtigeres, als die Liebe deines Lebens zu heiraten. Vielleicht wirst du sie nie finden. Willst du dann nie heiraten?“ John ließ ihm keine Zeit zu antworten, möglicherweise hatte er auch Angst vor der Antwort, die ihm sein Stiefsohn geben könnte. „Interessiert es dich denn gar nicht, wie es ist, mit einer Frau zusammen zu sein? Möchtest du denn keine Kinder?“
„Doch, schon …“, sagte Roderick und senkte den Blick. John schien erleichtert. Zumindest in diesem Punkt war sein ältester Stiefsohn einer Meinung mit ihm. „Gut. Hör zu, vielleicht können wir, wenn dein Großonkel hierherkommt, oder auch später, ein Fest veranstalten, zu dem wir alle Männer von Adel und ihre Töchter einladen. Wer weiß, vielleicht ist die ein oder andere dabei, die dir gefällt?“
Roderick zuckte nachdenklich mit den Schultern. John würde mit Sicherheit nur die Männer aussuchen, mit deren Töchtern eine Eheschließung von Vorteil für sie war, also musste er sich keine Gedanken darum machen. „Von mir aus.“
„Prächtig!“, sagte John und er schien stolz auf das zu sein, was er bei seinem Stiefsohn erreicht hatte. „Ich werde mich bald an die Planung machen. Das wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht an ein charmantes Mädchen verheiraten könnten, einen hübschen jungen Mann, wie dich!“ Er lächelte seinem Sohn aufmunternd zu und stand dann wieder auf. Roderick seufzte und nahm sein Buch wieder auf, war aber froh, dass sein Vater weg war. Er wusste, dass er sich seinem Vater nicht widersetzen könnte. Wenn der ein Mädchen für ihn aussuchen würde, würde er sich fügen müssen.
Er würde einfach hoffen, dass das Mädchen nicht allzu unausstehlich war, und er sich nicht in eine andere verlieben würde …
Rodericks Großonkel kam bereits drei Tage später an. John hatte für diesen Abend tatsächlich bereits ein großes Fest geplant, das einerseits den Besuch des hochrangigen Großonkels würdigen und andererseits seinem Stiefsohn eine Gelegenheit geben sollte, ein Mädchen zu suchen.
Roderick war gerade erst von der Jagd zurückgekommen. Verschwitzt und dreckig wie er war, hatte er beschlossen, noch ein Bad zu nehmen. Er war kaum ins warme Wasser gestiegen, als er unten im Hof eine Kutsche ankommen hörte. Roderick schloss dennoch genüsslich die Augen, um sich zu entspannen und als Roy, einer seiner Diener eintrat, um ihm die Ankunft seines Großonkels zu verkünden, schrubbte er sich geschwind mit einem Schwamm ab und stieg dann aus der Wanne. Hektisch trocknete er sich ab, Roy, hatte ihm seine beste Kleidung bereitgelegt und half ihm beim ankleiden, dann eilte Roderick die Treppe hinunter.
Roderick war gerade erst in der Halle, als sein Großonkel in Begleitung seiner Mutter und seines Stiefvaters Lacock Manor betrat.
Alain Henry Leclerc war der Marquis von Dunois und Rodericks Großonkel zweiten Grades väterlicherseits. Roderick hatte den Mann noch nie gesehen, oder es musste sehr lange her sein. Er erkannte in dem Gesicht des Mannes, der für seine Generation erstaunlich jung aussah, zwar die Gesichtszüge seines Vaters wieder, doch ansonsten war er ihm fremd und er konnte sich nicht daran erinnern, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Wie sein Vater hatte auch Alain helles Haar, hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn. Viele seiner Verwandten väterlicherseits hatten sehr ähnliche Gesichtszüge und man erkannte die Blutsverwandtschaft, doch sowohl Roderick als auch seine Geschwister kamen alle eher nach ihrer Mutter.
Auch Alains Augen waren hellblau, sie hatten fast genau dieselbe Farbe, wie Rodericks. Rodericks Geschwister hatten ebenfalls blaue Augen, das einzige, was sie ihrem Vater ähneln ließ, denn seine Mutter hatte grüne Augen. Jetzt, als Roderick seinen Großonkel sah, fiel ihm auch wieder, dass sein jüngster Bruder Alan nach ihm benannt war. Auch Roderick, William, Cornelia und Elizabeth trugen jeweils die Namen naher, oder auch entfernter Verwandten.
Susan redete auf ihn ein, ein Diener nahm ihm den Mantel ab und John führte ihn in die Halle. Dann fiel Johns Blick auf Roderick und auch Susan blickte auf. „Ach, da ist er ja schon, Onkel Alain!“, sagte sie und lächelte. Sie winkte Roderick herbei. „Das ist unser Ältester, Roderick.“ Roderick gab sich Mühe, Alain freundlich anzulächeln und auch dieser schien erfreut, ihn kennenzulernen. „Roderick, es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen“, sagte er und schüttelte seinem Großneffen die Hand. „Die Ehre ist ganz meinerseits“, sagte Roderick höflich, wie es ihm beigebracht wurde. Alain lächelte ihn warmherzig an und ließ seine Hand los.
„Du riechst gut, ist das Lavendel?“, fragte er Roderick. Roderick errötete etwas, überspielte das jedoch geschickt. „Ja. Ich bin gerade erst von der Jagd gekommen und habe ein Bad genommen“, antwortete er. „Ach, die Jagd ist ein wunderbarer Sport“, sagte Alain. Roderick, der ein Dauerlächeln im Gesicht trug und nicht wagte, auch nur eine Miene zu verziehen, nickte brav. Dann führte Susan ihn an ihrem Sohn vorbei. „Bitte benimm dich“, zischte John seinem Stiefsohn zu, als er den beiden folgte.
Roderick seufzte. Sein Stiefvater hatte viel zu wenig Vertrauen zu ihm. „Wir hoffen, du hattest eine gute Reise, Onkel Alain“, sagte Rodericks Mutter zu dem Mann, den sie „Onkel Alain“ nannte, obwohl er mit ihr nicht einmal direkt verwandt war.
Roderick folgte den Erwachsenen und er sah, wie Conny und Lizzy die Treppe herunterkamen. Susan stellte die beiden Mädchen vor und Alain lachte die beiden Mädchen an. Sein Großonkel war Roderick sympathisch. „Wie lange bleibst du, Onkel Alain?“, fragte Roderick ihn und setzte sich zu ihm an den Tisch. „Ach, nicht lange, mein Junge“, sagte er. „Ich bleibe nur zwei Nächte. Ich bin auf der Durchreise nach Frankreich, wo ich meinen Bruder und dessen Sohn treffe. Wir ziehen gemeinsam in den Kreuzzug“, sagte er. Roderick lächelte nur, während er sich seinen Teil dachte. „Und du freust dich?“, fragte er Onkel Alain. „Natürlich“, sagte dieser. „Nur ausgewählte Männer von Rang und Namen dürfen an diesem Kreuzzug teilnehmen. Vielleicht haben sie aus den letzten beiden Fehlschlägen gelernt, und wollen dieses Mal auf der sicheren Seite stehen“, sagte Alain und nahm einen Schluck Wein, den ein Diener gebracht hatte. „Wieso, was war denn mit den letzten beiden Kreuzzügen?“, fragte Conny ihren Großonkel.
Dann erzählte Onkel Alain ihnen viele Geschichten von den beiden vorangegangenen Kreuzzügen und unterbrach sich nur kurz, um William zu begrüßen, den John ihm vorstellte. „Noch so ein hübscher Junge“, sagte er, als William ihm die Hand schüttelte. „Ich habe bereits deine Geschwister bewundert.“ Dann wandte er sich an Susan. „Sind das nun alle?“ Susan antwortete: „Ja, alle, die hier wohnen. Unser jüngster Sohn Alan wohnt zeitweise in der Abtei zu Lacock, außerhalb der Stadt. Er ist nach dir benannt.“ Susan lächelte und Alain schmunzelte. „Ich sehe, die Thronfolge ist gesichert“, lachte Alain. „Und wenn der Junge auch nur halb so hübsch ist, wie seine Geschwister, kann ein Mann wie ich sich geschmeichelt fühlen, wenn ein solcher Junge nach ihm benannt ist.“
Onkel Alain erzählte von seiner Reise und John berichtete, dass zur Feier seiner Ankunft ein Fest für den Abend geplant war.
Eine Weile lang saßen sie nur herum und hörten Onkel Alain zu, dann nahm das Gespräch urplötzlich eine Wende, als dieser sagte: „Genug von mir, was ist mit euch? Ihr Jungen seid sicher herausragende Kämpfer, nicht wahr?“, fragte er Roderick und William. Die beiden sahen einander an und John antwortete für sie: „Unsere beiden Jungen sind wunderbare Fechter, und auch Bogenschützen. Roderick“, sagte er und wandte sich zu seinem Stiefsohn, „sei doch so nett und gib deinem Großonkel eine Kostprobe von deiner Kunst!“
Roderick stand auf und holte seinen Bogen, während Susan und John Alain nach draußen führten. „Er ist ein exzellenter Jäger und ein äußert guter Kämpfer“, sagte John zu Alain. „Man kann stolz sein, ihn zum Sohn zu haben. Und auch William ist ein grandioser Fechter.“ Zwei Diener stellten eine Zielscheibe auf und Roderick stellte sich in einer Entfernung auf. Er zielte und schoss einige Male auf die Zielscheibe. Sein Onkel, seine Familie und einige der herumstehenden Diener applaudierten, dann warf William ihm einen Stock zu und die beiden kämpften gegeneinander.
Als sie einige Kämpfe ausgetragen hatten, gingen sie wieder in die Halle. Onkel Alain lief neben Roderick her. „Du bist wirklich ein herausragender Schütze und auch ein wunderbarer Schwertkämpfer. Du solltest mit mir ins Heilige Land ziehen, die Armee der Kreuzritter könnte auf einen solchen Kämpfer stolz sein.“ Roderick nickte nur. In Wirklichkeit würde er niemals freiwillig in den Krieg ziehen.
„Ich glaube kaum, dass das etwas für mich ist“, sagte er ausweichend. „Ich muss hierbleiben, und mich und Lacock kümmern. Außerdem muss ich in der nächsten Zeit heiraten. Solange ich nicht den Befehl bekomme, dorthin zu reisen, bleibe ich hier“, sagte Roderick.
Roderick hatte kaum gemerkt, wie schnell der Nachmittag vergangen war. Erst, als die ersten Gäste eintrafen, bemerkte er den Hunger.
Roderick beobachtete die ankommenden Gäste, doch die meisten Mädchen hinterließen keinen bleibenden Eindruck bei ihm. Außer den Mädchen waren keine gleichaltrigen Leute dabei und Roderick fürchtete, dass der Abend ihn sehr langweilen könnte.
John hatte seine Blicke bemerkt und stellte sich mit einem Kelch Wein zu ihm, nachdem er die Gäste begrüßt hatte. „Hast du schon eine gefunden?“, fragte er leise. Roderick schüttelte etwas zu energisch den Kopf. John legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass dir Zeit. Du hast den ganzen Abend.“ Dann wandte er sich zum Gehen. „Den ganzen Abend?“, fragte Roderick und gab sich keine Mühe, den Spott in seiner Stimme zu unterdrücken. Ein Abend war nicht sonderlich viel. Entweder hatte John ihn nicht gehört, oder er tat so. Jedenfalls blieb eine Strafe oder Ermahnung aus.
Roderick unterhielt sich mit einigen Mädchen, hauptsächlich jedoch mit seinen Geschwistern. Auch Connys zukünftiger Ehemann war eingeladen und Roderick beobachtete die beiden. Sie schienen beide etwas schüchtern und sprachen wenig miteinander, doch im Laufe des Abends tauten beide auf und lachten miteinander. Roderick war hungrig und er aß viel. Das Essen war köstlich, es gab eine riesige Auswahl an Fleisch, verschiedenen Brotsorten, Obst und Gemüse und Roderick spülte alles mit prickelndem Wein hinunter. So guten Wein hatte er selten getrunken, von daher ging er davon aus, dass John angeordnet hatte, für seine Gäste ein ganz besonderes Fass Wein anzuzapfen.
Roderick trank mehr, als er es normal tat und der Abend schien doch noch amüsant zu werden. William unterhielt sich mit David, Connys Verlobten und Roderick setzte sich dazu. Seine Gedanken schweiften jedoch immer wieder ab und irgendwann stand er wieder auf. Er spürte, wie der Wein ihm anfing, das Gehirn zu vernebeln und er beschloss, von nun an vorsichtiger zu sein und nur noch wenig zu trinken.
Das erwies sich jedoch als nicht so einfach, denn als John ihn alleine herumsitzen sah, drückte er ihm einen neuen Kelch Wein in die Hand. „Was machst du so allein hier? Das hier ist deine Feier“, sagte er und setzte sich zu ihm. „Ich fühle mich nicht so gut“, gestand Roderick. „Ich glaube, ich habe etwas zu viel getrunken.“ John legte ihm die Hand auf die Schulter. „Versuch, etwas aus dem Abend zu machen, bitte“, sagte er. Dann ging er, ließ den Weinkelch jedoch stehen. Rodericks Kopf brummte und er rieb mit dem Daumen über einen der Steine, mit denen der Kelch besetzt war. Er folgte seinem Stiefvater mit den Augen, der in der Menge verschwand.
Dann sah Roderick, dass John mit einem Mädchen in seinem Alter redete und er ahnte schlimmes, als sein Steifvater auf ihn zeigte, das Mädchen lachte und dann auf ihn zukam. „Oh nein…“, murmelte er genervt und etwas verzweifelt. Er hatte weder die Kraft, noch die Lust, sich mit einem weiteren Mädchen zu unterhalten doch er blieb sitzen, denn es erschien ihm als sehr unhöflich, jetzt noch aufzustehen, denn das Mädchen setzte sich gerade zu ihm auf eine hölzernen Bänke, die an den Tischen standen.
„Hallo. Ich bin Livia.“, sagte sie. „Roderick…“, stellte Roderick sich knapp vor und starrte auf den Tisch. Er folgte der Tischmaserung mit den Augen und hörte dem Mädchen nicht zu, das jetzt auf ihn einredet.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie ihn irgendwann. „Wie bitte?“ Roderick schreckte hoch. Es ging ihm wirklich nicht gut. Er starrte in die hellgrünen Augen des Mädchens, die von kleinen, braunen Punkten durchzogen waren. Erstaunlich, diese Farbe… Diese Mischung von grün und braun. Sie war hübsch, in der Tat. Ihre Haut war hell und ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen wurde von ihren langen, hellen Haaren umrahmt und ihre Nase war zierlich.
„Ich glaube, wir sollten uns kurz zurückziehen“, schlug Livia. Sie stand auf. „Kommst du mit mir?“, fragte sie ihn und lächelte ihn herausfordernd an. Sie streckte ihm die Hand entgegen und er ergriff sie. „Gute Idee“, dachte Roderick. Er wollte hier einfach nur weg. An die frische Luft oder so. Er wusste nicht, was Livia wirklich vor hatte.
Er stand schwankend auf und hielt sich an Livia fest, die kicherte. Auch Roderick kicherte albern, obwohl er sich sicher war, in seinem ganzen Leben noch nie gekichert zu haben. Es war heiß hier drinnen und Roderick schwitzte, weshalb er froh war, den stickigen Raum verlassen zu können. Hätte er gewusst, was Livia plante, wäre er wohl kaum mit ihr gegangen.
Das Mädchen zog Roderick einfach nur mit sich und Roderick fand sich irgendwann in seinem Zimmer wieder. Er wusste nicht, ob er Livia hierhergeführt hatte, oder ob sie einfach zufällig hier gelandet waren, jedenfalls waren sie jetzt hier.
Roderick setzte sich auf sein Bett und legte den Umhang und die Weste, die er darunter trug, ab. Ihm war viel zu warm, obwohl die Luft hier oben nicht so stickig war, wie unten in der Halle, wo sich die vielen Menschen aufhielten. „Ist dir nicht wohl?“, wollte Livia wissen, als sie Roderick sah. „Ich weiß nicht…“, sagte Roderick und rieb sich über die Stirn. Eigentlich fühlte er sich nicht so schlecht, es war ein berauschendes Gefühl, ihm war nur so warm. „Brauchst du einen Arzt?“ Sie setzte sich besorgt zu ihm und Roderick schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich habe einfach… etwas viel getrunken…“, sagte Roderick. Das Mädchen lächelte ihn an und legte den linken Arm um seine Hüften. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte sie ihn und Roderick nickte, dann kicherte er albern. „Halb so schlimm“, meinte er und grinste.
Auch Livia lächelte, dann hob sie ihren Arm und legte ihre Hand an seine Wangen. „Du hast zumindest kein Fieber“, sagte sie beruhigend und ließ ihre dünnen, hellen Finger über seine Haut wandern. „Das ist gut.“ Roderick wusste nicht genau, was sie damit meinte. Ihre linke Hand lag noch immer um Rodericks Hüften, während ihre Finger über seine Wangen strichen. „Du hast hübsche Augen“, sagte sie und lächelte ihn an. „Danke…“, sagte Roderick. Er wusste nicht, wie er sich verhalten und was er sagen sollte.
Livia sah ihn an und er konnte in seinem Zustand nicht anders, als zurück zu starren. „Du hast auch schöne Augen“, sagte er irgendwann. Livias Hand wanderte von seinem Gesicht zu seinen Haaren und sie wickelte eine Locke um ihren Finger. Roderick hob die Hand und berührte ihr Haar ebenfalls. „Deine Haare sind ganz weich“, sagte er zu ihr und ließ eine Strähne durch seine Hand rinnen. Livias Hand wanderte in seinen Nacken und sie zog seinen Kopf zu ihr herunter. Ihre Lippen waren ganz nah an seinen und er wagte nicht, zu atmen oder sich anderweitig zu rühren.
Livia flüsterte etwas, was er nicht verstand und bei den Bewegungen berührten ihre Lippen seine. Dann drehte Livia den Kopf und plötzlich berührten ihre Lippen seine Wangen. Sie wanderten zu seinem Mund und sie küsste ihn vorsichtig. Roderick wagte nicht, sich zu rühren, als Livias Lippen über sein Kinn wanderten. Er wusste nicht, was er hier tat, und was passierte. Er fühlte Livias Nasenspitze an seinem Kinn, als sie mit ihren Lippen an seinem Hals entlangfuhr. Ihre rechte Hand wanderte von seinem Nacken über seinen Rücken hinter bis zu seinen Hüften. „Was machst du?“, fragte er Livia. Sie lächelte und drückte ihre Lippen wieder auf seine. „Das ist doch nicht so wichtig“, sagte sie abwesend, während sie sich auf das Gefühl von seinen Lippen konzentrierten und ihn zu sich zog. „Wir dürfen das nicht“, sagte Roderick. Er war mit diesem Mädchen nicht verheiratet, er sollte mit ihr gar nicht hier sein. Oh Gott, wenn John herausfand, was er hier tat…
„Ach, komm schon.“ Livia lächelte ihn an und zog seinen Kopf zu sich. Sie küsste ihn wieder. „Das erfährt doch niemand.“ Ihre Hand wanderte jetzt von seinem Nacken über seine Brust und blieb anschließend dort liegen. Dann drückte Livia ihn mit dieser Hand sanft rückwärts aufs Bett.
Roderick erkannte, dass er das hier sofort beenden musste, doch als Livia ihre Hand unter sein Hemd schob, wusste er, dass er das nicht konnte. Ein seltsames Gefühl durchströmte ihn und er spürte, wie er plötzlich wieder stocknüchtern war. Livias Hand war warm und weich. Sie streichelte zärtlich, aber bestimmt über seinen Bauch und legte die Hand dann auf seine Hüften, wo bereits schon die andere lag. „Livia.“ Roderick wollte sie abhalten, doch als ihre Lippen an seinem Hals entlang strichen, ging seine Stimme in ein leises Stöhnen über. Sein Atem ging schnell und er wagte nicht, sich zu bewegen, als ihre Hände vorsichtig seine Hüften umfassten.
Livia setzte sich wieder auf, dann band sie seine Stiefel auf und zog sie ihm aus. Sie zog auch ihre Schuhe aus, woraufhin sie die Füße aufs Bett zog und sich wieder über Roderick lehnte. Sie schob sein Hemd mit einer Hand über seine Rippen nach oben, während sie ihn küsste und Roderick hatte keine Ahnung, wie weit das hier gehen würde.
Livia schob das Kleid etwas von ihren Schultern und drückte sich an Roderick. Er fühlte ihren Körper an seinem und das seltsame, aber durchaus angenehme Gefühl wurde noch stärker. „Livia“, keuchte er noch einmal abwehrend und Livia kicherte. „Ich spüre doch, dass es dir gefällt“, sagte sie leise und Roderick wurde rot.
Dann zog Livia ihm das Hemd über den Kopf und setzte sich auf seine Hüften. „Du bist hübsch!“, sagte Livia und musterte seinen nackten Oberkörper. Rodericks Herz schlug wie verrückt, er wurde rot unter ihrem prüfenden Blick, doch Livia streichelte seine Brust und küsste seinen Hals. Ihre Lippen rutschten an seinem Hals herab über seine Brust und hinterließen eine nasse Spur. Ihre Lippen verweilten kurz auf seiner Brust und ließen Roderick einen Moment, um Luft zu holen und zu fragen: „Hast du das schon mal gemacht?“ Livia lächelte ihm herausfordernd zu und setzte sich auf. „Vielleicht ein paar Mal. Oder vielleicht auch etwas öfter.“ Sie grinste ihn kokett an, was bei ihm allerdings seine Wirkung verfehlte, denn Roderick wurde blass und gleichzeitig war es ihm so peinlich, dass er auch hätte rot werden können.
Das war abstrus… Das tat man nicht. Erstrecht nicht als Mädchen. Das war verboten und anstößig. Roderick fielen viele Worte dafür ein. Livia bemerkte seine abgeneigte Reaktion und setzte sich erstaunt auf. „Roderick, du kannst mir ja wohl nicht erzählen, dass du noch daran glaubst, die anderen Erwachsenen würden das nicht auch so tun. Glaubst du wirklich, dass alle Frauen und Männer unschuldig sind, wenn sie verheiratet werden?“ Roderick errötete und schüttelte schnell den Kopf. Es war ihm unangenehm, dass das Mädchen ihn so direkt darauf ansprach. Normalerweise ging man mit so einem Thema nicht so freizügig um. So ein Verhalten war er nicht gewohnt.
„Na also.“
Livia beugte sich wieder über Roderick, küsste ihn leidenschaftlich und ihre Lippen wiederholten den Weg von seinem Hals abwärts, doch diesmal verweilten sie nicht auf seiner Brust, sondern glitten über seinen Bauch und seinen Unterleib, bis sie am Saum seine Hose liegen blieben.
Rodericks Herz schlug wild und er keuchte, die Muskeln in seinem ganzen Körper zogen sich genüsslich zusammen, was Livia zufrieden bemerkte, dann legte das Mädchen sich neben ihn und ließ die Hand zielgerichtet über seine Hose gleiten. Er verspannte sich etwas, als sie ihre Hand zwischen seinen Beinen ruhen ließ, sein Atem ging schnell und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Sie küsste ihn wieder und ihre Hände wanderten weiter über seinen Körper.
„Was ist, wenn wir erwischt werden?“, fragte Roderick das Mädchen, das den Blick, gefolgt von ihren hellen Händen genüsslich über seinen nackten Oberkörper gleiten ließ. Sie sah ihn an und unterbrach ihre Liebkosung, sichtbar genervt von seinen Befürchtungen, dann jedoch lächelte sie und warf einen Blick zu Tür. „Kann man die Tür nicht abschließen?“, fragte sie ihn.
Roderick schüttelte den Kopf. „Nein.“ Livia schien damit kein Problem zu haben. Sie zwinkerte ihm zu und ihre Finger machten sie an seiner Hose zu schaffen. „Umso besser. Dann macht es gleich noch viel mehr Spaß“, kicherte sie begeistert. Roderick konnte ihre Aufregung nicht richtig teilen, seine Angst, von jemandem erwischt zu werden, war zu groß. Livia merkte das und obwohl er wusste, dass sie zur Sache kommen wollte, lehnte sie sich zu ihm vor. „Entspann dich, Roderick“, sagte Livia und kam ihm ganz nahe. Ihre Lippen berührten sein Ohr, als sie leise und mit gedämpfter, verführerischer Stimme mit ihm sprach. „Wenn wir erwischt werden, gehen sie mit dir doch sowieso viel sanfter um, als mit mir“, meinte sie und ihre Zähne berührten leicht sein Ohrläppchen. „Oder wir sagen einfach, wir wären verlobt“, kicherte sie und knabberte an seinem Ohrläppchen. Er neigte den Kopf etwas zur Seite, um Livia mehr Platz zu machen, doch die fuhr nur kurz mit den Fingern über seine Wange.
Dann legte sie sich neben ihn auf den Rücken und zog ihn auf sich. Sie nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn, Roderick küsste sie genüsslich zurück und ließ seine Hände ebenfalls über ihren Körper gleiten. Er berührte vorsichtig ihre zarten Schultern, von welchen sie die Ärmel des Kleides geschoben hatte. Ihre helle Haut war ganz warm und weich und plötzlich wurde er von einer großen Neugierde erfasst. Er zitterte vor Aufregung, als er ihren Kopf zu sich zog und sie wieder küsste. Livia drückte ihn eng an sich, ihre Hände streichelten sein Gesicht und griffen dann in seine Haare und um seinen Nacken. Roderick ließ seine eigenen Hände von ihrem Gesicht in ihre lockigen, blonden Haare und dann hinab an ihre Taille wandern und griff dort in den bauschigen Stoff ihres Kleides. Livias rechte Hand glitt ebenfalls von seinem Nacken hinab an seinem entkleideten Rücken herunter und blieb kurz, fast zögernd an seiner Hüfte liegen, die unteren Fingern berührten den Hosensaum, die oberen ruhten auf seiner warmen, nackten Haut, dann jedoch schob ihre Hand sich in seine Hose und wanderte um seine Hüfte herum nach vorne. Genau in diesem Moment öffnete sich hinter ihnen die schwere Holztür.
Rodericks Blick schoss herum und er sah Conny in der Tür stehen. „Was macht ihr da?“, fragte sie entsetzt. Roderick sprang auf und zog sich das Hemd wieder über den Kopf.
„Conny…“, keuchte er. Er zog sich die Hose wieder richtig an und eilte auf seine Schwester zu. „Das… bitte, erzähl das niemandem, verstanden?“, fragte er sie und zog sie zu sich. „Bitte! John erschlägt mich, wenn er davon erfährt!“
Connys Blick schoss von Roderick zu Livia und wieder zurück. Sie sah ihren Bruder mit großen Augen an, dann schüttelte sie energisch den Kopf, scheinbar, um ihre Gedanken in eine Reihe zu bringen und zu verarbeiten, was sie gesehen hatte. „Ich… Ich habe nichts gesehen“, sagte sie dann und wandte den Blick ab. Roderick atmete auf. Livia hatte sich die Schuhe wieder angezogen und war aufgestanden. „Ich…“, begann sie. „Du gehst jetzt besser“, sagte Roderick und Livia nickte. Sie drückte sich an Roderick und seiner Schwester vorbei und verschwand. Roderick zog seine Stiefel an und lächelte Conny, die noch immer in der Tür stand, erleichtert zu.
„Gut, dass du gerade jetzt gekommen bist“, sagte er zu ihr. Connys Augen wurden noch größer, dann senkte sie den Blick, obwohl Roderick nicht entging, dass sie rot wurde. „Ich will nichts darüber hören“, sagte sie schnell, bevor Roderick ihr erklären konnte, was passiert war.
„Wirst du auch nicht“, antwortete Roderick dann und lachte. „Ich habe dich gesucht“, sagte Conny nach einer Pause. „John hat dich vermisst. Du hast ihm erzählt, dass es dir nicht gut geht, also habe ich mich bereiterklärt, dich zu suchen.“ Sie schwieg, dann lächelte sie. „Du hast Glück gehabt, dass nicht er beschlossen hat, nach dir zu sehen.“ Roderick wurde bei der Vorstellung blass, dann lächelte er auch. „Komm, wir gehen wieder!“, schlug Conny vor. Roderick nickte, obwohl er sich unwohl fühlte, jetzt seinen Gästen gegenüberzutreten. Er hoffte nur, dass er Livia nicht mehr sehen würde.
Als sie wieder in der Halle waren, eilte wenig später John auf sie zu. „Roderick, wo warst du denn? Die Leute haben sich schon nach dir erkundigt.“ Roderick konnte nicht vermeiden, rot zu werden, als er antwortete: „Mir ging es nicht so gut… Ich habe mich etwas hingelegt.“ John musterte ihn eine Weile und Roderick hatte das Gefühl, jeder hier im Raum müsse genau wissen, was passiert war. So wie er sich verhielt, müsste jeder seine Gedanken lesen können, dessen war er sich sicher. Johns Blick schien ihn zu durchbohren und alle seine Geheimnisse lesen zu können. Roderick konnte seinem Blick nicht standhalten und sah beschämt zu Boden. Es fühlte sich seltsam an, ausgerechnet jetzt seinem Stiefvater gegenüberstehen zu müssen.
„Hoffen wir, dass es vom Wein kommt, sonst rufen wir morgen einen Arzt!“, sagte John nur besorgt und ging wieder.
Roderick hatte sich mit Jolyon für den nächsten Tag später als sonst verabredet, doch er war dennoch müde. Ihre Jagd verlief dementsprechend erfolglos. Heute Abend würde es bei Jolyons Familie wohl kein Fleisch geben. Zum Ausgleich sammelten sie Beeren. Als Jolyon merkte, wie müde sein Freund war, schlug er vor, für heute nach Hause zu gehen, damit er sich um die Felder kümmern und Roderick etwas Schlaf nachholen könnte. Roderick hatte seinem Freund nichts von Livia erzählt und er würde es auch niemals tun. Er schämte sich selbst zu sehr dafür.
Er hatte seinen Teil der Beeren an Jolyon abgetreten, so betrat er an diesem Tag Lacock Manor mit leeren Händen.
Den Rest des Tages über plauderte er mit seinem Großonkel, sie spielten Karten und würfelten. Es begann am Abend zu gewittern und Roderick ging früh ins Bett.
Am nächsten Tag reiste sein Großonkel schon früh am Morgen ab und Roderick und seine Familie verabschiedeten sich von ihm. Schon seit ein paar Stunden war alles gepackt und ein paar Stallburschen hatten die Pferde vor die Kutsche gespannt. „Leb wohl, Onkel Alain“, sagte Roderick, als sein Onkel ihn umarmte. „Vielleicht kann ich dich bald im Heiligen Land begrüßen, mein Junge“, sagte er zu ihm. Roderick zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht“, meinte er, „Hoffentlich“, fügte er in Gedanken hinzu. Onkel Alain drückte ihn trotzdem noch einmal fest an sich, dann stieg er in die Kutsche.
Nachdem er seinen Großonkel verabschiedet hatte, holte Roderick seinen Bogen und traf sich mit Jolyon zum Jagen. Dieses Mal lief die Jagd so gut, dass sie erst am späten Nachmittag zurückkehrten. Auf dem Markt tauschte Jolyon ein Eichhörnchen gegen etwas Brot und Roderick verteilte seine Beute gleichmäßig bis auf einen Fasan, den er geschossen hatte. Den wollte er in die Küche geben, da er Fasan mit Preiselbeeren und einer guten Soße liebte.
Jolyon sah Violet und machte Roderick auf sie aufmerksam. Roderick grinste ihn an und schob ihn auf sie zu. „Geh nur!“, sagte er und nahm ihm seine Beute ab. Jolyon lächelte ihn dankbar an und rief Violets Namen. Dann lief er auf sie zu und die beiden verschwanden gemeinsam lachend.
Roderick brachte die Beute zu Jolyons Familie und plauderte eine Weile mit Gwendolyn. Ihre Großeltern waren auf dem Feld und sie musste ihnen helfen, weshalb Roderick sie nicht lange aufhielt.
Dann machte er sich auf den Weg nach Lacock Manor. Als er eintrat und einem Diener seinen Mantel mitsamt seinen Waffen und dem Fasan, den er nicht auf dem Markt weggegeben hatte, aushändigte, eilte John auf ihn zu. „Roderick!“ Der junge Mann stöhnte und senkte den Kopf, um seine Schuhe zu begutachten. „Was? Bin ich zu spät? Sind meine Schuhe zu dreckig?“
„Roderick, wir haben Besuch …“ Roderick sah seinen Stiefvater wieder an und bemerkte plötzlich, dass er um viele Jahre älter wirkte. Eine tiefe Besorgnis lag in seinem Blick, die auch Roderick zaudern ließ und in ihm den Drang aufkeimen ließ, in die Halle zu stürzen, um zu erfahren, was vorgefallen sei. Er zwang sich dazu, seine Schritte zu mäßigen und öffnete die Türe zur Halle. Von der Empore aus konnte er auf die lange Tafel blicken, die bis auf ein Ende noch nicht gedeckt war. An diesem Ende saß ein Mann mittleren Alters mit vollem, dunklem Haar, einen Krug Wein in der Hand.
„Ah, Mylord!“ Der Mann stand auf und kam gemäßigten Schrittes auf ihn zu. Roderick war es nicht gewohnt, von anderen Menschen zuerst angesprochen zu werden, was ihn verunsicherte. Er stieg die Treppe herab und trat vor den Mann. Bei genauerem Hinsehen konnte er erkennen, dass es sich wohl um einen Boten handelte. Einen Boten von hohem Rang, seiner Kleidung nach zu urteilen, vielleicht ein Bote vom Herzog, oder sogar vom König selbst.
„Wie kann ich Euch helfen?“, fragte Roderick den Fremden. „Mein Herr, ich möchte Euch nicht lange stören, doch ich habe einen Brief für euch. Er kommt von den Templern.“ Roderick schauderte. Etwas in ihm ließ ihn nichts Gutes ahnen und als der Bote ihm den Brief mit dem Siegel der Tempelritter entgegenhielt widerstand er dem Impuls, den Brief zu packen und aufzureißen. Stattdessen nahm er ihn vorsichtig und gab ihn an seinen Steifvater weiter.
„Ich danke Euch und hoffe, man hat sich hier gut um Euch gekümmert. Erlaubt mir, Euch über Nacht hier zu beherbergen, denn es ist schon spät und der Weg ist weit“, sagte er zu dem Boten. Dieser antwortete mit einem höflichen Lächeln: „Ich weiß Eure Bemühungen zu schätzen, doch meine Befehle sind eindeutig: Ich soll mich noch heute auf den Rückweg machen, denn ich soll in wenigen Tagen London erreichen.“
Roderick fragte sich, ob er den Fremden zum Essen einladen sollte, doch der Mann schien keine Zeit für einen kleinen Plausch zu haben und Roderick drängte es, zu wissen, was in dem Brief stand, deshalb sagte er: „Ihr seid in Eile und ich will Euch nicht aufhalten. Wenn es etwas gibt, das Ihr braucht, lasst es mich wissen.“ Mit einer Handbewegung entließ er den Boten, der die Halle verließ und schon kurz darauf hörte Roderick draußen im Hof Stimmen gefolgt von Hufgetrappel. Der Bote war sofort abgereist.
„Was ist?“, fragte Conny. Erst jetzt bemerkte er seine Geschwister und seine Mutter, die am Fenster zusammengedrängt standen, wie Schafe vor einem großen Unwetter. „Das werden wir gleich herausfinden…“, sagte Roderick und gab den Brief seinem Stiefvater. „Lies du ihn.“ Roderick traute sich nicht zu, den Brief selbst zu öffnen, aus Angst ihn in seiner Hast zu zerreißen oder anderweitig zu beschädigen. Ein Brief vom Orden der Tempelritter in diesen Zeiten… Das konnte nichts Gutes heißen.
Er beobachtete John, der während dem Lesen weiterhin deutlich an Farbe verlor. Roderick hielt es nicht aus, still zu sitzen. Er stand auf und lief im Zimmer auf und ab. „Was steht drinnen?“, fragte William. „Roderick… Du wurdest zum Kreuzzug abgezogen!“, sagte John und ließ den Brief sinken. „Was?“, fragte Conny. „Zeig her!“ Roderick entriss seinem Stiefvater den Brief und überflog ihn. Da stand es schwarz auf weiß. Roderick ließ zitternd den Brief sinken und gab ihn an seinem Bruder weiter. Er musste sich setzen.
„Wann?“, fragte seine Mutter. „Hier steht, du sollst spätestens am 10. August aufbrechen“, sagte Will und überflog den Brief. „Sie brauchen dringend Verstärkung und können nicht länger warten.“
„Das ist ja schon in einer Wochen…“, stammelte Conny. Susan und John brieten sich kurz. „Conny, deine Hochzeit wird vorverlegt“, sagte John bestimmt. „Du wirst in zwei Tagen heiraten. Ich werde alles Nötige mit dem Bräutigam und seinem Vater besprechen und dann mit den Vorbereitungen anfangen!“
„In zwei Tagen schon?“ Conny schien nervös. „Das ist nicht nötig, Vater“, wandte Roderick ein. „Doch“, widersprach John. „Du hast ein Recht darauf, bei der Hochzeit deiner Schwester zugegen zu sein.“ Roderick schwieg einen Moment. Natürlich wollte er dabei sein, aber … „Nur, wenn es für Conny in Ordnung ist, dass es jetzt so schnell geht“, sagte Roderick und sah zu seiner jüngeren Schwester. „Mach dir um mich keine Sorgen, Roderick!“, sagte Conny. „Ich bin alt genug. Ich schaff das schon.“
„Dann wäre das geklärt!“, sagte John. „Ich werde sofort losreiten.“ Damit verließ er die Halle, bevor Roderick oder irgendjemand sonst ihn zurückhalten konnte. Roderick saß noch immer völlig kraftlos zusammengesunken auf seinem Stuhl. Niemand konnte ihm garantieren, dass er diesen Krieg überlebte. Er hätte heiraten und Kinder bekommen sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Will Roderick und setzte sich neben ihn. „Jemand muss Alan schreiben“, war Rodericks einzige Antwort. „Ich mach das“, sagte Susan und ließ ihre Kinder zurück. Lizzy kletterte wie ein kleiner Affe auf Rodericks Schoß und drückte das Gesicht in seine Brust, doch der stand auf. Nein, nicht jetzt. Sie behandelten ihn, als wäre er schon tot. Wenn Lizzy jetzt auch noch zu weinen begann … Er setzte Lizzy auf den Boden. „Was hast du vor?“, wollte Conny wissen. „Ich … Ich muss nachdenken“, sagte er und verschwand aus dem Haus.
Er befahl einem Stallburschen, ein Pferd zu richten, und zwar so schnell wie möglich, dann saß er auf und ritt zur Dorfschenke, wo er sich ein Bier bestellte und an den Tresen setzte. So hatte er sich das alles nicht vorgestellt. Wie sollte er Jolyon das erklären? Er würde ihn niemals gehen lassen.
Schließlich betrat sein Bruder William die Schenke und setzte sich zu ihm. Auch er bestellte ein Bier und schwieg eine Weile. „Dass du mir ja nicht stirbst dort, verstanden?“, sagte er zu Roderick. „Du kannst dich ruhig selbst um dein Lacock kümmern. Ich bin da gar nicht scharf drauf. Und auf den langen Namen mit den vielen Titeln auch nicht.“ Roderick griff nach seinem Glas und trank. Er schien gar nicht mehr aufhören zu wollen und stellte das Glas erst ab, als es leer war.
Am liebsten hätte er es an die Wand geschmissen. Er dachte an seinen Großonkel. Jetzt würde er ihn vielleicht doch viel schneller wiedersehen, als ihm lieb war. Er hätte heute direkt mit ihm abreisen können. Er vergrub das Gesicht in den Händen und rieb sich über die Augen. Dann bestellte er ein weiteres Bier und trank auch hier einen großen Schluck. „Weißt du, Bruder“, sagte Will und trank auch sein Bier aus. „Ich glaube, das ist jetzt genau das, was wir brauchen!“ Dann bestellte er auch für sich ein zweites Bier.
Roderick hatte das Gefühl für die Zeit verloren und bemerkte erst, wie schnell die Zeit vergangen war, als der große Tag kam: Heute sollte seine Schwester heiraten.
Die Kirche war geschmückt und Alan war am frühen Morgen angekommen. John war die ganze Zeit schwer mit irgendwelchen Formalitäten beschäftigt und schien sehr gestresst zu sein. Bald ging es los.
Roderick fand seine Festtagskleidung in seinem Zimmer und zog sie an. Dann sah er nach seiner Schwester. Sie trug bereits ein wundervolles weißes Kleid. „Du bist wunderschön“, sagte er, als Conny sich zu ihm umdrehte. Sie lächelte glücklich. „Danke.“ Er breitete die Arme aus und sie warf sich hinein.
„Ich hab dich lieb“, sagte Roderick und streichelte seiner Schwester übers Haar. „Ich dich auch“, antwortete Conny. „Alles wird gut“, sagte Roderick und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Conny nickte.
Die Hochzeit verging ohne Zwischenfälle. Roderick beobachtete den Verlobten seiner Schwester bei jeder seiner Bewegungen. Er war hübsch, ohne Frage, und er schien nett zu sein. Conny und er schienen sich zu verstehen, was Roderick freute.
Es wurde gegessen, getrunken und bis spät in die Nacht gefeiert und Roderick konnte für ein paar Stunden vergessen, was ihm bevorstand. Natürlich, er war ein guter Schütze und ein exzellenter Schwertkämpfer, doch in einer Schlacht hing ein Sieg von so vielen Faktoren ab…
Der Großmeister des Templerordens hatte ihn dazu beauftragt, über den Landweg nach Akkon zu reiten und mit vielen anderen die Belagerung Akkons zu unterstützen, die seit Juni im Gange war, jedoch nicht voranzukommen schien.
Das Fest dauerte bis spät in die Nacht und am nächsten Tag schlief Roderick lange. Er hatte Jolyon noch nichts von seiner bevorstehenden Reise nach Akkon erzählt, doch er hatte ihm gesagt, er würde nicht mit zur Jagd gehen, da seine Schwester heiratete. Morgen würden sie sich wiedersehen und nur zwei Tage später würde Roderick aufbrechen. Roderick wurde übel, wenn er daran dachte. Er würde Jolyon erst in letzter Minute davon erzählen, vielleicht auch gar nicht. Es war schwer genug, sich von seiner Familie zu verabschieden. Doch gleichzeitig konnte er seinen Freund nicht so verraten. Er wollte nicht, dass es möglicherweise das Letzte war, was Jolyon von ihm in Erinnerung blieb.
Die Augusttage bis zu seiner Abreise verliefen problemlos, obwohl es Roderick zunehmend schwer viel, nicht mit Jolyon darüber zu reden. Als sie sich am 10. August, am Tag seiner Abreise trafen und jagen gingen, war Roderick schlecht gelaunt, doch als Jolyon fragte, wies er ihn ab. Vielleicht deshalb bestand Jolyon darauf, ihn mit nach Hause zu begleiten. Es waren nur noch wenige Stunden bis zu Rodericks Aufbruch. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Jolyon. „Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt!“ Roderick konnte ihn nicht länger anlügen. „Ich muss dir was sagen… Wir müssen uns jetzt verabschieden. Ich muss noch heute nach Akkon.“ Roderick konnte Jolyon nicht in die Augen sehen.
„Wie lange weißt du das schon?“, fragte Jolyon nach langem Schweigen. „Knapp sieben Tage. Ich konnte dir nicht davon erzählen…“
Die Männer schwiegen sich eine Weile nur an, dann nahm Jolyon seinen Freund in den Arm. „Ich wünschte ich könnte mit dir kommen…“, sagte er und drückte Roderick an sich. In dem Moment schoss Roderick ein Gedanke durch den Kopf. „Das kannst du vielleicht“, sagte er. Jolyon sah ihn verwirrt an. „Jolyon, komm mit mir!“, bat Roderick ihn.
„Wie stellst du dir das vor? Ich muss mich um meine Familie kümmern…“, begann Jolyon. Seine Großeltern waren alt und sein Großvater schon lange krank. Er war der einzige Mann im Hause und er musste die Felder bestellen. In einigen Wochen würde die Erntezeit anbrechen und dann konnte man jede helfende Hand gebrauchen. Niemals konnte er seine Großeltern und seine kleine Schwester mit dieser Arbeit allein lassen.
„Ich bezahle dich dafür!“, sagte Roderick. „Deiner Familie wird es an nichts fehlen! Das verspreche ich dir. Trete in meine Dienste, werde mein Knappe, und komme mit mir nach Akkon!“ Jolyon schwieg, unentschlossen, was er sagen sollte. „Was sagst du?“ Roderick hielt ihm die Hand entgegen, damit er einschlagen konnte. „Will wird sich um deine Familie kümmern. Ich verspreche es dir!“ „Bist du dir sicher?“ Jolyon zögerte noch. Roderick nickte und sah Jolyon tief in die Augen. „Wenn ich etwas verspreche, dann wird dieses Versprechen niemals gebrochen. Du kennst mich“, sagte Roderick. Jolyon zögerte noch immer und Roderick war bereits kurz davor, seine Hand wieder wegzuziehen, als er einschlug. „Einverstanden.“
Roderick ließ zwei Pferde aufsatteln und schickte Jolyon zurück, um ein paar Sachen zu packen. Als er wieder ankam banden einige Stallburschen bereits das Gepäck auf ein drittes Pferd.
Roderick verabschiedete sich von seiner Familie. „Und du passt gut auf Conny und ihren Bengel auf, verstanden?“, fragte Roderick Will, als er ihn umarmte. „Klar!“, sagte der. „Versprochen. Und du schreibst mir schön und passt gut auf dich auf, ja?“ Roderick nickte. Als er sich von allen verabschiedet hatte, saßen Jolyon und Roderick auf und trabten gemeinsam aus der Stadt. Ein langer, beschwerlicher Weg lag vor ihnen. „Bis Akkon sind es gut fast Monate!“, sagte Roderick. „Und der Weg ist gefährlich.“
Die ersten Tage ihrer Reise verliefen problemlos, doch als sie das Schiff bestiegen, das sie von der Küste Englands nach Frankreich bringen sollte, wurde beiden schwer ums Herz. „Jolyon, vielleicht haben wir einen Fehler gemacht. Du hattest nicht genug Zeit zum Nachdenken“, sagte Roderick zu seinem Freund gewandt. Er sah ihn lange an und senkte dann den Kopf. „Wenn du dich um entschieden hast und hierbleiben möchtest, dann kannst du jetzt gehen. Wenn du mich begleiten willst, dann sei dir bewusst, dass wir England vielleicht lebend nicht wiedersehen werden.“ Jolyon legte ihm die Hand auf die Schulter, hob mit der anderen seinen Kopf wieder und sah ihm lange in die Augen. „Ich bleibe bei dir. Ich liebe dich wie einen Bruder. Ich werde dich nicht verlassen“, versprach er. Roderick nickte und die beiden betraten das Schiff.
Auf dem Schiff trafen sie mehrere Engländer, die wie sie selbst in die Kreuzzüge zogen, doch die beiden mieden den Kontakt zu ihnen und blieben unter sich. Jolyon wurde seekrank und musste sich mehrere Male übergeben und Roderick war glücklich, dass er einen stabileren Magen hatte, als sein Freund.
Als sie an Frankreichs Küste landeten, hatten sich einige zu festen Reisegruppen zusammengeschlossen, Roderick und Jolyon jedoch, die auf der Reise keine engeren Bekanntschaften gemacht hatten, zogen allein weiter. Sie ließen sich Zeit, da sie sich und die Tiere nicht überlasten wollten, denn sie wussten beide, dass sie und die Pferde nach ihrer Ankunft noch in der Lage sein mussten, zu kämpfen.
Der größte Teil der Riese verlief für beide ohne Zwischenfälle. In Frankreich übernachteten sie die ersten Nächte in Herbergen, bis sie schließlich in der Nähe von Paray-le-Monial bei einem von Rodericks Verwandten unterkamen.
Es war später Nachmittag, als Jolyon und Roderick das Anwesen betraten. Roderick erkannte es sofort wieder. Er war schon viele Male hier gewesen und hatte hier einen großen Teil seiner Kindheit verbracht. Er war hier geboren und als er sieben Jahre alt wurde, hatten seine Eltern ihn hierhergeschickt, damit er Französisch lernte und von dem Cousin seines Vaters erzogen und ausgebildet wurde. Erst im Alter von zehn Jahren, ein Jahr vor dem Tod seines Vaters, hatten seine Eltern ihn wieder nach England zurückgeholt und ihn von einem befreundeten Adeligen weiter ausbilden lassen.
Noch heute, fast zehn Jahre später war Roderick sich sicher, dass es damals ein glücklicher Zufall gewesen war, dass man ihn hierhergeschickt hatte, denn nun sprach er beinahe fließend Französisch. Er freute sich, wieder hier zu sein, doch er erkannte sofort, dass sich vieles verändert hatte. Die meisten Diener waren neu hier und Roderick sah, dass ein Großteil der Fassade renoviert worden war. Das Dach war neu gedeckt und auch die Stallungen waren vergrößert worden.
Einige Diener eilten ihnen entgegen, einer griff nach den Zügeln von Rodericks Pferd und Roderick stieg ab. Jolyon sah sich bewundernd um. „Es ist schön hier…“, sagte Jolyon und beobachtete ehrfurchtsvoll das große Schloss. Jetzt kam ihnen der Besitzer dieses prachtvollen Anwesens entgegen. „Roderick!“, rief er ihm entgegen. „Wie schön, dich zu sehen.“ Der Mann, Gauvain, war der jüngste Cousin von Rodericks Vater, ein Mann mittleren Alters mit vollem, dunklem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel und Roderick erkannte ihn sofort wieder. Der Mann war wohl genährt und muskulös und Roderick fühlte die Muskeln in den Armen des Mannes, als dieser ihn an sich drückte. „Ich habe dich sofort erkannt, du siehst deinem Vater so ähnlich“, sagte er und hielt Roderick etwas von sich weg.
„Es freut mich, das zu hören“, sagte Roderick, denn bis jetzt wurde ihm immer nur gesagt, dass er seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. „Es sind die Augen, mein Junge, die Augen“, sagte Gauvain und lächelte Roderick an. „Du bist so groß geworden. Ein hübscher Junge“, sagte er wie zu sich selbst. „Jetzt kommt herein, ihr müsste müde sein von der langen Reise!“, sagte er und legte Roderick einen Arm um die Schultern. Er zog ihn mit sich und Roderick, der sah, dass sich mehrere Männer um Jolyon versammelt hatten und sich mit ihm zu verständigen schienen, folgte dem Mann.
„Mein Freund kann kein Französisch!“, sagte er zu Gauvain. „Hast du einen Dolmetscher hier?“ Gauvain lächelte und nickte. „Ich habe bereits an alles gedacht, ihr werdet euch wie zu Hause fühlen!“ Dann brachte er Roderick in ein Zimmer. Roderick erkannte es wieder. Es befand sich im Ostflügel und er konnte durch die Fenster den Hof unter sich sehen. „Erinnerst du dich noch daran?“, fragte Gauvain ihn. Hier hatte Roderick während seines Aufenthalts in Frankreich gewohnt. Roderick nickte. Einige Möbel waren erneuert worden, doch das große Bett und die Vorhänge waren gleich geblieben, ebenso wie der Teppich, der auf dem Boden lag. „Es wird jetzt nicht mehr benutzt, aber als ich hörte, dass du kommst, habe ich es sofort für dich herrichten lassen.“ Gauvain trat hinter ihn, als Roderick an das Fenster trat. „Das ist wundervoll“, sagte er und lächelte Gauvain an. „Ich danke dir.“
„Meine Diener stehen dir zur Verfügung, dein Gepäck wird gerade heraufgebracht. Ich bin mir sicher, du willst erst einmal ein Bad nehmen. Ich habe bereits Badewasser vorbereiten lassen. Während deines Aufenthaltes wird dir Florian dauerhaft zu Diensten sein“, sagte Gauvain und wies auf einen Pagen in Rodericks Alter. „Ich hoffe, es ist dir recht, wenn ich dich jetzt allein lasse. Wenn du mich bitte entschuldigst…“ Damit wandte Gauvain sich ab und verließ das Zimmer. Roderick zog sich aus und nahm dann ein Bad.
Er blieb lange in dem warmen Wasser und dachte nach, was ihnen bis jetzt wiederfahren war. Ihre Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen und innerhalb von wenigen Wochen hatten sie es bis nach Südfrankreich ins Burgund geschafft. Hier würden sie einige Wochen bei Gauvain verweilen, um die Pferde und sich selbst auszuruhen und auch weil Roderick die Gastfreundschaft seiner Verwandten nicht ablehnen konnte. Er wusste, dass es eine fantastische Zeit hier werden würde.
Als Roderick wieder sein Zimmer betrat, war bereits sein Gepäck heraufgebracht worden und eine alte Frau war mit ein paar jungen Mägden dabei, es auszupacken. Als die Tür aufging, drehte sich die Frau zu ihm um und Roderick erkannte sie sofort. „Aliénor!“, rief er und schloss die Frau in die Arme. „Roderick, es ist so schön, dich wiederzusehen“, sagte die Frau und streichelte sein Gesicht. Aliénor war älter geworden, ihre Haare waren grau und wirr, ihr Gesicht faltig, doch ihre Augen und ihr Lächeln waren freundlich wie eh und je, als sie sein Gesicht in die Hände nahm und seine Wangen streichelte. „Aus dir ist ja ein wunderhübscher, stattlicher Mann geworden“, sagte sie und Tränen schimmerten in ihren Augen.
Aliénor war Rodericks Amme gewesen, als er hier war und hatte ihm auch auf die Welt geholfen. Seit dieser Zeit waren viele Jahre vergangen, doch noch immer fühlte Roderick, dass er sich hier gleich schon viel heimischer fühlte, jetzt wo er wusste, dass Aliénor hier war.
Aliénor und die Mädchen packten weiter aus und Roderick machte sich auf den Weg in die Halle. Dort wartete Jolyon bereits. Er sah etwas nervös aus, schien jedoch erleichtert, als Roderick auftauchte. „Da bist du ja!“, sagte er und eilte auf ihn zu. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Roderick und lachte. Jolyon nickte, schien aber trotzdem beunruhigt.
Gauvain erschien in der Halle und kam auf Roderick zu. „Ich hoffe, du konntest dich etwas ausruhen und alles war zu deiner Zufriedenheit“, sagte Gauvain und legte Roderick einen Arm um die Schultern. „Komm mit. Ich möchte dir meine Familie vorstellen!“, sagte er und zog ihn mit sich. Jolyon stapfte unschlüssig hinter ihm her, blieb jedoch in einiger Entfernung von ihnen stehen.
Gauvain führte ihn zu seiner Familie, die sich in der Halle an der Fensterfront aufgestellt hatte. „Darf ich vorstellen“, sagte Gauvain. „Das hier ist meine Frau, Geneviève“, stellte er Roderick die Frau vor, die vor ihm stand. „Du erinnerst dich?“ Die Frau war in Gauvains Alter und hatte lange, hellbraune Haare. Sie lächelte Roderick an und knickste vor ihm. „Ich bin hocherfreut, dich wiederzusehen“, sagte sie. Roderick lächelte sie zurück. Sie hatte sich verändert, Roderick konnte sich kaum noch an sie erinnern.
Gauvain schob Roderick auf einen groß gewachsenen jungen Mann zu. „Das hier ist mein ältester Sohn, Léandre. Vielleicht erinnerst du dich noch an ihn.“ Roderick lächelte den jungen Mann an und schüttelte ihm die Hand. Natürlich erinnerte er sich an Léandre.
Er musste nun zwanzig Jahre alt sein und sah seinem Vater sehr ähnlich. Er hatte dunkle Locken, trug sich allerdings etwas kürzer als sein Vater. Seine Augen waren von einem warmen Dunkelbraun. Nur seine Gesichtszüge, seine hohen Wangenknochen und sein markantes Kinn, erinnerte daran, dass er mit Roderick verwandt war. „Es freut mich, dich wiederzusehen“, sagte Léandre zu ihm. „Ich freue mich auch“, sagte Roderick.
„Das hier“, sagte Gauvain und zog Roderick weiter, „ist meine Tochter, Louise.“ Louise hatte ebenso wie ihre Mutter hellbraune, glatte Haare und ihre Augen waren dunkelgrün. Sie war kaum jünger als Roderick und auch an sie erinnerte er sich noch dunkel. „Du bist groß geworden“, sagte er. „Wie alt bist du jetzt?“ „Ich bin jetzt achtzehn, Mylord“, sagte sie und sah Roderick an. Er erinnerte sich unwillkürlich an das kleine Mädchen, das am Rockzipfel seiner Mutter hing und Roderick immer verlegen angegrinst hatte. Louises Haare waren schon damals lang und glatt gewesen, doch ihr Gesicht war nicht mehr so pausbackig, wie noch vor zehn Jahren, jetzt war sie eine junge, reife Frau.
Das nächste Mädchen war jünger als ihre Schwester, sie konnte höchstens vierzehn sein. „Du musst Cathérine sein“, sagte Roderick und das Mädchen nickte.
„Und das hier“, sagte Gauvain und zeigte auf die beiden jüngsten Jungen. „sind Luik und Mael. Sie sind Zwillinge.“ Diese Anmerkung wäre für Roderick nicht vonnöten gewesen, denn die beiden Jungen sahen beinahe identisch aus. Sie sahen ihn mit großen, dunkelbraunen Augen, die unter ihren dunklen Haaren hervor spähten, an. „Es freut mich, euch kennen zu lernen“, sagte Roderick. „Wie alt seid ihr?“ „Wir sind sechs“, antwortete einer der beiden schüchtern. Roderick schmunzelte. Die beiden waren schüchtern, doch er war sich sicher, dass sie noch auftauen würden. „Ich war nur ein Jahr älter, als ihr, als ich zum ersten Mal hier war“, sagte er und ging weiter.
„Das ist Mirabelle“, sagt Léandre und kam zu Roderick. „Meine Frau.“ „Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen“, sagte Mirabelle und verneigte sich. Auf dem Arm trug sie ein kleines Mädchen.
„Ich nehme an, das hier ist deine Tochter, Léandre?“, fragte Roderick und streichelte dem kleinen Mädchen über den Kopf, das Mirabelle auf dem Arm hatte. Die Kleine schmiegte sich verlegen an Mirabelle und ihre großen, dunklen Augen und ihr verlegenes Lächeln kamen Roderick bekannt vor.
„Sie heißt Zélie“, sagte Léandre und lächelte. Die Kleine griff nach seiner Hand und Mirabelle gab sie ihrem Mann. „Sie ist jetzt drei Jahre alt. Und er hier…“ Léandre zeigte auf ein kleines Bündel, das in den Armen einer Magd lag, „…er ist der zukünftige Besitzer dieses Hauses.“ Roderick musterte den kleinen Knaben, den die Magd im Arm hielt. „Er ist erst wenige Wochen alt“, sagte Gauvain. „Rate, wie er heißt“, sagte Léandre und sah ihn erwartungsvoll an. „Ich weiß es nicht“, sagte Roderick und sah zu seinem Großcousin. Léandre grinste über beide Ohren, als er antwortete: „Er ist nach dir benannt. Er heißt Rodrigue.“ Roderick fühlte sich geschmeichelt. „Du kannst sehr stolz auf deine beiden Enkel sein“, sagte Roderick und Gauvain führte ihn weiter.
„Ich bin mir sicher, du bist sehr hungrig von deiner langen Reise, doch wird es noch dauern, bis das Abendessen bereit ist“, sagte Gauvain bedauernd. „Wenn du hungrig bist, sag Florian, er soll dir etwas zu Essen bringen. Ich muss mich jetzt leider um eine wichtige Angelegenheit kümmern. Fühl dich wie zu Hause, mein Junge“, sagte Gauvain. „Léandre! Kümmere dich um unseren Gast.“ „Ja, Vater“, sagte Léandre und bat Roderick mit sich. „Bist du hungrig?“, fragte Léandre ihn, doch Roderick schüttelte den Kopf. Léandre führte Roderick in den Hof. „Wieso hast du den Jungen nach mir benannt?“, fragte Roderick geradeheraus. „Ich meine… Deinen Erstgeborenen! Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe.“ Léandre lachte und setzte sich auf eine Bank. Von hier aus hatte man einen Überblick über den gesamten Hof. Roderick sah, dass die Stallungen tatsächlich vergrößert worden sein mussten. Ein struppiger Hund döste in der Sonne und beäugte die beiden Männer aufmerksam, von irgendwo hörte man das Gackern von Hühnern.
„Weißt du noch, wie wir früher mit Holzstecken gegeneinander gekämpft haben?“, frage Léandre ihn. Roderick nickte. „Obwohl ich ein Jahr älter und fast einen Kopf größer war, als du, hast du mich immer besiegt. Genau so auch beim Schießen. Und schon da wusste ich, dass aus dir mal ein großer Kämpfer wird. Ich glaube, eines Tages wird mein Sohn glücklich sein, nach dir benannt zu sein.“
Roderick lächelte seinen Großcousin an. Léandre stand auf und warf Roderick einen Stock zu. „Steh auf und zeig mir, dass ich mich nicht in die geirrt habe!“, forderte Léandre ihn heraus.
Die jungen Männer kämpften lange Zeit, bis ihre Kräfte sie verließen. Beide waren verschwitzt und hungrig. Die Männer wuschen sich vor dem Essen und kamen dann beide erfrischt in die Halle, wo bereits der Tisch gedeckt war.
Das Essen verlief gemütlich und Roderick war froh, sich wieder richtig sattessen zu können. Er freute sich schon auf sein warmes Bett und darauf, am nächsten Tag nicht weiterreisen zu müssen.
Nach dem Essen spielten Roderick und Léandre Karten. Roderick hörte Mael und Luik im Hof rufen und schreien. Irgendwann rannten die beiden Jungen übermütig in die Halle, warfen einen Stuhl um und prügelten sich auf dem Boden. Léandre stand auf und ging dazwischen. „He! Was soll das denn werden, ihr zwei?“, fragte er und zog die Jungen an den Ohren auf die Füße. „Wenn ihr spielen wollte, tut das im Hof! Und seid gefälligst leiser!“ Dann schob er die Jungen auf den Ausgang zu und setzte sich wieder zu Roderick. „Entschuldige“, sagte er und nahm seine Karten auf. „Die beiden sind einfach viel zu übermütig.“ Roderick schmunzelte. „Das waren wir doch auch, als wir in ihrem Alter waren“, sagte er.
„Wenn du möchtest, können wir morgen die Basilika besuchen“, sagte Léandre, während sie weiterspielten. „Vater hat mir erzählt, du bleibst länger. Ich möchte vermeiden, dass du Langeweile hast.“
Roderick hielt das für eine gute Idee und als die beiden müde wurden, gingen sie zu Bett, um morgen früh direkt aufbrechen zu können.
Am nächsten Morgen sattelten mehrere Stallburschen für Léandre und Roderick zwei Pferde auf. Roderick fragte Jolyon, ob er mitkommen wollte, doch dieser verneinte. „Ich komme hier schon klar“, sagte Jolyon. „Du kannst alleine gehen.“
Nach dem Frühstück saßen die beiden jungen Männer auf ihre Pferde und Léandre ritt voraus.
Die Basilika Sacré-Cœur war schon von Weitem gut zu erkennen. Die Männer banden ihre Pferde an und betraten dann die Kirche. Roderick fühlte die angenehme Kälte, die ihm entgegenschlug, denn draußen war es schon seit den frühen Morgenstunden unerträglich heiß. Die beiden Männer sprachen nicht miteinander, jeder blieb für sich und sie beteten eine Weile. Anschließend gingen sie getrennt in der Kirche umher und jeder der beiden hing seinen eigenen Gedanken nach.
Die Männer hatten beschlossen, über die heißen Mittagsstunden in der Basilika zu verweilen, weshalb sie erst am Nachmittag zurückritten. Die nächsten Tage brachten kühleres Wetter, weshalb sie viel auf die Jagd gingen.
Roderick brachte Jolyon Französisch bei, damit er sich mit den Menschen um ihn herum verständigen konnte und Léandre hörte ihnen zu. Glücklicherweise sprachen Léandre und seine Familie auch gut Englisch, weshalb Jolyon sich zumindest mit ihnen gut unterhalten konnte, denn sein Talent für die französische Sprache hielt sich in Grenzen.
Obwohl Roderick zumeist mit Léandre unterwegs war, lernte er auch die Zwillinge und die beiden Mädchen besser kennen.
Louise, die er schon früher gemocht hatte, war noch immer freundlich und aufgeschlossen ihm gegenüber, doch von ihrer kindlichen Verspieltheit war nichts mehr übriggeblieben. „Bist du verheiratet?“, fragte sie Roderick einmal. Roderick verneinte. „Meine Schwester Cornelia hat geheiratet, als ich aufgebrochen bin. Sie ist ein Jahr älter als Cathérine. Ansonsten sind weder ich noch meine anderen Geschwister verheiratet“, sagte Roderick und beobachtete Louise, die geschickt ein Tuch bestickte. „Darf ich es sehen?“, fragte Roderick und streckte die Hand nach dem Rahmen aus, der das Tuch hielt. Louise gab es ihm und Roderick begutachtete es. „Hübsch“, sagte er und gab Louise ihre Arbeit wieder.
„Mein Vater möchte, dass ich heirate. Es ist ihm ein Dorn im Auge, dass ich mit meinen achtzehn Jahren noch unverheiratet bin. Wahrscheinlich wird er mich an den Sohn des Comte von Lyon verheiraten. Unsere Väter verstehen sich nicht sonderlich gut wegen irgendwelchen Erbstreitigkeiten, doch eine Heirat würde ihr Bündnis sichern.“ Louise seufzte. „Leider komme ich mit diesem Schnösel von Grafensohn genauso wenig aus, wie mein Vater mit seinem Vater.“ Roderick schwieg. „Liebt Léandre denn seine Mirabelle?“, fragte Roderick, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Großcousin nicht in der Nähe war. „Anfangs nicht… Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher“, sagte Louise. „Ich glaube, es sind die Kinder, wegen denen sie sich um eine gute Beziehung bemühen“, meinte sie nach kurzem Nachdenken. „Aber nein, ich glaube kaum, dass Léandre Mirabelle wirklich liebt.“ „Und du möchtest einen Mann heiraten, den du liebst?“, fragte Roderick. Louise lachte. „Nein“, sagte sie dann ernst. „Aber einen, den ich leiden kann.“
Roderick schwieg wieder.
Als Roderick schlafen ging, war es bereits spät, deshalb schlief er am nächsten Tag länger. Er bemerkte erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen war. Es war bereits eine Woche vergangen und in spätestens sieben Tagen müssten sie weiterreisen, wenn sie Akkon rechtzeitig erreichen wollten, doch als Roderick aufstand merkte er, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Er fühlte sich schwach und noch immer müde, obwohl er genug geschlafen hatte.
Er ignorierte dieses Gefühl und zog sich an, danach ging er frühstücken. Er aß nicht viel und als Gauvain ihn fragte, ob es ihm nicht schmecke, antwortete er nur abweisend, dass er sich etwas krank fühle. „Soll ich einen Arzt kommen lassen?“, fragte Gauvain ihn, doch Roderick lehnte ab.
Er verbrachte den Tag mit Léandre und Jolyon im Hof, wo Jolyon seinen Übungskämpfen mit seinem Großcousin beiwohnte, doch Roderick merkte, dass er nicht so schnell wie üblich war. Léandre gelang es zwei Mal, ihn zu entwaffnen und auch während den Kämpfen konnte er mehr Treffer erzielen, als die beiden Männer es gewöhnt waren. „Was ist denn los?“, fragte Léandre, als er Roderick zum dritten Mal entwaffnete. „Du scheinst heute keinen guten Tag zu haben!“ Roderick wischte sich den Schweiß von der Stirn und gab Léandre den Stock. „Ich fühle mich etwas krank“, sagte Roderick. „Ich gehe mich jetzt wohl besser etwas ausruhen.“ Léandre sah Roderick besorgt an. „Ich hoffe nur, es ist nichts schlimmes“, sagte er und stellte die Stöcke weg.
Jolyon folgte Roderick, als dieser sein Zimmer betrat. „Brauchst du einen Arzt?“, fragte Jolyon, doch Roderick schüttelte den Kopf. „Nein… Ich möchte mich nur etwas ausruhen. Hilf mir bitte, mich auszuziehen“, sagte er und zog sich das verschwitzte Hemd über den Kopf.
Als er endlich im Bett lag, fühlte er sich noch immer elend, und obwohl es hier drinnen angenehm kühl war, schwitzte er. Er bat Jolyon, nach Aliénor zu suchen und dieser verließ das Zimmer. Es dauerte eine Weile, bis er in Begleitung der Frau zurückkam.
Roderick danke Jolyon und entließ ihn, während Aliénor zu ihm ans Bett trat und eine Hand auf seine Wange legte. „Du hast wohl etwas Fieber“, sagte sie. Roderick seufzte. Er konnte sich keine Verzögerung leisten, auch nicht durch eine Krankheit. Aliénor jedoch lächelte ihm aufmunternd zu. „Das werden wir schon wieder hinbekommen“, sagte sie und schickte einen Diener, ein paar Sachen zu holen. Als der Mann wiederkehrte, war er in Begleitung von Gauvain. „Ich hörte, du bist krank?“, fragte er Roderick. „Nur etwas Fieber“, antwortete dieser, während Aliénor ein Tuch mit Wasser benetzte und es ihm auf Wangen und Stirn legte. „Aliénor kümmert sich schon um mich“, erklärte Roderick, als Gauvain ihm wieder anbot, einen Arzt zu holen.
Widerstrebend verließ Gauvain das Zimmer, legte Roderick und allen Anwesenden jedoch nahe, sofort nach ihm schicken zu lassen, wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Der Mann schloss die Tür hinter sich und Aliénor befahl Roderick, viel zu trinken. Als sie ging, fragte Florian, Rodericks Diener, ob er nicht doch einen Arzt holen sollte, doch Aliénor wies ihn unsanft zurück. „Der Junge braucht Schlaf, und keinen Arzt“, sagte sie. „Jetzt geh und lass ihn in Ruhe!“ Florian verneigte sich und verließ das Zimmer, Aliénor packte ihre Sachen und sagte: „Wenn du etwas brauchst, lass mich sofort holen.“ Dann strich sie ihm über die Wangen und verschwand. Roderick schlief schon wenig später ein.
Er schlief unruhig, wachte jedoch erst spät am nächsten Morgen auf, als jemand das Zimmer betrat. Es war Aliénor. Sie hatte Roderick etwas zu Essen mitgebracht und gab ihm wieder zu trinken.
Wenig später trat Gauvain ein. „Wie fühlst du dich heute?“, fragte er Roderick. Roderick setzte sich auf, doch er schwankte und um ihn herum schien sich alles zu drehen. „Das Fieber ist über Nacht gestiegen“, erklärte Aliénor ihrem Herrn. Gauvain trat besorgt näher und begutachtete Roderick, der im Bett saß und mit müdem Blick auf den Teller vor ihm starrte. Er hatte keinen Hunger, doch er zwang sich, etwas zu essen. „Ich lasse meinen Arzt rufen“, kündigte Gauvain an. „Nein, das ist nicht nötig!“, widersprach Roderick. „Aliénor…“ „…ist eine fantastische Hebamme, das weiß ich“, unterbrach Gauvain ihn. „Sie hat nicht nur dir, sondern auch meinen Kindern und Enkelkindern auf die Welt geholfen, doch hier sollte ein Arzt zu Rate gezogen werden!“
Gauvain verschwand, bevor Roderick widersprechen konnte. Er ließ sich in die Kissen sinken und seufzte. „Ich brauche keinen Arzt“, sagte er müde und Aliénor tupfte ihm zärtlich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. „Die meisten Ärzte richten mehr Schaden an, als sie beheben“, sagte Aliénor und Roderick erkannte darin auch Jolyons Worte, denn dieser war stets derselben Meinung gewesen, was Roderick ein Lächeln entlockte. Aliénor tätschelte seine Wange. „Mach dir keine Sorgen, mein Junge“, sagte sie. „Ich lasse nicht zu, dass irgendein zweitklassiger Mediziner an dir herum pfuscht.“
Als einige Zeit später ein Diener in Begleitung eines Arztes und seinem Assistenten das Zimmer betrat, stand Aliénor dennoch auf und ging beiseite. Argwöhnisch beobachtete sie, wie der Arzt ihren Schützling untersuchte. Roderick warf ihre einige hilfesuchende Blicke zu, doch Aliénor wartete schweigend ab, was der Arzt zu sagen hatte. Dieser sah schließlich auf. „Ich denke, mit ein paar Blutegeln und einem Aderlass sollten wir das Fieber wieder in den Griff bekommen“, sagte er und wies seinem Assistenten an, ihm einige Blutegel zu bringen. Jetzt schritt Aliénor ein. „Oh nein, mein Herr“, sagte sie und kam schnell auf ihn zu. „Fort mit den Viechern! Ich werde nicht mit ansehen, wie Ihr an meinem Schützling herumhantiert und ihn dadurch noch weiter schwächt, obwohl er einfach nur etwas Ruhe braucht!“ Der Arzt sah sie überrascht an, doch seine Überraschung schlug bald in Verachtung um. „Soll ich mir von einer alten Kräuterhexe meinen Beruf erklären lassen?“, fragte er spättisch und schüttelte den Kopf. „Jaques“, wandte er sich dann an seinen Assistenten, „hol die Blutegel.“
Aliénor stellte sich beherzt zwischen ihn und Roderick. „Ich muss Euch bitten, jetzt zu gehen, und meinen Patienten in Ruhe zu lassen!“, sagte sie höflich. Der Arzt starrte sie an, bis er seine Fassung wiedergefunden hatte. Er wandte sich zu dem Diener. „Bitte entferne dieses Weib“, sagte er zu dem Mann, doch Roderick widersprach. „Sie bleibt!“, sagte er und setzte sich auf. Dann wandte er sich zu dem Arzt. „Geht jetzt.“ Der Arzt starrte zwischen Roderick und Aliénor hin und her, dann packte er flugs sein Zeug zusammen und verschwand wortlos. Roderick ließ sich geschwächt zurück in die Kissen sinken und Aliénor strich ihm besorgt über die Haare. „Zu viel Aufregung“, murmelte sie und befeuchtete erneut eines der zwischenzeitlich warmgewordenen Tücher.
Im Laufe des Tages ging es Roderick schlechter. Gegen Nachmittag meldete ein Diener, dass Jolyon draußen wartete. „Lass ihn rein“, sagte Roderick schwach. Aliénor war den ganzen Tag bei ihm am Bett gesessen. Scheinbar hatte sie Angst, jemand könne ihr ihren Patienten während ihrer Abwesenheit entwenden.
Jolyon trat ein und ging zu Rodericks Bett. „Wie geht es dir?“, fragte er und setzte sich an die Bettkante. „Ich bin nur etwas müde“, antwortete Roderick. „Soll ich bei dir bleiben?“, fragte Jolyon ihn. Roderick zuckte mit den Schultern. „Ich habe im Moment eh nichts besseres vor“, sagte Jolyon schnell und Roderick lächelte ihm zu. „Dann bleib.“
Jolyon zog einen Stuhl an das Bett und blieb bei seinem Freund, bis es Abendessen für die Bediensteten gab. Dann verabschiedete er sich und versprach, nach dem Essen noch einmal nach ihm zu sehen.
„Ich fühle mich nicht gut“, murmelte Roderick und drehte den Kopf zu Aliénor. Er merkte, dass seine Sinne getrübt waren, als hätte er zu viel Wein getrunken. „Das wird schon wieder“, versprach Aliénor. „Viele Säuglinge sind direkt nach der Geburt in meinen Armen gestorben. Aber ich werde nicht zulassen, dass ein Junge, dem ich auf die Welt geholfen habe, fast zwanzig Jahre später trotz meiner Behandlung an einem Fieber stirbt.“ Sie drückte ihm wieder ein feuchtest Tuch aufs Gesicht.
Roderick war eingeschlafen, als Jolyon wiederkam. Er hörte seine Stimme und versuchte, gegen den Halbschlaf anzukämpfen. Undeutlich hörte er Aliénor, die etwas zu Jolyon sagte und ihn dann wegschickte. Roderick war zu schwach, um die Augen zu öffnen und Jolyon zu übersetzen, was Aliénor gesagt hatte, doch kurz darauf entfernten sich Schritte und jemand schloss die Tür, weshalb Roderick davon ausging, dass Jolyon verstanden hatte, was die Amme ihm mitgeteilt hatte. Er spürte eine Berührung am Arm und wollte den Kopf drehen, doch er war zu müde und das Fieber zog ihn wieder in die Dunkelheit.
Roderick erwachte in der Nacht mehrere Male von Albträumen, die das Fieber mit sich brachte. Er schwitzte am ganzen Körper und warf sich unruhig hin und her, doch sobald er Aliénors Stimme hörte, beruhigte er sich zumeist und schlief wieder ein.
Roderick wusste nicht, wie viel Zeit verging, während der er einfach nur im Bett lag und kaum etwas mitbekam. Aliénor kühlte seine Stirn, wenn er schwitzte, brachte ihm Decken, wenn er fror, sie wusch ihn und gab ihm zu trinken. Essen verweigerte Roderick, störrisch wie ein kleines Kind drehte er den Kopf weg, wenn Aliénor ihn füttern wollte. Er war müde und wollte einfach nur schlafen. Zu essen war für ihn ein zu großer Kraftakt, für den er keine Kraft übrig hatte. Seine Kehle war dauerhaft ausgetrocknet, auch wenn er erst vor kurzem getrunken hatte.
Erst einige Tage später ging es ihm besser. Langsam kam er wieder zu Kräften, doch ihr Aufbruch wurde dennoch um ganze vier Tage verschoben, denn Gauvain bestand darauf, ihn bei sich zu behalten, bis er wieder gänzlich genesen war.
Erst am Morgen des fünften Tages verabschiedete Roderick sich von seinen Verwandten, dann brachen Roderick und Jolyon gemeinsam auf. Sie ritten weiter gen Osten und erst am Abend stiegen sie in einer Herberge ab. Sie hatten Lyon erreicht.
Obwohl Roderick erschöpft war, beschloss er, noch am Abend die Basilika von Lyon zu besuchen. Jolyon war allein in der Stadt unterwegs und kaufte Vorräte für unterwegs, obwohl sie von Rodericks Verwandten reichlich Lebensmittel mitbekommen hatten. Roderick hatte ihm die wichtigsten Begriffe genannt, die er wissen musste, und ließ ihn gehen, obwohl es ihm widerstrebte, seinen Freund alleine in eine Stadt zu entlassen, in der dieser sich kaum verständigen konnte.
Am nächsten Tag brachen sie frisch ausgeruht und mit gefüllten Mägen auf und verließen Lyon.
Sie durchquerten Frankreich und zogen nach Regensburg, wo sie auf weitere Kreuzritter stießen und mit ihnen eine Weile an der Donau entlang zogen. Jolyon jedoch, der kein besonders guter Reiter war, machte das schnelle Tempo der Gruppe bald zu schaffen, und so verließen Roderick und Jolyon die Gruppe und ließen sich zurückfallen, obwohl sie den Schutz der Reisebegleiter vorgezogen hätten, denn die Strecke war nicht ungefährlich: Wilde Tiere und Wegelagerer konnten ihrem Schicksal jederzeit eine üble Wende verpassen.
Entgegen ihrer Erwartungen blieben die beiden jungen Männer vorerst von Überfällen verschont. Als sie an der Donau entlang durch den Westen des byzantinischen Reiches zogen, mehrten sich zwar die geplünderten Wagen am Wegesrand und hier und da stießen die beiden jungen Männer auf Opfer dieser Diebe, doch ihnen selbst stieß nichts zu, bis sie den gefürchteten „Bulgarenwald“ erreichten.
„Von hier an müssen wir besonders vorsichtig sein!“, sagte Roderick zu Jolyon. Sie waren schon bald einen Monat unterwegs, nahezu die Hälfte des Weges lag hinter ihnen, doch das, was sie auf ihrer bisherigen Reise durchlebt hatten, stand in keinem Vergleich zu den Gefahren, die jetzt vor ihnen lagen. Pferd und Reiter waren erschöpft, Roderick machte es besonders zu schaffen, dass er in voller Rüstung reiten musste, was er nicht gewohnt war. Dagegen schien selbst Jolyon, der ein unerfahrener Reiter war, nur mit halb so vielen Beschwerden kämpfen zu müssen.
Schon in der ersten Nacht im bulgarischen Wald sollten Roderick und Jolyon ihn fürchten lernen. Jolyon war dabei, ihre Wasserreserven aufzufüllen und Roderick legte seine Rüstung ab, weshalb der junge Mann unaufmerksam war.
Er hatte Schmerzen im Brustbereich, obwohl die Rüstung extra frisch für ihn angefertigt worden war und vom langen Reiten taten ihm die Beine weh. Er hatte Druckstellen an den Innenseiten der Oberschenkel, wo sie am Sattel rieben, und am Morgen hatte er seine Rüstung unsorgfältig angelegt, weshalb der Brustpanzer in die Haut unter seinen Armen eingeschnitten war. Roderick hatte das während dem Reiten zwar bemerkt, doch er hatte nicht um eine Pause bitten wollen, da ihre Reise sowieso noch weit genug war, und sie nicht mehr Zeit verlieren wollten.
Roderick hatte seine Rüstung bis auf sein Kettenhemd abgelegt und bemitleidete sich, als er ein Geräusch hörte. Erst dachte er, Jolyon sei zurückgekehrt, doch dann glaubte er, eine Gestalt zu sehen, die kleiner und schlanker war als Jolyon und einige Meter von ihm entfernt durchs Dickicht schlich. Instinktiv griff er nach seinem Bogen und rief der Gestalt etwas zu, die ihn entweder erst jetzt bemerkte, oder die sich sicher gewesen war, dass von ihm keine Gefahr ausging.
Das Gesicht der Person wandte sich zu ihm, ein Tuch bedeckte Nase und Mund und nur zwei Augen, deren Farbe auf die Entfernung nicht zu erkennen war, blitzen ihn an. Dann ging es ganz schnell. Mit einem Messer schnitt die Person das Seil durch, mit dem das Packpferd festgebunden war. Roderick sprang auf und rief nach Jolyon, eine weitere Gestalt tauchte auf und stürzte auf ihn zu. Der neue Angreifer war mit einem dicken Stock bewaffnet und war größer und breitschultriger als sein Komplize.
Während Jolyon schon fast außer Rufweite leise den Ruf seines Freundes hörte und sich nur schnell die Wasserflaschen umhängte, um ihm zu Hilfe zu eilen, hatten die beiden jungen Männer Glück, dass das Packpferd von störrischer Natur und von der langen Reise erschöpft war, sodass es sich heftig gegen die Angreifer zu Wehr setzte. Roderick griff nach einem Pfeil, der im Köcher neben ihm steckte und zielte. „Stopp!“, schrie er, doch die beiden vermummten Personen sprachen in einer Sprache miteinander, die er nicht verstand. Als der bewaffnete Angreifer nicht stehen blieb, ließ Roderick die Sehne los, doch trotz seiner Größe wich sein Gegner geschickt aus. Roderick griff nach seinem Schwert, aber noch bevor er es vollständig gezogen hatte, bekam er einen Schlag gegen den Kopf und ging zu Boden, sein Schwert flog ihm aus der Hand und landete im Staub.
Aus den Augenwinkeln sah er Jolyon auftauchen. „Das Packpferd!“, schrie er ihm zu und Jolyon, der seinen Bogen bei sich trug, brauchte nur wenige Sekunden, um die Lage zu überblicken und ein gezielter Schuss in den linken Oberschenkel des Mannes, der sich an den Pferden zu schaffen machte, beendete den Kampf zwischen Mensch und Tier. Das Pferd bäumte sich auf und trabte zu seinen Kollegen, der Verwundete lag am Boden und schrie vor Schmerzen.
Jolyon wandte sich zu Roderick und dem zweiten Angreifer, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Roderick, der noch auf dem Boden lag, einen erneuten Schlag gegen den Kopf bekam, den er trotz schützend erhobener Arme nicht abwehren konnte. Jolyon spannte seinen Bogen abermals, als der Mann ausholte, um Roderick einen weiteren Schlag zu verpassen. Aus Angst um seinen Freund ließ Jolyon dem Mann keine Gelegenheit, sich zu ergeben, sondern schoss sofort. Der Pfeil traf den Fremden in den Rücken und der bereits erhobene Stock fiel ihm aus den Händen. Leblos brach der Getroffene neben Roderick zusammen.
Jolyon drehte sich um, um sich nach dem bereits angeschossenen Gegner umzusehen, doch der war verschwunden. Er musste es irgendwie geschafft haben, zu fliehen. „Roderick, bist du in Ordnung?“, rief er und drehte sich zu seinem Freund um, der reglos neben dem Toten lag. „Roderick?“ Jolyon war sofort bei ihm. „Roderick!“ Sein Freund blutete aus einer Wunde an der Stirn, doch er atmete, was Jolyon einen Moment befreit aufatmen ließ. Er legte eine Decke unter Rodericks Kopf und tupfte mit einem feuchten Tuch das Blut von der Wunde. Sie blutete kaum, weshalb Jolyon sie nicht verband. Er legte lediglich ein feuchtes Tuch auf Rodericks Stirn, um der Schwellung vorzubeugen und holte eine zweite Decke, mit der er seinen Freund trotz der hohen Temperaturen zudeckte.
Dann schleppte er die Leiche des Mannes weg von seinem noch immer bewusstlosen Freund an den Rand des Lagers. Dabei vermied er, ihn anzusehen oder allzu viel zu berühren. Roderick sollte entscheiden, was sie mit ihm tun würden. Jolyon nahm dem Mann nicht mal die Maske ab, sondern wandte sich schnell wieder ab.
Erfreut bemerkte er, dass Roderick das bereits gesammelte Feuerholz während seiner Abwesenheit zu einem Lagerfeuer gestapelt hatte, das Jolyon nur noch anzünden musste. Als das Feuer brannte, bereitete Jolyon aus den wenigen Vorräten, die sie noch hatten, eine Art Eintopf zu.
Knapp zwanzig Minuten später, als Jolyon schon einen Teller von dem Eintopf gegessen hatte, machte Roderick mit einem leisen Stöhnen auf sich aufmerksam. Jolyon war sofort an seiner Seite. „Roderick? Kannst du mich hören?“ Roderick schien schreckliche Schmerzen zu haben, denn als er sich bewegte, hielt er in der Bewegung inne und keuchte. Jolyon versuchte, seinen Freund zu beruhigen, befeuchtete das Tuch noch einmal und drückte es auf Rodericks Stirn. „Ruhig…“, murmelte Jolyon und tupfte Rodericks Wangen ab. „Vater…“, flüsterte Roderick. „Ich bin‘s. Jolyon“ Roderick stöhnte wieder und öffnete die Augen. Einen Moment fürchtete Jolyon, sein Freund würde ihn nicht erkennen, doch dann rang Roderick sich ein Lächeln ab. „Wie fühlst du dich?“, fragte Jolyon ihn und zog einen Moment die Hand mit dem Tuch zurück, um Roderick etwas mehr Platz zu schaffen. Roderick schien noch nicht wieder vollständig zu sich gefunden zu haben und als er sich aufrichtigen wollte, hielt Jolyon ihn zurück. „Vorsichtig“, sagte er und Roderick fühlte, wie ihn der Schmerz jetzt mit voller Wucht traf.
Er stöhnte und ließ seinen Kopf wieder auf die Decke sinken. Jolyon drückte das Tuch wieder auf die Stirn seines Freundes. „Was ist passiert?“, wollte Roderick wissen. „Du hast einen Schlag auf den Kopf bekommen. Erinnerst du dich? Da waren diese beiden Männer… Sie wollten unsere Pferde stehlen.“ Roderick nickte vorsichtig. „Die Pferde…“, murmelte er. „Ich konnte sie aufhalten.“ Jolyon stockte. „Roderick… Ich glaube… Ich glaube, ich hab einen von ihnen erschossen…“, sagte Jolyon stockend.
Roderick richtete sich wieder auf, diesmal langsamer und bedeutete Jolyon, ihm beim Aufstehen zu helfen. „Bist du dir sicher, dass er tot ist?“, fragte Roderick seinen Freund. Jolyon nickte. Roderick stolperte auf den regungslosen Menschen zu. „Ich konnte nicht anders…“, sagte Jolyon während er seinen Freund stütze. „Er hätte dich umgebracht… Er hat auf dich eingeschlagen…“ Roderick ging neben dem Toten in die Knie und zog den Pfeil aus seinem Rücken, dann reichte er ihn Jolyon. „Hier. Nimm den wieder. Den wirst du brauchen.“ Dann zögerte Roderick. Es wäre mit Sicherheit besser, wenn er den Toten einfach hier liegen ließ und ihn sich gar nicht erst genauer ansah. Er war tot, das konnte er mit Gewissheit sagen, auch wenn er kein Arzt war und sonst auch nicht viel von der Heilkunde verstand. Trotzdem reizte es Roderick, zu wissen, wer versucht hatte, ihn umzubringen.
Er rollte die Leiche auf den Rücken und zog nach einem kurzen Zögern das Tuch vom Gesicht des Mannes. Das erste, was Roderick an ihm auffiel, waren die dichten, dunklen Haare, die unter der Kapuze hervorragten. Schon beim ersten Hinsehen erkannte man, dass der Mann noch sehr jung gewesen war. Er musste im selben Alter wie Roderick und Jolyon sein. Sein Kinn und sein Mund waren von einem kurzen, dunklen Bart bedeckt.
Einen Moment starrte Roderick ihn nur an, dann stand er mit Jolyons Hilfe auf. „Was machen wir mit ihm?“, fragte Jolyon. „Wir lassen ihn hier liegen“, erklärte Roderick und wandte sich ab. „Komm.“ Jolyon folgte ihm nicht. „Ich wollte das nicht…“, flüsterte er. Roderick drehte sich zu ihm um und zog ihn zu sich. „Ich weiß… Ist schon gut. Du hast das Richtige getan.“ Jolyon verbarg das Gesicht in der Schulter seines Freundes und Roderick glaubte, ihn Schluchzen zu hören. „Du hast das Richtige getan, Jolyon. Mach dir wegen ihm keine Sorgen.“ Jolyon hörte nicht auf, zu zittern. „Jolyon.“ Roderick hielt seinen Begleiter an den Schultern ein Stück von sich weg, sodass er ihm in die Augen schauen konnte. „Hättest du das nicht getan, würde ich jetzt da liegen. Der Bursche hätte mich umgebracht. Und was das Schlimmste von allem wäre, unsere Pferde wären weg!“, lachte Roderick. Jolyon konnte ein bisschen schmunzeln. „Das würdest du doch nicht wollen, nicht wahr?“ Jolyon schüttelte stumm den Kopf. „Na also.“ Roderick zog Jolyon mit sich. „Hilf mir, unsere Sachen zu packen. Wir reiten noch ein Stück“, sagte Roderick. „Nein. Ist schon in Ordnung. Du brauchst Ruhe“, widersprach Jolyon. Roderick warf einen Blick hinüber zu dem Toten. Dann nickte er. „Na gut.“
Jolyon reichte Roderick einen Teller und Roderick aß, obwohl er keinen Hunger hatte. Jolyon zuliebe, damit er sich keine Sorgen um ihn machte. Als sich die beiden schlafen legten sagte Roderick zu Jolyon: „Versprich mir, dass du nicht mehr daran denkst!“ „Schon längst vergessen…“, murmelte Jolyon. In Wirklichkeit dachte er jede Minute daran…
Am nächsten Morgen hatten beide schlecht geschlafen. Die Nacht war heiß gewesen und die Geschehnisse des vergangenen Abends hatten beide beunruhigt. Jolyon war schon wach und hatte den Eintopf wieder aufgewärmt, als Roderick aufwachte.
„Bist du schon lange wach?“, fragte Roderick ihn, als er ihm einen Teller reichte. „Ein paar Stunden. Es ist aber auch schon fast Mittag.“ „So spät schon?“ Roderick war überrascht. „Wieso hast du mich nicht geweckt?“, fragte er vorwurfsvoll. „Ich wollte dich schlafen lassen!“, antwortete Jolyon kleinlaut. „Mit so einem Schlag auf den Kopf ist nicht zu spaßen!“ Roderick musste lächeln. „Jolyon, du sollst dir keine Sorgen um mich machen.“
Jolyon antwortete nicht. „Iss. Bitte“, sagte er und nahm sich selbst auch einen Teller. Nach dem Essen bestand Roderick darauf, sofort zu packen und weiterzureisen. Als Jolyon wieder zu bedenken gab, dass Roderick sich nach dem Schlag ausruhen sollte, rief Roderick ihm den letzten Abend in Erinnerung. „Je schneller wir aus diese Wald heraus sind, umso besser. Und dann können wir uns ausruhen“, sagte Roderick.
Also packten sie ihre Sachen und Roderick legte missmutig seine Rüstung wieder an. Es war sehr heiß und die Mittagshitze machte ihm jetzt schon schwer zu schaffen, obwohl sie noch nicht mal unterwegs waren.
Sie saßen auf und fanden bald den Weg wieder, dem sie folgten. Roderick hatte das Gefühl, in seiner Rüstung gekocht zu werden, doch er hoffte einfach nur, dass sie den Wald bald hinter sich gelassen hatten. Jolyon schien zu merken, dass es Roderick schlechter ging und fragte ihn zwei Mal, ob sie eine Pause machen sollten, doch Roderick wies ihn ab. Es war später Nachmittag, als Jolyon einsah, dass er handeln musste, wenn er nicht wollte, dass sein Freund an einem Hitzschlag starb. „Roderick, ich brauche eine Pause… Ich kann nicht mehr reiten!“, behauptete er und hielt sein Pferd an. Roderick schien einverstanden, aber auch nur, weil es sich um Jolyon handelte.
Sie lenkten ihre Pferde vom Weg ins Dickicht. Hier im Wald staute sich die Hitze, obwohl es schattig war. Kein Windhauch regte sich und beide Männer schwitzten.
Sie fanden eine geeignete kleine Lichtung, die von Moos überzogen war und als Roderick abstieg, gaben seine Beine einen Moment lang unter ihm nach. Um ihn herum drehte sich alles. Er hielt sich in der Mähne des Pferdes fest, bis er festen Boden unter den Füßen hatte. Er spürte Jolyons Hand an der Schulter. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte er Roderick. „Ist schon in Ordnung. Wirklich…“, murmelte Roderick. Jolyon bestand dennoch darauf, dass Roderick sich setzte, während er die Pferde versorgte.
Sie waren dem kleinen Fluss durch den Wald gefolgt, was sich jetzt als Vorteil herausstellte, denn Jolyon füllte dort die Wasserflaschen wieder auf und ließ die Pferde trinken. Als er zurückkam, lag Roderick mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Er hatte seinen Rucksack wie ein Kissen unter seinen Kopf geschoben, doch er schien so müde gewesen zu sein, dass er nicht einmal in der Lage gewesen war, sich die Rüstung auch nur teilweise auszuziehen. Jolyon band die Pferde an und setzte sich neben Roderick. Als erstes nahm er ihm den Helm ab, wobei Roderick leicht die Augen öffnete. Seine Haare klebten an seiner Stirn und er war unnatürlich blass. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn und sein Gesicht. Wortlos hob Jolyon ihm eine der Flaschen an die Lippen und Roderick trank. Jolyon legte ihm ein nasses Tuch auf die Stirn, um seine feuchte Haut zu kühlen. Dabei bemerkte er besorgt, wie schnell und flach sein Freund atmete.
Als nächstes nahm er Roderick den Brustharnisch und die Armschienen mitsamt den Panzerhandschuhen ab. Eine enorme Hitze schlug Jolyon entgegen, als er die ledernen Riemen des Harnischs an Rodericks Hals und unter seinen Armen löste und das Kettenhemd freilegte, das Rodericks Brust schützte. Die Luft zwischen Rodericks Körper und der Rüstung musste über 40° gehabt haben. Es war ein Wunder, dass Roderick nicht vom Pferd gekippt war. „Du bist überhitzt“, stellte Jolyon besorgt fest, als er sich daran machte, Roderick die Beinschienen abzunehmen. Roderick war so schwach, dass er nicht antwortete.
Irgendwie brachte Jolyon Roderick dazu, sich aufzusetzen. Er musste Roderick stützen, denn allein wäre der nicht in der Lage gewesen, zu sitzen, während Jolyon ihm das Kettenhemd auszog.
„Ich habe Kopfschmerzen“, merkte Roderick an, als Jolyon ihn wieder hinlegte. Jolyon ließ ihn wieder trinken und zog ihm anschließend das verschwitzte Hemd über den Kopf. Dann kühlte er Rodericks Oberkörper mit dem Wasser aus den Flaschen. Gerne hätte er ihn zum Abkühlen an den Bach gebracht, denn in den Flaschen wärmte sich das Wasser schnell auf, doch er hatte Angst, dass Roderick der Belastung nicht standhalten könnte, also ließ er ihn liegen und holte ein weiteres Mal Wasser.
Die drei Pferde hatte er am Bach angebunden, wo sie sich in der Zwischenzeit dem Gras widmeten. Jolyon war froh, dass sie so nah am Bach ihr Lager aufgeschlagen hatten, denn so konnte er Roderick die ganze Zeit im Auge behalten.
Als er wieder bei Roderick war schlief dieser. Jolyon kühlte seine Stirn weiterhin mit einem Tuch und hoffte, dass sich die Hitze bald verflüchtigen würde, doch auch nachts blieben die Temperaturen hier hoch.
Jolyon machte in einiger Entfernung von Roderick ein Feuer, das hauptsächlich dazu diente, bei Dunkelheit die wilden Tiere abzuschrecken, denn nach einem warmen Essen war keinem der Beiden. Roderick hatte überhaupt keinen Hunger und Jolyon zwang ihn nicht dazu, zu essen.
Jolyon weckte Roderick einige Male, damit er trank. Er nahm seine neuen Pflichten als Rodericks Diener sehr ernst, denn er war sich bewusst, dass Roderick ohne ihn kaum eine Chance hätte, das Heilige Land lebend zu erreichen – geschweige denn es lebend zu verlassen. Doch Jolyon hatte sich fest vorgenommen, das Leben seines neuen Herrn mit allem, was er hatte, zu schützen.
Unerwarteter Weise brachte die Nacht einen Temperaturfall mit sich. Zum ersten Mal seit Tagen sank die Hitze auf eine angenehme Temperatur und es fiel Jolyon nicht so schwer, einzuschlafen, wie sonst. Roderick, erschöpft von der Überhitzung, schlief sowieso schon tief und fest.
Trotz der vergleichsweise niedrigen Temperaturen wachte Jolyon in der Nacht zweimal auf – er wusste selbst nicht weshalb. Diese Zeit nutze er, um nach Roderick zu sehen und sein Gesicht und seinen Oberkörper zu kühlen. Außerdem füllte Jolyon die Wasserflaschen auf und trank selbst.
Als es dämmerte erwachte Roderick. Jolyon gab ihm wieder zu trinken und war erst zufrieden, als Roderick die Hälfte der Flasche getrunken hatte. „Wir sollten uns hier etwas ausruhen. Wir haben einen Bach in der Nähe und ich kann Wasser holen“, sagte Jolyon. „Und du brauchst wirklich Ruhe. Ich will nicht, dass du mir vom Pferd fällst.“ Roderick lächelte. „Ich bin froh, dass ich dich mitgenommen habe, auch wenn du ein bisschen überfürsorglich bist!“, sagte er. „Wir bleiben, bis die Mittagshitze vorüber ist, aber dann ziehen wir weiter, einverstanden?“, bot er Jolyon an.
Jolyon bestand darauf, heute nicht mehr weiterzureisen, da Roderick zu schwach und zu krank sei, um der Belastung standzuhalten, doch schließlich einigten sich die Männer darauf, bis in den späten Nachmittag hier zu verweilen und dafür in der Kühle der Abendstunden und der Nacht zu reiten. Des Weiteren bestand Jolyon darauf, dass Roderick darauf verzichtete, Harnisch und Helm anzulegen, da er eine erneute Überhitzung Rodericks fürchtete. Da Roderick ihm jedoch klar machte, dass es unmöglich wäre, diese auch noch auf das Packpferd zu binden oder sie anderweitig zu transportieren, musste Jolyon schließlich nachgeben.
Roderick ging es wieder bedeutend besser. Jolyon wollte ihn allein lassen, um zu jagen, doch Roderick wollte ihn begleiten. Jolyon stimmte erstaunlich schnell zu. „Mir ist nur wichtig, dass du diese Rüstung nicht wieder anzieht. Die wird dich noch umbringen in dieser Hitze“, sagte er. Dann packten die Männer ihre Sachen und gingen auf die Jagd. Zwar sahen sie ein Rudel Rehe, doch sie kamen nicht auf Schussweite an sie heran. Stattdessen pflückten sie ein paar Beeren, die sie kannten. Von den vielen anderen, die daneben wuchsen, ließen sie die Finger.
Als die Sonne im Zenit stand legten sie sich in den Schatten an den Bach und hingen die Füße ins Wasser. Die Abkühlung tat beiden gut und gegen Nachmittag, als sie sich in der Nähe des Bachs aufhielten, hatten sie auch bei der Jagd Glück. Sie waren flussaufwärts gelaufen, um vielleicht ein paar trinkende Tiere zu schießen, als sie direkt hinter sich ein Rascheln hörten. Beide schossen herum, in Erwartung eines Angriffes und als in dem Moment etwas aus den Büschen hervorbrach, ließen die Männer ihre Pfeile einfach fliegen. Jolyons Pfeil traf. Das Tier, das mit einem Pfeil im Nacken zu Boden fiel und dort in einem Busch hängen blieb, schien eine Art Wasservogel zu sein, den sie aufgeschreckt hatten, den sie über dem Feuer brieten.
Es wurde Abend und sie zogen weiter. Obwohl es schon spät war, ließ die Abkühlung lange auf sich warten. Erst, als es dunkel war, kühlte die Luft ab. Die beiden wurden müde, da sie am Mittag nicht geschlafen hatten und Roderick bot Jolyon an, die Zügel zu nehmen, damit er etwas schlafen konnte. Die beiden wechselten sich mit dem Schlafen ab. Zwar kamen sie so nur langsam voran, doch war es besser, als gar nicht. Es wurde Morgen und da die beiden halbwegs ausgeruht waren, beschlossen sie, noch einige Meilen hinter sich zu bringen, bevor sie ihr Lager aufschlugen. Zwar war es schon wieder warm geworden, doch es würde noch viel heißer werden, weshalb sie die vergleichsweise kühlen Morgenstunden nutzten. Als die Temperaturen zunahmen, schlugen die Männer unweit des Baches ihr Lager auf und ruhten sich aus.
Sie schossen in den darauffolgenden Tagen noch mehrere dieser Vögel und sie untersuchten sie genauer. Die Tiere schienen hier wild und zu Hauf zu leben, so wie bei ihnen in England die Rotfüchse oder Kaninchen. Die Vögel hatten die Größe einer Wildgans, waren jedoch von plumperer, schwerfälligerer Statur. Im Vergleich zu den recht kleinen und zarten Flügeln war ihr Körper groß und dick. Generell waren diese Vögel gut genährt und an ihrem Fleisch war viel Fett.
Obwohl sie sich hier wohlfühlten und gut von ihrer Jagd lebten, hielten sie nachts abwechselnd Wache, damit sie nicht wieder einem Überfall zum Opfer fielen. Dadurch schliefen sie zwar weniger, doch sie fühlten sich sicherer und sie waren sich beide einig, dass sie lieber weniger schliefen und mit einer kleinen Verspätung in Akkon ankamen, als im Schlaf von irgendwelchen Halunken erschlagen zu werden.
In der Nacht blieben die Temperaturen hoch, doch was das schlimmste für die Männer waren, waren die Mücken. Die Stiche der Mücken schwollen häufig an und waren extrem schmerzhaft. Roderick litt in der Rüstung besonders, da er sich nicht einmal kratzen konnte, denn die Mücken hatten ihn bereits in der Nacht gestochen, als die Rüstung ihn noch nicht vor den Plagegeistern geschützt hatte. Der Anblick war traurig und amüsant zu gleich. „Das ist nicht witzig!“, fuhr er Jolyon mehrere Male an. „Ich sterbe hier drinnen noch und es liegt nicht an der Hitze! Es ist furchtbar!“
Als sie am Abend ihr Lager aufschlugen, zog Roderick sich bis auf die Hose aus und ging in dem Bach schwimmen, der die letzten Meilen über breiter und auch tiefer geworden war, bis er zu einem kleinen Fluss geworden war. Roderick setzte sich in das kniehohe Wasser und tauchte unter, um sich den Schweiß des Tages von der überhitzten Haut zu waschen, und die Stiche zu kühlen. Die ganze Zeit über, während er im Wasser war, kratzte er sich am ganzen Körper. Jolyon saß am Ufer und sah ihm belustigt zu. „Immer noch nicht witzig!“, rief Roderick ihm zu und wollte ihn nassspritzen, doch Jolyon saß zu weit weg und die Wasserspritzer landeten im vertrockneten Gras. „Komm her, das Wasser ist wunderschön kühl!“, sagte Roderick. Jolyon schüttelte den Kopf. „Im Gegensatz zu Euch, Mylord, muss ich mich um das Essen kümmern, während ihr den Freunden des Lebens frönt!“, sagte Jolyon und lachte.
Wenig später rief Jolyon Roderick zum Essen und Roderick watete aus dem Fluss, wobei er zweimal ausrutschte. Jolyon lachte ihn aus und Roderick warf ihm einen bösen Blick zu. Dann setzte er sich zu Jolyon. Jolyon hatte aus einem Topf Wasser, Gewürzen und dem Rest des Vogels von gestern einen schmackhaften Eintopf gekocht. Nach dem Essen ging Roderick wieder schwimmen und auch Jolyon konnte sich dazu überreden lassen. Sie legten sich ins Wasser, um ihre überhitzten Körper und die Stiche zu kühlen.
Die nächsten Tage vergingen ohne erneute Zwischenfälle. Zwar kamen sie an mehrere Straßenblockaden, doch die umritten sie weitläufig, ohne jemandem Gelegenheit zu geben, sie anzugreifen. Nächtliche Angriffe blieben aus, bis sie den Wald hinter sich gelassen hatten. Jetzt jedoch traf sie die Hitze mit voller Wucht. Die Temperaturen im Wald waren hoch gewesen, doch wenigstens war es dort schattig und das, was sie auf den Straßen des byzantinischen Reiches empfing, war nicht auszuhalten. Die heiße Mittagssonne brannte erbarmungslos auf sie herab.
Roderick, der in seiner Rüstung ohnehin schon schwitzte, hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib gekocht zu werden und sogar Jolyon merkte nach wenigen Minuten, wie sich der Schweiß auf seiner Haut sammelte und er einen Sonnenbrand bekam.
Aufgrund der Hitze reisten die beiden nun ausschließlich in der Nacht, bis sie in Adrianopel ein Schiff betraten, das sie über die Meerenge brachte. Die Hitze war noch immer unerträglich und es wurde zunehmend schwerer, an Wasser und Nahrungsmittel zu kommen. Die Jagd verlief meistens erfolglos und die Männer waren von Hunger und Durst geschwächt.
Es war der zwölfte September, als Jolyon, noch immer viele Meilen von Akkon entfernt, meinte, das Wappen der Kreuzritter auf einer Fahne entdeckt zu haben. Roderick und Jolyon steigen von den Pferden, und tatsächlich hatten sie einige der Kreuzritter gefunden. Roderick wies Jolyon an, bei den Pferden zu bleiben und sprach mit einem der Ritter. Als er wieder zurückkam bedeutete er Jolyon, ihm zu folgen.
Die Ritter waren angewiesen worden, die Straßen und umliegenden Dörfer zu sichern und zu verhindern, dass europäische Kriegsgefangene von den Sarazenen in weiter entfernte Städte verschleppt werden konnten. Roderick und Jolyon konnten sich bei ihnen ausruhen und neue Kraft sammeln, um dann den letzten Teil ihrer beschwerlichen Reise nach Akkon anzutreten. Ein Mann mittleren Alters, der sich den beiden als Sir Edward vorstellte, bot ihnen Speise und Trank an und die beiden setzten sich zu den Rittern.
Sir Edward unterrichtete sie von Neuigkeiten aus Akkon. Die Belagerung schien schlecht voranzukommen. Man wartete schon lange auf das Eintreffen der aus dem Heimatland angeforderten Verstärkung, denn dem christlichen Heer machten Seuchen und Gegenangriffe Saladins, dem Sultan von Ägypten, der in Akkon saß, zu schaffen.
Roderick und Jolyon stellten wenige Fragen, sie blieben eher still, denn vom langen Reisen waren sie müde und der Gedanke daran, noch einen fast zweiwöchigen Ritt vor sich zu haben, ließ sie verzweifeln.
Sir Edward wies ihnen ein Zelt zu, das bis jetzt als Waffenlager diente, in dem sie die Nacht verbringen konnten. Die Männer legten ihre Waffen ab und Roderick war froh, die Rüstung ablegen zu können. Das Metall war von der Sonne ganz heiß und jedes Mal, wenn es mit Rodericks Haut in Berührung kam, fügte es ihm leichte Verbrennungen zu. Er zog auch sein Hemd aus und setzte sich dann auf seine Decke, die Jolyon schon ausgebreitet hatte. „Jetzt haben wir es bald geschafft!“, sagte Roderick und lächelte glücklich. „Mir wird nur Angst und Bange, wenn ich daran denke, dass wir den ganzen Weg auch wieder zurück müssen“, sagte Jolyon und seufzte. Roderick warf ihm einen Blick zu, der jedes Wort überflüssig machte. Er glaubte nicht wirklich an ihre Rückkehr.
Am nächsten Morgen erwachten die beiden von Waffenlärm und Geschrei. „Was ist da los?“, fragte Jolyon. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete Roderick, doch er zog sich bereits sein Kettenhemd über den Kopf und band sich das Schwert um. Den Bogen in der Hand und den Köcher auf dem Rücken stürmte er nach draußen, Jolyon folgte ihm, selbst mit Köcher und Bogen bewaffnet. Roderick brauchte einige Zeit, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen: Ein Gefangenentransporter war wohl von den Rittern angegriffen worden, doch die begleitenden Wachen wussten sich zu wehren.
Roderick hob seinen Bogen, zielte und erschoss einen der Sarazenen, der gerade in einen Kampf gegen einen Kreuzritter verwickelt war. „Komm mit!“, befahl Roderick Jolyon und die beiden liefen Seite an Seite auf das Gemetzel zu. Ein Sarazene kam mit einem krummen Säbel bewaffnet auf sie zu und Roderick zog sein Schwert, um ihn abzuwehren. Noch nie hatte er einen echten Schwertkampf erlebt. Bisher hatte er nur gegen seine Brüder gekämpft, wo das schlimmste, was passieren konnte ein gebrochener Arm oder ein Schlag auf den Kopf war, doch hier ging es um Leben und Tod.
Trotzdem gewann Roderick den Kampf schon nach einem kurzen Schlagabtausch und trat dem Sarazenen kräftig in den Bauch, sodass er einige Schritte zurückstolperte und gegen einer seiner Kumpanen stieß. Jolyon hatte seinen Bogen gespannt, doch er schoss nicht, er zielte nur. Er wartete auf Rodericks Befehle, der selbst nicht genau wusste, was er tun sollte. Glücklicherweise ergriffen die Sarazenen in diesem Moment die Flucht. Mehrere Kreuzritter jagten ihnen hinterher, während ein paar andere die Gefangenen aus dem Wagen befreiten. Roderick erkannte Sir Edward unter ihnen und eilte zu ihm.
„Oh, Ihr seid wach“, sagte dieser, als er Roderick bemerkte. „Ich hoffe, Ihr seid nicht verletzt?“ Roderick schüttelte den Kopf. „Was haben die hier zu suchen?“, fragte Roderick und sah den fliehenden Sarazenen hinterher. „Sie haben den Auftrag, die Gefangenen in andere Städte zu bringen, wo sie als Sklaven verkauft werden können“, antwortete Sir Edward. „Und…Und warum?“, fragte Jolyon, der näher gekommen war. „Mein Junge, was will Saladin mit einem Haufen Kriegsgefangener? Soll er sie alle töten? Da ist die Sklaverei ein viel lukrativeres Geschäft“, meinte Sir Edward.
Die ersten Gefangenen waren in der Zwischenzeit befreit, da brach ein Tumult aus. „Was ist dort los?“, fragte Roderick. „Ich weiß es nicht“, antwortete Sir Edward und machte sich auf den Weg dorthin, wo die Aufregung ausgebrochen war.
Roderick und Jolyon folgten ihm.
Ihnen bot sich ein seltsamer Anblick: Zwei Kreuzritter hielten einen Jungen fest, der wie eine Katze kratzte, schrie und um sich schlug. Der Junge war kein Engländer, dessen war sich Roderick gewiss, aber auch kein anderer Europäer. Er hatte dunkle, mandelförmige Augen, fast schwarzes Haar und seine Haut erinnerte in ihrer Farbe an die von Oliven. Nur, was hatte ein Sarazene in einem Gefangenentransport der selbigen zu suchen? Diese Frage richtete auch Sir Edward den Männern, die den Jungen festhielten. Der Junge schrie die Männer noch immer in einer fremden Sprache an, von der Roderick kein Wort verstand, doch einer der Männer schien den Jungen zu verstehen, denn er antwortete ihm in derselben Sprache, woraufhin der Junge innehielt. Einen kurzen Moment schien er sich zu beruhigen, war jetzt nur noch verängstigt und antwortete wieder etwas, was Roderick nicht verstand.
„Er sagt, er sei Deserteur“, sagte der Mann, der mit dem Jungen gesprochen hatte. „Deserteur?“, fragte Roderick ungläubig. „Seid Ihr Euch sicher?“, fragte auch Sir Edward und der angesprochene Mann nickte. „Er kann unmöglich ein Deserteur sein“, sagte Roderick. „Er sieht mir zu jung aus, um überhaupt irgendetwas zu sein!“ „Amüsant, diese Worte gerade aus deinem Mund zu hören“, sagte Jolyon und feixte, doch Roderick warf ihm einen finsteren Blick zu, der ihn schweigen ließ.
Vielleicht verschätzte Roderick sich auch im Alter des Jungen, denn der blieb steif und fest bei seiner Aussage, er sei desertiert. „Was sollen wir nun mit ihm tun?“, fragte der andere Ritter, der ihn festhielt. „Sollen wir ihn erschießen?“ „Nein!“, sagte Roderick und alle Blicke schossen zu ihm herum. Er senkte den Blick. „Er ist noch so jung. Er hat doch niemandem etwas getan.“ „Das wissen wir nicht“, antwortete Sir Edward. „Aber ihr könnt ihn doch nicht einfach erschießen!“, sagte auch Jolyon. „Meine jungen Herren, ich kann verstehen, dass euch das unmenschlich erscheint, doch wir sind hier im Krieg. Hier gibt es wenig Alternativen!“, sagte ein anderer Kreuzritter. Der junge Sarazene schien genau zu wissen, worum es bei dem Gespräch ging, obwohl er kein Wort zu verstehen schien, denn er begann zu zittern und zu weinen.
Roderick hatte Mitleid mit ihm. „Was, wenn ich Euch sage, dass er zu mir gehört?“, fragte Roderick Sir Edward herausfordernd. „Was meint Ihr?“, fragte dieser. „Ich verbürge mich für diesen Jungen. Er gehört ab jetzt zu mir“, antwortete Roderick. „Roderick“, sagte Jolyon leise zu ihm und wollte ihn zurückhalten, doch Roderick gebot ihm mit einer Handgeste, zu schweigen.
Er ging auf die Männer zu, die den wimmernden Jungen festhielten. Roderick hatte zwar keine Ahnung, wie er sich dem Jungen verständlich machen sollte, doch er fuhr die Männer trotzdem an: „Lasst ihn los!“ Die Männer gehorchten und Roderick zog den Jungen zu sich, der ihn mit großen Augen ansah. Er war vielleicht etwas kleiner als Roderick und auch dünner, schon beinahe abgemagert und er war ärmlich gekleidet, doch sein Gesicht war kantig wie das eines jungen Mannes.
Er trug keine Schuhe und eine kurze, viel zu große Hose, die kurz über seinen gebräunten und aufgeschlagenen Knien aufhörte. Auch an seinen Unterarmen sah Roderick Verletzungen, hauptsächlich Schürfwunden, aber auch blaue Flecken und Striemen, die von Schlägen herrühren könnten. Das dünne grobmaschige Leinenhemd war dem Jungen viel zu groß, was ihn hatte jünger wirken lassen, als er eigentlich war. Er konnte unmöglich mehr als zwei oder drei Jahre jünger sein als Roderick.
Die Männer sahen ihn noch immer mit einer Mischung aus Zweifel und Unglauben an. Manche von ihnen schienen beunruhigt und in den Gesichtern der anderen spiegelte sich Abneigung. Roderick war sich nicht sicher ob sie sich gegen ihn oder den Sarazenenjungen, auf dessen Seite er sich geschlagen hatte, richtete.
„Na schön, wie Ihr wünscht. Ihr seid für den Jungen verantwortlich. Wenn er etwas Falsches tut, fällt das auf Euch zurück, und wenn er jemanden von uns angreift, müsst Ihr dafür geradestehen!“, sagte Sir Edward. „Sagt Eurem jungen Freund, wenn er versucht zu fliehen, wird er von uns ohne Vorwarnung erschossen!“ Roderick wusste zwar nicht, wie er dem jungen Sarazenen das erklären sollte – er wusste nicht einmal, wie er dem fremden Jungen sagen sollte, dass er sich nicht zu fürchten brauchte – doch er nickte.
Die Menschentraube, die sich um sie gebildet hatte, löste sich und die Männer verschwanden in die unterschiedlichsten Richtungen. Roderick hielt Ausschau nach dem Mann, der sich vorhin mit dem Sarazenenjungen verständigt hatte, doch zwischen den vielen Männern in voller Rüstung erkannte er ihn nicht mehr.
Kaum waren die Männer verschwunden, schlug ihm der Junge ins Gesicht und wollte davonrennen, doch Jolyon stürzte sich auf ihn und riss ihn mit sich zu Boden, wo er sich auf ihn kniete und seine Hände festhielt. „Bist du in Ordnung, Roderick?“, rief er ihm über die Schreie und Schläge des Jungen zu. „Ja“, antwortete Roderick und lief zu den beiden Männern, die sich am Boden wälzten. Er zog den Jungen hoch, der schrie und ihm die Arme kratzte, doch Roderick hielt ihn mit eisernem Griff fest.
„Hör zu, ich habe einen Bruder in deinem Alter, und der ist größer als du. Trotzdem gewinne ich immer gegen ihn, also kannst du gleich aufgeben!“, sagte Roderick. Er wusste, dass der Junge ihn nicht verstand, doch er hoffte, ihn vielleicht trotzdem durch den ruhigen Klang seiner Stimme zu beruhigen.
„Was machen wir jetzt mit ihm?“, wollte Jolyon wissen. Roderick merkte, dass sie schon wieder einige Männer anstarrten. „Erst mal bringen wir ihn hier weg, damit er nicht so angestarrt wird“, sagte er deshalb und bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Tonfall zu geben, um den Jungen nicht noch mehr zu verängstigen, doch der wehrte sich noch immer heftig gegen Rodericks Umklammerung. Nur mit Jolyons Hilfe gelang es Roderick, den Jungen in Richtung ihres Zeltes zu ziehen.
„Willst du ihn wirklich da rein lassen?“, fragte Jolyon. „Er wird das ganze Zelt zum Einsturz bringen und außerdem sind die Waffen dort drinnen!“ Roderick zuckte mit den Schultern und schleifte den Jungen mit sich. Er stieß ihn mit solcher Wucht ins Zelt, dass der Jungen zu Boden ging. Roderick und Jolyon knieten sich auf ihn und drückten ihn zu Boden, und warteten darauf, dass den Jungen die Kräfte verließen, was schon kurze Zeit später der Fall war. Ein ersticktes Schluchzen drang aus seiner Kehle, dann gab der Junge auf und brach in Tränen aus.
Die beiden Männer standen soweit auf, dass der Junge sich aufsetzen konnte. „So ist es gut“, sagte Roderick. „Bleib so.“ Er versuchte, seiner Stimme einen beruhigen Klang mitzugeben, so wie er es bei seinem Vater gesehen hatte, wenn dieser auf ein verletztes, panisches Tier zuging. Sein Vater war ein guter Jäger gewesen und hatte Tiere dennoch über alles geliebt.
Der Junge zitterte und Tränen liefen ihm über die Wange. Erst jetzt bemerkte Roderick, dass das Haar des Jungen an seiner linken Schläfe blutverklebt war. „Du bist verletzt“, sagte er leise und streckte die Hand nach dem Jungen aus. Wie erwartet schlug der Junge seine Hand zurück. Er knurrte etwas und rutschte auf dem Hosenboden ein Stück von Roderick weg. Der Sarazenenjunge funkelte die beiden Männer feindlich an und Roderick befahl Jolyon, die Hände des Sarazenen festzuhalten. Der Junge wehrte sich wieder, diesmal jedoch nur noch halbherzig. Er hatte wohl verstanden, dass er gegen die beiden Männer keine Chance hatte. Roderick strich die Haare weg und sah eine Verletzung, die nicht sonderlich tief zu sein schien und außerdem schon älter. Trotzdem wusch er mit etwas Wasser das Blut von der Stirn des Jungen.
Dann befahl er Jolyon ihn loszulassen und er hielt dem Jungen die Flasche hin, damit er trinken konnte. Der Blick des Sarazenen wanderte von Roderick zu der Flasche und wieder zurück. Dann schüttelte er energisch den Kopf, doch Roderick nickte. „Doch“, sagte er. Er nahm selbst einen Schluck, um dem Jungen zu zeigen, dass das Wasser nicht vergiftet war. Als er ihm die Flasche wieder hinhielt, griff er danach, zögerte jedoch, bevor er einen Schluck nahm.
„Ich bin Roderick“, sagte Roderick zu dem Jungen und zeigte auf sich. „Und das ist Jolyon.“ Damit zeigte er auf seinen Freund. „Roderick – Jolyon“, wiederholte er. Die Augen des Jungen zuckten nervös, bevor er antwortete: „Radzak.“
„Radzak?“, fragte Roderick und der Junge nickte. Auch Roderick nickte, unsicher, was er als nächstes sagen oder tun sollte. Als Er aufstand, um sich mit Jolyon zu beraten, sprach ihn der Junge mit einigen schnellen, kurzen Worten an, die er nicht verstand. In Radzaks Augen glitzerten noch immer Tränen und er zitterte, während er mit großen Augen zu Roderick aufschaute. Die Arme hatte er noch immer schützen um seine mageren Knie geschlungen. Der junge Sarazene musste Todesangst haben. Roderick schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
Der Junge versuchte nicht noch einmal, sich verständlich zu machen, sondern ließ den Kopf auf die angezogenen Knie sinken und schluchzte. Roderick berührte ihn tröstend an der Schulter, doch Radzak schlug die Berührung wieder zurück und wimmerte unter Tränen etwas, von dem Roderick sich unsicher war, ob er es verstanden hätte, selbst wenn er die Sprache des Jungen gesprochen hätte.
„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Jolyon. „Erst mal lassen wir ihn sich beruhigen“, antwortete Roderick.
„Und dann?“
„Mal sehen.“
„Hast du vor, ihn mitzunehmen? Nach Akkon?“
„Etwas anderes bleibt uns wohl kaum übrig, oder?“, fragte Roderick. „Hier läuft er doch sofort den nächsten Europäern in die Arme, oder seinem eigenen Volk. Egal, wem er begegnet, derjenige wird ihn umbringen.“
Roderick ließ Radzak die Flasche austrinken. Gegen Mittag verließ Jolyon das Zelt und kam mit zwei Tellern zurück. Er sah Roderick entschuldigend an. „Sie meinen, es wäre schon genug, dass sie uns durchfüttern. Sie wollen ihn nicht auch noch mit ernähren“, sagte er und wies mit dem Kopf auf Radzak
Roderick teilte die Portionen durch drei und lud dann zwei Drittel auf einen Teller. Den anderen gab er Radzak, doch statt einer Gabel gab er ihm nur einen Löffel. Es schien ihm sicherer, denn momentan wusste er nicht, welche Gefahr von dem Sarazenen ausging, der sich zwar in die hinterste Ecke des Zelts verkrochen hatte und wie ein Kind die Knie ans Kinn gezogen hatte, doch er auch vorhin schon bewiesen hatte, dass er bereit war, zuzuschlagen. Roderick und Jolyon aßen zusammen von einem Teller und auch Radzak begann schließlich zaghaft, zu essen. Roderick wünschte, er könnte sich irgendwie mit Radzak verständigen, denn er fühlte sich seltsam, über den Jungen in einer Sprache zu reden, die dieser nicht verstand.
„Pass du auf ihn auf, ich bringe die Teller zurück“, sagte er zu Jolyon. Er stand auf und brachte die Teller weg. Als er wieder gehen wollte, hielt ihn Sir Edward zurück. „Wie geht es mit dem Sarazenenjungen voran?“, fragte er Roderick. „Er heißt Radzak. Mehr weiß ich nicht über ihn. Er hat sich beruhigt und gegessen und getrunken. Jetzt sehen wir weiter.“ Roderick sah dem älteren Mann mit festem Blick in die Augen. Er wollte gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, er könne mit dem Jungen überfordert sein.
Sir Edward lächelte höflich und nickte dann. „Ich hoffe, Ihr könnt euren Schützling in Zaum halten, Sir. Es wäre wohl nicht sonderlich hilfreich, wenn er hier randalieren oder anderen Unfug anstellen würde.“
„Ich versichere Euch, das wird nicht passieren“, antwortete Roderick. „Das hoffe ich.“ Sir Edward neigte leicht den Kopf und wandte sich zum gehen. „Sir!“, rief Roderick ihm hinterher und Sir Edward blieb stehen. Roderick suchte kurz nach Worten. „Ich… Der Junge… Radzak hat eine Wunde am Kopf. Oberhalb der Schläfe. Ist ein Arzt hier, der sich das kurz ansehen kann?“, fragte er den Ritter. Dieser holte tief Luft und sah Roderick mit einem durchdringenden Blick an, dem dieser standhielt.
„Sir Nelson dort drüben… Er ist zwar kein Arzt, aber er kann vielleicht dennoch helfen“, sagte Sir Edward und wies mit dem Kopf auf einen großgewachsenen, dunkelhaarigen Mann. Roderick nickte schnell. „Danke.“
Dann straffte er die Schultern, ging selbstbewusst und würdevoll auf den Mann zu und sprach ihn an. Das Gespräch dauerte nicht lange, Roderick versicherte dem Ritter, ihn für seine Bemühungen zu bezahlen und schließlich willigte der Mann ein.
Auf dem Weg zum Zelt fragte Roderick den Mann über sein Können aus. Er war ein Ritter von hohem Rang, was Roderick sofort bemerkt hatte, vielleicht ein Viscount oder ebenso Earl, wie er. Sir Nelson schien in der Schlacht erfahren und hatte laut seiner eigenen Angabe schon so manchem Verwundeten auf dem Schlachtfeld das Leben gerettet. Als Roderick ihn fragte, wo er gelernt hatte, Verwundete zu versorgen, lachte der Ritter.
„Mein junger Freund, man merkt, dass Ihr ein unerfahrener Krieger seid. Jeder hier, der mehr als ein paar kleine Schlachten geschlagen hat, weiß, worauf es bei den schlimmsten Verletzungen ankommt. Und häufig reicht es schon, eine Blutung durch leichtes Drücken auf die Wunde zu stillen, bis ein Arzt sie versorgen kann, um einem Verletzten das Leben zu retten“, erklärte Sir Nelson.
Roderick und der Ritter betraten das Zelt. „Da ist er“, sagte Roderick und wies auf Radzak, der in der Ecke kauerte und beim Klang seiner Stimme zu ihm hochblickte. Als Radzak erkannte, dass Roderick nicht allein, sondern in Begleitung eines weiteren Kreuzritters war, bekam er Angst. Er sprang auf und wollte fliehen. Jolyon packte ihn am Arm, doch der Junge schrie und riss sich los.
Er rannte auf den Ausgang des Zeltes zu, doch an Sir Nelson und Roderick gab es kein Vorbeikommen. Sir Nelson erwischte den Sarazenenjungen am Hemdärmel und hielt ihn fest. Radzak schrie und schlug um sich, dann klammerte er sich an Roderick und begann in dieser fremden, aber durchaus wohlklingenden Sprache verängstigt auf ihn einzureden. Seine Worte gingen in ein Wimmern über und er sank vor Roderick auf die Knie, wo er das Gesicht in Rodericks Kleidung verbarg und dessen Beine winselnd und flehend umschlungen hielt.
Roderick kniete sich vor ihm auf den Boden und nahm das Gesicht des Jungen in seine Hände. „Er wird dir nichts tun, das verspreche ich dir!“, sagte er ruhig. „Ich verspreche es dir. Er wird dir helfen. Er tut dir nichts. Versprochen.“
Radzak wimmerte noch immer, aber er wehrte sich nicht, als Roderick ihn auf die Beine zog, zurückführte und dann in der Ecke es großen Zeltes auf eine Decke drückte. Dort zwang er ihn, sich auf den Rücken zu legen und von Sir Nelson die Kopfwunde untersuchen zu lassen. Radzaks Augen zuckten nervös immer wieder zu Roderick, der mit Jolyon seine Hände festhielt, doch als Radzak merkte, dass Roderick ruhig und entspannt war, schien auch er sich zu beruhigen und schloss sogar für einen Moment die Augen.
„Die Wunde ist schon ein paar Tage alt und fast verheilt“, sagte Sir Nelson schließlich und lehnte sich zurück. „Von ihr geht keine Gefahr mehr aus. Aber er sollte viel trinken. Die Gefangenen haben laut Aussage eines befreiten Männer kaum Wasser und nichts zu essen bekommen.“
Roderick nickte. „Er hat schon getrunken und gegessen.“ Dann bezahlte Roderick den Ritter, dankte ihm und Sir Nelson verließ das Zelt. Radzak sah unsicher von Roderick zu Jolyon und zurück. Die beiden hatten seine Hände losgelassen, doch er hatte seither nicht gewagt, sich zu bewegen.
„Du kannst aufstehen“, sagte Roderick zu Radzak und streckte ihm die Hand entgegen. Radzak nahm sie zögerlich an und ließ sich von Jolyon und Roderick auf die Beine helfen. Er beobachtete beide und als keiner der beiden Anstalten machte, ihn festzuhalten, begann er, im Zelt auf- und abzugehen. Dabei murmelte er kurze, abgehackte Sätze vor sich hin, als würde er ein Selbstgespräch führen. „Glaubst du, er ist vielleicht verrückt?“, fragte Jolyon Roderick leise, nachdem er Radzak eine Weile lang beobachtet hatte, und Roderick warf ihm einen bösen Blick zu. Jolyon zog den Kopf ein und zuckte mit den Schultern. „Kann doch sein. Vielleicht war er zu lange in der Sonne!“ „So wie ich, meinst du?“, fragte Roderick und lachte. Auch Jolyon lachte.
Die beiden Männer saßen im Zelt und warteten darauf, dass die Zeit verging, Radzak saß in einiger Entfernung von ihnen. Er hatte aufgehört, zu reden und belauschte Roderick und Jolyon. Roderick fragte sich, wie sich ihre Sprache wohl für den fremden Jungen anhören musste. Hielt er sie für wohlklingend, so wie Roderick es von Radzaks Sprache tat? Oder klang sie albern in seinen Ohren?
Als es Abend wurde, überlegten sie sich, was sie mit Radzak machen konnten, damit er über Nacht nicht davonlief. Sie wollten ihn nicht irgendwo gefesselt und schutzlos an eine Stange binden wie ein Tier, aus Angst, einer der Männer könnte ihn angreifen, aber die ganze Nacht Wache halten, um aufzupassen, dass er nicht weglief und erschossen wurde, wollten sie auch nicht.
Schließlich beschlossen sie, ihn mit den Händen an ihre Handgelenke zu fesseln. So würde er sie wecken, wenn er versuchen wollte, zu fliehen. Radzak versuchte zwar, seine Hände wegzuziehen, als Jolyon Radzaks linke Hand an Rodericks Handgelenk band, doch er schlug und schrie nicht mehr.
Er beobachtete aufmerksam mit einer kleinen Spur misstrauen den Knoten, den Jolyon um seine Hand festzurrte. Immer wieder huschte sein Blick unschlüssig zu den beiden Männern. Scheinbar hatte er verstanden, dass die Männer ihm nichts tun wollten, auch wenn er mit ihren Methoden, das zu zeigen, nicht zur Übereinstimmung kommen konnte. Er erfasste argwöhnisch, wie Roderick schließlich seine Füße fesselte und anschließend seine rechte Hand an Jolyons Arm band.
Jolyon machte sich zwar Sorgen, dass sie ihn in der Nacht verletzen könnten, wenn sie sich zu weit voneinander wegdrehten, doch Roderick war der Meinung, dass er dann schon auf sich aufmerksam machen würde.
Die Männer legten sich schlafen und Roderick merkte, dass Radzak sich zu entspannen begann. Scheinbar beruhigte ihn die Tatsache, dass auch Roderick und Jolyon Schlaf brauchten.
Als Roderick am nächsten Morgen erwachte, blickte er in Radzaks große, dunkle Augen. Der Junge fixierte ihn lange, dann glitt sein Blick fordernd an ihren Armen herunter, bis er an ihren gefesselten Handgelenken hängen blieb. „Ich weiß, du willst nicht angebunden sein, aber was soll ich denn tun?“, fragte Roderick ihn leise, um Jolyon nicht zu wecken. Er setzte sich vorsichtig auf und Radzak tat es ihm gleich, dann öffnete Roderick den Knoten um ihre Handgelenke. Radzak zog an seiner anderen Hand, die an Jolyon gefesselt war und sah ihn fragend an. Roderick nickte und Radzak löste die Fesseln, während Roderick seine Füße losband.
Er gab Radzak die Flasche und bedeutete ihm, zu trinken. Radzak tat, wie ihm geheißen und als er fertig war, gab er Roderick die Flasche wieder zurück. Roderick war klar, dass sie spätestens heute Mittag weitermussten, doch er war sich unsicher, wie Radzak sich verhalten würde, wenn man ihn auf ein Pferd setzte. Er wusste ja nicht einmal, ob der Sarazene reiten konnte, obwohl er stark davon ausging.
„Radzak, kannst du reiten?“, fragte er ihn und half ihm auf die Füße. Radzak sah ihn verständnislos an. Roderick führte ihn raus aus dem Zelt zu den Pferden. „Kannst du reiten?“, fragte er noch einmal. Radzak ging auf eines der Pferde zu und streichelte es, unsicher, wie er sich verhalten sollte. Roderick schwang sich auf den Rücken seines Pferdes, das noch immer angebunden war und klopfte auf den Rücken des Pferdes, das bisher als Packpferd herhalten musste. Dann streckte er Radzak, das Packpferd zwischen ihnen, die Hand aus und bedeutete ihm damit, aufzusteigen. Radzaks Miene hellte sich auf und er kletterte geschickt auf das Pferd, ohne Rodericks Hilfe in Anspruch zu nehmen. Radzak klopfte dem Tier den Hals und schien für einen kurzen Moment vergessen zu haben, wo er sich befand.
Roderick war sich, nachdem er gesehen hatte, wie Radzak auf den Pferderücken geklettert war, sicher, dass der Junge reiten konnte. Er saß ab und bedeutete Radzak, mit ihm zurück zu kommen. Radzak folgte ihm. Der Junge war noch immer barfuß, doch seine Füße waren an den heißen Boden gewohnt, sodass er Roderick leichtfüßig überholte, die Hände gegen seine Brust stemmte und ihn dadurch zum stehenbleiben brachte. Er schien ihn etwas zu fragen, doch Roderick verstand nach wie vor nichts. Roderick zuckte mit den Schultern und Radzak wiederholte seine Frage. Roderick zuckte nochmal mit den Schultern und winkte ihn mit sich.
Radzak stellte seine Frage kein weiteres Mal, sondern folgte Roderick. Im Zelt weckte Roderick Jolyon und sie packten ihr Zeug. Sie hatten den Kreuzrittern ein weiteres Pferd abgekauft, auf dem Radzak reiten konnte, da sie den Tieren nicht zumuten wollten, sie und ihr Gepäck zu tragen. Roderick bedankte sich bei Sir Edward für die Gastfreundschaft und sagte, dass sie weiterreisen würden. Sir Edward fragte, ob der Sarazenenjunge bei ihnen bleiben würde und Roderick antwortete: „Radzak kann bei uns bleiben, solange er will. Solange steht er unter unserem Schutz, aber er kann jederzeit gehen. Dann ist er seinem Schicksal überlassen.“
„Habt Ihr keine Angst, dass er Euch angreifen könnte oder Euch bestiehlt?“, fragte Sir Edward ihn leise, obwohl Radzak ihn sowieso nicht verstand. „Muss man davor nicht immer Angst haben?“, fragte Roderick zurück. Er lächelte Sir Edward an und neigte leicht den Kopf zum Abschied. Dann stieg er auf sein Pferd. Radzak und Jolyon waren bereits aufgesessen. Jolyon hatte Radzaks Zügel in der Hand, allerdings eher, um ihm zu zeigen, dass er mit ihnen gehen konnte, als um ihn festzuhalten.
Roderick trabte auf die beiden zu und die Männer verließen das Lager der Kreuzritter. Wenig später gab Jolyon Radzak die Zügel und er folgte ihnen unaufgefordert. Das asiatische Klima machte Roderick und Jolyon zu schaffen, ganz im Gegensatz zu Radzak. Roderick hatte seine Rüstung wieder angelegt und die Sonne brannte auf das Metall, das sich rasend schnell erhitzte.
Trotz vieler Pausen aufgrund der Hitze erreichten die Männer am 23. September Akkon. Sie erkannten die Hafenstadt, kaum dass sie in ihr Blickfeld geriet. Sie lag auf einer südlich gerichteten Halbinsel, der geschützte Hafen östlich der Stadt und die Deichmauer nach Süden und Westen waren kennzeichnend für die Hafenstadt. Akkon selbst war auf der einen Seiten durch den Hafen und den Golf Haifa geschützt, zum Festland hin riegelten die Stadt ein doppelter, mit Türmen bewehrten Wall ab und schützte sie vor Angriffen der davor campierenden Belagerer.
„Akkon“, sagte Jolyon und seine Augen blitzten aufgeregt. Roderick lächelte seine Begleiter erleichtert an. Ihre anstrengende Reise voller Strapazen und Beschwerlichkeiten hatte endlich ein Ende. „Kommt mit“, sagte er und trieb sein Pferd voran. Sie sahen das Lager der Kreuzritter, die Belagerungstürme und einige Männer – Christen und Muslime – die auf der jeweiligen Seite der Stadtmauern Wache hielten und sich mit finsteren Blicken maßen.
Kaum, dass sie das Lager erreicht hatten, sprang Roderick vom Pferd, überreichte Jolyon seine Zügel und verschwand. Radzak und Jolyon warteten lange in brütender Hitze, dann tauchte Roderick wieder auf. „Hier entlang!“, sagte er. Er ersparte sich die Mühe, wieder aufzusitzen, sondern führte sein Pferd, und Jolyon, der es seltsam fand, dass sein Herr lief und er ritt, stieg ebenfalls ab. Radzak tat es ihnen gleich und die beiden folgten Roderick durchs Lager.
Der Abend kam und während die Roderick und Radzak eines der Zelte bezogen, kümmerte sich Jolyon um die Pferde.
Roderick polierte seine Rüstung und Radzak, der den beiden auf ihrer Reise brav wie ein Hund gefolgt war, half ihm dabei. Roderick hatte dem Jungen ein Paar Schuhe besorg, die er jetzt auszog und neben sich stellte. Radzaks aufgerissene Fußsohlen waren geheilt und er schien zufrieden. Außerdem hatte er Vertrauen zu Roderick und Jolyon aufgebaut und betrachtete die beiden als seine Herren.
Roderick jedoch ließ ihn nicht allein nach draußen, da er Angst hatte, jemand könnte den Sarazenenjungen aus Unwissenheit erschießen oder anderweitig angreifen. Deswegen sorgte er in den nächsten Tagen dafür, dass möglichst viele Leute ihn und Jolyon mit Radzak sahen und erfuhren, dass er unter ihrem Schutz stand. Außerdem besorgte er Radzak einen Schild und einen Umhang, auf dem das Wappen der Kreuzritter abgebildet war. So war ein Versehen fast unmöglich.
Die nächsten Tage verliefen ohne Zwischenfälle, denn Saladin hatte, wie Roderick erfahren hatte, nur wenige Tage zuvor seinerseits einen Angriff gestartet. Jetzt schien er zu hoffen, dass die Belagerer den Rückzug antreten, oder aufgrund der Seuchen, die im Lager herrschten, so sehr dezimiert werden würden, dass er sie gefahrlos angreifen konnte.
Roderick hatte nach seinem Großonkel Alain gefragt, aber niemand wusste etwas von ihm. Roderick redete sich ein, dass Alain vermutlich an einer anderen Stelle eingesetzt worden war, da er ja dem Ruf der Franzosen gefolgt war, doch sicher war er sich dabei natürlich nicht.
Roderick schrieb an seine Familie, erzählte von ihrer Ankunft und davon, wie er Radzak kennengelernt und ihm das Leben gerettet hatte. Der junge Sarazene folgte ihm wie ein treuer Hund überall hin, denn Radzak wusste selbst, dass es für ihn nicht möglich sein würde, hier lange zu überleben: Auf der einen Seite die Sarazenen, die ihn töten würden, wenn sie ihn in die Finger bekamen, und auf der anderen Seite die Christen, die in ihm nur einen wertlosen Sarazenen sahen.
Roderick wusste nicht, wie er den Brief abschicken sollte. Einen Boten bis nach England zu schicken erschien ihm übertrieben – immerhin war es ein Ritt von fast drei Monaten, bis der Bote England erreichen würde und bis dahin konnte viel passieren – aber es gab ihm dennoch ein besseres Gefühl, seine Erlebnisse zumindest aufgeschrieben zu haben. Er versteckte den Brief in einer kleinen Kiste und hoffte, ihn irgendwann mal abschicken zu könne. Vielleicht konnte er den Brief – und die vermutlich folgenden – jemandem mitgeben, der eh nach England reiste.
Das heiße Wetter machte Roderick und Jolyon nicht mehr so sehr zu schaffen, wie zu Beginn ihrer Reise, obwohl die Temperaturen hier in der Wüste am Mittag ins Unermessliche stiegen. Radzak schien an die Temperaturen gewöhnt zu sein. Er ignorierte den glühend heißen Wüstensand und lief manchmal sogar weiterhin barfuß. Er genoss das Gefühl des heißen Sandes zwischen seinen Zehen, von dem er schon gefürchtet hatte, es nie wieder zu fühlen.
Jolyon und Roderick machten Übungskämpfe, denen Radzak mit aufmerksamem Gesicht beiwohnte. Dadurch, dass ihn hier niemand verstand, war der Junge still geworden und schien zurückgezogener, als noch am Anfang. Er vermied das Reden und versuchte, sich auf andere Weise verständlich zu machen. Die Männer ließen ihm Freiheiten. Er durfte sich um die Pferde kümmern, wobei der Junge regelrecht aufblühte, und er durfte sogar einmal mit Rodericks Bogen schießen.
Der englische Langbogen war ungewohnt für den Sarazenen, der die kleinen, gebogenen Kurzstreckenbogen gewohnt war, doch Roderick erkannte dennoch, dass er mit seinen eigenen Waffen gut umzugehen verstand und ein guter Schütze war. Roderick und Jolyon boten ihm mehrere Male auch an, Übungskämpfe gegen sie auszutragen, was der Junge jedoch energisch zurückwies. Entweder hatte er Angst, sie oder sich zu verletzten, oder – was angesichts seines ruhigen, besonnenen Temperaments, das er im Umgang mit den Pferden immer wieder bewies, und seiner Flucht wahrscheinlicher war – er verabscheute das Kämpfen.
Es war der vierte Oktober, als sich die französischen und flämischen Kreuzfahrerarme unter Guido von Lusignan und dem Ritterorden, dem Roderick angehörig war, östlich der Stadt Saladins Heer zum Kampf stellte. Saladins Heer hatte sich in einem Halbkreis aufgestellt, die Kreuzfahrerarmee stand ihnen gegenüber. Roderick befand sich zu Pferd in der zweiten Linie, vor ihm die Bogen- und Armbrustschützen. Ungern hatten Jolyon und Roderick sich getrennt, doch ihnen blieb kaum eine Wahl, denn Jolyon kämpfte bei den Bogenschützen und Roderick zu Pferd. Radzak hatte Roderick zu seinem eigenen Schutz ins Zelt geschickt und angewiesen, dort zu bleiben.
Roderick wartete auf das Zeichen zum Angriff: Er sollte mit den anderen Tempelrittern Saladins rechte Seite angreifen. Dadurch erhoffte man sich, Saladins Heer von der Seite her zu schwächen, um so zu ihm vordringen zu können.
Als zum Angriff geblasen wurde, stürmte Roderick an der Seite der Tempelritter auf Saladins rechte Flanke zu. Seine Lanze zersplitterte schon beim ersten Aufprall und den nutzlos gewordenen Stumpf warf er weg, um mit der rechten Hand ungehindert sein Schwert schwingen zu können. Von da an hieben sie nur noch mit ihren Schwertern aufeinander ein. Das viele Blut und die Schreie der Verletzten und Sterbenden brachten Roderick fast um den Verstand, doch sein Überlebenswille war jetzt geweckt worden: Er würde nach Lacock zurückkehren und er würde Jolyon und Radzak mitnehmen – lebend. Er würde seine Eltern und Geschwister wiedersehen, auch wenn er dafür jetzt töten musste. Und er würde auf keinen Fall zulassen, dass William oder Alan irgendwann hier auf dem Schlachtfeld stehen müssten.
Er stürmte um sich schlagend auf die Feinde zu, er prügelte mit roher Gewalt auf sie ein. Das hier hatte nichts zu tun mit dem, was Roderick aus den Liedern und Geschichten gehört hatte. Hier brachten ihn seine Übungsstunden mit seinem Bruder William nicht weiter. Das hier war ein reines Gemetzel, jeder kämpfte gegen jeden und es war reines Glück, wenn er nicht plötzlich irgendwo, möglicherweise sogar ausversehen von einem seiner eigenen Männer einen Pfeil in den Rücken bekam.
Sie kämpften sich durch Saladins rechten Flügel und konnten seinem Heer dadurch einen gewaltigen Schaden zufügen, bis Saladins Verstärkung von der anderen Seite des Schlachtfeldes kam. Roderick, dessen Schild erheblichen Schaden davongetragen hatte, kämpfte tapfer weiter, doch er fühlte, dass er müde wurde, und Ermattung und Unaufmerksamkeit konnte hier in dieser Schlacht sein Tod sein. Er spürte, dass es ihm zunehmend schwerer viel, sich zu konzentrieren und den Sarazenen waren sie in ihrer schweren Rüstung an Wendigkeit und Schnelligkeit ohnehin unterlegen, doch nun viel es ihm durch die Müdigkeit noch viel schwerer, sich schnell zu bewegen. Jetzt musste er sein Vertrauen in seine Körperpanzerung setzen und hoffen, dass sie den Waffen der Angreifer standhielt.
Ein Sarazene tauchte vor ihm auf und schlug mit dem Säbel so schnell und kräftig nach Rodericks Brust, dass dieser nicht in der Lage war, sein Schild noch rechtzeitig hochzureißen, um den Schlag abzuwehren. Die Klinge schlug so stark gegen Rodericks Brustpanzer, dass ihm die Luft wegblieb. Der Säbel zerschnitt seinen Umhang mit dem roten Kreuz des Ritterordens und fügte seinem Brustpanzer erheblichen Schaden zu, durchstieß ihn jedoch nicht und Roderick blieb weitestgehend unverletzt. Er riss sein Schwert zum Gegenschlag hoch und ließ es mit einem wütenden Aufschrei auf den Sarazenen niedersausen, dessen Körperpanzerung der Wucht des Schlages nichts entgegenzusetzen hatte.
Roderick untersuchte den Schaden an seiner Brust. Der Harnisch hatte eine knapp zehn Zentimeter lange und einen Zentimeter tiefe Beule, die es ihm durch den Druck auf den Brustkorb erschwerte, zu atmen. Möglicherweise waren Rippen gebrochen, doch Roderick schmeckte kein Blut, weshalb er die Verletzung vorerst als ungefährlich einstufte. Die Männer, die Saladin zu Verstärkung seiner rechten Flanke geschickt hatte, fehlten nun merkbar an den anderen Stellen und Saladins Verteidigung begann zu wanken. Es dauerte keine weitere Stunde, bis Saladins Zentrum und seine rechte Flanke in die Flucht geschlagen waren.
Siegesrufe des Kreuzfahrerheeres waren zu hören und die Reihen lichteten sich, um zur Plünderung überzugehen und den fliehenden Sarazenen nachzusetzen. Roderick, unschlüssig, wie er sich verhalten sollte, trieb sein Pferd an und folgte den Männern um ihn herum, die den Sarazenen folgten, doch schon bald darauf erkannten die Christen ihren Fehler, denn nun ließ Saladin seinen linken Flügel auf sie los und die bereits geschwächten und gelichteten Reihen konnten keinen organisierten Widerstand mehr leisten.
„Formiert euch, formiert euch!“, schrie jemand und Roderick blickte sich nach den Tempelrittern um, die noch vor kurzem an seiner Seite gewesen waren, doch jetzt waren sie fort.
Roderick wusste, dass es sein Tod sein würde, wenn er sich von den restlichen Tempelrittern abdrängen ließ. Ein Sarazene auf einem kleinen, wendigen Wüstenpferd galoppierte auf ihn zu und zielte mit seinem Bogen auf ihn. Roderick hatte von der Durchschlagskraft dieser Geschosse nur gehört, doch er war nicht erpicht darauf, sie kennenzulernen und wusste, dass er sich in Lebensgefahr befand.
Er riss seinen Schild hoch, um den Pfeil abwehren zu können und galoppierte seinerseits auf den Sarazenen zu. Dieser ließ die Sehne seines Bogens los und der Pfeil schwirrte auf Roderick zu. Das Geschoss durchschlug den hölzernen Schild, als wäre er aus Butter und Roderick hatte Glück, dass er nach rechts ausgewichen war, denn so gelang es dem Pfeil nur, ein paar Glieder seines Kettenhemdes mitzureißen, verletzte ihn jedoch nicht. Roderick hob seinen Schild und schlug es dem Angreifer gegen die Brust, der dadurch vom Pferd stürzte und von den Hufen der folgenden Pferde niedergetrampelt wurde.
Roderick bemerkte, dass die Angreifer ins Wanken gerieten, denn Guido von Lusignan hatte seine Reserve, einige Männer, die Akkon bewachten und die Sarazenen daran hindern sollten, neue Truppen aus der Stadt zu schicken, zur Unterstützung geschickt.
Roderick wusste, dass dies nur ein begrenzter Vorteil war, denn schon bald verließen die Sarazenen zu tausenden Akkon und sammelten sich mit Saladins verbliebenem Heer nördlich der Stadt. Roderick konnte nur beten, diesen Kampf zu überleben, als Saladins Heer über die Tempelritter herfiel.
Roderick kämpfte sich verbittert zu den anderen vor, um nicht verdrängt zu werden. Er hörte Rufe, die den Rückzug anordneten und atmete auf. Ohne auch nur eine Sekunde zu warten, wendete er sein Pferd und folgte den bereits fliehenden Templern.
Erst, als sich die Kreuzfahrer in ihren eigenen Stellungen verschanzten, wo sie von Saladin nicht mehr herauszulocken waren, erkannte Roderick den vollen Ausmaß des Schadens: Noch beim Rückzug hatten die Tempelritter erhebliche Verluste erlitten, darunter auch einige Männer von hohem Rang. Ihre Reihen waren gelichtet und noch immer fielen viele fliehenden Ritter und Pferde den Wurfspeeren und tückischen sarazenischen Kurzbögen zum Opfer.
Roderick schnürte es die Kehle zu, als er daran dachte, wie leicht er einer von ihnen hätte seien können. Sein nächster Gedanke galt Jolyon. Es war Wahnsinn, ihn in diesem panischen Gedränge zu suchen – eher würde er niedergetrampelt oder erschossen, als seinen Freund zu finden – daher versorgte Roderick sein Pferd und floh seinerseits in sein Zelt.
Radzak lag auf einer Decke, hatte das Gesicht in den Kissen vergraben und sah erst auf, als Roderick hereinkam. „Roderick!“ Der Junge sprang auf und begann, in seiner Sprache auf ihn einzureden. Er schlang, weinend vor Freude darüber, ihn zu sehen, die Arme um ihn und sprach weiter auf ihn ein, doch die Worte Klangen eher wie ein Dankesgebet, als an Roderick gerichtet. Roderick tätschelte ihm den Rücken und hoffte nur, dass Jolyon bald auftauchte.
Sein Wunsch ging in Erfüllung. Radzak hielt Roderick immer noch umklammert wie ein junger Affe, als Jolyon ins Zelt kam. Er war unverletzt. Roderick fiel ein Stein vom Herzen und er umarmte seinen Freund. „Alles in Ordnung“, sagte Jolyon tröstlich zu Roderick, der seinen Freund erleichtert an sich drückte. „Mir geht es gut. Und du? Was ist mit dir? Bist du verletzt?“ Roderick lächelte ihn beruhigend an, doch durch Radzaks lange und intensive Umarmungen waren die Schmerzen in seiner Brust verstärkt worden und das Atmen tat ihm weh. „Geht schon.“ Auch das Sprechen tat ihm weh. Jolyon musste seine Schmerzen bemerkt haben und sah ihn besorgt an. „Ich hab nur einen Schlag gegen die Rippen bekommen. Ist halb so schlimm“, winkte Roderick ab.
Jolyon und Radzak halfen ihm aus der Rüstung. Als Radzak ihm den Harnisch abnahm bemerkte er, dass einige Glieder des Kettenhemdes durch den Schlag geborsten waren. Harnisch und Kettenhemd mussten vor der nächsten Schlacht auf jeden Fall von einem Schmied repariert werden.
Es fiel Roderick schwer, die Arme über den Kopf zu heben und er hatte entsetzliche Schmerzen, als Jolyon und Radzak ihm das Kettenhemd und das Leinenhemd darunter auszogen. Was Jolyon und Radzak freilegten, war schlimmer, als Roderick erwartet hatte: Sein Brustkörper war blau-grün verfärbt und er fühlte die Schwellung über seinen Rippen, doch glücklicherweise hatte die Klinge nicht durch den Brustpanzer dringen können. Jolyon befahl Roderick, zu trinken, und legte anschließend kühlende Tücher auf Rodericks angeschwollene Rippen. Er gab Radzak die Flasche und machte ihm verständlich, dass er auf Roderick aufpassen musste, während Jolyon die kaputten Rüstungsteile zu einem Schmied brachte. Als Jolyon zurückkam, sagte er: „Ich möchte, dass ein Arzt sich das ansieht, Roderick!“ Roderick schüttelte energisch den Kopf, was er sofort bereute. „Nein. Es gibt jetzt Verletzte, die sind schlimmer dran als ich, außerdem kann ein Arzt da eh nichts tun.“ Jolyon versuchte gar nicht erst, mit Roderick zu diskutieren. Sollten Rodericks Schmerzen schlimmer werden, würde er einfach einen Arzt holen, ob es seinem Freund passte, oder nicht. Möglicherweise hatte Roderick sogar recht. Auch wenn Rippen gebrochen waren, würde der Arzt ihm nicht mehr verordnen, als Bettruhe, und dafür konnte auch Jolyon sorgen.
Die nächsten Tage vergingen, ohne dass eine der beiden Parteien die Chance hatte, die andere anzugreifen. Roderick hatte noch immer bei zu schnellen Bewegungen Schmerzen in den Rippen, weshalb sie auf die Übungskämpfe verzichteten, doch die Schwellung und die Verfärbung war zurückgegangen. Was Roderick mehr verdross, war die Tatsache, dass er mit seinen angeschlagenen Rippen nicht in der Lage war, einen Bogen zu spannen. Missmutig sah er Jolyon und Radzak, dem widerwillig er seinen Bogen geliehen hatte, beim Schießen zu.
Er nutzte die Freizeit, um seiner Familie zu schreiben. Es war traurig, sein Leben auf ein Stück Papier zu schmieren, das England vielleicht nie erreichen würde, doch er tat so, als würden seine Eltern den Brief wirklich zu lesen bekommen. Bis jetzt hatte Roderick noch keine Gelegenheit gehabt, die vielen Briefe, die er seit seiner Ankunft in Akkon verfasst hatte, nach England zu schicken. Er erzählte seinen Eltern von der Konfrontation vor Akkon und berichtete etwas euphemistisch von den Geschehnissen. In den Briefen davor, die alle feinsäuberlich in einer kleine hölzernen Kiste lagen, hatte er bereits von Radzak erzählt, jetzt erzählte er davon, wie er versuchte, Radzak die englische Sprache beizubringen. Sein Schüler entpuppte sich zwar als lernwillig, jedoch auch als völlig talentfrei, was die Verständigung zwischen ihnen nicht unbedingt vereinfachte.
Auch Jolyon war bemüht, sich mit Radzak zu verständigen und gab ihm immer wieder einfache Aufgaben zu erledigen – die Pferde zu füttern, Wasser zu holen, oder zu waschen. Radzak erledigte diese Aufgaben mit dem größten Vergnügen – er hatte wohl endlich verstanden, dass er Jolyon und Roderick sein Leben zu verdanken hatte.
Trotz Rodericks Unterrichtsstunden war Radzak nicht in der Lage, mehr als Rodericks und Jolyons Namen zu sagen. Der Rest war sowohl für Jolyon als auch für Roderick immer noch ein unverständliches Kauderwelsch.
Im Laufe des Herbstes hatte Roderick angefangen, den Spieß umzudrehen: Anstatt Radzak Englisch beizubringen, versuchte er Radzaks Sprache zu lernen, doch Radzak war ein genauso miserabler Lehrer, wie Schüler.
Akkon hielt der Belagerung stand, denn hinter den Mauern der Burgen waren sie vor feindlichen Angriffen geschützt. Nur auf dem freien Feld hatten die Ritter ihnen etwas entgegenzusetzen. Die Kreuzritter versuchten zwar, die Mauern durch Untergrabungen und mit Katapulten und Rammböcken zu schwächen, doch mehr als einmal gruben die Sarazenen ihrerseits Tunnel und erschlugen die Arbeiter unter Tage, oder sie steckten Katapulte in Brand. Für Roderick lief die Belagerung nur im Hintergrund ab, da es kaum größere militärische Konflikte gab. Immer mehr Europäer reisten an und irgendwann machte die Nachricht vom Anmarsch Kaiser Friedrichs, dem Herzog von Schwaben, die Runde und erhöhte die Moral und die Hoffnung der Europäer. Doch auch Saladin kam diese Nachricht zu Ohren.
Als Roderick und Jolyon am Rand des Lagers spazieren gingen, sahen sie in einiger Entfernung Staub aufwirbeln. „Was glaubst du, was das ist?“, fragte Jolyon Roderick. „Saladin wird Verstärkung brauchen, jetzt wo Kaiser Friedrich gegen ihn in den Krieg zieht“, antwortete Roderick, doch sie alle hatten die Gefahr unterschätzt.
Auch Saladin forderte Nachschub von außen an, der den christlichen Belagerungsring nicht durchbrechen konnte, doch darauf zielte Saladin auch nicht ab. Schon kurze Zeit später hatte Saladin seinerseits die Kreuzritter mit einem zweiten Belagerungsring eingeschlossen. Die Belagerer wurden zu Belagerten, Wasser und Essen wurde knapp und die Seuchen, mit denen die Kreuzfahrer schon zuvor zu kämpfen hatten, breiteten sich aufgrund der zusammenbrechenden Hygiene rasend schnell im ganzen Lager aus. Bereits nach wenigen Wochen war ein großer Teil des Heeres ihnen zum Opfer gefallen.
Am 31. Oktober durchbrachen muslimische Galeeren die Seeblockade und belieferten Akkon mit Nahrung und Waffen. Der Hafen war endgültig verloren, als Ende Dezember eine ägyptische Flotte die Zufahrt eroberte. Die Belagerer waren von Hunger und Seuchen erschöpft, sodass sie kaum Widerstand leisten konnten, als die Ägypter Akkons Belagerer von der Seeseite angriffen.
Erst im März 1190 wurde das Wetter wieder besser, sodass Konrad von Montferrat Verstärkung ihrer Truppen aus Sizilien anfordern konnte. Bereits ein halbes Jahr war Roderick jetzt im Heiligen Land und bis jetzt war er nur in eine einzige größere Schlacht verwickelt worden. In den letzten Monaten war die Moral beider Seiten gesunken und es gab wenig Widerstand, jedoch genauso wenig Angriffe.
Es war ein kühler Märzmorgen, die Nachricht im Lager umging, Konrad von Montferrat sei mit Verstärkung aus Sizilien an der Küste gelandet. Trotz des erbitterten Widerstandes der Sarazenen war es ihm und der mehrere tausend Mann starken Besatzung gelungen, an Land zu gehen. Plötzlich schien Saladins Aussicht auf einen Sieg bedeutend zu schwinden und die Stimmung im Lager hob sich merklich, obwohl sie noch immer von beiden Seiten bedrängt wurden.
Jolyon bekam Fieber, sodass Roderick am 5. Mai ohne seinen Freund bei dem geplanten Sturmangriff gegen Akkon dabei war. Der Sturmangriff jedoch schlug fehl und viele der Belagerungsmaschinen gingen verloren, woraufhin Roderick wieder der Mut verließ. Schon lange glaubte er nicht mehr daran, England noch einmal wiederzusehen.
Saladins Vergeltungsschlag folgte auf den Tag genau zwei Wochen später. Das verstärkte muslimische Heer startete von beiden Seiten einen Angriff auf das Lager der Kreuzritter, der so heftig war, dass es Tage dauerte, bis die Angegriffenen ihn vollständig zurückschlagen konnten.
Die folgenden Tage wurden für Roderick von der Krankheit seines Freundes Jolyon überschattet, der gegen Rodericks Willen für die Verteidigung ihres Lagers eingesetzt worden war, und jetzt wieder mit dem Fieber zu kämpfen hatte, das zwischenzeitlich abgeklungen war.
Roderick saß bei ihm und kümmerte sich um ihn, so gut es ging. Er bat Radzak, Wasser und Essen zu holen, damit er bei Jolyon bleiben konnte, dem es immer schlechter ging. Er hatte Fieberträume, sein Gesicht war blass und seine Haut heiß, seine Lippen vom Fieber aufgesprungen. Wenn er aß, dann aß er zu wenig und innerhalb kürzester Zeit hatte Jolyon stark an Gewicht verloren, was Roderick besorgte, denn Jolyon war auch zuvor nicht gut genährt gewesen. Roderick zwang ihn immer wieder, zu essen und zu trinken, doch Jolyon wehrte sich gegen ihn, er wollte ihn im Fieber nicht mehr an sich heranlassen und Roderick musste ihn mit Radzaks Hilfe festhalten, um ihn zu waschen und zu ernähren. Es fiel Roderick zunehmend schwerer, sich um Jolyon zu kümmern, der ihn während der heftigen Fieberanfälle zurückstieß oder nach ihm schlug. Alles, was Roderick tun konnte, während sein Freund sich unruhig hin- und herwarf, war, ihn mit Radzaks Hilfe festzuhalten, damit er sich nicht verletzt.
Er beabsichtigte, einen Arzt zu holen, doch Jolyon bat Roderick in einem Moment von Bewusstsein darum, ihn einfach ruhen zu lassen. Roderick wusste, dass sein Freund nicht viel von den Ärzten seiner Zeit hielt, daher kümmerte sich Roderick selbst um ihn, was ihm allemal lieber war, als einen Fremden an seinen Freund heranzulassen.
Rodericks zwanzigster Geburtstag am fünfundzwanzigsten Mai ging unter, denn Jolyon schlief die meiste Zeit und wusste nicht, dass der Tag gekommen war und Roderick wies ihn nicht darauf hin. Radzak wusste sowieso nichts davon und er vergötterte Roderick ohnehin schon so sehr, dass Roderick sich fragte, wie der Sarazenenjunge das an seinem Geburtstag noch übertreffen sollte. Er schwieg also und Radzak spielte weiterhin den Laufburschen für ihn.
Er pflegte seinen kranken Freund über zwei Wochen. Ihr Tagesablauf richtete sich nach Jolyon und Jolyons Tag bestand aus essen, trinken und schlafen. Jegliche Anstrengungen und andere Taten untersagte Roderick ihm strikt und schon bald sank das Fieber und Jolyon erholte sich wie durch ein Wunder wieder.
Es war Mitte Juli, als der nächste Angriff stattfand. Diesmal ging er von Seiten der Kreuzfahrer aus. Auch Jolyon wurde, erneut gegen Rodericks Willen, als Bogenschütze eingesetzt. Er war zwar wieder gesund und das Fieber war schon seit über zwei Wochen vergangen, doch Roderick fürchtete einen erneuten Rückfall. Jolyon tröstete ihn damit, dass er als Bogenschütze keiner großen Kraftanstrengung ausgesetzt sein würde und Roderick eh nichts unternehmen konnte, um es zu ändern. Er umarmte seinen Freund zum Abschied. „Mach dir um mich keine Sorgen“, bat er ihn und Roderick küsste ihn und Radzak auf die Stirn.
Gegen Mittag nahmen die Ritter Stellung in einer geschlossenen Formation mit breiter Front, hinter ihnen Bogenschützen und andere Fußsoldaten, dann stürmten sie auf die Sarazenen zu, die von der Wucht des Angriffs überrascht waren und ihr wenig entgegenzusetzen hatten. Roderick und die anderen Kreuzfahrer merkten, dass ihre Feinde Lücken in ihrer Verteidigung aufwiesen, und wurden mutiger. Immer stärker, jedoch auch immer unvorsichtiger griffen sie die Feinde vom Rücken ihrer kräftigen Streitrösser an und Roderick musste in den ersten Stunden der Schlacht dennoch keinen einzigen Hieb einstecken. Den anderen Templern auf dem Schlachtfeld, die rechts und links von Roderick in den Riehen der Sarazenen wüteten, ging es scheinbar genauso und der Erfolg machte sie unvorsichtig und übermütig, jetzt wies ihre eigene Verteidigung wesentliche Lücken auf, die sie jedoch aufgrund der Stärke ihrer Angriffe ausgleichen konnten und die Sarazenen, die den Templern zwar in Wendigkeit und Geschwindigkeit überlegen waren, konnten die Kraft der Schläge nicht abwehren und fielen in Scharen den Schwertern und Streitäxten der Tempelritter zum Opfer.
Gegen den Befehl ihrer Führung griffen die ermutigten Templer Saladins rechte Flanke an, um sich zu ihm durchzukämpfen, doch hier stießen sie urplötzlich auf erheblichen Widerstand, der ihnen das Vorwärtskommen unmöglich machte. Schon bald hatte sich ein dichter Ring aus Sarazenen um sie gebildet, der die Ritter wie Schafe eng zusammenpferchte. Nun waren sie ein leichtes Ziel für die Wurfspeere und die gefürchteten Kurzbögen ihrer Feinde. Die Angreifer mussten sich ihnen nicht einmal auf Nahkampfnähe nähern – sie konnten sie aus sicherer Entfernung reihenweise ohne jede Möglichkeit der Gegenwehr abschlachten.
Roderick hatte seinen Schild wegwerfen müssen, als ein Speer diesen durchbohrt hatte und durch die lange Eisenspitze, die auf der ihm zugewandten Seite herausragte, zu einer für ihn selbst todbringenden Waffe geworden war. Ein einziger Schlag gegen den Schild oder ein weiterer Treffer eines Wurfgeschosses konnte Roderick den Schild aus der Hand reißen und gegen seine Brust schlagen, wobei die Spitze seine Rüstung durchdringen könnte. Durch den Verlust des Schildes war er absolut schutzlos geworden, er konnte sich nicht einmal gegen die von oben herab hagelnden Pfeile und Speere schützen, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis eines der Geschosse ihn treffen würde.
Alle Versuche der Kreuzritter, den Ring ihrer Feinde zu durchbrechen, scheiterten und sie waren gezwungen, ihr Schicksal widerstandslos hinzunehmen. Um Roderick herum starben die Kreuzritter im Pfeilhagel wie Fliegen. Rodericks Pferd wurde von einem Wurfspeer getroffen, bäumte sich unter ihm auf und stürzte, wobei es Roderick unter sich begrub. Der Schmerz schoss Roderick durch die Glieder, während das Pferd unter schmerzerfülltem Wiehern versuchte, auf die Beine zu kommen und Roderick dabei erhebliche Schmerzen zufügte.
Staub wirbelte um sie herum auf und Roderick wurde dadurch vor den Blicken seiner Feinde verborgen, sonst wäre er ein allzu leichtes Ziel für einen herannahenden Sarazenen oder einen zielenden Schützen gewesen.
Irgendwie, irgendwann bekam das Pferd festen Boden unter den Füßen und stand auf. Roderick, der es nicht gewagt hatte, sich zu rühren, während sich das Pferd in Panik auf ihm wälzte, konnte sich endlich aufsetzen. Ihm war schwindelig und er hatte schreckliche Schmerzen am ganzen Körper, doch hier sitzen zu bleiben, wäre sein sicherer Tod. Die Pferde seiner Mitstreiter würden ihn niedertrampeln oder Wurfspeere und Pfeile würden ihn töten.
Vor Schmerzen keuchend kam Roderick auf die Beine. Taumelnd versuchte er, sich zu orientieren, doch es war sinnlos. Überall waren Sarazenen, sie waren eingekesselt, es gab keine Hoffnung mehr. Sie würden alle der Reihe nach niedergemetzelt werden.
Zu spät bemerkte Roderick das Pferd, das direkt neben ihm von einem Pfeil getroffen wurde und sich aufbäumte. Er hob schützend die Arme über den Kopf, doch es war zu spät. Einer der wirbelnden Hufe, vor dem auch der Helm Roderick nicht schützen konnte, traf ihn am Kopf und er stürzte bewusstlos zu Boden.
Es war Rodericks Glück, dass er das Bewusstsein verloren hatte, denn an diesem Tag wurden die angreifenden Tempelritter an Saladins rechter Flanke aufgerieben. Die Sarazenen töteten jeden Mann, der sich ihnen in den Weg stellte und noch viele Andere. Sie wüteten unter ihnen wie ein Wolf in einer Schafsherde. Roderick jedoch kam kurze Zeit nach der Niederlage der Tempelritter auf dem Schlachtfeld zu Bewusstsein – mit erheblichen Schmerzen zwar, doch immerhin lebendig.
Als Roderick die Augen aufschlug, hatte er das Gefühl, das Pferd hätte ihm alle Knochen gebrochen. Sein Kopf schmerzte von dem Hufschlag, das Atmen fiel ihm noch schwerer als nach seiner ersten Schlacht, als ihm der Sarazene den Säbel gegen den Brustpanzer geschlagen hatte. Ein Pfeil steckte direkt neben seinem rechten Arm im Boden und er hatte Glück gehabt, dass die todbringende Spitze nicht seinen Arm, oder einen halben Meter weiter links, seine Brust durchbohrt hatte. Auch sonst war er von den Pfeilen und Speeren der Sarazenen verschon geblieben. Es grenzte an ein Wunder, dass des Weiteren keines der Pferde über ihn getrampelt, oder auf ihn gestürzt war. Die ersten Minuten war er aufgrund der Schmerzen unfähig, sich zu rühren, doch dann kam in ihm die furchtbare Angst auf, einem der plündernden Sarazenen in die Hände zu fallen, denn das einzige, was er mehr fürchtete, als den Tod, war Gefangenschaft. Er wusste sehr gut, dass für die Muslime ein lebender Ritter mehr wert war, als ein toter und er zwang sich dazu, sich aufzusetzen.
Er befühlte seinen Kopf, an seinen Fingern war Blut, dann seine Rippen. Sein Brustpanzer hatte der Belastung nicht vollständig standgehalten, hatte jedoch die schlimmsten Verletzungen verhindert. Einige Risse und Beulen zierten ihn und Roderick fürchtete, dass es diesmal mit einer Reparatur nicht getan sein würde.
Er atmete einige Male tief durch und zwang sich, den Schmerz zu ignorieren. „Aufstehen!“, befahl er sich. „Nur aufstehen…“ Er nahm alle Kraft zusammen und kam auf die Beine. Ihm wurde einen Augenblick schwarz vor Augen und die Welt drehte sich um ihn, doch irgendwie blieb er stehen. Dann machte er sich langsam auf den Weg zurück zum Lager.
Roderick fragte sich, ob Jolyon und Radzak dachten, er sei tot. Zumindest Jolyon musste erfahren haben, dass von den Templern, die Saladins rechte Flanke angegriffen hatten, niemand überlebt hatte.
Er beeilte sich, um seinem Freund die Ungewissheit zu nehmen. Als Roderick das Zelt betrat, wusste er, dass er Recht gehabt hatte. Jolyon weinte in Radzaks Armen, der sich nicht so recht sicher zu sein schien, ob er das, was Jolyon ihm verständlich gemacht hatte, wirklich richtig verstanden hatte. Als der Junge Roderick erblickte, hellte sich sein Gesichtsausdruck auf. „Roderick!“, rief er. Er sprach den Namen seltsam aus, doch das störte Roderick im Moment überhaupt nicht. Er war froh, sie beide zu sehen und bevor Jolyon sich ganz zu ihm umgedreht hatte, umarmte Roderick ihn schon. „Was ist los? Wer ist denn gestorben?“, fragte er lächelnd.
Jolyon war sprachlos. Noch eben hatte man ihm gesagt, sein Freund sei tot, und nun stand er vor ihm! „Roderick? Das ist unmöglich. Das… Das ist unmöglich!“, stammelte er. Er starrte Roderick fassungslos und fast angsterfüllt an, so, als sei er ein Geist. „Sie haben gesagt, du wärst tot! Niemand hat überlebt, haben sie gesagt.“ Er hielt Roderick ein Stück von sich weg, damit er ihn ansehen konnte. „Aber du bist es… Du lebst…“ Erst jetzt schien Jolyon zu verstehen, dass Roderick wirklich am Leben war und er drückte ihn an sich. „Ich dachte, du wärst tot… Sie haben gesagt, du wärst tot“, murmelte er vor sich hin. Roderick hielt ihn fest, bis er sich beruhigt hatte.
„Ich bin aber nicht tot, nicht wahr?“, fragte Roderick Jolyon. Dieser schüttelte den Kopf. „Was ist passiert? Wie hast du überlebt?“, wollte er dann wissen. Also erzählte Roderick ihm, wie er vom Pferd gestürzt und von einem Huf am Kopf getroffen worden war, woraufhin er das Bewusstsein verloren hatte. „Als ich wieder zu mir gekommen bin, waren sie schon alle weg.“
„Ich… Ich hab mir schon überlegt, wie ich das deiner Familie beibringen soll…“, murmelte Jolyon. „Dass ich nicht bei dir war… Ich muss doch bei dir bleiben. Um dich zu beschützen und auf dich aufzupassen.“ Roderick beruhigte ihn. „Jetzt mach dir keine Vorwürfe“, sagte er. „Wir sind nun mal an völlig unterschiedlichen Stellen eingesetzt worden. Dafür kannst du so wenig, wie ich!“ Jolyon schien nicht ganz überzeugt, doch schließlich schaffte Roderick es, das Thema zu wechseln.
Er bat Jolyon, ihm Wasser zu bringen, damit er sich waschen konnte. Er wusch sich das Blut vom Kopf und den Fingern, dann untersuchte er seine schmerzenden Knochen. Seine Rippen waren zwar vom Harnisch geschützt worden, doch sie waren dennoch von blauen Flecken übersät. Sein linker Arm war verletzt, die Hufe seines Pferdes hatten ihn erwischt und beim Aufstehen war das Pferd auf seine Hand gestanden und hatte ihm scheinbar mehrere Finger gebrochen.
„Soll ich einen Arzt holen?“, fragte Jolyon, der mit Wasser und Tüchern zurückkam. Roderick schüttelte den Kopf. „Nein, hilf mir nur, sie zu verbinden!“, sagte er. Jolyon stabilisierte seine Finger mit einem Stück Holz und umwickelte sie dann fest mit einem Verband. Auch um seinen Kopf mit der Platzwunde legte Jolyon einen polsternden Verband an. Roderick machte sich jedoch um seine Finger mehr sorgen, als um seinen Kopf. Er fürchtete, dass die gebrochenen Finger steif bleiben könnten oder anderweitig Probleme machen würden, wenn sie wieder verheilt wären und dass sie ihm das Bogenschießen erschweren oder sogar unmöglich machen könnten, doch die Sorge stellte sich als unberechtigt heraus.
Schon Mitte September konnte Roderick seine Finger wieder voll und ganz belasten und einsetzen. Das Bogenschießen machte ihm keinerlei Probleme und die Finger konnten auch seinen Schild wieder halten. Bei den Übungskämpfen gegen Jolyon gewann er zunehmend öfter, bis er ihm irgendwann wieder ganz überlegen war.
Den ganzen Sommer über waren immer mehr christliche Soldaten ins Heilige Land gereist und Roderick fragte sich langsam, woher sie diese enorme Anzahl von Menschen nahmen, die aus den europäischen Ländern anreisten und auch Saladin verstärkte sein Heer mit Männern aus dem byzantinischen Reich.
Roderick bekam durch einen Händler, der nach Akkon gereist war, eines Tages einen Brief von seiner Familie zugestellt, in dem sie ihm nachträglich zu seinem Geburtstag gratulieren und er außerdem erfuhr, dass Conny und ihr Mann ein Kind erwarteten und die Ernte dieses Jahr besser ausgefallen war, als im Jahr davor. Lacock stand wieder auf eigenen Beinen und die Bewohner hatten schon lang keinen so ertragreichen Sommer mehr gesehen. Roderick gab dem Händler, der angekündigt hatte, Akkon in fünf Wochen wieder zu verlassen, seine gesammelten Briefe mit, die er mit Datum versehen und durchnummeriert hatte. Er musste bei dem Gedanken an das Gesicht seiner Familie schmunzeln, wenn sie die vielen Briefe sehen würden.
In Jolyons Namen schrieb Roderick auch einen Brief an Jolyons Großeltern und seine Schwester, den Jolyon ihm diktierte, in welchem er von der Belagerung berichtete und hoffte, der Hof liefe auch ohne seine Hilfe gut. Roderick schrieb ein weiteres Mal einen aktuellen Brief an seine Familie und bat William oder Alan in Jolyons Namen, seine Familie zu besuchen und ihnen den Brief vorzulesen, da von ihnen niemand lesen konnte.
Im Heiligen Land konnte man sich mit Hilfe von Brieftauben verständigen, auch wenn man dies nur sehr ungern tat.
Mehrere Male hatte man in Akkon erfahren, dass Briefe von Sarazenen abgefangen wurden, Briefe mit militärischen Inhalten wurden immer widerwilliger verschickt, denn häufig wurden die Brieftauben abgeschossen oder die Boten überfallen – die Briefe erreichten ihren Empfänger nie, oder sie wurden verfälscht. Natürlich verschafften sich beide Parteien durch das verfälschen jener Briefe immer wieder einen Vorteil, doch Roderick schrieb in seinen neuesten Brief nicht mehr viel über die Belagerung, sondern eher persönliche Dinge, die einen Sarazenen, sollte er den Händler auf seiner Rückreise überfallen und ihm der Brief in die Hände geraten, nicht interessieren, und ihm vor allem keinen Vorteil verschaffen würden.
Roderick schrieb einen weiteren Brief an seinen Bruder William zum neunzehnten Geburtstag und wünschte ihm alles Gute für die kommenden Lebensjahre. Auch diesen Brief gab er dem Händler bereits mit, obwohl es noch Zeit bis zum Geburtstag seines Bruders war. Der Brief würde Lacock in frühestens vier Monaten erreichen, und bis dahin war der Geburtstag seines Bruders schon längst vergangen.
Als Königin Sibylle von Jerusalem kurz nach ihren beiden gemeinsamen Töchtern mit Guido von Lusignan ebenfalls verstarb, verlor jener das durch sie erlangte Recht auf die Krone, obwohl Jerusalem schon längst nicht mehr unter der Herrschaft der Europäer war und den Oberbefehl des Heeres. Scheinbar endlose Machtkämpfe um das Kommando über das kreuzfahrerische Heer, die sich nun zwischen den europäischen Verbündeten abspielten, überschatteten die Belagerung Akkons und brachten sie zum Stillstand. Gerüchte über die Eheschließung Konrads von Montferrat mit Sibylles Schwester Isabella machten die Runde, doch Roderick wusste mit dieser Information nicht viel anzufangen: Ihm war es gleich, wer in den Adelskreisen wen heiratete, solange es sich nicht um seine direkten Verwandten handelte und genauso war es ihm gleich, wer das Heer anführte. Ob es nun Guido oder Konrad war, war ihm gleich – er wollte einfach nur baldmöglichst zurück nach Hause. Wer der beiden auch immer dafür sorgen konnte, dass dieser Krieg bald beendet war und er zurück nach England kehren konnte, hatte seine vollste Unterstützung.
Die Soldaten vor Akkon hielten sich anderweitig bei Laune. Immer häufiger saß man zusammen und erzählte sich Geschichten – von vergangen Schlachten, oder noch häufiger: von zu Hause, denn jeder hier sehnte sich nach seinem Heimatland und seiner Familie. Auch Roderick und Jolyon saßen häufig Abend um Abend bei den Männern und lauschten den Erzählungen. Roderick erzählte von den vielen Tagen, die er und Jolyon gemeinsam im Wald verbracht hatten und die Männer lachten über so manche Anekdote.
Sir Godric, ein Mann stämmiger, hochgewachsener Mann mittleren Alters mit hellem Haar, konnte sich mit Radzak verständigen, doch Radzak schien weiterhin nichts über sich preisgeben zu wollen, was Roderick verstand und sich so manche Male schützend vor den Jungen stellte, wenn die Männer in seinen kindlichen, unbedarften Aussagen eine Anfeindung verstanden. Die Männer, die Radzak nicht kannten, sahen in ihm nur einen Sarazenen, doch sobald sie ihn näher kennenlernten, schienen sie sich bald mit Rodericks treuem Diener anzufreunden. Sie hatten auch wenig Alternativen, denn Radzak weigerte sich weiterhin, Roderick aus den Augen zu lassen. Entweder er wartete auf eine Gelegenheit, seine Schuld bei ihm zu begleichen, oder er hatte Angst, inmitten der Fremden, die eine andere Sprache und andere Kultur besaßen, allein zu bleiben.
Immer noch waren Radzak und Jolyon seine bevorzugte Gesellschaft, doch immer öfter stießen andere Männer dazu – man war sich nicht mehr fremd. Und auch Radzak wurde – zumindest in Rodericks Anwesenheit – immer anständig und mit Respekt behandelt. Wurde Roderick eingeladen, galt diese Einladung immer auch für Jolyon und Radzak, doch Roderick ließ nie zu, dass einer der Männer ihm zu sehr ans Herz wuchs, obwohl einige wirklich liebenswert waren.
Da war zum Beispiel ein junger Mann namens Lion, der gerade erst das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben konnte. Lion erzählte die witzigsten Geschichten und brachte die – verglichen mit ihm selbst – alten Krieger mit seiner Albernheit immer wieder zum Lachen. Obwohl er ein kindliches Verhalten zeigte, erkannte Roderick bereits bei seiner ersten Unterhaltung mit dem Jungen, dass er einen aufgeweckten jungen Mann vor sich hatte und der Junge erinnerte ihn stark an sich selbst.
Die anderen Ritter beschrieben Roderick als einen eigensinnigen, jedoch durchaus gerechten und barmherzigen jungen Mann. Roderick blieb bei seiner Meinung und ließ sich nicht zu leicht davon abbringen, war jedoch bereit, sich eines Besseren belehren zu lassen, wenn jemand ihn überzeugte. Roderick gab sich auch Mühe, die anderen mit mehr Respekt zu behandeln, als er es zu Hause tat. Zu Hause waren ihm die anderen Adeligen gleichgültig gewesen – lieber war er mit seinen Geschwistern und Jolyon zusammen. Doch hier schien man für einen Moment die guten Manieren vergessen zu können und manchmal gelang es Roderick, sich zu entspannen. Es wurde Gesungen und Getanzt, man war ausgelassen und Roderick fühlte sich an solchen Tagen hier beinahe wohler, als in Lacock, wo er ständig seinen peniblen Stiefvater hatte, der hinter ihm herlief und ihn mit irgendwelchen belanglosen Kleinigkeiten quälte.
Die drei jungen Männer freundeten sich mit anderen Rittern an. Einer davon war Sir Henry, ein junger Mann, der nur wenige Jahre älter als Roderick war. Er war der jüngste von fünf Brüdern, die jedoch alle vor ihm verstorben waren, weshalb er nun den Titel seines Vaters trug.
Roderick und er lachten viel miteinander und Jolyon hielt sich etwas im Hintergrund, wenn die beiden Männer von Adel sich unterhielten. „Ihr seid ein kluger Bursche und im Führen einer Grafschaft weitaus erfahrener als ich“, gab Sir Henry einmal zu. „Der frühe Tod Eures Vaters tut mir leid, doch gleichzeitig freut es mich, denn sonst hätte ich Euch womöglich nie kennen gelernt.“
Roderick erzählte Sir Henry von seinen Brüdern und seinen Schwestern. Er erzählte auch von der Hochzeit seiner Schwester und davon, dass sie ein Kind erwartete. Er fragte Sir Henry, ob er verheiratet war und dieser bejahte. Dann erzählte er lange von seiner Frau, die er vor sechs Jahren geheiratet hatte, und seinen beiden Töchtern Heather und Alice. „Habt Ihr sie geliebt, als Ihr sie heiratetet?“, fragte Roderick. Sir Henry sah ihn lange an. „Nein. Aber mit der Zeit kam das gegenseitige Vertrauen und ich bin trotzdem glücklich geworden.“ „Hattet Ihr nie Angst, Euch in eine andere zu verlieben?“, wollte Roderick wissen. „Soweit habe ich nie gedacht“, antwortete Sir Henry. „Dafür hatte ich keine Zeit. Und wenn es so gekommen wäre, hätte ich diese Liebe zum Wohl meines Volkes aufgeben müssen. Das seht Ihr gewiss auch so, nicht wahr?“ Darauf konnte Roderick nicht antworten und er schwieg.
Sir Henry stellte Roderick eine Handvoll Männer in ihrem Alter vor, deren Namen Roderick nicht alle behalten konnte. Sie waren jedoch allesamt außerordentlich nett und Roderick verbrachte gerne Zeit mit ihnen. Er lernte sie besser kennen und sie saßen viele Abende beisammen. Wenige von ihnen hatten so interessante Geschichten zu erzählen, wie Roderick, der erzählte, wie er mit Jolyon auf die Jagd ging und welche Abenteuer sie dort erlebten. Sir Henry erzählte Geschichten von seinen beiden Töchtern und Roderick merkte, wie sehr der junge Ritter die beiden Mädchen liebte. Roderick fragte sich, ob er England jemals wiedersehen würde, und ob er selbst dann wohl gezwungen sein würde, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sein Vater würde ihn mit Sicherheit so lange bearbeiten, bis Roderick nachgeben würde und seinem Stiefvater zuliebe heiratete.
Vieles von dem, was die Männer erzählten, erinnerte ihn an England. Gemeinsam schwärmten sie von ihrem Heimatland und Roderick dachte an die Wälder, Täler und kleinen Flüsse, die Lacock umgaben und von denen er fürchtete, sie möglicherweise nie wieder zu sehen.
Als einer von den Männern aber krank wurde und kurze Zeit später verstarb, begann Roderick sich zu erinnern, weshalb er beschlossen hatte, sich von den Männern um ihn herum fernzuhalten. Er wollte sich nicht mit ihnen anfreunden, um nicht um sie zu trauern. Er distanzierte sich wieder von ihnen, was den jungen Männern nicht entging, doch sie sprachen ihn nicht darauf an und ließen ihn gewähren. Nicht einmal zu Sir Henry hielt Roderick den Kontakt.
Obwohl oder gerade weil Roderick die anderen mit einer leicht abweisenden Distanz behandelte, konnte man nicht sagen, dass er unbeliebt war. Trotz seines jungen Alters wurde er von allen um ihn herum respektiert und wenn er sprach hörten sie zu. Sie widersprachen ihm selten und niemand traute sich, etwas gegen den Sarazenenjungen zu sagen, der ihn ständig begleitete.
Nur Radzak und der beidseitigen Resignation was die Belagerung anging war es zu verdanken, dass sich eines Tages, als Roderick mit ihm, Jolyon und einigen anderen, ihm jedoch fremden Männern in einiger Entfernung vom Lager saßen, zwei junge Sarazenen zu ihnen gesellten.
Anfangs saßen die beiden Gruppen unweit voneinander entfernt, obgleich klar voneinander abgegrenzt, bis Radzak schließlich eine Frage an die beiden Männer richtete und sie ihm antworteten. Roderick, Jolyon und die anderen Engländer beobachteten Radzak misstrauisch, der sich mit den feindlichen Sarazenen verständigte. Schließlich standen die Fremden auf, zeigten, dass sie unbewaffnet waren, und kamen vorsichtig näher. Die meisten der Engländer waren ebenfalls unbewaffnet, und Roderick, der als einziger sein Schwert trug, schnallte es ab und legte es knapp außer Reichweite von sich weg, vorauf hin die ursprünglichen Feinde näher kamen.
Einer der beiden Fremden sprach ein paar Worte Französisch und Roderick, der des Französischen mächtig war, übersetzte für die übrigen Engländer und unterhielt sich mit dem Sarazenen, der seinerseits für seine Gefährten übersetzte. Gemeinsam lachten und scherzten die Männer, bis es Abend wurde.
Immer häufiger trafen nun kleinere Gruppen der ehemals Verfeindeten aufeinander, auch ohne Radzaks Beihilfe.
Die Männer wurden kriegsmüde und die Belagerung zehrte an ihren Nerven. Der Herbst brach herein, doch die Hitze blieb. Das Wasser war knapp und häufig verunreinigt, sodass Seuchen sich breit machten und viele Opfer forderten. Einige wichtige Heerführer von Rang und Namen wurden krank und zogen wieder ab, viele starben auf dem Heimweg und schon bald war Saladins Heer so groß, dass es über den Landweg kein Durchkommen mehr gab. Auch zu Schiff war eine Abreise oder ein Nachschub holen durch den hereinbrechenden Herbst unmöglich geworden, denn die Winterstürme würden bald hereinbrechen und das Meer für die Schiffe der Europäer unbefahrbar machen. Sie saßen auf dem Trockenen und Saladin, der den Belagerungsring um sie enger gezogen hatte, startete keine neuen Angriffe. Scheinbar war es ihm die Mühe nicht wert – er wollte die Seuchen die Arbeit für sich erledigen lassen.
Während Saladin diese Pläne hegte, wurde die Freundschaft zwischen Sarazenen und Europäern enger, die beiden Parteien wurden Freunde, bis wenige Augenblicke später der neuanbrechende Krieg sie wieder zertrennte, doch die Kriegsmüdigkeit der Männer war zu groß geworden. In den darauffolgenden Tagen und Wochen fanden die wenigsten ihren Tod auf dem Schlachtfeld – vielmehr wurden die Seuchen zu einem nicht einzudämmenden Problem.
Auch Roderick wurde krank, es fing mit leichtem Husten und Kopfschmerzen an, was Roderick vorerst ignorierte. Er schob das Unwohlsein auf seine angeschlagenen Nerven und den Hunger und arbeitete weiterhin an der Belagerung. Sie machten sich an den Bau von Belagerungsmaschinen mit denen sie vorhatten, die Mauern von Akkon endgültig zu überwinden, denn ein Großteil der Belagerungsgeräte, war bei den vorherigen Angriffen von den Sarazenen zerstört worden. Roderick und Jolyon arbeiteten gemeinsam daran, doch Rodericks Husten wurde schlimmer. „Hier fühlt sich doch jeder krank“, sagte er zu Jolyon, als diesem auffiel, dass Roderick ungewöhnlich blass war und krank aussah. Jolyon bat ihn zwar, sich zu schonen, doch Roderick wollte in Form bleiben und forderte Jolyon weiterhin zu Übungskämpfen heraus, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich mit jedem Tag.
Er fühlte sich dauerhaft müde und er hatte Bauchschmerzen, in der Zwischenzeit kam Fieber dazu, und er fröstelte, doch Roderick sah erst knapp acht Tage später, als das Fieber bereits gefährlich hoch angestiegen war und er schon mehrere Tage lang im Bett lag, ein, dass er einen Arzt brauchte. Der Arzt, ein älterer, korpulenter Mann, untersuchte Roderick, fand jedoch nichts, was das Fieber hervorgerufen haben könnte.
Als das Fieber nach über einer Woche noch nicht gesunken war und sich auf Rodericks Haut, besonders am Bauch und auf der Brust, rötliche Flecken bildeten, holte Jolyon erneut einen Arzt, der Roderick jedoch mit seinen Behandlungsmethoden nicht half, sondern ihn zunehmend schwächte. Als Jolyon merkte, dass sich der Zustand seines Freundes eher verschlechterte als verbesserte, seit der Arzt ihn behandelte, brach er die Behandlung ab und beschloss, sich selbst um Roderick zu kümmern.
Tage- und nächtelang kühlte er seinen Freund mit nassen Tüchern, um das Fieber zu senken und zwang ihn, zu trinken, was ein enormer Kraftakt für alle Beteiligten war, denn Roderick war nicht in der Lage, sich allein aufzusetzen und musste von Radzak und Jolyon gestützt werden. „Das haben wir schon mal geschafft, erinnerst du dich?“, fragte Jolyon seinen Freund, als er ihm ein weiteres Mal, nachdem er ihm zu trinken gegeben hatte, die schweißüberströmte Stirn abtupfte.
Roderick lächelte, als er sich an den heißen Sommertag auf ihrer Hinreise erinnerte, der ihn in seiner schweren Rüstung fast das Leben gekostet hatte. Wie schön es gewesen war, mit Jolyon durch den Wald zu reiten. Im Gegensatz zu dem, was er jetzt durchmachte, schien ihm selbst jener Tag ein Kinderspiel gewesen zu sein.
„Kaum zu glauben, dass dieser Tag jetzt weit über ein Jahr her ist, nicht wahr?“, fragte Jolyon ihn. Roderick konnte nicht antworten, nur lächelnd nicken. Jolyon war beunruhigt und wusste nicht, was er tun sollte. Natürlich hätte er am liebsten gesehen, dass ein Arzt Roderick behandelte, doch er hielt nicht viel von den Ärzten. Sie richteten seiner Meinung nach mehr Schaden an, als sie behoben.
Jolyon machte das Tuch ein weiteres Mal nass und drückte es auf Rodericks Stirn. „Wir schaffen das schon…“, sagte er zuversichtlich. Roderick hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Radzak, der neben ihm saß und seine Hand hielt, versuchte Jolyon darauf aufmerksam zu machen, dass etwas mit ihm nicht stimmte, doch der verstand ihn nicht. Anstatt auf ihn einzugehen, drückte Jolyon Radzak ein feuchtes Tuch in die Hand und bat ihn, ihm zu helfen, das Fieber zu senken.
Er redete weiter mit Roderick, der ihn jedoch nicht hörte. „Hörst du?“, fragte er ihn einmal, doch sein Freund gab keinen Mucks von sich. Jolyon berührte ihn am Arm und stupste ihn leicht an. „Roderick, komm schon, antworte mir“, bat er ihn, während er erneut sein Gesicht abtupfte. Er schob die Tatsache, dass sein Freund ihm nicht antwortete, darauf, dass er wohl zu schwach oder erschöpft sei, um zu sprechen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass Roderick unnatürlich blass war und sich nicht bewegte. „Roderick?“ Jolyon zog seine Hand weg, um seinen Gefährten ansehen zu können und drückte Radzak das Tuch in die Hand, dann beugte er sich über seinen Freund. „Roderick!“ Er schüttelte Roderick leicht und als der nicht reagierte, schlug Jolyon ihm ins Gesicht. „Roderick, bitte bleib bei mir!“, flehte er seinen Freund an und schüttelte ihn nochmal. „Bitte!“
Schließlich öffnete Roderick schwach die Augen. Jolyon atmete erleichtert auf und wischte sich die Tränen ab, die ihm über die Wange gelaufen waren bei dem Gedanken daran, seinen Freund verloren haben sein können. „Was ist?“, wisperte Roderick mit tonloser, schwacher Stimme. „Ist schon in Ordnung…“, sagte Jolyon. „Ich… Ich dachte, du…“ Er verstummte. „Nicht so wichtig.“ Roderick legte seine Hand unter ungeheurer Kraftanstrengung auf Jolyons Arm und streichelte ihn tröstend. Er war zu schwach, um zu sprechen.
Radzak brachte auf Jolyons Befehle hin Wasser und half ihm, Rodericks Körper zu kühlen, damit das Fieber sank. In der Folgezeit blieb das Fieber gleich, doch Roderick wurde immer schwächer. Zum Fieber und dem Ausschlag kamen weitere Bewusstseinseintrübungen und Jolyon fürchtete langsam, seinen Freund nicht auf dem Schlachtfeld, sondern an irgendeine Seuche zu verlieren.
Trotzdem kämpfte er weiter um jeden Schluck Wasser, den Roderick zu sich nahm und auch Roderick schien nicht aufgeben zu wollen. Ungeachtet Jolyons Mühe dauerte es über drei Wochen, bis das Fieber wieder sank und zwei weitere Wochen, bis Roderick wieder vollständig zu Kräften gekommen war.
Es war ein Wunder, dass weder Radzak noch Jolyon sich bei Roderick angesteckt hatten, doch die jungen Männer blieben von nun an von den Seuchen, die das Lager befielen, größtenteils verschont.
Erst im November gab es Neuigkeiten. Bei einer Schlacht hatten sie sich die Zufahrt zum Hafen zurückerkämpft und so konnte noch einmal Nahrung ins Lager geholt werden. Die Zeiten des Hungers waren vorbei und man bereitete sich, gestärkt und zuversichtlich von den jüngsten Errungenschaften, auf einen erneuten Angriff vor. Am letzten Dezembertag sammelten sich die Kreuzritter, um die Mauern des belagerten Akkon zu stürmen und dem Kampf ein Ende zu setzen. Sie schlugen zwar einige Breschen in die Mauern, doch größere Erfolge hatten sie dennoch nicht erzielt. Die Sarazenen hatten sich auf den Burgmauern verschanzt und schossen mit brennenden Pfeilen auf die Angreifer herunter, die vor den Mauern nur auf den Tod warten konnten. Mehrere Belagerungstürme wurden von den Sarazenen trotz der feuchten Felle, mit denen sie umwickelt waren, in Brand gesetzt und sie zerstörten drei Katapulte, die jedoch bald durch neue ersetzt wurden, sodass der Ausgang der Schlacht für beide Seiten von geringem Fortschritt blieb.
Auch in den darauffolgenden Tagen fanden mehrere Angriffe statt, jedoch hatten die Kreuzfahrer nie einen Erfolg aufzuzeigen. Mehrere Male versuchten sie, ermutigt durch den teilweisen Einsturz der Stadtmauern, Akkon einzunehmen, doch wie in den vorangegangenen Schlachten hielt sich der Erfolg in Grenzen. Saladins Garnison war zwar geschwächt, doch verschanzt hinter den Mauern Akkons waren sie in einer sichereren Position, als die Europäer, die vor Akkons Mauern zusammengedrängt wie auf dem Präsentierteller saßen, weshalb man irgendwann die Angriffe ruhen ließ und darauf hoffte, Saladins Männer auszuhungern oder die Nerven der Belagerten überzustrapazieren.
An einem kühlen Tag Mitte Februar waren Roderick und Jolyon mit drei weiteren Männern zur Wache eingeteilt und mussten die bereits schwer beschädigten Stadtmauern bewachen, damit sich keine Soldaten unbemerkt aus der Stadt schleichen konnten.
Es war früher Morgen, es dämmerte gerade, als sich etwas hinter den Burgmauern tat. Jolyon stieß Roderick an, um ihn darauf hinzuweisen. Es waren seltsame Geräusche, Hufgetrappel… dann Waffengeklirr. Die beiden sprachen mit den anderen drei Männern ab, dass sie sich ansehen sollten, was dort vor sich ging und sie zogen zu zweit los. „Bleib dicht hinter mir!“, wies Roderick Jolyon an. Sie schlichen sich die Stadtmauern entlang bis zum Tor, um einen Blick hinter die Stadtmauern werfen zu können, doch kaum waren sie bis auf ein paar Meter auf die Stadtmauern herangekommen, öffnete sich das Tor. „Lauf!“, wisperte Roderick seinem Freund zu und schob ihn davon. „Lauf, lauf, lauf! Mach, dass du wegkommst!“, befahl Roderick seinem Freund, doch Jolyon stockte. „Ich kann dich nicht verlassen“, flüsterte er. „Jolyon…“ Roderick hielt kurz inne. Er sah, dass einige von Saladins Heerführern die Stadt zu Pferd verließen. Er musste herausfinden, was sie vorhatten. „Geh zurück, Jolyon. Geh zurück und schlag Alarm!“, befahl er. „Ich bin direkt hinter dir.“ Er ließ sich keine Zeit, um zu sehen, ob Jolyon ihm gehorchte, sondern ging in Deckung. In der Dunkelheit konnte er sich hinter einer niedrigen Sanddüne verbergen und die Sarazenen beobachten, die in Richtung Küste ritten. Er folgte ihnen, doch es war schwierig, zu Fuß und im Sand mit ihnen Schritt zu halten, weshalb er versuchte, näher an sie heranzukommen und seine schützende Deckung verließ.
Er hörte, wie jemand in der Ferne Alarm schlug und sah, dass im Lager Tumult ausbrach. Jetzt entdeckte ihn einer der Sarazenen. Er schrie seinen Kumpanen etwas zu und dann galoppierten sie auf ihn zu. Roderick, mit nichts als einem Schwert bewaffnet und zu Fuß, rannte um sein Leben, doch die Wüstenpferde waren schneller als er und schon nach wenigen Schritten hatten ihn die Sarazenen eingeholt und einer der Sarazenen schlug ihm mit der Breitseite seines Schwertes auf den Hinterkopf. Roderick stürzte benommen zu Boden. Die berittene Sarazenen, die ihn verfolgt hatten, stiegen jetzt vom Pferd und zogen ihn auf die Beine. Sie sprachen untereinander, währenddessen ging in einer geringen Entfernung der Kampf los. Saladins berittene Soldaten kämpften sich durch die Reihen der Christen, und gelangten zum Hafen, wo gerade einige Schiffe anlegten. Die Kreuzritter waren zu überrumpelt, um die Sarazenen aufzuhalten und ihre Verstärkung von ihnen abzuschirmen. Die beiden Sarazenenheere vereinigten sich, doch anstatt ihre Feinde anzugreifen, zogen sie sich hinter die Mauern ihrer Burg zurück.
Der Kampf war so schnell beendet, wie er angefangen hatte. Saladin ersetzte seine geschwächte Garnison durch neue Kämpfer und verschanzte sich mit ihnen hinter den Mauern der Burg.
Jolyon hatte sofort Alarm geschlagen, als Roderick ihn weggeschickt hatte. Jetzt war er auf der Suche nach seinem Freund. „Roderick?“, schrie er. Er suchte bis es dämmerte, dann holte er Radzak zu Hilfe, doch sie konnten Roderick nicht finden.
Jolyon war verzweifelt und auch Radzak schien der Ernst der Lage allmählich zu verstehen. „Er muss tot sein… Nein, dann hätten wir ihn doch gefunden. Wo ist er? Wo ist er nur?“, flüsterte Jolyon verzweifelt vor sich hin.
Er wusste nicht, an wen er sich wenden sollte. Wer konnte ihnen helfen? Roderick hatte sich in der letzten Zeit von den anderen Männern im Lager ferngehalten und jetzt war sein Freund möglicherweise tot oder noch schlimmer und sie standen ganz allein da. „Radzak, wir müssen etwas tun… Ich will mir gar nicht vorstellen, was sie ihm dort alles antun! Oh Gott, sie werden ihn töten… oder ihn foltern…“ Jolyon lief auf und ab wie ein Huhn ohne Kopf. Radzak hielt ihn irgendwann fest und zog ihn mit sich. Er merkte, dass Jolyon in seinem Zustand nicht in der Lage war, irgendetwas zu unternehmen, um Roderick zu helfen, also musste er die Sache in die Hand nehmen. Er schleppte Jolyon zurück ins Feldlager, wo der Junge irgendeinen Ritter am Arm packte. „Was zur…?“, rief der Ritter und riss sich los. „He, junger Mann, nicht so grob!“, fuhr er den Sarazenen an. Hätte er nicht gewusst, dass Radzak zu Roderick gehörte, hätte er ihn wahrscheinlich ganz anders behandelt, doch jetzt redete Radzak energisch auf ihn ein und schob Jolyon vor sich, damit er sich mit dem Mann verständigte.
Der Ritter sah die beiden Männer überrascht an. „Was ist?“ Jolyon wurde klar, dass er Roderick helfen musste. „Sir, mein Herr wurde heute Morgen von den Sarazenen gefangen genommen, fürchte ich. Er braucht Hilfe“, flehte Jolyon. Der Ritter sah ihn mitleidig an. „Tut mir Leid, mein Junge, aber wenn dein Herr in Gefangenschaft ist, bleibt uns nichts anderes, als zu hoffen, dass sie ihn schnell töten oder dass seine Familie in der Lage ist, ein Lösegeld für ihn zu zahlen.“ Jolyon war fassungslos. „Was? Aber sie werden ihn töten… oder sie foltern ihn. Sie werden ihn umbringen! Ihr wisst, wie sie mit ihren Gefangenen umgehen“, stotterte Jolyon. „Ein Grund mehr, diese Mauern so bald wie möglich zu überwinden“, sagte der Ritter und warf einen Blick Richtung Akkon. Er klopfte Jolyon tröstend auf die Schultern. „Es tut mir sehr leid für deinen Herrn, aber wir können nichts tun. Geh in dein Zelt, oder zurück nach England. Hier wird dir wohl kaum jemand helfen können.“
Dann ließ er ihn stehen. „Nein…“, flüsterte Jolyon. „Nein.“ Er fühlte, wie die Tränen in ihm aufstiegen. Er konnte seinen Freund nicht im Stich lassen. Lieber würde er mit ihm sterben. „Radzak, wir müssen ihn da rausholen“, flüsterte er, doch er wusste, dass es unmöglich war. Während er sprach, liefen die Tränen über und er begann zu schluchzen. Es war hoffnungslos. Roderick würde in Gefangenschaft des Feindes sterben. Sie konnten mit einer ganzen Armee die Burgmauern nicht überwinden, wie sollte er es alleine schaffen, nur mit der Hilfe eines Sarazenenjungen? Er konnte nichts tun.
Roderick erwachte. Er blinzelte, doch es war dunkel. Er lag auf einem kalten Steinboden, seine Hände waren über seinen Kopf gefesselt. Sein Kopf schmerzte. Wo war er? Er zwang sich dazu, seine Gedanken zu ordnen. Kalter Stein unter ihm. Dunkelheit. Seine Kleidung war nass und er zitterte, seine Hände waren mit kalten Eisenketten gefesselt. Seine Schultern schmerzten. Er musste hier schon stundenlang liegen. Durch die gefesselten Hände über seinem Kopf bekam er nur schlecht Luft und er versuchte, sich aufzusetzen, doch er konnte sich nicht abstützen.
Als Roderick die Knie anzog, um sich mit ihnen abzustoßen, bemerkte er, dass auch seine Füße in Eisenketten steckten. Es war zwecklos. Die Ketten hielten ihn in einer halbwegs aufrechten Position, doch der Druck auf seine Handgelenke bereitete ihm Schmerzen und erschwerten ihm das Atmen.
Wütend trat Roderick mit den Füßen gegen das Gitter direkt vor ihm. Die Zelle war ungefähr zwei mal drei Meter groß, die Gitter waren aus starkem Eisen und ein Entkommen war unmöglich. Roderick seufzte. Seine Hoffnung war verschwunden, als er sich daran erinnerte, was passiert war. Einer der Sarazenen hatte ihn mit der Breitseite seines Schwertes niedergeschlagen. Sie mussten ihn hierhergebracht haben. Er bemerkte erst jetzt, dass ihm jemand seine Rüstung ausgezogen und seine Waffen abgenommen hatte.
Er lehnte den Kopf an seinen Oberarm und fühlte etwas feuchtes, warmes an seinem Oberarm. Eine klebrige Flüssigkeit, die sich, als Roderick den Kopf hob und seinen Arm begutachtete, als Blut herausstellte. Es musste von dem Schlag auf seinen Kopf herrühren. Er hoffte, dass Jolyon hatte fliehen können, doch er erinnerte sich, dass jemand Alarm geschlagen hatte und sah das als Zeichen dafür, dass Jolyon rechtzeitig am Lager angekommen war, um die Kreuzritter warnen zu können.
Er musste wieder eingeschlafen sein, denn er erwachte erst wieder, als jemand den Kerker betrat und auf seine Zelle zukam. Es waren drei Männer mit Turbanen und Schleiern, die ihren Mund und ihre Nase bedeckten, Roderick konnte nur ihre Augen sehen. Sie waren groß und schlank, doch trotz der weiten Kleidung erkannte Roderick, dass sie muskulös waren. Ihre Hautfarbe erinnerte ihn an die von Radzak.
Sie blieben vor Rodericks Zelle stehen und redeten miteinander in der Sprache, die auch Radzak sprach. Roderick verstand nichts, doch manche Worte kannte er von Radzak. Er wollte sich wieder aufrichten, doch er schaffte es nicht. Die Männer schwiegen und beobachteten seinen Kampf gegen die Ketten.
„Was wollt ihr von mir?“, fragte Roderick schließlich mit schwacher Stimme. Er musste lange bewusstlos gewesen sein, denn seine Stimme trug die Worte kaum. „Lasst mich gehen.“ Der Mann in der Mitte gab dem linken von ihm einen Befehl. Daraufhin öffnete er die Tür zu Rodericks Zelle und der mittlere Mann, der das Sagen zu haben schien, kam auf Roderick zu. Der Mann bewegte sich elegant und langsam, wie eine Raubkatze. Roderick spürte, wie sein Herz zu rasen begann und er versuchte wieder, sich aufzusetzen, doch der Sarazene hielt ihn zurück. Er drückte Roderick an der Schulter gegen den kalten Stein in seinem Rücken. Als Roderick sich nicht mehr wehrte, fragte ihn der Mann mit einem starken Akzent: „Wie heißt du?“ Roderick antwortete nicht. Er starrte den Mann an. Er hatte runde, braune Augen und unter dem hellen Leinentuch, das Nase und Mund bedeckte, sah Roderick einen struppigen, dunklen Bart. Seine Haut war sonnengebräunt und faltig. Der Mann musste viele Jahre älter sein, als Roderick anfangs angenommen hatte.
„Du bist doch Engländer, nicht wahr?“, fragte ihn der Mann. „Ich habe dich sprechen hören.“ Roderick antwortete immer noch nicht. „Sage mir deinen Namen!“, forderte ihn der Mann auf. Als Roderick keine Anstalten machte, ihm zu antworten, holte der Mann aus und schlug ihm ins Gesicht. Roderick keuchte vor Schmerz auf und Tränen traten ihm in die Augen. Der Mann war stark und hatte kein Problem damit, Roderick seine Kräfte zu beweisen. Im Gegenteil. „Ich frage dich ein letztes Mal nach deinem Namen!“, sagte der Mann drohend. „Sonst werden wir ihn dir auf eine unangenehmere Art entlocken müssen!“ Roderick straffte würdevoll die Schultern. Er hatte nicht vor, sich von diesen Männern unterkriegen zu lassen und das würde er ihnen auch zeigen. „Ich bin Roderick Thourgood, Lord of Lacock, Earl of Wiltonshire und Baron of Neston und Trowbridge“, sagte Roderick und obwohl seine Stimme zitterte, schaffte er es, dem Blick des Mannes Stand zu halten und einen frechen, trotzigen Stolz in seinen Blick zu legen.
Der Mann redete mit den Männern hinter ihm und einer von ihnen antwortete ihm. Dann wandte sich der Sarazene wieder ihm zu. „Soso, Earl of Wiltonshire. Das liegt in England, nehme ich an?“ Roderick sah diese Formulierung nicht als Frage an, weshalb er nicht antwortete. „Du bist noch jung. Ich nehme an, du hast Eltern und Geschwister, die sich um dich sorgen.“ Roderick ahnte, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte und er hatte nicht vor, es soweit kommen zu lassen. Er trat dem Mann mit seinen gefesselten Füßen in den Bauch, sodass dieser zurücktaumelte. Der Sarazene schrie auf und fluchte. Roderick keuchte vor Schmerz, denn durch den Tritt war er an der Wand nach unten gerutscht und seine Handgelenke, die von den Ketten aufgerissen waren, schmerzten noch mehr, da nun sein ganzes Gewicht auf ihnen lastete.
Der Mann kam wieder auf ihn zu und kniete sich so auf seine Beine, dass Roderick sich nicht bewegen konnte. Dann funkelte er ihn an. „Hör mir zu, Roderick Thourgood, Earl of Wiltonshire und dem ganzen anderen Rest.“ Er packte sein Gesicht und besah ihn von allen Seiten wie ein Stück Vieh. Roderick konnte sich gegen die respektlose Behandlung nicht wehren, denn seine Beine waren unter des Gewichtes des Sarazenen unbeweglich, und seine Arme absolut wehrlos durch die Ketten, die seine Hände über dem Kopf fixierten. „Du bist ja ein ganz hübscher Junge. Wie alt bist du? Zwanzig? Einundzwanzig? Deine Eltern lieben dich sicherlich von ganzem Herzen, nicht wahr? Und sie wären sicher bereit ein hübsches Sümmchen für das Leben ihres Sohnes zu zahlen. Bist du ihr Erstgeborener?“ Roderick senkte den Kopf, nickte dann aber, da er nicht damit rechnete, dass diese Information den Sarazenen viel helfen würde und sich vor weiteren Schlägen fürchtete. Der Sarazene sprach mit seinen Begleitern, die ihm antworteten. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Einer von ihnen musste einen Witz gemacht hatten. Obwohl Roderick nichts verstanden hatte, war er sich sicher, dass es ein Witz auf seine Kosten war und er errötete.
Dann wandte sich der Mann wieder seinem Gefangenen zu. „Wie reich würdest du deine Familie einstufen? Reich, oder vielleicht doch sehr reich? Was glaubst du, ist ihnen dein Leben wert? Das Leben ihres ältesten Sohnes?“
Roderick hielt den Blick gesenkt. Lacock war nicht sonderlich reich. Seine Familie hatte zwar Geld, doch das brauchte sie für andere Dinge. In den eineinhalb Jahren, die Roderick nun schon von zu Hause weg war, konnte sich natürlich viel ändern, und er hoffte, dass dieser Winter in seinem Heimatland nicht so hart seien würde, wie die vielen davor, doch garantieren konnte er das nicht.
Als der Sarazene merkte, dass er von Roderick keine Antwort mehr zu erwarten hatte, verließ er die Zelle und ließ den gefesselten jungen Mann alleine zurück.
Roderick sah ihnen hinterher, wie sie die Treppen aus dem Kerker hinaufstiegen. Oben angekommen öffnete sich eine schwere Tür, er hörte laute Stimmen, dann fiel die Tür ins Schloss und schirmte ihn von dem Geschehen außerhalb des Kerkers ab. Irgendwann, ein, zwei, vielleicht auch drei oder mehr Stunden später kam jemand mit einem Stück Brot und einem Becher Wasser und band Rodericks Hände los, damit er essen konnte. Rodericks Schultern schmerzten, als er die Hände sinken ließ und er musste sich langsam bewegen. Er wartete, bis er wieder Gefühl in seinen Armen hätte, bevor er sich dem Brot und dem Wasser widmete. Zwar war er sehr hungrig, dennoch zögerte er lange, bevor er nach dem Becher und dem Brot griff. Sein Stiefvater John hatte ihn gelehrt, nie Speisen und Trank von Fremden anzunehmen, weil die Gefahr einer Vergiftung zu groß war, doch hier bot sich Roderick kaum eine Alternative, wenn er leben wollte. Und vielleicht war es ja auch gar nicht so schlecht, wenn es vergiftet war. Dann war es bald vorbei und seine Eltern mussten nicht auch noch viel Geld für seine Freilassung zahlen. Geld, das sie an anderer Stelle so viel besser brauchen konnten…
Er aß alles auf und den Becher Wasser kippte er in einem Zug seine ausgetrocknete Kehle hinunter. Es war nicht viel, das Brot war hart und trocken und er hatte Probleme, es zu kauen, das Wasser schmeckte brackig und abgestanden und er spürte den Hunger und den Durst noch nach dem Essen. Obwohl Roderick sich mit aller Kraft zur Wehr setzte, fesselte der Mann ihn wieder, verschwand und nahm den Becher mit sich. Roderick lehnte den Kopf an die Wand und wartete darauf, dass die Zeit verging.
Er fragte sich, wie es seiner Familie ging, was Jolyon und Radzak machten und er hoffte, dass sie sich nicht zu sehr um ihn sorgten. Zu gern hätte er ihnen gesagt, dass es ihm gut ginge. Ob sie dachten, er sei tot? Oder hatte jemand gesehen, wie ihn die Sarazenen gefangen genommen hatten? Waren sie schon zurück nach England gekehrt und hatten alle Hoffnung auf seine Freilassung aufgegeben?
Er wünschte, die Männer hätten ihm wenigsten gesagt, was sie mit ihm vorhatten. Die Ungewissheit war schlimmer, als alles, was Roderick sich ausmalen konnte. Er trat wütend gegen das Gitter und schrie, doch niemand kam. Irgendwann war er so erschöpft, dass er in seinem kalten, feuchten Gefängnis einschlief.
Roderick verlor irgendwann das Gefühl für die Zeit. Er konnte schon Wochen, Monate hier eingesperrt sein, oder auch nur wenige Tage. Er versuchte sich vorzustellen, wie heiß es an der Erdoberfläche war, in der Wüste, wo die Sonne trotz des Winters erbarmungslos auf seine Haut brannte. Er stellte sich die heißen Sommer vor, in denen er mit Jolyon im Wald gewesen war und im Fluss geschwommen war, der durch den Wald um Lacock floss. Er rief sich das Plätschern des Wassers in Erinnerung und das Gefühl des nassen Grases an seinen nackten Füßen, wenn er im Sommer mit Jolyon schwimmen war. Selbst die kalten Wintermonate, in denen Lacock Manor ihm immer wie ein Gefängnis vorgekommen war, waren nicht halb so schlimm gewesen, wie hier eingesperrt zu sein. Er hatte sich oft eingesperrt gefühlt in Lacock. Aber es war doch nichts im Vergleich zu dem, was ihn hier erwartete. Er konnte sich vorstellen, wie Radzak sich gefühlt haben musste, als er so lange mit den fremden, europäischen Kriegsgefangenen auf engem Raum zusammengepfercht war, mit Menschen, die er nicht kannte, deren Sprache er nicht verstand. Ob Roderick einer von ihnen werden würde, wenn seine Eltern nicht für ihn bezahlten? Oder würden die Sarazenen ihn dann zur Strafe umbringen? Was hatten sie davon, wenn er starb? England war viele tausend Meilen entfernt und seine Eltern würden ihn so oder so nie wieder zu Gesicht bekommen, ob er nun am Leben war, oder nicht. Roderick wurde übel, als er sich beide Möglichkeiten ausmalte und er erinnerte sich an Radzaks Freude, als er wieder den heißen Wüstensand zwischen seinen Zehen spürte. Hier unten fror er entsetzlich. Nein… Lieber tot, als für den Rest seines Lebens in Gefangenschaft.
Irgendwann kam ein Mann in Begleitung zweier Wachen. Die Tür zu Rodericks Verließ wurde geöffnet und der Mann, den Roderick sofort an seiner Aussprache als den Mann erkannte, der schon zuvor zu ihm gesprochen hatte, betrat die Zelle, deren Tür hinter ihm von den Wachen geschlossen wurde.
Der Sarazene erzählte ihm, dass ein Bote zu seinen Eltern aufgebrochen war, um ihnen die Lösegeldforderung über hundert Pfund in Gold zu überbringen. Bei diesem Betrag stockte Roderick der Atem. „So viel Geld haben meine Eltern nicht“, wisperte er. Der Sarazene lachte. „Das tut mir sehr leid für dich. Wenn das so ist, dann solltest du dich wohl mit dem Gedanken an deinen unmittelbar bevorstehenden Tod anfreunden“, sagte der Sarazene. Er stieß einen leisen Pfiff aus und die Männer öffneten die Zellentür, um ihn hinauszulassen.
„Weißt du… wir haben den Boten ohnehin losgeschickt. Er wird England in ein paar Wochen erreichen. Unsere kleinen Wüstenpferde sind schneller als eure großen Rösser, und sie müssen keinen Ritter in voller Rüstung tragen“, erklärte er Roderick, als er dessen überraschtes Gesicht sah. „Solltest du mit deiner Vermutung richtig liegen und deine Eltern können das Geld nicht auftreiben, wird der Bote uns eine Brieftaube schicken und dann…“ Der Sarazene ließ den Satz in der Luft stehen, machte jedoch eine eindeutige Geste an seinem Hals entlang. Roderick schluckte und sein Magen zog sich zusammen, doch er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen.
„Sollten sich deine Eltern wider Erwarten das Geld verschaffen können, werden wir dich laufen lassen, sobald es hier eintrifft.“ Was bis dahin mit ihm geschehen sollte, sagte er nicht, sondern wandte sich um und verließ den Kerker.
Es war der fünfte März 1191. Lacock lag noch unter einer dünnen Schneedecke begraben, der den Boden vor tieferem Frost schützte. In den Zimmern von Lacock Manor brannten hell die Feuer und eine wohlige Wärme durchströmte das Anwesen.
Die zehnjährige Lizzy spielte mit ihrem kleinen Neffen Elijah auf dem Teppich vor dem Feuer und ihre Mutter Susan saß hinter ihr in einem Sessel und nähte. Alan und Will, in der Zwischenzeit vierzehn und neunzehn Jahre alt, spielten am Tisch ein Brettspiel, ihr Stiefvater John befand sich in seinem Arbeitszimmer und kümmerte sich um die Finanzen, während sein Stiefsohn sich im Heiligen Land befand.
Conny war mit ihrem Ehemann zu Besuch und die beiden jungen Erwachsenen saßen neben Will und Alan am Tisch. Conny würde in wenigen Wochen siebzehn werden, ihr Mann David hatte vor wenigen Tagen seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.
Niemand ahnte etwas Böses, als plötzlich ein Diener in die Halle eilte und ihnen verkündete, ein Bote stände vor der Tür und verlange, den Herrn des Hauses zu sprechen. Susan schickte Alan ins Arbeitszimmer, um seinen Vater zu holen und trug dem Diener auf, den Boten hereinzubitten.
John kehrte mit Alan in die Halle, als der Diener in Begleitung eines fremdländisch aussehenden Boten Lacock Manor betrat. Urplötzlich schien die angenehme Wärme wie weggeblasen und eine kühle Stimmung machte sich breit. Conny stand auf und ging zu Lizzy, wo sie schützend ihren Sohn hochnahm und sich anschließend wieder zu ihrem Mann und ihren Brüdern an den Tisch setzte.
Der südländische Bote trug einen hellen Turban, mit einem Tuch, das sein Gesicht verbarg. Er trug einen warmen Mantel, doch darunter konnte man seine orientalische Kleidung erkennen – eine weite, helle Hose mit einem dünnen Ledergürtel, an dem ein krummer Dolch, mehrere Messer und ein langes, gebogenes Sarazenenschwert hielt. Unruhe machte sich unter den Anwesenden breit, denn ihnen war klar, dass dieser Bote nur der Überbringer schlechter Nachrichten sein konnte.
„Seid willkommen“, sprach John den Mann an, der ihm wortlos und ohne große Umschweife einen Brief entgegenhielt. John zögerte, bevor er den Brief nahm. „Ihr scheint weit gereist zu sein. Kann ich Euch etwas anbieten?“, fragte John den Mann höflich. „Lest den Brief“, sagte dieser in gebrochenem Englisch. Man merkte auch an der Aussprache des Mannes seine südländische Abstammung. John fixierte den Mann kurz und kam wohl zu der Entscheidung, dass es sich hier nicht unbedingt um einen ihnen freundlich gesinnten Boten handelte. Die allgemeine Anspannung verstärkte sich, als John den Brief öffnete. „Ist etwas mit Roderick?“, fragte William seinen Vater, doch der hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. John schien den gesamten Brief zweimal gelesen zu haben, erst dann sah er dem ihm gegenüberstehenden Sarazenen mit unvergleichlichem Hass in die Augen. Niemand der beiden sprach auch nur ein Wort, bis eine zarte Stimme aus dem Hintergrund das Schweigen brach.
„Vater, was ist?“, fragte Lizzy und trat näher zu ihrem Vater. John wandte sich zu seiner Familie. „Sie haben Roderick vor Akkon gefangen genommen und wollen ihn nur für ein Lösegeld von hundert Pfund in Gold am Leben lassen“, sagte der Mann. Entsetzen machte sich breit. Will stand auf und wollte auf den Boten losgehen, doch Alan und sein Schwager David hielten ihn zurück. „Will, lass es gut sein“, sagte David zu ihm. „Wir regeln das schon! Lass gut sein.“
Der Sarazenenbote sah schweigend und ohne jegliche Furcht in die Runde, aus der ihm unüberwindbarer Hass entgegenkam. Lizzy, die sich an ihre Schwester und ihren Neffen klammerte fragte mit tränenerstickter Stimme. „Ist das schlecht, Vater?“ John antwortete nicht, aber Conny flüsterte ihr etwas zu, woraufhin Lizzys Tränen überliefen. Sie drückte ihr Gesicht in das Gewand ihrer Schwester und gab sich keine Mühe, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
„Wie geht es meinem Sohn?“, fragte John „Ist er verletzt?“ „Darauf darf ich Euch keine Antwort geben. Ich soll lediglich diesen Brief überbringen und das Geld nach Akkon bringen“, sagte der Bote kalt. Man fühlte die Spannung zwischen den beiden Männern. Jeden Moment konnte einer der beiden die Fassung verlieren und auf den anderen losgehen. John hob in aufgesetztem Stolz das Kinn an und holte tief Luft, bevor er antwortete: „Was, wenn ich Euch sage, dass wir das Geld nicht haben?“
Unter dem Tuch, das das Gesicht des Sarazenen zur Hälfte verdeckte, erkannte man ein böses Lächeln und auch seine dunkelbraunen Augen spiegelten diesen Ausdruck der boshaften Freude. „Dann lasst Euch gesagt sein, dass wir in Akkon grausame Folter- und Hinrichtungsmethoden kennen.“
Eine Weile lang hörte man nur Lizzys Schluchzen und es sah so aus, als würde John den Boten umbringen wollen, dann sagte dieser: „Mylord, wir haben nicht ewig Zeit. Wenn nicht innerhalb der nächsten Tagen eine Taube mit der Botschaft, ob ich das Geld habe oder nicht, in Akkon ankommt, wird man Euren Sohn so oder so hinrichten. Also, seid Ihr in der Lage das Geld innerhalb eines Tages aufzutreiben, oder nicht?“ Die Stimme des Sarazenen ließ keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sprach. John wusste, dass verhandeln hier keinen Sinn mehr hatte, also antwortete er: „Ich werde das Geld auftreiben, aber ich habe eine Bedingung!“
Der Sarazene stieß ein spöttisches Lachen aus. „Ihr seid nicht in der Position, zu verhandeln, Mylord.“ Er sprach das Wort „Mylord“ spöttisch und mit einem starken Akzent aus, der das Wort fast bis zur Unkenntlichkeit verunstaltete. „Es ist nur eine Kleinigkeit“, versicherte John. Der Bote schwieg einen Moment. „Sprecht“, antwortete er dann. „Einer unserer Diener wird Euch begleiten. Bevor er Roderick nicht gesehen hat, wird kein Austausch stattfinden.“ Dann kam John bedrohlich nahe zu dem Sarazenen heran. „Sollten Eure Männer in Akkon meinem Sohn etwas angetan haben, dann…“ John ließ die Drohung unausgesprochen in der Luft hängen.
Der Sarazene knirschte mit den Zähnen und meinte schließlich: „Schickt Euren besten und schnellsten Reiter mit mir. Ihr könnt doch nicht wollen, dass Euer Sohn noch länger in unseren Verließen gefangen gehalten wird? Er könnte krank werden.“
John wusste, dass der Mann ihn zu provozieren versuchte und sparte sich eine Antwort um seines Sohnes willen.
Dann rief er George, einen der Diener, herbei, der den Sarazenen auf seiner Reise begleiten sollte und überreichte ihm dann das Geld, das sie für Rodericks Freilassung zahlen wollten, sollte der Junge unverletzt sein. „Wenn sie ihm etwas angetan haben, dann gib ihnen nicht die gesamte Summe, aber bei Gott, gefährde das Leben meines Sohnes nicht!“, befahl John dem Mann. Dieser nickte. Gemeinsam mit dem Boten verließ er Lacock Manor. Im Hof ließ der Sarazene eine Brieftaube aufsteigen, der Saladin die Nachricht überbringen sollte, dass er das Geld bald bekommen würde.
Roderick schreckte hoch, als er Schritte hörte. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er das letzte Mal aufgewacht war, doch seit seiner Gefangennahme mussten einige Wochen vergangen sein, wie Roderick an den Essensrationen, die er bekam, abzählte. Er glaubte schon fast nicht mehr daran, hier herauszukommen, doch wenn Saladin erfahren hätte, dass seine Eltern für ihn nicht zahlen konnten, hätte er ihn doch schon längst umbringen lassen, oder? Roderick klammerte sich an diese Hoffnung wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm und beruhigte sich damit, dass der Weg nach England weit war, und es dauern würde, bis Nachricht von seinen Eltern eintraf.
Die Schritte kamen näher, und drei Männer kamen auf ihn zu. Roderick wusste nicht, was sie von ihm wollten. Seit Wochen war niemand mehr gekommen, um mit ihm zu sprechen. Immer nur, um ihm zu Essen zu geben. Rodericks Herz begann zu rasen, als sie ihn losbanden und auf die Beine zogen. Er wusste nicht, wie viele Wochen genau er hier eingesperrt war, doch ein Bote konnte in dieser Zeit unmöglich nach England und mit dem Geld zurückgereist sein. Dass sie ihn jetzt losbanden, konnte nur eines bedeuten: Wie Roderick befürchtet hatte, konnten seine Eltern das Geld nicht aufbringen und Saladin ließ ihn jetzt hinrichten. Dieser Gedanke schnürte Roderick die Kehle zu. Er war zwar geschwächt von den kargen Essens- und Wasserrationen, doch er schwor sich, nicht kampflos unterzugehen.
Kaum, dass er auf den Beinen war, schlug und trat er um sich. Er erwischte einen der Männer mit dem Fuß im Gesicht, der ihn daraufhin fluchend losließ. Verzweifelt schlug Roderick mit den Fäusten nach seinen beiden verbliebenen Angreifern, doch die drehten ihm schließlich die Arme auf den Rücken, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. „Lasst mich los!“, schrie Roderick. „Lasst mich gehen! Bitte!“ Die Männer drückten ihn mit dem Gesicht gegen die Wand und fesselten ihm die Hände auf den Rücken, damit sie ihn gefahrlos greifen konnten.
„Bitte, lasst mich einfach gehen!“, wimmerte Roderick. Tränen liefen ihm über die Wangen, er hatte jetzt Todesangst, die es ihm fast unmöglich machte, sich zu bewegen und zu laufen, weshalb die Sarazenen ihn eher aus seinem Gefängnis trugen, als dass er lief. Rodericks Gedanken waren bei Jolyon und Radzak, dann bei seinen Eltern. Er murmelte leise ein Gebet für sie vor sich hin, während die Wachen ihn wegführten.
Schließlich beruhigte er sich und beschloss, sein Schicksal wie ein Mann hinzunehmen. Er straffte die Schultern, schluckte die Tränen herunter und hob stolz den Kopf, obwohl sein Herz noch immer wie verrückt hämmerte.
Plötzlich stießen die Soldaten die Tür zu einer anderen Zelle auf, einer band rasch seine Hände los und dann stießen sie ihn hinein. Roderick stolperte und fiel hin, die Tür wurde hinter ihm ins Schloss geschlagen. „Was soll das?“, schrie Roderick den Sarazenen hinterher, die den Kerker verließen. Als sie nicht mehr zu sehen waren, sah er sich um. Im Gegensatz zu der Zelle, in der er die letzten Wochen verbracht hatte, war diese einige Quadratmeter größer und – was ein großer Vorteil war – Roderick war nicht gefesselt. Er durfte sich in der Zelle frei bewegen und er fand sogar eine Decke, die zwar einige Löcher hatte und erbärmlich stank, doch es war besser als gar nichts, denn in der Kälte der letzten Zelle hatte er sich einen üblen Husten eingefangen und die Decke würde ihn vielleicht vor noch schlimmerem bewahren.
Einige Tage später jedoch fühlte Roderick sich immer noch krank und der Husten hatte sich verstärkt. Möglicherweise hatte er auch Fieber bekommen, denn er hatte immer häufiger Durst, fühlte sich schwach und krank und schlief die meiste Zeit. Als einer der Soldaten auftauchte und ihm Wasser und ein Stück Brot hinstellte, bekam Roderick wieder einen Hustenanfall. Der Sarazene wich erst vor ihm zurück, als würde Roderick irgendeine westliche Seuche verbreiten, doch als Roderick sich dann beruhigt hatte trat er an ihn heran und fragte in gebrochenem Englisch: „Braucht Ihr einen Arzt?“ Roderick schüttelte den Kopf und hustete noch einmal.
Der Mann zögerte und Roderick trank den Becher leer, damit der Mann ihn mitnehmen und gehen konnte. Der Mann verstand diese Aufforderung und verließ Roderick, der mit dem Stück Brot, das größer und nicht so trocken war, die das in seiner alten Zelle, alleine zurückblieb. Er wusste noch immer nicht, was er von diesem Wandel halten sollte. Vielleicht brauchten sie die kleinere Zelle für jemand anderen, doch das hielt Roderick für unwahrscheinlich. Eine andere Möglichkeit kam ihm in den Sinn. Vielleicht konnten seine Eltern doch zahlen und die Brieftaube, die wie angekündigt aus England geschickt werden sollte, war angekommen und hatte diese Nachricht überbracht, doch Roderick ließ diese kleine Gedankenspielereien nicht zu einem ihm Hoffnung gebenden Gedanken heranwachsen.
Rodericks Husten verschlimmerte sich, was auch seinen Bewachern auffiel und er hatte zunehmend mit Atemnot zu kämpfen. Eines Tages betraten wieder drei Männer seine Zelle, von denen Roderick einen als sarazenischen Arzt erkannte. Er hatte das Stroh in seiner Zelle zusammengekratzt und lag, in seine Decke gehüllt, auf dem Boden, den er vorher mit Stroh bedeckt hatte, um sich vor der Kälte zu schützen, die durch die Steine auf ihn übertragen wurde.
Die zwei Männer hielten ihn fest, währen der Arzt ihm das Hemd auszog und seinen Brustkorb untersuchte. Roderick wehrte sich, er wollte einfach nur seine Ruhe und erstrecht nicht von einem fremden, sarazenischen Arzt angefasst werden. Die Berührung widerte ihn an und er trat um sich. „Haltet still“, sagte der ältere der beiden Männer. Der Arzt sagte etwas und der Mann, der ihn gerade angesprochen hatte, übersetzte für ihn: „Hebt Euren Arm!“ Roderick hob den linken Arm, wobei er Schmerzen im Brustbereich verspürte. Der Arzt beobachtet ihn und fragte etwas. „Tut das weh?“, übersetzte ihr Dolmetscher. Roderick nickte. Der Arzt betastete seine Lippen und Roderick schlug die Hand weg, doch der Mann packte ihn am Handgelenk und besah seine Finger. Roderick wusste nicht, wozu das gut sein sollte, als jemand mit schnellen Schritten die Treppen in den Kerker herunterkam. Der sarazenisch gekleidete Neuankömmling lief auf die Zelle zu, in der Roderick von dem Arzt untersucht wurde und blieb hinter den Gittern stehen. Von dort aus beobachtete er die Geschehnisse kurz und richtete dann eine kurze Frage an die Männer im Raum. Der Arzt antwortete ihm, doch die Antwort schien ihn nicht zufriedenzustellen. „Was sagen sie?“, fragte Roderick, doch er bekam keine Antwort. Der Arzt ließ Rodericks Hand jetzt los und fühlte seinen Atem und seinen Puls. Dabei machte er ein ernstes Gesicht. Der Mann auf der anderen Seite der Gitter stellte wieder einer Frage und der Arzt antwortete nach kurzem Überlegen. Daraufhin schlug der Mann urplötzlich mit der Hand gegen das Gitter, scheinbar wütend über das, was er erfahren hatte, und schrie den Arzt an. Dann beruhigte er sich, straffte die Schultern und murmelte noch etwas, worauf aber niemand der Anwesenden antwortete. Anschließend verschwand der Sarazene auf demselben Weg, auf dem er gekommen war.
Der Arzt stellte eine Frage und ihr Übersetzer wiederholte sie für Roderick: „Habt Ihr Schmerzen beim Atmen?“ „Ja“, antwortete Roderick, was der Arzt zu verstehen schien. Schließlich ließen die Männer von ihm ab und der sarazenische Arzt nahm ein Fläschchen von seinem Gürtel. Einer der Männer stand auf seinen Befehl hin auf und kam mit einem Becher mit Wasser zurück, in das der Arzt ein paar Tropfen von der Flüssigkeit aus der kleinen Flasche gab. Dann hielt er Roderick das Gemisch hin. „Trinkt“, sagte der Mann neben ihm.
Roderick zögerte. „Was soll‘s“, dachte er schließlich und kippte den Inhalt des Bechers runter. Die Mixtur schmeckte erstaunlich bitter und Roderick war froh, dass er es bereits runtergeschluckt hatte. Der Arzt packte sein Zeug zusammen und sprach mit Roderick, während der ältere der Männer ihm übersetzte, was der Arzt sagte: „Ihr sollt Euch schonen… Viel trinken… Ihr werdet zusätzliche Wasserrationen bekommen, einmal am Tag die Medizin.“ Dann gingen die Männer. Das Verließ wurde von außen verschlossen und bevor die Männer ganz den Kerker verließen, schaute ihn der Arzt an und sagte noch einen kurzen Satz zu ihm. „Zudecken!“, übersetzte der Mann.
Dann verschwanden die Männer. Roderick deckte sich mit der Decke zu und schlief aufgrund der großen Müdigkeit, die ihn jetzt überfiel, schon wenige Minuten später wieder ein.
Roderick war erst einige Tage wieder genesen, als sich zu einer Zeit, zu der er kein Essen erwartete, die schwere Kerkertür öffnete. Rodericks Herz begann vor Aufregung zu rasen, als er Stimmen hörten, die miteinander sprachen – seine Sprache! Er verstand jedes Wort. Er sah die beiden Männer die Treppe herunterkommen und erkannte einen von ihnen sofort. Seine Miene hellte sich schlagartig auf und auch der Mann erkannte ihn. Roderick sprang auf und lief an die Gitter seiner Zelle. „George!“, rief er. Der Mann eilte auf ihn zu. Es war einer der Diener von Lacock Manor. „Mylord! Seid Ihr verletzt?“, fragte er Roderick, der den Kopf schüttelte. „Nein, nein…“ „Hat man Euch etwas angetan?“, fragte George ihn. Roderick verneinte wieder. „Ich bin so froh, dich zu sehen, George!“, sagte Roderick wahrheitsgemäß. Dann wandte der Diener sich zu dem Sarazenen, der ihn begleitet hatte. „Das ist er. Lasst ihn gehen, dann bekommt ihr das Geld!“ Der Sarazene schloss die Zelle auf und Roderick zitterte vor Aufregung, als er ins Freie trat. George überreichte dem Sarazenen das Geld. „Kommt, Master“, sagte er dann und eilte mit Roderick die Stufen hinauf.
Als sie durch Akkon liefen, begann George zu erzählen: „Es wird höchste Zeit, dass Ihr wieder zurück nach England kommt. Lacock vermisst Euch und Ihr wart schon viel zu lange in diesem schändlichen Land!“ Der Mann bestieg sein Pferd und Roderick das daneben. „Ich bin froh, dass Ihr nicht verletzt seid, Master. Euer Vater war außer sich, als er hörte, dass ihr vor Akkon gefangen genommen wurde. Er war wild wie ein Löwe. Wir alle dachten, er würde den Boten jeden Moment mit bloßen Händen zerreißen.“ Sie verließen die Stadt, während George weiterredete. „Ach, England ist wunderschön. Zwar nicht so warm, wie hier, aber auch nicht mit solchen Barbaren besiedelt. Eure Familie kann es kaum erwarten, Euch wiederzusehen, Mylord!“
Als sie Akkon hinter sich gelassen hatten und George sein Pferd auf den Weg fort von Akkon und dem Lager der Kreuzritter lenkte, parierte Roderick sein Pferd durch und ließ es anhalten. George warf einen Blick über die Schulter und hielt sein Pferd ebenfalls an. „Mylord, ist euch nicht wohl?“, fragte er besorgt. „Ich komme nicht mit. Jolyon und Radzak sind hier. Ich kann sie nicht allein lassen“, sagte er. George lachte. Scheinbar hatte er nicht verstanden, was Roderick ihm damit sagen wollte. „Mylord, Ihr habt ein viel zu großes Herz, aber natürlich werden wir auch Eure beiden Diener mitnehmen, wenn Ihr…“ „Nein!“, unterbrach Roderick ihn. „Du verstehst mich nicht, George. Ich werde nicht mit dir nach England zurückkehren. Nicht, solange die Kämpfe hier noch in vollem Gang sind.“
George starrte ihn fassungslos an. „Master, bei allem Respekt…“ „Lass es gut sein, George, du kannst mich nicht überreden!“, sagte Roderick lächelnd, denn sein Entschluss stand fest. Er würde zurück zu den Kreuzrittern zurückkehren und die Belagerung von Akkon mit ihnen fortsetzen. „Ich muss doch sehr protestieren, Mylord! Eure Eltern machen sich die größten Sorgen und haben all ihr Erspartes geopfert, um Euch vor dem Tode zu bewahren, und Ihr… Ihr wollt Euer Leben einfach so wegwerfen, für diesen Kreuzzug?“
George spuckte das letzte Wort fassungslos und verächtlich aus. Roderick lächelte. George hatte schon immer ein aufbrausendes Temperament besessen und vergaß dabei allzu oft, dass er nur Rodericks Diener war und ihm gar nichts zu sagen hatte. Natürlich sorgte er sich um das Leben seines Masters, doch hier Roderick hatte das Sagen. „George“, schmunzelte Roderick, „du bist ein guter Mensch und ich danke dir für alles, was du für mich und meine Familie getan hast. Sag meinen Eltern, dass ich sie liebe und ihnen dankbar dafür bin, was sie für mich getan haben! Ich werde zurückkehren. Das verspreche ich!“ Damit wendete er sein Pferd und galoppierte auf das Lager der Kreuzritter zu.
Roderick erreichte das Lager der Kreuzritter und sprang vom Pferd. Er rannte zu seinem Zelt, bremste davor jedoch ab. Wie lange war er gefangen gewesen? Zwei Monate? Drei? Länger? Jolyon und Radzak würden nicht damit rechnen, ihn jemals leben wiederzusehen. Ihn überhaupt jemals wiederzusehen! Er würde sie zu Tode erschrecken, wenn er da jetzt einfach hineinplatzte. Er konnte ihre Stimmen im Zelt hören und die Sehnsucht nach den beiden wurde so groß, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen.
Er ignorierte sine Bedenken und schlug den Eingang des Zeltes zurück, aber vorsichtig. „Jolyon, Radzak. Nicht erschrecken. Ich bin es“, sagte er, als sich die beiden umdrehten. „Ich bin am leben.“ Jolyon und Radzak starrten ihn die ersten Sekunden mit offenen Mündern an. „Roderick?“, fragte Radzak. Jolyon sprang auf. „Roderick!“, schrie er und sprang auf ihn zu. Er schlang die Arme um ihn. „Du lebst. Du bist am leben! Ich kann es kaum glauben. Sie haben dich gefangen genommen! Ich habe nicht damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen. Oh Gott… Danke, Gott, danke!“, rief er. Radzak hatte bereits von hinten die Arme um die beiden geschlungen und klebte wieder wie ein junger Affe an seinem Herrn. Jolyon nahm Rodericks Gesicht in die Hände und küsste seine Wangen, Tränen liefen über seine Augen und auch Roderick konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Radzak murmelte etwas in Rodericks Hemd, grub die Finger hinein und schluchzte. Roderick tröstete ihn und tätschelte seinen Rücken und seine Schulter. Radzak schlang die Arme um seinen Nacken und klammerte sich weinend an ihn. Jolyon küsste seinen Freund auf die Stirn und drückte ihn wieder an sich. „Wie bist du da rausgekommen?“, fragte er ihn ungläubig. „Meine Eltern haben ein Lösegeld für mich gezahlt“, sagte Roderick etwas niedergeschlagen. Natürlich war er froh, dass seine Eltern das Lösegeld gezahlt hatten, doch gleichzeitig war es ein so hoher Preis gewesen – ein Preis, den er seinem Leben nie zugeschrieben hätte. „Und was machst du jetzt noch hier?“ Jolyon zögerte, dann begann er zu hoffnungsvoll lächeln, mit großen, unschuldigen und hoffnungsfreudigen Augen. „Gehen wir… gehen wir jetzt zurück nach England, Roderick? Jetzt sofort?“, fragte er mit großen, schimmernden Augen. „Du bist frei und wir können gehen, wohin wir wollen… Bitte, lass uns nach Hause gehen.“ Roderick schüttelte den Kopf, aber tätschelte tröstend Jolyons Wangen. „Nein. Wir bleiben.“
Jolyon senkte den Kopf. Dann erst sah er Roderick wieder in die Augen, ein neuer, schrecklicher Gedanke hatte von ihm Besitz ergriffen und griff wieder nach Roderick, diese Mal jedoch zärtlich und vorsichtig, als hätte er Angst, ihm wehzutun. „Bist… Bist du verletzt, Roderick? Haben sie dir etwas angetan?“, fragte er seinen Freund besorgt. Er begann, seinen Freund nach Wunden abzusuchen, die ihn, wie er glaubte, jeden Moment das Leben kosten könnten. „Jolyon, Jolyon, hör mir zu, ich bin unverletzt“, belächelte er ihn. „Ich bin unverletzt.“
Jolyon begann wieder zu schluchzen. „Ich bin so froh… Ich bin so froh, dich wiederzusehen. Ich habe dich so vermisst. Ich…“ Jolyon konnte nicht weiterreden. Er schlang die Arme um Roderick, der ihn an sich drückte und ihm beruhigend über den Rücken streichelte. „Ich habe euch auch vermisst. Der wievielte ist heute?“, fragte er Jolyon. „Wie lange war ich weg?“ „Es ist der fünfzehnte April. Und weißt du, was?“ Jolyon war plötzlich aufgeregt. „Es heißt, dass Philipp von Frankreich und Richard Löwenherz auf dem Weg hierher sind!“
König Philipp II. von Frankreich traf am zwanzigsten April vor Akkon ein. Der Kampf um Akkon näherte sich seinem Höhepunkt, Saladins Aussichten auf einen Sieg wurden von den jüngsten Ereignissen geschmälert und als König Philipp Belagerungsmaschinen bauen und sie gegen Akkon einsetzen ließ, viel wenige Zeit später die Seezufahrt wieder an die Kreuzfahrer. Jetzt war es Akkon, das unter Druck stand und eingekreist war.
Am 8. Juni traf unter lautem Jubel der englischen Kreuzritter König Richard Löwenherz von England und seine Truppen ein.
Die Engländer feierten ihren König, der nonchalant im Vorbeifahren Zypern eingenommen hatte, was die Engländer zu noch größerem Jubel hinriss. Saladins Gewinnaussichten waren verschwindend gering geworden und jeder war der Ansicht, Akkon innerhalb der nächsten Tage ohne Probleme einnehmen zu können. König Richard bemühte sich um eine Zusammenkunft mit Saladin, der dieser zustimmte. Dafür wurde ein dreitägiger Waffenstillstand vereinbart.
Jeder ersehnte den Tag, an dem Saladin und Richard zu einer Übereinstimmung kommen würden und man wieder zurück nach Hause konnte. Roderick und Jolyon waren nicht mehr zu beruhigen. Sie erzählten Radzak von ihrem zu Hause, obwohl er nichts verstand. Er saß dennoch brav da und hörte ihnen zu. „Weißt du, Radzak, Jolyon und ich sind schon Ewigkeiten Freunde“, sagte Roderick. Er schärfte sein Schwert, doch nun blickte er hoch. „Seine Eltern und mein Vater sind bei demselben Feuer umgekommen. Das Feuer brannte beinahe ganz Lacock herunter. Das Haus, in dem meine Familie und ich wohnten… Mein Vater starb dabei und hat mich allein gelassen. Danach musste ich das allein durchstehen. Und Lacock vor dem Ruin bewahren.“ Radzak sah Roderick mit großen, dunklen Augen an. Er schien zu wissen, dass Roderick traurig war und etwas auf sein Gemüt drückte. Er legte seinen Kopf an Rodericks Brust und schlang die Arme um ihn. „Roderick…“, sagte er und streichelte tröstend seinen Arm. Roderick lächelte ihn an. „Ist schon in Ordnung, Radzak. Das ist jetzt zehn Jahre her. Ich bin nicht mehr traurig.“
In Wahrheit dachte er noch so oft an seinen Vater und an jenen schicksalshaften Tag, an dem er ihn verloren hatte…
Es war ein warmer Septembertag gewesen, als die Hitze über England in einem Schuppen in Lacock ein Feuer entfachte. Das trockene Stroh fing sofort Feuer und schon wenig später brannte der ganze Schuppen. Das Feuer wurde zwar früh entdeckt, der in Lacock standen die Häuser dicht beieinander und waren aus Holz gebaut und mit Stroh isoliert. Die Flammen brauchten nur wenige Minuten, um auf andere Häuser überzugreifen. Roderick erinnerte sich so klar, wie an wenige Ereignisse in seinem Leben. Auch Lacock Manor brannte. Rodericks Eltern hatten Jolyons Familie eingeladen, deswegen waren sie alle versammelt. Rodericks Vater war benachrichtig worden und erzählte, dass in Lacock ein Feuer ausgebrochen war. Er stand vom Tisch auf und wies sie an, zu bleiben, wo sie waren. Dann verließ er das Haus, um bei den Löscharbeiten zu helfen.
Roderick, Jolyon und ihre Familien plauderten weiter. Roderick war in seinem Zimmer, um Karten zu holen, als das Feuer auf ihr Haus übersprang. Die Zimmer der Kinder waren direkt unter dem Dach. Conny war gerade erst sieben Jahre alt und war Roderick in sein Zimmer hinterhergelaufen. „Roderick!“, schrie sie ihren älteren Bruder an. „Roderick, das ganze Haus brennt! Wir müssen hier raus!“ Sie versuchten gerade, zu fliehen, als direkt vor den Kindern ein brennender Balken zu Boden stürzte und sie gefangen hielt.
Unten in der Halle, wo die Familien beim Essen gesessen waren, hörten die Kinder stimmen und Roderick schrie nach seinem Vater und seiner Mutter. Schließlich hörte er Schritte. „Roderick! Roderick, mein Junge, wo bist du?“ Sein Vater war zurück. Roderick hörte seine Stimme hinter der verschlossenen Tür. „Roderick, öffne die Tür!“, schrie sein Vater ihm zu. „Ich kann nicht! Ein brennender Balken liegt direkt davor“, antwortete Roderick ihm durch die Tür.
Es dauerte, bis er die Stimme seines Vaters wieder hörte. „Roderick, wir sind gleich bei dir! Ist Conny bei dir?“, fragte sie ihn. „Ja!“, schrie Roderick. „Wo ist Mutter?“ „Sie ist draußen“, erklärte sein Vater ihr. „Die Schwangerschaft… Wir haben sie hinausgeschickt, sie kann hier nicht helfen!“ Roderick drückte Conny an sich, während sich sein Vater und Jolyons Eltern an der Tür zu schaffen machten. Sie öffnete sich einen kleinen Spalt und Roderick hörte seinen Vater nach ihm rufen. „Wir sind hier!“, antwortete er. Er sah Jolyons Vater und dahinter Jolyons Mutter. „Wir holen euch da raus, Kinder!“, sagte Jolyons Vater zu ihm. „Habt keine Angst!“ Dann brachen die Männer die Tür auf.
Die brennenden Splitter flogen ihnen entgegen. „Komm her, Roderick!“, befahl sein Vater ihm, doch der Durchgang war noch immer von lodernden Flammen versperrt. Als Rodericks Vater erkannte, dass seine Kinder gefangen waren, schnallte er seinen Umhang ab und sprang über den brennenden Balken zu den beiden ins Zimmer. „Alles ist gut, ihr zwei!“, sagte er und drückte sie an sich. Er hob erst Conny, dann Roderick über den brennenden Balken, wo Jolyons Vater die beiden entgegen nahm. Immer wieder krachten die trockenen, lodernden Holzbalken auf sie herab.
„Los, los, bring deine Schwester hier raus!“, rief Rodericks Vater ihnen durch die Flammen zu, als Roderick und Conny auf der anderen Seite der Tür angekommen waren. Irgendwo explodierte etwas, Roderick wusste nicht, was. Die Kinder rannten die Treppe in die Halle hinunter, wo auch bereits Flammen wütenden.
Conny stürzte in der Halle und Roderick half ihr hoch. Ein weiterer Balken stürzte zu Boden, er traf die Treppe, die sofort Feuer fing und Rodericks Vater und Jolyons Eltern den Weg nach draußen versperrte. „Vater!“, schrie Roderick und wollte zurück. „Lauf, Roderick! Wir sind sofort bei dir, mein Junge, aber jetzt bring deine Schwester hier raus!“, versprach sein Vater dem Jungen.
Roderick tat, was sein Vater von ihm verlangte, in dem Glauben, sein Vater würde ihm wirklich direkt folgen, doch als er draußen war und seine Schwester in Sicherheit gebracht hatte, merkte er, dass ihm niemand der drei Erwachsenen gefolgt war.
Einige Bürger waren in den Hof geeilt, um den Brand zu löschen, so auch John, der damals nur ein guter Freund seiner Mutter gewesen war, doch es gab nichts mehr zu löschen. Ein Teil Lacock Manors war eingestürzt, jetzt brach auch dort, wo sich Rodericks Zimmer befunden hatte, das Dach ein.
Roderick wollte hineinstürmen, doch John hielt ihn zurück. „Roderick, nicht Er hatte ihn zurückgehalten, doch Roderick, damals erst elf Jahre alt hatte um sich geschlagen und getreten und John angefleht, ihn loszulassen. „Vater! Vater!“, schrie er, doch es kam keine Antwort. Hilflos mussten sie zusehen, wie Lacock niederbrannte. Jolyon hatte seine Schwester Gwendolyn, damals gerade ein Jahr alt, auf dem Arm und drückte sie an sich.
Das Feuer brannte viele Stunden. Erst in der Nacht gelang es den Bewohnern Lacocks, es zu löschen. Von Lacock Manor war nur mehr ein Aschehaufen übrig. Man suchte in den Trümmern nach den Überresten ihrer Eltern, doch da war nichts mehr… Nichts, was man hätte beerdigen können.
Von da an war es an Roderick, für Lacock zu sorgen. Völlig allein und verlassen stand der Junge vor der schwierigsten Aufgabe seines Lebens, mit nichts, als den Ruinen eines niedergebrannten Dorfs in den Händen.
Doch Roderick gab nicht auf. Er gab niemals auf…
Jolyon gab erst Radzak eine Schüssel Suppe, dann Roderick. „Nein, danke“, sagte Roderick mit einem Lächeln, „Ich hab keinen Hunger.“ Jolyon setzte sich mit bekümmerter Miene zu ihm. „Roderick, bitte. Du isst zu wenig. Seit du aus Akkon zurückgekommen bist… Du hast dich gänzlich verändert. Ich verstehe nicht, wieso.“
Er sah Roderick lange an, bevor er die eine Frage stellte, die ihm schon so lange aufs Gemüt drückte. „Haben sie dich in Akkon gefoltert?“, fragte er geradeheraus. Roderick schüttelte energisch den Kopf. Er hatte Jolyon zwar schon hunderte Male gesagt, dass er nicht verletzt worden sei, doch der schien ihm nicht zu glauben und sich immer noch viel zu viele Sorgen um ihn zu machen.
„Nein, Jolyon, ich verspreche dir, es ist nichts passiert! Sie haben mir nichts getan. Sie haben mich nur eingesperrt…“, sagte Roderick zu ihm, um ihn zu beruhigen. Zwei lange Monate war er in dieser Zelle gesessen… Zwei Monate, in denen in England und hier so viel passiert war. Nur in seiner Zelle war die Zeit wie angehalten gewesen. Das abgeschirmt sein war das schlimmste daran gewesen. Und die Sorgen, die sich seine Familie und Freunde um ihn gemacht hatten – so große Sorgen, dass seine Eltern bereit gewesen waren, einen Betrag für seine Freilassung zu zahlen, für den Lacock ein Jahr Steuern zahlen musste. Es hing Roderick noch immer nach… „Dann verstehe ich nicht, wieso du nichts isst und mir nicht diesen kleinen Gefallen tun kannst!“, sagte Jolyon aufbrausend. „Jetzt iss!“ Er drückte Roderick die Schüssel in die Hand, sodass die heiße Suppe über den Rand schwappte und sich über ihre beiden Hände ergoss, was dennoch beide ignorierten.
Roderick aß lustlos einige Löffel und Jolyon beobachtete ihn dabei. Erst, als Roderick den Teller leer zurückgab, wurden Jolyons Gesichtszüge weicher. Er legte Roderick die Hand auf die Schulter und stand auf.
Die Freude auf ihre Heimat wurde jedoch schon wenig später stark gedämpft, denn während des Waffenstillstands erkrankten sowohl König Richard als auch König Philipp an einem Fieber, weshalb das Treffen mit Saladin hinausgezögert wurde. Roderick, schon voller Vorfreude auf seine Heimat, hatte seiner Familie bereits geschrieben, dass Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gange waren und die Verzögerung machte ihn wütend und traurig. Die Belagerung stand still, die Soldaten Akkons reparierten die Mauern wieder und machten damit alle Vorteile der Angreifer zunichte.
Es war der erste Juli, als die Nachricht im Lager umging, ein wichtiger französischer Adeliger wäre an dem Typhusfieber, an dem auch Roderick bereits erkrankt gewesen war, verstorben, was den König in Zeitnot brachte. Der wichtige Franzose hatte wohl keine Kinder und auch keine anderen Verwandten, die den Titel übernehmen konnten, weshalb der König dringend nach Frankreich zurückkehren musste.
Nur zwei Tage später griff man ein weiteres Mal an. Roderick hatte die meiste Zeit auf dem offenen Feld gegen die Sarazenen gekämpft, doch nun waren die Mauern ihr nächstes zu überwindendes Hindernis. Die Mauern jedoch waren stark und nicht so leicht zu Fall zu bringen. Endlich schlugen sie eine ausreichend große Bresche in die Mauern. Überall rieselte Geröll auf die wartenden Soldaten herab. Roderick hielt sich seinen Schild über den Kopf, um sich zu schützen. Sein Freund Jolyon stand direkt neben ihm und sie stürmten gemeinsam auf das Loch in der Stadtmauer zu, wo die Sarazenen sie jedoch bereits empfingen. Jolyon schoss aus einiger Ferne seine Pfeile auf die Angreifenden ab, Roderick stürzte sich ins Gefecht.
Er tötete vier Sarazenen mit dem jeweils ersten Schlag, bis der fünfte dem Schlag auswich und ihm seinen Schild gegen die Schulter schlug. Roderick stürzte, von der Wucht des Schlags überrascht und der Sarazene tauchte grinsend vor ihm auf. Einen krummen Dolch in der rechten Hand kam er auf ihn zu. Roderick wollte zurückweichen, doch mit einem großen Schritt hatte der Feind den Abstand überwunden und kniete sich auf Rodericks Brust. Roderick, der beim Sturz das Schwert verloren hatte, konnte sich nicht verteidigen, als der Sarazene den Dolch an seinen Hals setzte und mit der anderen Hand seinen Kopf an den Haaren nach hinten riss. Roderick hatte sich schon mit seinem Tod abgefunden und kurz gebetet, Jolyon würde sich gut um seine Familie kümmern und es ihnen schonend beibringen, als der Sarazene vor ihm die Augen aufriss, kurz zuckte, und dann nach vorne auf Roderick stürzte. Roderick keuchte unter dem Gewicht des Mannes auf, und stieß ihn von sich herunter. Ein langer, weißgefiederter Pfeil steckte in dem Rücken des Mannes. Jolyons Pfeil… Roderick sah seinen Freund wenige Meter entfernt stehen, den Bogen noch immer erhoben. Roderick nickte ihm kurz zum Zeichen seiner Dankbarkeit und um ihm zu signalisieren, dass er unverletzt sei, zu und Jolyon erwiderte das Nicken. Dann widmeten sich beide wieder anderweitig dem Kampf.
Der Angriff wurde von den Sarazenen schließlich zurückgeschlagen. Unzufrieden mit der erneuten, erfolglosen Schlacht saßen Roderick und Jolyon am Abend in ihrem Zelt, doch sie wussten nicht, dass der nächste Tage eine Überraschung für sie bereithalten sollte.
Am nächsten Morgen erreichte ein Bote der Sarazenen das englische Lager und verlangte, König Philipp und König Richard zu sprechen. Es gingen die verschiedensten Gerüchte um. Schließlich verließ der Bote das Lager wieder. Die Könige ließen verkünden, die Stadt habe ihre Übergabe angeboten, zu Bedingungen allerdings, die nicht annehmbar waren.
Man würde in wenigen Tagen einen weiteren Angriff starten und damit die Sarazenen endgültig vernichten und Akkon einnehmen. „Das haben sie schon so oft gesagt“, murmelte Jolyon, als er davon erfuhr. „Ich glaube langsam nicht mehr daran, dass wir Akkon jemals einnehmen werden. Dieser Kreuzzug wird noch Jahre dauern. Wenn wir England wiedersehen, werden wir alte Männer sein!“, klagte er. Roderick lachte und stieß Jolyon in die Seite. „Du vermagst einen immer aufzuheitern mit deinen optimistischen Einstellungen!“, lachte er. Jolyon wurde rot. „Bitte um Verzeihung, Mylord, doch wir sind jetzt beinahe zwei Jahre hier und was hat sich bisher getan? Nichts!“ Jolyon war bisweilen seltsam förmlich und höflich ihm gegenüber. „Die Stadt hat ihre Kapitulation angeboten“, sagte Roderick. „Ich würde nicht sagen, dass das nichts ist!“
„Aber sie wurde abgelehnt. Ich frage mich, welche ihrer Bedingungen unserem großen König nicht gepasst haben“, sagte Jolyon und folgte mit den Augen den Nähten an der Decke des Zeltes. „Wir werden es wohl nie erfahren“, sagte Roderick zu seinem Freund. Jolyon brummte verdrießlich etwas in seinen Bart, was Roderick nicht verstand und er fragte nicht nach. Roderick schrieb seiner Familie die Neuigkeiten und kündigte seine baldige Rückkehr an.
Er freue sich darauf, seine Eltern, die Geschwister und besonders seinen kleinen Neffen zu sehen. Er war sehr neugierig, ob der Junge ihm ähneln würde, oder ob er nach seinem Vater käme. Es wäre natürlich auch keine Schande, wenn der Junge seinem Vater David, den Roderick das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen hatte, mehr ähneln würde, als seiner Mutter, denn auch David war ein hübscher Junge mit hellem Haar und tiefblauen Augen gewesen.
Roderick war sich sicher, dass aus seinem jungen Neffen noch etwas Besonderes werde und sagte das auch Jolyon. „Natürlich“, antwortete der. „Durch eure Adern fließt dasselbe Blut. Und wenn dein Neffe auch nur die Hälfte von dem erreicht, was sein Onkel getan hat…“ Er ließ den Satz im Raum stehen und lächelte Roderick an. „Ich darf den Jungen doch mal sehen, wenn wir zurück sind, oder?“, fragte er Roderick plötzlich aufgeregt. „Gewiss!“, sagte Roderick. „Sobald wir England erreichen wirst du sofort mit mir nach Lacock Manor kommen und ihn sehen.“ Dabei lächelte er Jolyon ebenso an, wie dieser ihn zuvor angelächelt hatte. „Glaubst du, Lacock hat sich sehr verändert, seit wir weg waren?“, fragte Jolyon ihn. „Wohl kaum. Das hätte mir meine Familie geschrieben!“, war Roderick sich sicher. „Ich meine, für uns!“, sagte Jolyon. „Glaubst du, wir werden es mit anderen Augen sehen?“ „Jolyon“, sagte Roderick und legte seinem Freund die Hand um die Schulter. „Ich glaube, wir werden alles mit anderen Augen sehen.“
Roderick bat Radzak, Wasser zu holen. Manche einfachen Worte wie „Wasser“, „Ja“ und „Nein“ verstand Radzak und Roderick verstand manche von Radzaks Worten. Auch Radzaks Religion war ihm näher gekommen. Anfangs wusste Roderick nicht, was Radzak tat, wenn er fünfmal am Tag betete, doch schon bald verstand Roderick zumindest, dass es ihm sehr wichtig war.
Auch Radzak beobachtete Roderick und Jolyon beim Beten. Wenn die beiden fasteten kochten sie für Radzak, damit er nicht hungern musste, doch häufig kam es vor, dass auch er das Essen ablehnte.
Radzak holte Wasser und schüttete etwas davon sofort in eine Schüssel. Dann zog er die Schüssel zu sich und sah Roderick fragend an. Damit machte er ihm verständlich, dass er etwas Wasser für sich haben wollte, um sich zu waschen. Roderick nickte und Radzak wusch sich, wie er es immer vor dem Beten tat.
Roderick sah Radzak lächelnd zu. Wenn er Radzak sah, war er sich unsicher, ob sie wirklich einen Anspruch auf Akkon hatten. Ob sie das Recht hatten, anderen Leuten ihren Glauben aufzudrängen, denn Jerusalem war nicht nur ihre heilige Stadt, sondern auch die der Muslime und Juden und vieler anderer.
Als Radzak fertig war, blieb er auf den Knien und sah zu Roderick herüber. Roderick klopfte ihm auf die Schulter. „Weißt du, Radzak“, begann er, „ich bin froh, dass ich dich getroffen habe.“
Am elften Juli formierten sich die Kreuzritter schon früh morgens, was von den Sarazenen nicht unbemerkt blieb. Ihre Stadtmauern waren so schwer beschädigt, dass sie wohl beschlossen, den Angreifern im offenen Feld gegenüberzutreten, denn als Roderick auf sein Pferd saß, sah er eine Staubwolke, die das herannahen der sarazenischen Reiter ankündigte.
Die Formation der Kreuzritter war die altbewährte: Die Bogen- und Armbrustschützen in der ersten Linie, dahinter Roderick und die anderen Berittenen, danach das Fußvolk. Roderick suchte im Getümmel nach Jolyon, doch das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Männer trugen alle ähnliche Helme und das einzige, was man sah, war das glitzern der Sonne auf dem Metall.
Roderick begann schon wieder zu schwitzen, obwohl er kaum auf dem Pferd saß. Er trieb sein Pferd neben die anderen Reiter. Diesmal griffen die Sarazenen als erste an. Scheinbar wollten sie die Kreuzritter nicht noch näher an ihre abgewetzten Burgmauern heranlassen, weshalb sie sie zurücktreiben wollten. Doch die Bogenschützen schickten ihnen einen Pfeilhagel entgegen, der viele Männer das Leben kostete, bis die anderen sich zu ihnen vorgekämpft hatten. Als das Sarazenenheer nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war, gab man den Befehl zum Angriff. Roderick trieb sein Pferd an und senkte die Lanze. Sie durchschlug die leichte Rüstung des unglücklichen Sarazenen, der ihm als erstes in die Quere kam, und tötete den Mann sofort. Sein Pferd bäumte sich auf, als sein Reiter aus dem Sattel geworfen wurde, und Roderick schützte sich durch seinen Schild vor den hölzernen Splittern der Lanze, die ihm entgegenflogen. Jederzeit konnte eines der gefährlichen Bruchstücke durch sein Visier dringen, sich in seinen Kopf bohren und ihm den Tod bringen. Roderick atmete erst auf, als die Splitter allesamt zu Boden gegangen waren und er den nutzlos gewordenen Stumpf wegwerfen konnte. Dann zückte er sein Schwert.
Lange Zeit ging alles gut. Roderick kämpfte zu Pferd gegen die Sarazenen, die entweder zu Fuß oder auf ihren kleinen Wüstenrössern, ihm dem ungeachtet jedoch immer unterlegen waren, bis ein Sarazene einen Pfeil auf ihn abschoss. Er riss sein Pferd herum, um auszuweichen, das dabei ungeschickt den Kopf hochriss und den Pfeil mit dem Hals abfing. Das Pferd bäumte sich vor Schmerzen auf und Roderick hatte keine Zeit mehr, sich festzuhalten.
Er stürzte und fiel zu Boden. Dabei hatte er Glück, dass er sich nicht selbst mit seinem Schwert aufspießte. Er war sofort wieder auf den Beinen, aus Angst, das Tier könnte, wie bereits einmal zuvor, auf ihn stürzen und wich zurück, als das Tier tot zu Boden ging.
Von da an kämpfte er vom Boden aus weiter. Hier hatte er den Nachteil, dass er nicht mehr von oben auf seine Feinde einschlagen konnte, doch sein großer Schild schützte ihn fast von Kopf bis Fuß, sodass er selbst keinen Schaden davontrug.
Der Schweiß rann Roderick von den Haaren über den ganzen Körper, denn es war bereits Mittag und die Mittagssonne brannte erbarmungslos auf seine Rüstung. Lange würden die Ritter in voller Rüstung dieser Hitze nicht standhalten, dessen war Roderick sich sicher, und dann würden die Sarazenen, die durch die leichte Rüstung Vorteile davontrugen und das Wüstenklima gewohnt waren, die Oberhand gewinnen. Roderick hatte gerade einen Sarazenen erschlagen, als er ein Sirren hörte und ihn etwas in die Brust traf. Er hatte den Bogenschützen nicht gesehen und hatte seinen Schild nicht schnell genug herum schwingen können, um den Pfeil abzuwehren.
Roderick selbst jedoch wusste nicht, was passiert war, er fühlte nur einen erbarmungslosen Schmerz, der alle Gedanken auslöschte. Er schrie, Tränen schossen ihm in die Augen, er wusste, dass der Schmerz zu groß war, um weiterzukämpfen… Er hätte alles getan, damit nur dieser Schmerz aufhörte. Seine Knie gaben nach und er ging zu Boden. Seine Waffen fielen ihm aus der Hand. Ihm wurde schwindelig, rote Blitze tanzten vor seinen Augen und er fiel auf den Rücken, unfähig sich zu rühren.
Als der Schütze näher kam und seinen kleinen, krummen Dolch zog, wusste Roderick, dass er um sein Leben fürchten musste. Der Mann kniete sich neben ihn und drückte ihn zu Boden, um ihm die Kehle durchzuschneiden und ihn von seinem Leid zu erlösen, doch Roderick riss sich mit einer schnellen Bewegung den Helm vom Kopf und schlug ihn dem Sarazenen ins Gesicht. Bei dem ersten Schlag fühlte er, wie die Nase des Sarazenen brach, nach dem zweiten und dritten rührte sich dem Mann nicht mehr.
Roderick wusste nicht, wie er es geschafft hatte, sich zu bewegen, denn jetzt überwiegte der Schmerz allem anderen. Jede Bewegung war ihm unmöglich, selbst das Atmen bereitete ihm solche Schmerzen, dass er betete, so schnell wie möglich zu sterben, oder bewusstlos zu werden. In seinem Zustand hätte er alles mit Handkuss entgegen genommen, solange nur diese Qual ein Ende hatte. Er zwang sich dazu, zu atmen, als seine Lungen vor Schmerzen wegen des Sauerstoffmangels schrien, doch im Atemzug hielt er inne, vor Schmerz unfähig, sich zu bewegen, zu denken, zu atmen…
Das Letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor, war der blaue, wolkenlose Himmel über ihm… Er würde hier sterben, auf dem Schlachtfeld, in einem fremden Land, für einen Krieg, der ihn nicht interessierte, für einen König, der lieber unschuldigen Menschen seinen Glauben aufzwang, als zu Hause in England sein Volk zu unterstützen…
England…
Sein geliebtes England. Lacock… Er würde es nie wieder sehen. Seine Geschwister, seine Eltern… Alles, was ihnen bleiben würde, war die Erinnerung an ihn. Jolyon… Er würde es nicht verstehen. Er würde es ihm nicht verzeihen, dass er ihn allein gelassen hatte. So wie Rodericks Vater ihn damals alleingelassen hatte.
Will… Jetzt war er an der Reihe. Er hatte seinem Bruder versprochen, zurückzukehren und jetzt musste er sein Versprechen brechen. „Es tut mir leid“, dachte er. „Es tut mir so unendlich leid, William.“
Dann versank die Welt um ihn herum in Dunkelheit und der Schmerz hatte ein Ende…´
Allmählich kam der Schmerz zurück… Irgendjemand rüttelte ihn an der Schulter, wovon der Schmerz nicht unbedingt nachließ. Roderick öffnete stöhnend die Augen. Er blinzelte in die Sonne und erkannte Radzak vor sich. Gott sei Dank, er war unverletzt, doch was hatte er hier zu suchen? Und wieso weinte er?
Radzak beugte sich zu ihm vor und legte seine Hand auf Rodericks Stirn, dann auf seine Wange. Währenddessen redete er unaufhörlich auf ihn ein. Roderick schloss einen Moment die Augen, vorauf hin Radzak ihn erneut schüttelte. Roderick keuchte vor Schmerz und öffnete wieder die Augen. Am liebsten hätte er Radzak von sich weggestoßen, doch ihm tat alles weh und er konnte sich nicht bewegen. Radzak drehte Rodericks Gesicht ruckartig zu sich und zwang Roderick, ihn anzusehen. Dann sagte er eindringlich etwas zu Roderick, was dieser nicht verstand. Plötzlich ließ er seinen Kopf los und kurze Zeit später war Radzak aus Rodericks Blickfeld verschwunden.
Roderick schloss vor Schmerzen stöhnend die Augen. Die Sonne war so heiß… Der Schmerz so intensiv. Er konnte nicht mehr… Er konnte nicht mehr gegen die Müdigkeit ankämpfen… Die Dunkelheit umfing ihn und Roderick ließ zu, dass sie ihn zärtlich umhüllte, einlullte und alle Gedanken an die Zukunft und den Schmerz verdrängte…
Jemand schlug ihm ins Gesicht. Nicht vorsichtig, wie Radzak ihn an der Schulter gerüttelt hatte, sondern heftig, als würde er ihn umbringen wollen. Jemand schrie in weiter Ferne seinen Namen. Weitere Schläge folgten. „Aufhören“, dachte Roderick. „Aufhören!“ Doch aus seinem Mund kam nur ein ersticktes Stöhnen.
Einen Moment lang folgten keinen Schläge, jemand sagte seinen Namen und schüttelte ihn. „Wach auf, Roderick! Bitte!“ Roderick verstand nicht, was die Stimme von ihm wollte, er war doch hellwach. Die Hitze war unerträglich und durch die unsanfte Behandlung waren die Schmerzen noch stärker geworden. Der Schmerz nahm ihm den Atem und Roderick hielt die Luft an. Jemand schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. „Atme!“, schrie er ihn an. „Atme!“ Roderick folgte dem Befehl, vorsichtig atmete er ein. Atmen war möglich. Gut... Jetzt… Augen öffnen…
Das grelle Sonnenlicht schlug Roderick entgegen und er musste die Augen wieder schließen, dann blinzelte er in das Sonnenlicht. Ein Schatten kniete über ihm in der Sonne, jetzt sprach er mit ihm. „Gut so“, flüsterte er ihm zu. „Schau mich an. Schau mich an! Bleib bei mir.“ Roderick war nicht in der Lage, sich zu bewegen, doch er sah in die braunen Augen des Mannes, der über ihm kniete. „Gut so. Ich bin da“, flüsterte Jolyon ihm zu und streichelte ihm über die Wange. „Ich bin hier.“ Roderick blinzelte und drehte kraftlos den Kopf zu Jolyon. „Ist schon gut, Roderick. Nicht bewegen. Beweg dich nicht!“, befahl Jolyon ihm. Jolyon streichelte sein Gesicht, während er mit jemandem sprach, der außerhalb von Jolyons Blickfeld stand.
„Wir bringen dich jetzt hier weg, verstanden?“, fragte Jolyon ihn. „Du brauchst einen Arzt.“ Jemand packte Rodericks Füße und Jolyon schob unter beruhigendem Zureden die Hände unter Rodericks Arme, wobei der vor Schmerz keuchte. Als Radzak und Jolyon ihn mit vereinten Kräften hochhoben hatte Roderick das Gefühl, vor Schmerzen ohnmächtig zu werden. Er schrie, doch Jolyon redete weiterhin beruhigend auf ihn ein. Roderick selbst war zwar nicht schwer, in den letzten Wochen hatte er eher abgenommen, doch mitsamt der Rüstung kam er dennoch auf gut zweihundert Pfund. Nur durch die Angst um seinen Freund entwickelte Jolyon solche Kräfte, dass es ihm gemeinsam mit Radzak möglich war, Roderick Stück für Stück zurück zum Lager zu tragen.
Roderick schrie, während seine Freunde ihn zurück zum Lager brachten. Immer wieder mussten sie ihn ablegen. Roderick zitterte vor Schmerzen, der Schweiß stand auf seiner Stirn und Jolyon tupfte sie vorsichtig mit dem Hemdärmel trocken. „Ich hätte dich nie losziehen lassen dürfen“, sagte er bei einer Pause leise zu Roderick. „Niemals hätten wir hierhergehen dürfen.“
Irgendwann erreichten sie das Feldlazarett und trugen Roderick hinein. Das Lazarett war voller schreiender und sterbender Männer und Roderick fühlte sich gleich noch ein Stück elender und schwerer verletzt, als er ohnehin schon war. Jolyon und Radzak legten ihn auf ein freies Feldbett. Roderick schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen, während Jolyon sich auf die Suche nach einem Arzt machte.
Die Schmerzen waren unerträglich und Roderick merkte, wie ihn sein Bewusstsein zu verlassen drohte, als Jolyon wiederkam. „Bald kommt ein Arzt, Roderick!“, versprach er ihm und setzte sich zu ihm. „Alles wird wieder gut!“ Roderick hatte nur kurz die Augen geöffnet, um seinen Freund anzusehen, doch jetzt fühlte er, wie sich sein Blickfeld veränderte und er wieder in die Dunkelheit glitt…
Nachdem Radzak Roderick gefunden hatte, war er sofort zu Jolyon geeilt und hatte ihm verständlich gemacht, dass er sofort mitkommen musste. Jolyons Herz war ihm in die Hose gerutscht, als er Radzak voller Blut gesehen hatte und war ihm sofort gefolgt. „Er darf nicht tot sein, bitte, bitte, bitte, Gott, er darf nicht tot sein!“, hatte er die ganze Zeit vor sich hingemurmelt. „Wenn er stirbt, sterbe ich auch… Bitte, er darf nicht tot sein…“
Radzak hatte nicht lange gebrauchte, um den Weg zu finden und Jolyon sah schon von Weitem, dass ein schwarz gefiederter Pfeil in Rodericks Brust steckte und sein Freund sich nicht bewegte. Tränen der Angst waren ihm in die Augen geschossen, eine furchbare Vorahnung drängte sich in ihm auf und sein Magen zog sich auf eine schmerzhafte Art und Weise zusammen.
„Nein!“ Er war zu seinem Freund gehastet und hatte dort voller Erleichterung gemerkt, dass er noch atmete. Noch immer von entsetzlicher Angst beherrscht berührte er vorsichtig Rodericks Gesicht. „Roderick…“, schluchzte er. Er schlug ihm auf die Wange, um seinen Freund zu Bewusstsein zu bringen. Bis auf die Pfeilwunde schien Roderick unverletzt, lediglich etwas Blut sickerte aus der Wunde, die ansonsten durch den Schaft des Pfeiles verschlossen war.
Er wusste nicht, wie lange Roderick hier schon lag, doch seine Stirn war heiß und verschwitzt, die Rüstung schien von der Hitze zu glühen. Um sie herum flackerte die erhitzte Luft und Jolyon hoffte, dass sein Freund in dieser Glut nicht an einem Hitzschlag sterben würde.
Er bemerkte den kurzen Atemstillstand, als Roderick vor Schmerz einen Moment nicht in der Lage war, zu atmen. „Nein… Atme! Bitte atme!“, schrie er Roderick an und schlug ihm so heftig er konnte ins Gesicht. Die Tränen verschleierten ihm die Sicht und er fürchtete schon, seinen Freund verloren zu haben, doch kurz darauf öffnete dieser wieder die Augen…
Jetzt saß Jolyon neben seinem Freund am Krankenbett und wartete seine Hand haltend darauf, dass ein Arzt erschien. Er strich Roderick die verschwitzten Haare aus der Stirn und streichelte seine bleichen Wangen. „Halt durch… halt durch…“, flüsterte er ihm zu. Radzak saß neben ihm und beobachtete Jolyon.
Es dauerte über eine halbe Stunde, bis ein Arzt kam und sich die Wunde ansah. Er befahl Jolyon, Radzak hinauszuschicken, damit er Platz habe und Jolyon machte Radzak klar, dass er Roderick jetzt verlassen musste. Radzak protestierte nicht und setzte sich vor das Lazarett, wie ein geprügelter Hund, der hoffnungsvoll darauf wartete, dass sein Herrchen kam und sich bei ihm entschuldigte.
Der Arzt befahl Jolyon, Roderick aufzusetzen, um die Bewusstlosigkeit zu verlängern, doch kaum umfasste Jolyon seinen Freund, kam dieser stöhnend zu Bewusstsein, also verlangte der Arzt von Jolyon, ihn liegen zu lassen. Rodericks Lippen bewegten sich leicht, dann öffnete er die Augen und der Arzt beugte sich über ihn. „Ihr habt einen Pfeil in Eurer Brust stecken, Sir. Ich werde Euch jetzt aus der Rüstung herausschneiden und anschließend den Pfeil entfernen.“ Roderick antwortete nicht, sein fiebriger Blick irrte ziellos durch das Lazarett, dann kniff er wieder, vom Schmerz überwältigt, die Augen zusammen.
Von dem, was als nächstes geschah, bekam Roderick nur wenig mit. Mit einer kleinen Zange begann der Arzt, den Brustpanzer unter Rodericks linkem Arm aufzuschneiden. Jolyon wies er an, Roderick von den restlichen Rüstungsteilen zu befreien, die nicht durch den Pfeil beschädigt waren. Jolyon zog seinem Freund vorsichtig die Arm- und Beinschienen aus und dann die Schuhe. Er hielt immer wieder inne, wenn Roderick aufschrie, doch der Arzt durchtrennte weiterhin das dünne, leichte Metall von Rodericks Rüstung, ohne sich groß um die Schmerzensschreie seines Patienten zu kümmern.
Jolyon litt mit seinem Freund und als er seinem Gefährten die Rüstung ausgezogen hatte, setzte er sich neben seinen Kopf und streichelte zärtlich sein Gesicht. „Ich bin hier“, flüsterte er ihm immer wieder zu, obwohl er nicht wusste, wie viel Roderick von alledem überhaupt mitbekam. Beruhigend redete er auf seinem Kameraden ein, während der Arzt von Rodericks linkem Arm bis zu seinem Hals einen langen Schnitt in die Rüstung machte und ihm schließlich die untere Hälfte der halbierten Rüstung auszog. Die Obere hatte sich mit dem Pfeil verhakt, der tief in Rodericks linker Schulter steckte.
Mit der kleinen Zange zerlegte der Arzt die Rüstung in weitere Teile, die er Roderick abnahm, obwohl dieser immer lauter schrie, je näher der Arzt dem Pfeil kam. Als die Rüstung vollständig entfernt war und Rodericks Körper nur noch von dem Kettenhemd, dessen Ringe der Pfeil zerschlagen hatte, geschützt war, atmete Roderick schwer vor Schmerzen und Anstrengung. Der Schweiß lief über seine Stirn und Jolyon tupfte ihm die Stirn trocken. Roderick schloss unter seiner Berührung die Augen und der Arzt trennte die Ringe des Kettenhemdes auf, was leichter und für Roderick mit weniger Schmerzen verbunden war. Als einige Ringe rund um die Pfeilwunde aufgebrochen waren, befahl der Heiler Jolyon, Roderick festzuhalten. „Das wird jetzt wehtun, aber der Schmerz ist gleich wieder vorbei“, versprach der Mann Roderick. Roderick klammerte sich an Jolyons Arm, der seinen Kopf in seinen Schoß gebettet hatte und der Arzt brach den Pfeil mit einigen Zentimetern Entfernung zu Rodericks Brust ab.
Roderick schrie, er konnte nicht mehr klar sehen, ihm wurde schwarz vor Augen und einem Moment hatte er das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren, doch kaum war kein Druck mehr auf dem Pfeil, ließen die Schmerzen wieder nach und er beruhigte sich. Mit Jolyons Hilfe zog der Arzt Roderick das Kettenhemd aus, was für den Verwundeten eine Tortur war. Jolyon selbst traten die Tränen in die Augen, als er seinen Freund so leiden sah. Danach schnitt der Arzt mit einem Messer das Leinenhemd auf, und legte die eigentliche Wunde frei.
Anschließend erklärte der Arzt Roderick, dass er nun den Pfeil entfernen werde und griff den Pfeil mit einer Zange. Dann begann er, an dem Pfeil zu ziehen und ihn zu drehen, was Roderick unvorstellbare Schmerzen zufügte.
Der Pfeil bewegte sich kaum und es war Millimeterarbeit, bis es einen kurzen Ruck gab, bei dem Roderick aufschrie und sich mit vor Schmerz weit aufgerissenen Augen aufbäumte, und der Bolzen endlich draußen war. Jolyon sah, dass der Arzt die Wunde mit den Fingern untersuchte und dann mit Roderick sprach: „Sir, die Pfeilspitze ist in Eurer Brust stecken geblieben. Ich muss sie herausholen.“ Roderick konnte vor Schmerzen nicht sprechen, Tränen rannen ihm über die Wangen, weshalb Jolyon mit belegter Stimme für ihn antwortete: „Tut es!“
Der Arzt befahl Jolyon, Rodericks Arme festzuhalten, und der nahm die Hände seines Freundes in seine eigenen und drückte sie, obwohl Roderick bei der Bewegung wieder furchtbare Schmerzen hatte.
Der Arzt nahm ein längliches Instrument von einem Tuch, das neben ihm auf dem Boden ausgebreitet war und auf dem mehrere Operationsinstrumente lagen. Jolyon wurde blass, als er den Arzt damit auf seinen Freund zukommen sah. „Könnt Ihr ihm nicht etwas gegen die Schmerzen geben?“, fragte Jolyon den Arzt. „Das könnte ich, aber die Dosierung solcher Medikamente ist sehr heikel. Ich würde ihn damit eher vergiften, als ihm zu helfen“, antwortete dieser.
Jolyon schloss also die Augen, verbarg das Gesicht in Rodericks Haaren und hielt ihn fest, während der Arzt das Instrument in die Wunde in Rodericks Brust führte. Roderick schrie vor Schmerz und wand sich unter Jolyons Griff, doch der ließ ihn nicht los. Jolyon fühlte, wie ihm Tränen aus den zusammengekniffenen Augenwinkeln liefen und über sein Gesicht in Rodericks Haare liefen. Er zitterte und schluchzte leise, dann drückte er Roderick mit immer noch geschlossenen Augen noch fester an sich. Roderick krümmte sich vor Schmerzen, doch schließlich entspannte er sich einigermaßen. Mit jedem Atemzug drang ein wimmerndes Geräusch aus Rodericks Kehle.
Jolyon hob den Kopf und sah den Arzt fragend an. „Die Spitze ist draußen“, sagte dieser und wandte sich seinem Patienten zu. Er untersuchte die Wunde wieder mit den Fingern. „Eine Sehne in der Schulter ist möglicherweise zerrissen“, teilte der Arzt mit. Jolyon fragte nicht nach, was das zu bedeuten hatte. Roderick zitterte vor Schmerz, seine Muskeln zuckten, während der Arzt die Wunde berührte und später mit einer klaren Flüssigkeit abtupfte.
Rodericks Blick war fiebrig und wirr, fast wahnsinnig und Jolyons Angst um ihn wurde größer. Er fürchtete, Roderick würde vor Schmerzen den Verstand verlieren. Als der Arzt die Wundränder schließlich vernähte, verbarg Roderick das Gesicht in Jolyons Brust. Jolyon spürte, wie sich sein Freund vor Schmerzen unter seinem Griff wand und wieder stiegen in ihm Tränen auf. „Ist schon gut… Alles wird gut, Roderick“, versprach er ihm. Tröstend und beruhigend redete er auf Roderick ein und drückte seine Hand, doch die Schmerzen konnte er ihm nicht nehmen.
Roderick wimmerte noch, als der Heiler eine hellgrüne Wundsalbe auf der vernähten Wunde verteilte und dann sorgfältig Rodericks Brust mit einem Verband umwickelte.
„Mehr kann ich nicht tun“, sagte der Arzt. „Jetzt braucht er viel Ruhe und Schlaf.“ Jolyons Hemd klebte an seinem Körper, so sehr hatte er während Rodericks Behandlung geschwitzt. Jetzt, wo sein Freund ruhig und mit geschlossenen Augen in seinen Armen lag, beruhigte Jolyon sich selbst ein wenig und wischte sich den Schweiß von der Stirn, danach stand er auf. Der Arzt sammelte seine Instrumente wieder ein und wickelte sie in das Tuch. An seinen Händen klebte Blut und auch das ehemals helle Tuch, in dem die Werkzeuge eingewickelt waren, war mit Blut befleckt. „Ich möchte ihn mitnehmen. In unser Zelt. Geht das?“, fragte er den Arzt. Er wollte nicht, dass sein Freund hier zwischen all den sterbenden Menschen lag, er wollte ihn bei sich haben, damit er über ihn wachen konnte. Der Arzt zögerte, doch dann stimmte er zu. Wahrscheinlich war man hier froh, Platz zu haben. Er kündigte auch an, nach seinem Patienten zu sehen, was Jolyon nickend zur Kenntnis nahm
Dann ging er zu Roderick und streichelte ihm über die Stirn, wobei dieser die Augen öffnete. „Ich nehm dich jetzt mit und bring dich in unser Zelt, einverstanden?“, fragte er Roderick. Dieser nickte dankbar. Er keuchte vor Schmerzen, als Jolyon die Arme unter seinen Körper schob und ihn hochhob.
Dann verließ Jolyon mit Roderick auf den Armen das Lazarett. Draußen stieß Radzak zu ihnen und sie trugen Roderick in ihr Zelt.
Jolyon legte seinen Freund, der kaum noch bei Bewusstsein war, auf die Decken, schüttelte sein Kissen auf und deckte ihn mit einer leichten Decke zu. Roderick war in einem schlechten Zustand, das merkte Jolyon sofort. Sein Gesicht und sein nackter Oberkörper waren von Schweiß bedeckt, seine Arme und Beine kalt. Doch was ihm mehr Sorgen macht, war Rodericks Blick, die Augen, die ihn durch die halb geschlossenen Lider anstarrten. Er hatten diesen Blick hunderte Male auf dem Schlachtfeld gesehen – der Blick eines Sterbenden. Selbst damals, als Roderick so schwer an Typhus erkrankt war und Jolyon und die Ärzte bereits die Hoffnung aufgegeben hatten, war Rodericks Blick nicht so… Hoffnungslos? Kraftlos? Jolyon wusste nicht, wie er es beschreiben sollte.
„Wasser!“, sagte Jolyon zu Radzak und der Junge lief, so schnell ihn seine Füße trugen. Er holte eine Flasche, die mit klarem und – trotz der allgegenwärtigen Hitze – erstaunlich kühlem Wasser gefüllt war. Jolyon befeuchtete ein Tuch und drückte es auf Rodericks Stirn. Bei der Berührung entschlüpfte Rodericks Lippen ein Seufzen.
„Du wirst wieder ganz gesund, das verspreche ich dir. Ich bin jetzt ja bei dir. Ich lass dich nicht sterben“, versprach Jolyon seinem Freund. Er gab ihm zu trinken und Roderick schloss die Augen. Radzak setzte sich neben Roderick und deutete Jolyon an, er würde gerne Rodericks Stirn kühlen. Jolyon tat ihm den Gefallen, doch er wich nicht von Rodericks Seite. „Tut es noch sehr weh?“, fragte Jolyon Roderick und streichelte vorsichtig seine nackte Schulter. Roderick nickte vorsichtig und öffnete wieder die Augen. „Jolyon…“, flüsterte er mit tonloser Stimme. „Weißt du noch, was wir uns einmal versprochen haben?“ Jolyon wusste, worauf er hinauswollte, doch davon wollte er nichts hören. „Nicht sprechen“, sagte er deshalb. „Schone deine Kräfte.“
Roderick ignorierte seinen Einwand. „Wir haben uns versprochen, sollte einem von uns etwas zustoßen, kümmert sich der andere um seine Familie. Du kümmerst dich gut um sie, oder?“ Jolyon schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf. „Nein… Nein, du wirst mit mir nach England zurückkehren, hörst du? Du wirst selbst auf sie aufpassen können“, flüsterte er.
„Kümmer dich gut um sie, bitte… Sie brauchen dich… Und bitte sag Will, dass es mir leid tut. Versprich es mir!“ Rodericks Stimme war immer schwächer geworden, die letzten Worte konnte Jolyon nur noch erahnen.
„Hast du mir nicht zugehört? Ich habe gesagt, dir passiert nichts!“, sagte Jolyon laut und eindringlich.
Roderick schloss einen Moment die Augen. „Ich bin müde, Jolyon“, flüsterte er entkräftet. „Aber ich… ich habe Angst, einzuschlafen… Ich habe Angst, nie wieder aufzuwachen… Die Angst wäre vielleicht nicht so schlimm, wenn ich wüsste, dass du dich… um… um sie kümmerst.“ Rodericks Worte waren ein Flüstern, tonlos und schwach, sein Gesicht schmerzverzerrt, das Sprechen bereitete ihm Schmerzen.
„Bitte…“, flehte er.
„Ich verspreche es dir, falls dir jemals etwas passieren sollte, kümmere ich mich um sie, aber dir wird nichts passieren!“, sagte Jolyon. Roderick bewegte zaghaft den Kopf, was Jolyon als ein Nicken auffasste, dann schloss er die Augen und entspannte sich ein wenig. Sein Zustand glich einer tiefen Bewusstlosigkeit mehr, als einem Schlaf und Jolyon wagte nicht, von seiner Seite zu weichen, aus Angst, sein Freund könnte sterben, während er fort war.
Es war schon dunkel und draußen wurde es kalt, als Jolyon Radzak schlafen schickte, doch entweder verstand dieser ihn nicht, oder er tat nur so, denn er blieb stur neben Roderick sitzen.
Roderick erwachte in der Nacht von den Schmerzen. Jolyon neben ihm war eingedöst, doch Radzak hielt die Stellung. Er blickte Roderick durch die Dunkelheit mit großen, wachen Augen an. Er hielt Roderick die Flasche mit dem Wasser hin, doch dieser schüttelte sachte den Kopf. Radzak zuckte mit den Schultern, goss etwas Wasser auf das Tuch und drückte es Roderick auf die Stirn. Das Fieber war gestiegen und Roderick fühlte sich schwach und elend. Radzak schien das zu bemerken, denn er tupfte Rodericks Gesicht ab und lächelte ihm aufmunternd zu.
Ein plötzlicher Hustenreiz in Rodericks Kehle zwang ihn, immer wieder zu husten. Jolyon erwachte und setzte Roderick auf, dieser hustete, Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel und er hatte das Gefühl, zu ersticken, als der Hustenreiz sich plötzlich legte. Er hatte Tränen in den Augen und sank vor Schmerzen wimmernd in Jolyons Arme, der ihn tröstend an sich drückte. „Ist schon gut… Alles wird gut…“, wisperte er seinem verletzten Freund zu und streichelte behutsam über seine Haare. „Bald wird es dir besser gehen“, versprach er ihm. „In ein paar Tagen schon können wir von hier verschwinden und dann gehen wir zurück nach England. Was sagst du dazu?“, fragte er ihn und sah auf ihn herunter.
Roderick schluchzte noch immer vor Schmerzen und drehte den Kopf so, dass sein Gesicht in Jolyons Ärmel verborgen war. Rodericks Körper verspannte sich und sein Atem stockte, bevor er wieder in der Lage war, weiter zu atmen. Jolyon fühlte Rodericks Tränen, die durch sein Hemd sickerten, auf seiner Haut.
Seinen Freund so leiden zu sehen, trieb ihm die Tränen in die Augen und er litt selbst darunter, dass er die Schmerzen seines Freundes nicht lindern konnte. Er legte Roderick auf sein Bett und deckte seinen nackten Oberkörper zu. Der weiße Verband um seine Brust war blutbefleckt, was Jolyon nicht entging. Er sehnte den Morgen herbei, an dem der Arzt kommen würde, um nach Roderick zu sehen.
Roderick war wieder eingeschlafen und Jolyon, der seine müden Augen kaum noch offen halten konnte, legte seinen Kopf neben Rodericks auf das Kissen. Er schloss die Augen und legte die Hand auf Rodericks Schulter.
Als es dämmerte, wachte Jolyon auf. Radzak war die ganze Nacht wach geblieben, um sich um Roderick zu kümmern, der bereits wach war. Sein Gesicht war aschfahl und von kaltem Schweiß bedeckt, doch Jolyon war froh, dass er am leben war.
„Roderick, wie geht es dir?“, fragte er ihn leise. „Bist du in Ordnung?“ Roderick drehte seinen Kopf etwas zu ihm und Jolyon sah sofort, dass gar nichts in Ordnung war. Der Atem seines verwundeten Freundes war unnatürlich flach und er verkrampfte sich bei jedem Atemzug. Man sah, dass er dem Tod näher als dem Leben war. „Schmerzen“, winselte Roderick. Das Wort war nicht mehr als ein zartes Hauchen. Jolyon streichelte Rodericks Wangen, doch er konnte seinen Schmerz nicht lindern. Er wusste nicht, was er sagen konnte, um ihn zu trösten und ihn zu beruhigen. „Bald kommt ein Arzt, der nach dir sieht“, sagte er zu Roderick. So lange blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten.
Es dauerte jedoch noch mehrere Stunden, bis der Arzt, der den Pfeil aus Rodericks Brust entfernt hatte, das Zelt betrat. Der Mann fragte, ob es in der Nacht Probleme gegeben habe und Jolyon berichtete, dass Roderick mehrere Male wegen der Schmerzen aufgewacht war und nicht schlafen konnte. Auch jetzt befand Roderick sich in einem ziemlich kritischen Gesundheitszustand.
Der Arzt wickelte den Verband ab, wobei Roderick wieder starke Schmerzen hatte. „Ruhig“, beruhigte Jolyon ihn. „Es tut weh“, wimmerte Roderick. Er atmete schwer, er versuchte sich zu beruhigen, doch die Schmerzen ließen nicht nach. Als der Heiler die Wundnaht untersuchte, wand Jolyon den Blick ab. Das Gesicht seines Freundes war blass vor Schmerz, sein Atem stoßweise.
Der Heiler schmierte wieder die Wundcreme auf die Naht. Der Faden aus Seide hatte sich in das geschwollene Fleisch gegraben und um die Wunde herum klebte getrocknetes Blut. Ein neuer Verband wurde um Rodericks Schulter gewickelt, der Arzt hob Roderick ein Gefäß mit einem süßlich riechenden Inhalt an die Lippen und befahl ihm, zu trinken. Dann packte er seine Sachen zusammen und stand auf. „Wird er sterben?“, fragte Jolyon die Frage, die ihn schon lange beschäftigte.
Der Arzt schwieg einen Moment, dann sah er Jolyon lange an. „Wenn er stirbt, so ist das der Wille Gottes“, erklärte er knapp und ging dann.
Eine Weile lang war es still. „Ich werde sterben“, sagte Roderick dann schwach. „Du wirst nicht sterben“, widersprach Jolyon ihm. „Du hast doch gehört, was er gesagt hat“, meinte Roderick zu Jolyon. „Du wirst nicht sterben!“, wiederholte Jolyon eindringlich. Roderick war zu müde, um mit seinem Gefährten zu streiten, also antwortete er nicht. Jolyon zwang ihn dazu, zu trinken, obwohl Roderick keinen Durst hatte.
Gegen Mittag hörten sie draußen Fanfaren und Jolyon sprang auf, um nachzusehen, was los sei.
Es dauerte lange, bis er wieder das Zelt betrat, Roderick hörte draußen undeutlich eine laute Stimme, die etwas verkündete. Als Jolyon wieder zu Roderick kam, war sein Gesichtsausdruck starr. „Wir haben gewonnen“, sagte er tonlos. „Die Stadt hat ihre Kapitulation verkündet…“ Er sah Roderick lange an, der nicht glauben konnte, was er da gerade hörte, dann begann Jolyon glücklich zu lachen. „Das ist nicht wahr“, flüsterte Roderick ungläubig. „Das ist das Fieber oder ein Traum…“ „Es ist wahr!“, rief Jolyon und küsste Roderick auf die Stirn. „Roderick, wir können nach Hause! Wir können England wiedersehen! Wir können sofort losreiten!“ Erst dann fiel Jolyon wieder auf, dass sein Freund so bald nicht mit ihm zurückkehren würde.
Roderick, der wusste, wie schmerzlich sein Kamerad England vermisste, sagte: „Jolyon, du kannst gehen, wenn du willst. Kehre zurück nach England und erstatte meiner Familie Bericht. Ich werde bald nachkommen. Du kannst auch Radzak mitnehmen.“ Jolyons Blick wurde entsetzt. „Das kommt überhaupt nicht infrage! Ich müsste mich ja schämen, vor deine Familie zu treten. Nein“, sagte er dann. „Ich bleibe und kehre nur mit dir nach England zurück.“
Roderick drängte ihn nicht, denn er wusste, dass es sinnlos wäre. „Jetzt schlaf, damit du dich bald erholt hast und wir aufbrechen können“, sagte Jolyon aufmunternd zu Roderick. Er versuchte mit allen Mitteln, seinem Freund Mut zu machen. „Der Arzt meinte, Schlaf hättest du jetzt am dringendsten nötig.“
Roderick war gerade erst eingeschlafen, als jemand das Zelt betrat. Jolyon sah auf. Sir Henry und der junge Lion standen im Eingang des Zeltes. „Wie geht es ihm?“, fragte Sir Henry. „Im Lager geht die Nachricht um, er wurde von einem Pfeil verletzt.“
Jolyon stand kurz auf und ging zu den beiden Rittern. „Er ist gerade eingeschlafen“, sagte Jolyon mit gedämpfter Stimme. „Ich bitte Euch, weckt ihn nicht. Es geht ihm sehr schlecht. Er muss ruhen.“ In dem Moment hörte er Roderick, der von den Stimmen geweckt worden war. „Jolyon?“, fragte er schwach und hustete entkräftet. „Entschuldigt mich einen Moment“, bat Jolyon die Ritter und eilte an Rodericks Seite. Er nahm wieder seine Hand, drückte sie an seine Lippen und berührte sanft seine vom Fieber glühenden Wangen, während Rodericks Blick orientierungslos im Zelt umherschweifte.
„Ja… Ich bin hier, Roderick. Alles ist gut.“ Roderick drehte den Kopf auf dem Kissen, um Jolyon ansehen zu können. „Was ist los?“, fragte er schwach. „Nichts… Wir haben Besuch. Sir Henry und Lion sind gekommen… Abe ich habe ihnen schon gesagt, dass du keinen Besuch empfangen darfst. Ich schicke sie weg“, sagte er zu Roderick, doch der hielt ihn zurück. „Darf ich sie sehen, bitte?“, fragte er Jolyon. „Roderick, du bist krank, du musst schlafen…“, begann Jolyon. „Schick sie zu mir“, befahl Roderick ihm und Jolyon fügte sich. „Aber nur ein paar Minuten“, sagte er zu den beiden Rittern.
Sir Henry schritt gefolgt von Lion auf Roderick zu und kniete sich neben ihn. „Wie geht es Euch?“, fragte er ihn. Roderick rang sich ein missglücktest Lächeln ab. „Es ist nur ein Kratzer.“ Sir Henry jedoch sah beunruhigt aus „Pfeilwunden können böse Infektionen hervorrufen“, sagte er. Dann schwieg er eine Weile.
„Es ist schon eine Schande, dass der Pfeil Euch ausgerechnet jetzt reiseunfähig macht. Bis England ist es weit, unser junger Freund Lion und ich werden bereits in drei Tagen aufbrechen. Ich vermisse meine Familie. Meine Frau und meine beiden Kinder. Stellt Euch nur vor, meine älteste Tochter, Heather, sie ist im Juni vier geworden. Wie schnell doch die Zeit vergeht.“ Der junge Ritter seufzte. „Ich bin froh, wenn ich sie und ihre Mutter wieder in die Arme schließen kann. Und immerhin wartet die Thronfolge immer noch darauf, durch einen jungen Burschen gesichert zu werden“, sagte der Ritter und zwinkerte Roderick zu. Roderick lächelte schwach.
Sir Henry stand wieder auf, als er sah, wie entkräftet Roderick war. „Jolyon hat Recht. Ihr seid krank und braucht Ruhe. Wir haben Euch schon viel zu lange vom Schlafen abgehalten“, sagte Sir Henry. Er wünschte ihm eine baldige Besserung und Jolyon begleitete sie nach draußen.
Kurz bevor sich die Ritter verabschiedeten, hielt Sir Henry Jolyon am Arm fest und zog ihn zu sich: „Du hattest Recht, es geht ihm nicht gut“, sagte er. „Ich werde einen Arzt rufen, damit er ihn sich ansieht.“ „Der war heute Morgen bereits da“, erwiderte Jolyon. „Er hat getan, was er konnte. Roderick braucht jetzt Ruhe und keine weiteren Untersuchungen.“ Sir Henry jedoch antwortete: „Ich werde trotzdem jemanden vorbeischicken, zur Sicherheit.“ Jolyon schüttelte energisch den Kopf. „Ich bitte Euch, Sir, er hat Schmerzen und jede Bewegung verschlimmert sie. Ihr könnt mir glauben, wenn ich Euch sage, dass ein Arzt ihm nicht helfen wird und er einfach nur schlafen möchte.“
Sir Henry zögerte, dann nickte er und ließ Jolyon los. „Nun gut. Wir hoffen und beten, dass es ihm bald besser geht und ihr gemeinsam nach England zurückkehren könnt.“ Dann wandten er und Lion sich zum gehen.
Als Jolyon das Zelt wieder betrat, versuchte Roderick gerade sich aufzusetzen. „Was hast du vor?“, fragte Jolyon ihn. „Bleib liegen!“ Er drückte ihn sanft, aber bestimmt wieder zurück in auf die Decke. „Papier…“, verlangte Roderick mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht. Jolyon holte ihm ein paar Blätter Papier, eine Feder und ein Tintenfass. „Was…“, fragte er Roderick, doch dieser unterbrach ihn. „Hilf mir, mich aufzusetzen“, befahl er und stützte sich mit den Ellenbogen ab, wobei sein linker Arm, den er nicht richtig bewegen konnte, ihm Probleme machte. „Was hast du denn vor?“, fragte Jolyon ihn verständnislos. „Ich muss meinen Eltern schreiben“, sagte Roderick. „Ich kann den Brief Sir Henry mitgeben… Diese Gelegenheit bekomme ich vielleicht nie wieder“, erklärte Roderick Jolyon. Er musste seinen Eltern erzählen, was passiert war, und dass der Kampf zu Ende war. Er musste ihnen auch sagen, dass er verletzt worden war, und dass es bis zu seiner Rückkehr noch dauern würde. Wenn er überhaupt zurückkehren würde…
„Du bist zu schwach, um zu schreiben!“, sagte Jolyon. „Hör zu, ich suche dir jemanden, dem du den Brief diktieren kannst und der ihn für dich aufschreibt“, bot Jolyon seinem Freund an. „Du darfst dich jetzt nur nicht anstrengen. Ist das in Ordnung?“ Schließlich stimmte Roderick zögernd zu.
Jolyon machte sich am nächsten Tag auf die Suche nach jemandem, der Rodericks Brief aufschreiben konnte. Er ließ Roderick mit Radzak allein und verließ das Zelt. Fast direkt vor dem Zelt lief er Lion in die Arme. „Wie geht es Roderick?“, fragte dieser ihn nach einer kurzen Begrüßung. „Soweit hat sich sein Zustand nicht verändert. Er würde Euch jedoch gerne einen Brief nach England mitgeben, aber ich habe ihm untersagt, zu schreiben, er ist noch zu schwach. Wärt Ihr bereit, aufzuschreiben, was er Euch diktiert?“ Lion stimmte sofort zu und Jolyon führte ihn ins Zelt, wo sich Lion neben Rodericks Bett setzte.
Roderick brauchte kurz, um sich zu sammeln, dann diktierte er Lion, was er schreiben sollte. Er erzählte seiner Familie, dass Akkon kapituliert hatte, er jedoch verwundet war und es noch eine Weile dauern würde, bis er zurückkehren würde.
Er musste immer wieder eine Pause machen, da ihn das Sprechen anstrengte und Jolyon beobachtete ihn argwöhnisch, um einschreiten zu können, sollte Roderick das Sprechen zu sehr schwächen.
Als der Brief fertig war, steckte Lion ihn in einen Briefumschlag und Roderick bat Jolyon, ihm seinen Siegelring zu bringen. Als der Brief verschlossen war, versprach Lion, ihn zu Rodericks Familie zu bringen und verabschiedete sich von Roderick, der sich für die Mühe bedankte.
„Schlaf“, befahl Jolyon, als Lion gegangen war. „Wir werden erst gehen, wenn du wieder völlig gesund bist. Ich gehe kein Risiko ein.“
Der Arzt kam erst zwei Tage später wieder. Roderick klagte über Übelkeit und hatte noch immer Fieber und als der Arzt den Verband abnahm, erkannte man auch die Ursache: Die Haut um die Wunde war gerötet und angeschwollen, sodass die Fäden in die Haut einschnitten, außerdem nässte sie stark. Roderick hatte starke Schmerzen und die Haut um die Wunde, die der Pfeilschaft in seiner Brust hinterlassen hatte, war erwärmt. „Die Wunde ist entzündet“, teilte der Arzt den Männern mit. „Was kann man dagegen tun?“, fragte Jolyon ihn. „Nichts. Wir müssen warten. Entweder er stirbt, oder die Wunde eitert und er wird leben.“ Der Arzt reinigte und verband die Wunde neu, dann ging er.
Jolyon hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen, von den Worten des Arztes noch immer geschockt und wie betäubt.
Er spürte, wie Roderick ihn ansah, doch er konnte ihm jetzt nicht in die Augen sehen. „Ich bin sofort wieder da“, sagte er und stürmte nach draußen. Er lief dem Arzt hinterher und fing ihn ab. „Einen Moment, bitte!“, sagte er und blieb vor ihm stehen. „Was wollt Ihr?“ „Die Wunde… Kann man denn gar nichts tun?“, fragte Jolyon den Mediziner. „Man könnte die Wunde aufschneiden und versuchen, sie zu reinigen, aber Ihr werdet wohl kaum einen Arzt finden, der dazu bereit ist“, erklärte der Arzt ihm. „Wieso nicht?“, fragte Jolyon. „Wenn es ihm hilft, dann…“ „Hört zu, das ist nur eine Vermutung. Die Chirurgie ist ein wenig angesehenes Handwerk und kaum ein Arzt, der seinen Beruf ernst nimmt, würde zu solch drastischen Mitteln schreiten“, meinte der Arzt und wollte sich an Jolyon vorbeidrücken. „Wieso nicht?“, fragte Jolyon den Tränen nahe. „Er wird sterben, wenn Ihr ihm nicht helft. Bitte“, flehte Jolyon den Arzt an. Er griff ihn am Ärmel und zwang den Mann, ihn anzusehen. „Ihr sagt, es wäre eine Möglichkeit, warum also seid Ihr nicht gewillt, es zu versuchen? Wir können doch nur gewinnen. Wenn Ihr nichts tut, stirbt er doch!“, sagte Jolyon und er fühlte, wie ihm warme Tränen über die Wangen liefen. Der Arzt sah ihn mitleidig an. „Es tut mir leid. Wenn er stirbt, so ist das Gottes Wille. Man darf sich dem Willen Gottes nicht widersetzen.“ Damit ließ der Arzt ihn stehen. Jolyon konnte nicht fassen, dass der Heiler seinen Gefährten einfach so sterben lassen wollte.
Die nächsten Stunden verbrachte er damit, nach einem Arzt zu suchen, der gewillt war, den Eingriff an seinem Freund durchzuführen, doch das erwies sich als schwieriger, als erwartet, denn fast alle Ärzte waren der Meinung, dass man sich dem Willen Gottes fügen musste. Entmutigt und verzweifelt kehrte Jolyon in das Zelt zurück.
Es war eine Fügung des Schicksals, dass Sir Henry wenig Stunden später das Zelt betrat, um sich noch einmal zu verabschieden. Lion hatte ihm erzählt, dass Roderick ihnen einen Brief mitgegeben hatte, doch Sir Henry wollte sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, sich von seinem Freund zu verabschieden.
„Was ist mit ihm?“, fragte er Jolyon, als er eingetreten war. „Ich habe gehört, du hast verzweifelt einen Arzt gesucht?“ Jolyon, der Rodericks Hand hielt und seine glühenden Wangen streichelte, antwortete ohne sich zu ihrem Gast umzudrehen: „Er hat Wundbrand. Der Arzt hat gemeint, man könne die Wunde aufschneiden und reinigen, doch niemand ist bereit, es zu tun. Sie sagen alle, wenn er sterben soll, darf man sich Gottes Wille nicht widersetzen.“
Sir Henry näherte sich und betrachtete Rodericks schweißbedeckte Stirn und seine aufgesprungenen Lippen. „Das Fieber steigt“, sagte er. „Man erkennt es an seinen Wangen und den Lippen. Es geht ihm immer schlechter.“ Jolyon schluchzte bei diesen Worten. „Er wird sterben, wenn ihm kein Arzt hilft!“, sagte er verzweifelt. „Vielleicht kann ich helfen“, sagte Sir Henry. Jolyon sah hoffnungsvoll zu ihm. „Wieso? Seid Ihr medizinisch ausgebildet?“, fragte er überrascht.
Sir Henry schüttelte den Kopf. „Nein. Doch hier hilft ihm niemand, weil sich kein Arzt Gottes Willen widersetzen will, nicht wahr? Was ist aber mit den Sarazenen? Sie glauben nicht an unseren Gott. Nur deswegen führten wir diesen Krieg doch.“ Jolyon zögerte einen Moment und dachte darüber nach, was der Ritter gesagt hatte. „Glaubt Ihr, einer ihrer Ärzte kann uns helfen?“, wollte er dann wissen. „Es ist vielleicht seine einzige Hoffnung“, meinte Sir Henry. Er wandte sich zum gehen. „Ich werde einen Boten losschicken, der uns sofort einen sarazenischen Heiler herschicken soll“, sagte er. „Danach komme ich wieder.“ In Jolyon keimte eine leichte Hoffnung auf und er sah zu Radzak, der nach wie vor Rodericks Stirn kühlte. Ob er wusste, wie schlecht es um ihren Freund stand?
Jolyon berührte Roderick an der Schulter. „Setz dich auf“, sagte er leise. „Du musst trinken.“ Er hob einen Becher mit Wasser an Rodericks Lippen, doch der stöhnte widerwillig und drehte den Kopf weg. „Trink“, wiederholte Jolyon eindringlich, doch Roderick war zu schwach. Jolyon sah das ein und legte Rodericks Kopf wieder auf das Kissen. Er nahm ein sauberes Tuch und tauchte es in etwas Wasser. Dann ließ er die Tropfen auf Rodericks aufgesprungene Lippen fallen, damit Roderick wenigstens etwas Flüssigkeit zu sich nahm. Es dauerte gut eine Stunde, bis Sir Henry in Begleitung eines sarazenischen Arztes und eines Dolmetschers das Zelt betrat. „Das ist er“, sagte er und der Dolmetscher, ein Europäer seinem Aussehen nach zu urteilen, übersetzte. Jolyon überwand sich und den Widerwillen, den sarazenischen Arzt an seinen Freund zu lassen und sagte zu Roderick: „Roderick, ein Arzt ist jetzt hier. Er wird dir helfen.“
Roderick brachte nur ein Stöhnen über die Lippen. Er hatte die ganze Nacht kaum geschlafen und war entsetzlich müde. Die Schmerzen waren durch die morgendliche Untersuchung verstärkt worden und seither nicht mehr abgeklungen.
Zu viert – Jolyon, Radzak, der sarazenische Heiler und Sir Henry – gelang es ihnen, Roderick aufzusetzen und den Verband abzunehmen. Rodericks Atem ging unnatürlich schnell, stoßweise und kurz, sein Gesicht war schweißbedeckt und blass, nur seine Wangen glühten. Seine Lippen waren leicht geöffnet und aufgesprungen vom Fieber, er schien bei jedem Atemzug schrecklichste Schmerzen zu haben. Sein Kopf sank kraftlos gegen Jolyons Schulter und er bewegte sich die ganze Zeit während der Untersuchung kaum. Der Heiler untersuchte die Wunde. Ab und an drang ein Schmerzlaut aus Rodericks Kehle, ansonsten war er ruhig.
Der Heiler befahl, Roderick wieder hinzulegen und teilte den Anwesenden mit, dass er die Wunder aufschneiden und auswaschen würde. Jolyon gab nickend seine Zustimmung, dann beugte er sich zu Roderick. „Die Wunde muss aufgeschnitten werden, Roderick. Danach kann sie ausgewaschen werden. Hältst du das durch?“ Roderick nickte kraftlos und griff nach Jolyons Hand. Jolyon war selbst dankbar und griff nach Rodericks Hand wie nach einem Rettungsanker.
Der Sarazene hatte in der Zwischenzeit mit einem Tuch, das er zuvor in einer Flüssigkeit getränkt hatte, die Wunde abgetupft und ein kleines Messer gezückt. „Wir sollen ihn festhalten“, übersetzte der Dolmetscher. Jolyon fühlte, dass ihm übel wurde, als Radzak, Sir Henry und ihr Dolmetscher nach Rodericks Händen und Füßen griffen und sie festhielten, während der Arzt Roderick ein mit Leder umwickeltes Stück Holz in den Mund steckte, auf das er beißen sollte. Dann begann der Arzt, die Naht in Rodericks Brust mit dem kleinen Messer aufzutrennen und die darunterliegende, etwas angeheilte Haut aufzuschneiden. Roderick hatte die Augen geschlossen und biss so fest er konnte auf das Holzstück. Tränen liefen ihm über die Wangen, doch er versuchte, sich ruhig zu verhalten, um den Eingriff nicht unnötig in die Länge zu ziehen.
Als das geschehen war, öffnete der Heiler eine kleine Flasche und spülte die Wunde mit der sich darin befindenden klaren Flüssigkeit aus, die einen beißenden Geruch verbreitete. Roderick bäumte sich vor Schmerz auf und es gelang den Helfern kaum, den vor Schmerzen schreienden und sich windenden Mann festzuhalten.
Danach nähte der Heiler die Wunde erneut mit ein paar schnellen Stichen. Das alles hatte kaum drei Minuten gedauert, doch trotzdem hatte Jolyon das Gefühl, eine Ewigkeit hier gesessen zu haben. „Und jetzt wird er überleben?“, fragte Jolyon. „Wenn die Säuberung Erfolg hatte. Die Wunde könnte sich dennoch erneut entzünden.“
Sir Henry bedankte sich in Jolyons, Radzaks und Rodericks Namen bei dem sarazenischen Heiler, bezahlte ihn und ließ ihn gehen.
„Ihr werdet Euer Geld wiederbekommen“, flüsterte Roderick kraftlos, der gesehen hatte, dass der Ritter den Arzt bezahlt hatte. Sir Henry lächelte. „Das hoffe ich. Denn das bedeutet, dass Ihr England lebend erreichen werdet. Lion und ich werden im Morgengrauen mit ein paar weiteren Männern abreisen und ich will nicht riskieren, mehr Geld als nötig mit mir zu führen, weshalb ich heute keines mehr von Euch annehmen werde.“
Roderick war nicht in der Lage, zu antworten. Jolyon tätschelte ihm die Wange. „Das ist kennzeichnend für dich, du liegst auf den Tod verwundet und das einzige, woran du denkst, ist, dass Sir Henry sein Geld zurückbekommt.“
Sir Henry verabschiedete und nahm Roderick jedoch das Versprechen ab, ihn in England besuchen zu kommen.
Roderick erholte sich daraufhin erstaunlich schnell. Die Wunde begann zwar zu eitern, doch schon kurz darauf kam Roderick wieder zu Kräften. Bereits drei Wochen später war er auf wieder auf den Beinen, doch Jolyon untersagte ihm das Reisen. „Du bist noch zu schwach, um zwölf Stunden am Stück zu reiten“, sagte er. „Außerdem ist es heiß und in deiner Rüstung wirst du wieder überhitzen.“ Also blieben sie noch über einen Monat in Akkon und halfen, die Stadt zu sichern.
Roderick konnte seinen linken Arm nicht mehr über die Schulter heben, denn eine Sehne in der Brust war von dem Pfeil verletzt worden. Das Führen eines Schildes war ihm unmöglich geworden, doch zu seinem Glück konnte er noch immer seinen Bogen spannen, auch wenn er der Kraft, die auf seine Arme wirkte, kaum standhalten konnte. Nach wenigen Schüssen brauchte er eine Pause, da die Kraft in seinem Arm nachgelassen hatte.
Erst Mitte September brachen sie wieder auf und machten sich auf den Heimweg. Akkon war zwar gefallen, doch das byzantinische Reich war noch immer stark und ihnen feindlich gesinnt. Viele Wochen mussten sie versteckt reisen und mieden die Straßen, bis sie mit einem Schiff die Meerenge überquert hatten und wieder den bulgarischen Wald durchqueren mussten, der sich über große Teile des byzantinischen Reiches erstreckte. Jolyon und Roderick erinnerten sich an die Angriffe, die sie hier auf ihrer Hinreise erlebt hatten und sie fürchteten den Wald, doch es führte kein Weg um ihn herum.
Sie ritten ihre Pferde in den Wald. Sie waren lange sehr schnell geritten, weshalb sie die Pferde jetzt langsamer gehen ließen. „Wir hätten von Anfang an langsam machen sollen“, sagte Jolyon. „Dann könnten wir jetzt schnell durch den Wald reiten.“ „Wir werden so oder so mehrere Tage brauchen, um ihn hinter uns zu lassen“, widersprach Roderick.
Sie ritten den gesamten Tag, auch in der Mittagshitze, die verglichen mit dem, was sie zwei Jahre zuvor erlebt hatten, nur halb so schlimm war. „Ich kann kaum glauben, dass es erst zwei Jahre her ist, dass wir hier durchgekommen sind“, sagte Roderick irgendwann. „In der Zwischenzeit ist so viel passiert.“
Am frühen Abend hielten sie an und schlugen ein Lager auf. Jolyon und Radzak machten ein Feuer, Roderick holte Wasser. Jolyon gefiel es nicht, ihn allein losziehen zu lassen, doch Roderick entgegnete: „Die Gefahr, dass ihr angegriffen werdet, ist viel größer, als bei mir. Ihr habt die Pferde und alle anderen Gegenstände, die für einen Dieb von Interesse sein könnten.“ Also ging Roderick alleine Wasser holen. Als er wieder zurück kam, hatten Radzak und Jolyon ein Feuer entfacht und die Pferde abgesattelt. Roderick befahl Radzak, die Pferde zu tränken und der führte die vier Tiere zum Fluss. „Geht es dir gut?“, fragte Jolyon ihn, als Roderick sich zu ihm setzte und seine Rüstung auszog. „Ja. Alles in Ordnung“, antwortete dieser. „Dein Arm?“, wollte Jolyon wissen. Roderick biss sich auf die Lippe. „Es ist ärgerlich, aber man kann es ja doch nicht ändern. Ich werde nie wieder ein Schild führen können und wahrscheinlich auch sonst kaum kämpfen. Wenigstens kann ich noch schießen, auch wenn es mir schwerfällt.“ Jolyon klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. In dem Moment hört man einen lauten Schrei. Radzaks Schrei.
Ohne zu zögern sprangen beide Männer auf und rannten in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Eines der Pferde galoppierte ihnen panisch entgegen und Jolyon griff in die Zügel, um es zum Stillstand zu bringen, während Roderick weiterrannte. Er kam bald am Fluss an, doch von Radzak und den Pferden fehlte jede Spur. „Radzak!“, schrie er. „Wo bist du?!“ Er lief am Fluss auf und ab und suchte am Ufer und im Wasser, als er ihn schließlich entdeckte.
Radzak klammerte sich an einen Ast im Wasser. Das Wasser hier war zwar tief und die Strömung reißend, doch Roderick war ein guter Schwimmer. Er rannte ein Stück am Fluss entlang und sprang ins Wasser.
Er schwamm zu Radzak, der Ast, an dem Radzak sich festhielt, ächzte unter dem Gewicht der beiden Männer. Roderick sah, dass Jolyon am Ufer auftauchte und sich nach ihnen umsah. Er schrie ihm entgegen, während er Radzaks Arm um seine Schulter legte. Radzak ließ den Ast los und klammerte sich an Roderick. Roderick ging unter und die Strömung riss die beiden mit sich.
Roderick sorgte dafür, dass Radzak, der nicht schwimmen konnte, mit dem Kopf an der Wasseroberfläche blieb und nicht noch mehr in Panik geriet, doch das war nicht so einfach, den Radzak strampelte und schlug in Panik um sich und er war schwer.
Jolyon rannte am Ufer neben ihnen her und schrie ihnen etwas zu, was Roderick nicht verstand. „Bleib, wo du bist!“, schrie Roderick ihm zu, bevor er wieder unter Wasser gedrückt wurde, denn er wusste, dass Jolyon nicht besonders gut schwimmen konnte. Dieser Strömung hier konnte er nicht standhalten, er würde ertrinken, so wie Radzak und Roderick es zu tun drohten.
Der Zufall wollte es, dass irgendwann Roderick einen Baum sah, der schief über den Fluss gewachsen war. An einer Stelle ragte einer seiner starken, dicken Äste fast unter die Wasseroberfläche. Roderick schwamm auf bebendiese Stelle zu. Die Strömung hatte eine solche Wucht, dass Roderick fast nicht in der Lage gewesen wäre, sich an dem Ast festzuhalten. Er hob Radzak aus dem Wasser und legte den hustenden, spuckenden Jungen über den Ast, erst dann zog er sich selbst aus dem Wasser. Jolyon kletterte auf sie zu und streckte die Hand nach Radzak aus. Der nahm sie und gemeinsam kletterten sie zurück. Roderick folgte ihnen.
„Die Pferde…“, hustete Roderick, als sie am Ufer ankamen. Radzak lag im Gras und hustete. „Sie sind zum Lager geflohen“, sagte Jolyon. „Jedenfalls kamen sie mir entgegen. Ich hoffe, sie sind dort geblieben.“ Roderick hustete etwas Wasser aus seiner Lunge und ging dann zu Radzak. „Was ist passiert?“, fragte er ihn, doch der konnte ihm nicht antworten. „Was glaubst du, wovor sich die Pferde wohl so erschreckt haben?“, fragte Jolyon nach einer Pause. Nachdem die Pferde ihnen so in Panik geraten entgegengekommen waren, stand für sie fest, dass irgendetwas die Pferde zum Scheuen gebracht haben musste, wobei Radzak wohl ins Wasser gefallen war. „Ich weiß es nicht“, sagte Roderick. „Vielleicht irgendein Tier am Ufer. Eine Schlange oder so.“
Jolyon half Radzak auf und sie gingen zurück. Radzak schien verstört, er redete die ganze Zeit vor sich hin. Er sprach immer noch kaum Englisch. „Was machen wir mit ihm, wenn wir zurück in England sind?“, fragte Jolyon Roderick. „Er spricht ja kaum unsere Sprache.“ Roderick zuckte die Schultern. „Es wird ja wohl irgendjemanden in England geben, der sich mit ihm verständigen, und ihm Englisch beibringen kann.“
Als sie am Lager ankamen, bemerkten sie erleichtert, dass zumindest drei der vier Pferde zurückgekommen waren. „Das andere wird auch noch zurückkommen“, meinte Jolyon sicher. „Es wird wohl kaum allein hierbleiben wollen.“ Das Feuer brannte noch und Jolyon legte etwas Feuerholz nach. Roderick wickelte Radzak, der am ganzen Leib zitterte, eine Decke um die Schultern, obwohl es nicht kalt war. Dann zog er ihn mit sich zum Feuer und setzte sich neben ihn. Er drückte ihn beruhigend an sich, woraufhin der Junge aufhörte zu zittern. „Ich mache uns etwas zu essen“, sagte Jolyon und hängte den Topf, den sie dabei hatten, über das Feuer.
Als das Essen fertig war, verteilte Jolyon die gefüllten Teller. Sie aßen schweigend. Sie konnten nichts tun, außer darauf warten, dass die Zeit verging und sie weiterreisen konnten. Tatsächlich kam nur kurze Zeit nach dem Essen auf das vierte Pferd zurück und stellte sich zu seiner kleinen Herde. Es wurde dunkel und sie legten sich schlafen. Radzak hatte sich zwischen sie gekuschelt und schlief schon bald darauf tief und fest.
Roderick erwachte am nächsten Morgen als erster. Das Feuer war heruntergebrannt und glomm nur noch vor sich hin. Roderick warf ein paar dürre Zweige in die Glut und hoffte, es so wieder entfachen zu können.
Obwohl er wusste, dass er ein miserabler Koch war, erhitzte er in dem Topf etwas Wasser. Der Eintopf von gestern Abend war aufgegessen, sonst hätte er ihn aufwärmen können. Roderick schnitt ein paar Fleischstücke klein und kochte sie im Wasser. Dann würzte er sie mit etwas, von dem er selbst nicht genau wusste, was es war, doch er hatte Jolyon beobachtet, wie er die getrockneten, kleingeriebenen Blätter ins Wasser geworfen hatte. Roderick hatte ein paar Beeren gesammelt und warf sie ebenfalls ins Wasser.
Als Jolyon aufwachte und sah, dass Roderick kochte, entgleisten ihm einen Moment die Gesichtszüge und grinste Roderick ihn an. Jolyon setzte sich auf und wollte etwas sagen, doch er klappte den Mund wieder zu, ohne ein Wort herausgebracht zu haben. Roderick wandte sich seinem Eintopf zu und rührte darin herum.
Anschließend teilte er den Eintopf auf drei Teller auf und gab die Teller an Radzak und Jolyon. Er beobachtete sie, wie sie die ersten Löffel nahmen. „Wie schmeckt’s?“, fragte er erwartungsvoll. Radzak löffelte einfach vor sich hin und mied seinen Blick, Jolyon schluckte mit einem leicht verkrampften Gesichtsausdruck. „Weißt du, Roderick, bei allem Respekt…“ Er schwieg und suchte nach den richtigen Worten. „Das nächste Mal, wenn du Hunger hast, weckst du mich einfach, in Ordnung?“, fragte er dann. Roderick wurde rot, musste dann aber lachen. „Es ist, wenn ich ehrlich bin, eine wahre Verschwendung der Lebensmittel gewesen“, sagte Jolyon und lachte dann auch.
Radzak und Jolyon sattelten die Pferde auf, Roderick packte ihre Sachen und trat das Feuer aus. Er musste seine Rüstung wieder anlegen, wobei Jolyon ihm half, da er den linken Arm nicht heben konnte.
„kannst du den Arm noch ein bisschen höher heben?“, fragte Jolyon ihn, als er die Riemen unter Rodericks linkem Arm festzog. Roderick schüttelte den Kopf. „Es geht nicht“, sagte er wütend.
Radzak war bereits aufgesessen, ließ aber sein Pferd noch grasen. Auch Roderick und Jolyon saßen auf und sie trieben ihre Pferde an. Es war nicht einfach, schnell zu Reiten, denn Rodericks Pferd trug mit ihm und der Rüstung eine schwere Last und auch das Packpferd war nicht zu überfordern. Trotzdem versuchten sie, einige Meilen im Galopp zurückzulegen. Der Weg wurde uneben und das galoppieren wurde gefährlich, also parierten sie ihre schwitzenden Pferde durch. Das Reiten war beschwerlich und langweilig. Sie waren schon einige Wochen unterwegs, doch bis sie in England ankommen würden, würden noch viele weitere vergehen.
Die Sonne stieg und gegen Mittag hielten sie an. Roderick zog seine Rüstung aus. Radzak und Jolyon gingen die Pferde gemeinsam tränken. Danach machte Jolyon Mittagessen und sie aßen. Als sie satt waren, erzählte Jolyon Roderick, dass das Wasser im Fluss hier nicht mehr so reißend war und fragte ihn, ob er mitkommen würde, schwimmen. Die beiden Männer zogen ihre Klamotten bis auf die Hosen aus und gingen ins Wasser. Radzak saß argwöhnisch am Ufer und beobachtete sie.
Sie ließen sich nur wenig Zeit zum abkühlen, dann stiegen sie wieder auf ihre Pferde und setzten ihre Reise fort. Ab jetzt ritten sie schneller und länger, da sie den Wald so bald wie möglich hinter sich lassen wollten.
Die Tage vergingen, doch sie merkten bald, dass die Pferde dieser Belastung nicht lange standhalten konnten, weshalb sie die Pferde länger ruhen ließen. Dafür verloren sie jedoch Zeit. An einem besonders heißen Tag erlaubten sie sich, bis zum Nachmittag zu bleiben. Die Pferde ließen sie ruhen. Radzak passte auf sie auf, während Jolyon und Roderick jagen gingen. Sie fingen ein Kaninchen und kehrten zum Lager zurück. Roderick nahm das Tier aus und Jolyon grillte es über dem Feuer. Anschließend teilte er das Tier in drei Teile und sie nagten das Fleisch von den Knochen.
Um die verlorene Zeit wieder wettzumachen, ritten sie bis tief in die Nacht und ignorierten den Hunger, der sich in ihren Mägen breitmachte, bis der Mond hoch am Himmel stand. Das Reiten war jetzt zu gefährlich, sie kannten den Boden nicht und ihre Pferde könnten stürzen – das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten, war, dass sich eines der Pferde ein Bein brach. Roderick ordnete also an, abzusitzen und die Pferde ins Dickicht zu führen. Sie konnten in der Dunkelheit kaum etwas erkennen und einige Male stolperten sie und die Pferde über Äste, die ihnen in der Finsternis entgangen waren. Roderick war heilfroh, als sie unverletzt ein kleines moosbewachsenes Stück freie Fläche fanden, auf dem sie sich niederlassen konnten. Sie banden die Pferde an. Um ein Feuer zu machen, war es zu dunkel, sie hatten kein Holz dabei und hätten welches suchen müssen, was ihnen jedoch zu riskant erschien, also gab es auch kein warmes Essen. Das einzige, was übrig war, waren ein paar Beeren, die sie aßen. „Morgen gehen wir jagen, bevor wir weiterziehen“, kündigte Roderick an. Er tastete sich an den Riemen unter seinem Arm entlang und öffnete die Lederschlaufen, um den Brustpanzer abzunehmen. Er schlüpfte auch aus den Beinschienen, die Armschienen und den Helm hatte er bereits abgenommen. Das Kettenhemd behielt er an, da er sehr müde war. Dann kuschelten sie sich in der Dunkelheit in ihre Decken und hofften, dass sie in der Nacht kein Tier niedertrampeln würde.
Sie erwachten früh am nächsten Morgen. Jolyon kündigte an, Wasser zum Kochen holen zu gehen, Radzak fütterte die Pferde und Roderick spannte Jolyons und seinen Bogen. Er kontrollierte die Pfeile, die jedoch allesamt intakt waren.
Roderick bemerkte, dass sich nur wenige Meter von ihnen entfernt ein Wildwechsel befand. Sie hatten also Glück, dass keine Tiere sie in der Nacht überrannt hatten. Roderick nahm seinen bogen und lief an dem Wildwechsel entlang, in der Hoffnung, ein Tier zu entdecken, blieb jedoch in Rufweite.
Roderick erwischte kein Tier, pflückte jedoch eine große Menge an Beeren, von denen er eine Hälfte in ein Tuch wickelte und es fest verschnürte. Dann ging er zurück zum Lager. Jolyon war zurückgekehrt und hatte Feuer gemacht und Wasser gekocht, um die Keime abzutöten. Er füllte es für unterwegs in ihre Flaschen und dann frühstückten sie die Beeren. Radzak, der die Pferde versorgt hatte, sagte etwas zu Roderick und zog ihn mit sich zu den Pferden. Dort zeigte er ihm, dass einem der Pferde ein Hufeisen fehlte.
Roderick klopfte ihm auf die Schulter. „Gut, dass du mir das gezeigt hast, Radzak“, sagte er, doch etwas ändern konnte er nicht. Er beschloss, darauf zu achten, ob das Pferd lahmte. Im Notfall müssten sie langsamer reiten. Sobald sie den Wald verlassen hatten, würden sie sich auf die Suche nach einem Schmied machen müssen. Roderick befahl Radzak, die Pferde zu satteln und der Junge gehorchte. Jolyon hatte das Feuer gelöscht und sie saßen auf die Pferde.
Sie schlugen ein schnelleres Tempo an und galoppierten eine lange Zeit. Hier war der Boden eben und fest, daher stellte er keine Gefahr für die Pferde dar. Auch tiefhängende Äste gab es hier nicht. Die Bäume, die den Weg zu beiden Seiten säumten, waren hochgewachsen und hautsächlich Nadelbäume. Obwohl sie die Pferde galoppieren ließen, sorgten sie dafür, dass sie sich nicht überanstrengten. Immer wieder ließen sie ihnen kleine Gehpausen und als sie an einen Bach kamen, hielten sie kurz an, um die Pferde trinken zu lassen, nahmen sich jedoch nicht die Zeit, abzusitzen.
„Ich freue mich schon wieder auf England“, sagte Jolyon und klopfte seinem Pferd den Hals. Er hatte ein breites Lächeln im Gesicht. „Ich bin froh, dass wir wieder nach Hause können. Ich wünschte, wir wären schon da.“
Auch Roderick konnte es kaum erwarten. In ein paar Tagen würden sie den Wald hinter sich gelassen haben, und dann würden sie schon bald wieder Gebiete erreichen, in denen die Bewohner ihnen freundlicher gesinnt waren, als hier.
Sie treiben ihre Pferde weiter, jetzt verlief der Bach nah am Weg entlang, sodass sie öfter kurze Pausen für die Pferde einlegen konnten. Das Wasser hier schien sauber, also tranken auch sie.
Sie waren dem Bach den ganzen Tag gefolgt und am Abend hatten sie wahrlich eine zufriedenstellende Strecke zurückgelegt. „Wenn wir in diesem Tempo weiterreiten, haben wir den Wald in zwei Tagen hinter uns gelassen“, sagte Jolyon, als er sein Pferd absattelte. „Wenn wir in diesem Tempo weiterreiten, werden wir die Pferde umbringen“, erwiderte Roderick. „Das muss eine Ausnahme bleiben. Morgen werden wir langsam reiten. Außerdem fehlt einem der Tiere ein Hufeisen.“
Sie hatten die Pferde abgesattelt und Radzak hatte Feuer gemacht. Roderick zog seine Rüstung aus, danach gingen er und Jolyon gingen auf die Jagd und hofften, ein paar Tiere zu fangen, die sie für unterwegs braten konnten, denn das Reiten machte sie hungrig und oft gingen sie mit knurrenden Mägen schlafen. Sie stellten auch einige Fallen auf, die sie morgen vor dem Frühstück kontrollieren würden.
Plötzlich machte Roderick Jolyon auf etwas aufmerksam: „Schau mal dort!“, sagte er und zeigte auf eine dünne Schnur, die zwischen den Bäumen gespannt war. Jolyon sah sie auch. „Glaubst du, das ist eine Falle?“; fragte Jolyon ihn. „Für Reiter oder Wanderer?“ Roderick zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise. Vielleicht werden wir sogar beobachtet.“ Sich der Gefahr bewusst, lief er dennoch auf die Schnur zu und zog daran. Sie war fest gespannt, ein Reiter, der in schnellem Tempo den Weg herunter eilen würde, würde von ihr vom Pferd geworfen werden. Roderick zückte sein Messer und schnitt die Schnur durch. „Was machst du da? Wenn uns nun jemand beobachtet?“, fragte Jolyon mit gedämpfter Stimme. „Dann hätte er uns mit Sicherheit schon angegriffen“, erwiderte Roderick mit normaler Stimme. „Und wir können uns aus diesem Stück Schnur eine schöne Angel bauen. Wie wäre es mit etwas Fisch zum Frühstück?“, fragte er Jolyon: „Fisch kochen kannst du doch, oder?“
Roderick hatte die Schnur an den Enden abgeschnitten und jetzt hielten sie ein knapp drei Meter langes Stück in den Händen. Sie gruben ein Stück im Boden und fanden trotz der Trockenheit einen Wurm, den sie als Köder an die Schnur banden und sie dann ins Wasser warfen. „Mal schauen, ob einer anbeißt“, sagte Roderick. Das Wasser hier war voller Fische, doch sie waren vergleichsweise klein und hektisch. In ihrer Eile würden sie den Köder vielleicht nicht einmal bemerken.
Kurz darauf, als sie dem Bach folgten, schossen sie einen Wasservogel und bald danach ein Eichhörnchen. Jolyon briet beides über dem Feuer und sie konnten sich endlich einmal wieder sattessen.
Sie saßen noch lange am Feuer, als Roderick plötzlich ein Geräusch hörte. „Hast du das auch gehört?“, fragte er Jolyon. Jolyon nickte und griff nach seinem Bogen. „Glaubst du, uns hat vielleicht doch jemand beobachtet?“, fragte er Roderick. Roderick zuckte unsicher mit den Schultern. „Kann sein“, meinte er und griff ebenfalls nach seinem Bogen. Er war sich unsicher, was er tun sollte, stand dann jedoch auf und legte einen Pfeil in den Bogen. „Vielleicht ist es auch nur ein Tier!“, sagte Jolyon. „Finden wir es heraus“, antwortete Roderick.
Er ging auf die Büsche zu, aus denen er das Geräusch gehört hatte, um sie herum war es dunkel geworden und es dauerte, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Doch dort, zwischen den Büschen, war nichts. „Ist bei dir etwas?“, fragte Jolyon. Roderick schüttelte stumm den Kopf. „Wir sind übermüdet“, sagte er zu Jolyon. „Wir sollten schlafen gehen. Je schneller wir schlafen, umso schneller können wir weiterreisen.“ Trotzdem verließ ihn das ungute Gefühl einfach nicht und das letzte, woran er dachte, bevor er einschlief, war die dünne Schnur, die sie als Angel ins Wasser geworfen hatten.
Roderick erwachte am nächsten Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen und stellte erstaunt fest, wie gut er nach einer Nacht mit vollem Magen geschlafen hatte. Das Feuer brannte noch und er legte etwas Holz nach, dann ging er zum Bach, um sich zu waschen. Als er sich das Hemd über den Kopf gezogen hatte, sah er den Fisch, der an ihrer selbstgebastelten Angel zappelte. Er sprang ins Wasser und watete zu ihm, dann zog er ihn an der Angel heraus und schmiss ihn ans Ufer. Er schlug ihn zweimal mit dem Kopf auf einen Stein, dann rührte sich der Fisch nicht mehr.
Roderick band einen weiteren Wurm an die Angel und warf sie wieder aus. Dann wusch er sich den Schweiß der vergangenen Nacht ab. Das Waser war aufgeheizt, doch nicht so heiß, wie die Luft, die schon jetzt von der Morgensonne erhitzt war. Als Roderick sich wieder anzog, sah er eine Krabbe im Fluss sitzen. Das Tier war etwas größer als seine Faust und ihm knurrte der Magen an den Gedanken daran, den ganzen Tag vielleicht nichts, als dem Fisch in den Magen zu bekommen, wo er Fisch doch sowieso nicht mochte.
Er fand einen Stock, dessen Ende spitz geformt war. Ein Unwetter musste den Ast von einem Baum abgebrochen haben und damit dem einen Ende eine spitze Form verliehen haben. Die störenden Äste entfernte Roderick, dann zielte er auf die Krabbe. Mit einer schnellen Bewegung stieß er den selbstgebastelten Speer ins Wasser und erwischte die Krabbe. Er zog sie vom Speer und legte sie zum dem Fisch. Seine Versuche, weitere Fische mit dem Speer zu erwischen, scheiterten. Die Krabbe musste langsam und unaufmerksam gewesen sein, alles Eigenschaften, die die kleinen, glitzernden Fische im Bach vor ihm nicht teilten.
Also sammelte er Fisch und Krabbe ein und ging zurück zum Lager. Jolyon schlief noch, also legte er die beiden Kadaver ab und kontrollierte die Fallen. In einer von ihnen hing ein totes Kaninchen und er nahm es mit.
Als er diesmal wieder am Lager angekommen war, war Jolyon gerade aufgewacht. „Du hast schon die Fallen kontrolliert“, sagte er zu Roderick. Roderick nickte. „Und du warst erfolgreich“, stellte Jolyon fest. Er steckte den Fisch und die Krabbe auf einen Spieß und legte diesen über das Feuer. Roderick machte sich daran, das Kaninchen auszunehmen und Jolyon würzte auch das, um es anschließend ebenso zu grillen.
Nach dem Frühstück, das sie mit den Beeren vom Vortag verfeinerten, sattelten Radzak und Jolyon die Pferde auf, während Roderick das Feuer löschte und die Reste für unterwegs einpackte. Wie beschlossen ritten sie langsamer, doch da sich die Hitze im Laufe des Tages legte und Regenwolken aufzogen, entschieden sie sich, doch etwas schneller zu reiten. Sie galoppierten nur wenige Meilen, dann begann es zu regnen, also schlugen sie ihr Lager unter einem großen, dicht bewachsenen Baum auf. Dort war es trocken, und der Regen war nicht besonders stark, sodass sie unter dem Baum nicht nass wurden. Sie zündeten ein Feuer an und aßen die Reste des Morgens. Durch die Regenwolken, die den Himmel verhingen, war es recht schnell dunkel und obwohl es erst später Nachmittag war, schien es zu dämmern. Sie saßen am Feuer und lauschten dem Regen, der auf das Blätterdach über ihnen fiel.
Durch das andauernde Prasseln des Regens bemerkten sie auch die Geräusche um sich herum erst, als es zu spät war.
Fünf bewaffnete Männer stürmten aus dem Dickicht auf sie zu. Bevor irgendjemand der drei Männer reagieren konnte, hatten zwei der Männer ihren Bogen gespannt und ein weiterer Roderick gepackt und drückte ihn mit einem dicken Eichenstock an sich, sodass er nicht entkommen konnte. Roderick, aus seiner Starre erwacht, trat dem Mann, der ihn festhielt, gegen das Schienbein und griff nach seinem Schwert, das er glücklicherweise noch nicht ab gegürtet hatte. Die zwei Bogenschützen zielten auf Jolyon und Radzak, die nicht wagten, sich zu bewegen und Roderick rannte auf sie zu. Einer der beiden drehte sich um und schoss einen Pfeil auf ihn ab, doch Roderick hatte die Bewegung erahnt und war nach links gesprungen, sodass der Pfeil ihn zu seinem Glück um einige Zentimeter verfehlte.
Der Mann griff nach einem zweiten Pfeil, doch Roderick packte den Bogen und riss ihn ihm aus der Hand. Er wollte den Mann nicht töten, doch er musste ihn entwaffnen.
Er sah, dass Jolyon seinen eigenen Bogen erhoben hatte und auf einen der Männer zielte, der gerade mit einem Stock bewaffnet auf ihn zustürmte. Roderick wehrte den Schlag des Mannes ab, den er gerade entwaffnet hatte und schlug ihm mit der Breitseite des Schwertes auf den Kopf, sodass er benommen zu Boden ging. Als Roderick sich umdrehte, merkte er, dass der andere Bogenschütze auf ihn gezielt hatte und gerade den Pfeil losließ. Er konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und er erwartete schon den Schmerz, als jemand vor ihm auftauchte – es war Radzak. „Radzak, nein!“, schrie Roderick, als der Junge sich vor ihn warf. Der Pfeil traf Radzak unterhalb des Schlüsselbeines. Radzak taumelte, schrie und stürzte.
„Radzak!“ Roderick kniete sich neben ihn, doch er sah, dass bereits der nächste Feind auf ihn zukam. Er sprang auf und schlug mit seinem Schwert auf den Stock des Angreifers, der durch die Wucht des Aufschlages zerbrach. Der Unbewaffnete stolperte zurück und Roderick schlug mit dem Schwert nach ihm, doch der Mann wich aus. Einen zweiten Angreifer schaltete Roderick durch einen kurzen Schlagwechsel aus, indem er ihm von oben das Schwert in die Schulter schlug. Der Mann schrie auf und ging zu Boden. Als Roderick sich umdrehte, sah er, dass der Mann, den er gerade entwaffnet hatte, sein Heil in der Flucht suchte, zwei Weitere hoben ihren verletzten Kameraden hoch und schleppten ihn fort, während derjenige, dem Roderick auf den Kopf geschlagen hatte, sich aufrappelte und ihnen hinterherlief. Entweder hatten die Männer bemerkt, dass sie ihnen trotz ihrer Überzahl nicht gewachsen waren, oder sie hatten den Erfolg ihres Angriffes allein von der Schnelligkeit ihres Überraschungsangriffs ausgelegt.
Roderick wandte sich wieder Radzak zu. Jolyon kniete bereits bei ihm und redete auf ihn ein. Mit ein paar Schritten war Roderick bei ihnen. „Oh Gott, was sollen wir tun?“, fragte Jolyon ihn. Roderick wusste selbst nicht, wie er reagieren sollte. Was hatte der Arzt bei ihm getan, als er von einem Pfeil getroffen wurde? Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Aber der Pfeil musste entfernt werden. „Der Pfeil muss raus“, sagte er zu Jolyon. „Sonst stirbt er.“ Jolyon sah ihn entsetzte an. „Aber wir können unmöglich…“ Roderick schnitt ihm mit einer kurzen Geste das Wort ab. „Hilf mir, ihn zum Feuer zu tragen!“, befahl er. Sie hoben Radzak hoch und legten ihn beim Feuer ab. Sie schoben ihm eine Decke unter den Kopf und Roderick befahl Jolyon, ihn zuzudecken.
Dann schob Roderick die Spitze seines Messers ins Feuer. Sollte die Wunde zu stark bluten, würde er sie ausbrennen müssen. „Roderick, wir können das nicht machen“, sagte Jolyon zu ihm. „Ich werde die Wunde nur ausbrennen, wenn er zu verbluten droht!“, sagte Roderick. „Wir könnten ihn umbringen!“, sagte Jolyon. Er schien panisch und seine Augen zuckten nervös von Roderick zu Radzak. „Jolyon, er hat Schmerzen und sie werden nur besser werden, wenn wir den Pfeil entfernen. Ich weiß das und deswegen werde ich alles tun, um ihm zu helfen“, sagte Roderick eindringlich zu Jolyon. „Aber ich kann das nicht alleine. Du warst dabei, als sie bei mir den Pfeil entfernt haben. Du kannst mir helfen.“ Anfangs schien Jolyon nicht fassen zu können, was Roderick von ihm verlangte, doch dann sah er zu Radzak, der sich vor Schmerzen krümmte.
Roderick ging zu ihm und kniete sich neben ihn. „Alles wird gut“, versprach er ihm mit ruhiger Stimme. Radzak griff nach seiner Hand und redete mit panischer, flehender Stimme auf ihn ein, dann schloss er Rodericks Finger mit zitternden Händen um den Pfeilschaft in seiner Brust und bedeutete ihm, ihn herauszuziehen. Roderick nickte und sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Dann warf er einen Blick zu Jolyon. „Halte seine Hände fest“, befahl er. Jolyon tat, wie ihm geheißen, dann zog Roderick mit einer schnellen Bewegung an dem Pfeil. Radzak schrie auf. Roderick merkte, dass sich der Pfeil kaum bewegte. Irgendwie gelange es ihm schließlich dennoch, den Pfeil vollständig herauszudrehen.
Dann bedeckte er die Wunde mit einem Tuch. „Muss sie ausgebrannt werden?“, fragte Jolyon ihn. Roderick schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum.“ Jolyon atmete auf und ließ Radzaks Hände los. Radzak entspannte sich jetzt langsam und Roderick wischte ihm mit einer zärtlichen Bewegung die Tränen weg. „Du hättest das nicht tun sollen“, sagte er mit ruhiger Stimme zu ihm. Radzak griff nach seiner Hand, er wollte, dass Roderick bei ihm blieb. „Wasser“, flüsterte Radzak mit dünner Stimme, eines der wenigen Worte, die er kannte. „Hol ihm Wasser!“, sagte Roderick zu Jolyon und der stand auf. Er holte die Wasserflasche und gab sie Roderick, dann hängte er den Topf über das Feuer und kochte ein paar Tücher aus. „Wir werden saubere Tücher brauchen, um die Wunde zu verbinden“, sagte er, als er Rodericks Blick bemerkte. Die sauberen Tücher gab er Roderick, der damit die Wunde in Radzaks Brust bedeckte.
Radzak zuckte zusammen, doch er hielt tapfer still, während Roderick das Blut abwischte, das aus der Wunde sickerte. Jolyon setzte sich zu ihnen und tupfte Radzaks Stirn mit einem Tuch ab. Roderick ließ seine Hand einfach nur auf Radzaks Schulter ruhen und redete beruhigend mit ihm.
Es dauerte bis tief in die Nacht, bis Radzak Schlaf fand. Abwechselnd kühlten sie Radzaks Stirn mit einem Tuch, während der Junge sich unruhig hin und her wälzte. Es war stockdunkel geworden, nicht einmal der Mond schien durch die Wolken. Radzak hatte Fieber bekommen und sein Gesicht war blass.
Es war mitten in der Nacht, als Radzak aufwachte. Sein Blick war wirr und er wollte sich aufsetzen, doch Jolyon hielt ihn zurück. „Bleib liegen“, sagte er. „Schön liegen bleiben“ Er versuchte, Radzak zu beruhigen, doch es gelang ihm nicht. Radzak schien aufgebracht, redete vor sich hin, scheinbar mit sich selbst. Er wollte sich immer wieder aufsetzen, als Roderick und Jolyon ihn schließlich gemeinsam festhielten, begann er zu schreien und um sich zu schlagen. Obwohl die Männer versuchten, ihn zu beruhigen, schlug Radzak nach ihnen und schrie weiterhin.
„Was sollen wir mit ihm machen?“, fragte Jolyon Roderick. „Er ist völlig panisch.“ „Halt ihn fest, damit er sich nicht verletzt!“, befahl Roderick ihm. Radzak keuchte, sein Blick war angsterfüllt, er zitterte und warf den Kopf hin und her. Irgendwann beruhigte er sich. Sein Blick war starr und sein Körper erschlaffte. „Was ist mit ihm?“, fragte Jolyon. Roderick schlug Radzak auf die Wange, doch der Junge rührte sich nicht. „Radzak!“, sagte er. Radzak keuchte, sein Blick zuckte kurz, dann blieb er starr. „Radzak!“, rief Roderick wieder. Jolyon saß regungslos neben ihnen.
Roderick nahm Radzaks Hand und drückte sie fest. Aus Radzaks Lungen entwich kaum noch Luft. „Ist schon gut“, flüsterte er Radzak zu. Er drehte Radzaks Kopf zu sich, so dass der Junge ihn ansah. „Alles ist gut. Ganz ruhig“, sagte Roderick zu Radzak, während der Junge nach Luft schnappte. Roderick hielt seine Hand so lange fest, bis Radzak die Augen schloss und keine Luft mehr aus seinen Lungen entwich.
Jolyon und Roderick starrten auf Radzaks leblosen Körper. Eine Ewigkeit lang sagte keiner der beiden Männer ein Wort. „Ist er tot?“, fragte Jolyon Roderick dann. Roderick nickte und legte Radzaks Hand neben seinen kleinen, leblosen Körper. Es erschien ihm als nicht richtig, ihm die Hände auf der Brust zu falten, doch er wusste nicht, was Radzak gerne gehabt hätte, weswegen er ihn nur auf die Stirn küsste und ihn dann zudeckte. Roderick stiegen langsam Tränen in die Augen, er senkte den Kopf. Jolyon neben ihm begann zu schluchzen und er drückte ihn tröstend an sich. „Ist schon gut“, tröstete er Jolyon. „Er ist jetzt an einem besseren Ort. Er ist jetzt bei seinem Gott.“ Jolyon schluchzte und vergrub das Gesicht in Rodericks Schulter und auch Roderick begann zu schluchzen.
Sie wachten über Radzak, bis der Morgen anbrach, dann beerdigten sie ihn. Sie wussten nicht, was sie tun oder sagen sollten, denn sie wussten nicht, wie eine Beerdigung bei den Sarazenen aussah, weshalb sie einfach nur schweigend an seinem Grab standen und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Radzak hatte kaum Besitztümer besessen, eigentlich nichts, außer seinen Kleidern und die hatten sie mit ihm begraben.
Irgendwann wandte Roderick sich ab und sattelte sein Pferd auf. „Kommst du?“, rief er Jolyon zu, der noch immer an Radzaks Grab stand. „Wir haben dich sehr geliebt, Radzak“, murmelte er und wandte sich dann ebenfalls ab.
Sie ritten den ganzen Tag über und nahmen keine Rücksicht auf die Pferde. Die körperliche Anstrengung tat ihnen gut und sie sprachen kaum ein Wort miteinander.
Es dauerte nur vier weitere Tage, bis sie den Wald hinter sich gelassen hatten. Bald würden sie wieder das Gebiet der Verbündeten erreichen. Roderick fühlte sich seltsam bei dem Gedanken, Radzak dort zurückgelassen zu haben, doch es war seine Heimat. Vielleicht war es Gottes Wille gewesen, dass Radzak England nicht erreichen sollte – der Wille welchen Gottes auch immer…
Sie verbrachten die Nächte jetzt häufiger in Wirtshäusern, wenn sie eines fanden, dessen Wirt sich mit Barem begnügte und keine Fragen stellte. Roderick merkte, dass es ihm gut tat, wieder in einem Bett zu schlafen und eine gute, warme Mahlzeit in den Bauch zu bekommen, doch seine Gedanken waren noch immer bei Radzak. Er konnte nicht verstehen, wieso der Junge sich für ihn geopfert hatte.
Anstatt das Pferd mit dem verlorenen Hufeisen, was Roderick letzten Endes wie ein Unglücksbote vorkam, neu zu beschlagen, verkauften sie ihre Pferde, die unter der langen Reise merklich gelitten hatten. In einem Stall kaufen sie neue, große und robuste Tiere, die gut im Futter standen und mit denen sie viele Stunden am Stück schnell reiten konnten. Roderick wollte so viele wie möglich von den Dingen loswerden, die ihn an Radzak erinnerten, den Sarazenenjungen, dessen Leben er gerettet hatte und der es dann für ihn gegeben hatte.
Sie ritten schnell und je näher sie England kamen, desto mehr hob sich ihre Stimmung. Sie waren wieder in der Lage, miteinander über das Vergangene zu sprechen und Roderick merkte, dass er Jolyon jetzt mehr brauchte, denn je. Umso härter traf es ihn, als Jolyon eines Abends, als sie in ein Wirtshaus einkehrten, von starken Bauchschmerzen berichtete. Roderick wollte einen Arzt rufen, doch Jolyon wollte sich so nah an der Heimat nicht aufhalten lassen und noch mehr Geld verschwenden. Sie waren bereits in Frankreich und in wenigen Tagen könnten sie mit dem Schiff über das Meer nach England fahren. „Ich hoffe nur, ich muss mich nicht wieder übergeben“, sagte Jolyon, als er an die Schifffahrt dachte und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Männer zogen sich aus und gingen schlafen. Roderick schlief lange und tief, Jolyon musste ihn am nächsten Tag wecken.
„Roderick, wir müssen weiter. Es ist schon nach Mittag!“, sagte er zu ihm und rüttelte ihn an der Schulter. Roderick schreckte hoch und erkannte Jolyon, der bereits angekleidet war. „Schon so spät?“, rief er. „Wieso hast du mich nicht früher geweckt?“ „Ich wollte dich schlafen lassen. Du wirkst so müde in letzter Zeit.“ Er musterte ihn lange. „Geht es dir gut?“, fragte er ihn dann. In Wirklichkeit ging es Roderick alles andere, als gut. Der Tod Radzaks hing ihm noch immer hinterher, der Kreuzzug hatte sich schmerzhaft und unabänderlich in sein Gedächtnis gebrannt und auch seine Gefangenschaft in Akkon bereitete ihm so manchen Albtraum.
Roderick schüttelte abwehrende den Kopf, er wollte Jolyon nicht mit seinen Sorgen bedrücken. „Mir… Mir geht es gut“, sagte er und vermied es, Jolyon dabei in die Augen zu sehen.
Als er sich wusch und anzog, erkannte er in dem Spiegelbild der Wasseroberfläche, wie sehr er sich verändert hatte. Er sah um viele Jahre älter aus. Als er England verlassen hatte, war er fast noch ein Junge gewesen, jetzt, nur zwei Jahre später, war aus ihm ein erwachsener Mann geworden, der bereits die Höhen und die Tiefen des Lebens kennengelernt hatte. Schnell zog er sich das Hemd über den Kopf und legte seinen Umhang an. „Wollen wir frühstücken?“, fragte er Jolyon. Jolyon wurde rot. „Bitte um Verzeihung, ich habe schon gefrühstückt, während du geschlafen hast. Außerdem glaube ich kaum, dass du um diese Uhrzeit noch ein Frühstück bekommen wirst. Du wirst dich wohl mit einem Mittagessen zufriedengeben müssen“, sagte Jolyon.
Während Roderick aß, saß Jolyon neben ihm am Tisch und trank einen Krug Bier. Er selbst aß nur ein Stück Brot mit Käse, denn er war noch satt von dem gewaltigen Frühstück und außerdem hatte er noch immer Bauchschmerzen, von denen er jedoch hoffte, sie würden im Laufe des Tages nachlassen.
Nach dem Essen bezahlte Roderick den Wirt und sie stiegen auf ihre Pferde. Jolyon beklagte sich nicht ein Mal über die Schmerzen, obwohl sie bis zum späten Abend ritten. Als sie an einem Gasthaus knapp fünfzig Meilen entfernt Rast machten, war es schon kalt und dunkel geworden. Man spürte, dass der Herbst hereingebrochen war, denn die Bäume verloren ihre Blätter und nachts fielen die Temperaturen.
Roderick und Jolyon bekamen das letzte Zimmer, das noch frei war und verzichteten auf ein warmes Abendessen, denn die Küche hatte schon lange geschlossen. Der Wirt servierte ihnen dennoch einen Krug Wein, Brot und kaltes Fleisch. Roderick war hungrig und aß, doch Jolyon sah ihm nur dabei zu. „Hast du keinen Hunger?“, fragte Roderick ihn. Jolyon schüttelte den Kopf. „Ich habe noch immer Bauchschmerzen“, gab er zu. Roderick ließ sein Essen sinken. „Soll ich nicht doch einen Arzt holen?“, fragte er ihn, doch Jolyon wehrte ihn ab. „Wenn es dir morgen nicht besser geht, hole ich einen Arzt, ob du willst, oder nicht!“, sagte Roderick und aß auf. Dann gingen sie in ihre Zimmer und legten sich schlafen. Roderick erwachte mehrmals in der Nacht, denn Albträume und seltsame Vorahnungen quälten ihn. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie bereits am Abend einen Arzt gerufen hätten, doch jetzt war es mitten in der Nacht und Jolyon schlief. Vielleicht würde es ihm morgen tatsächlich besser gehen, so hoffte jedenfalls Roderick.
Roderick erwachte am nächsten Tag vor Jolyon und als er sich nach seinen Bauchschmerzen erkundigte, behauptete Jolyon, er würde sich besser fühlen. Als er beim Frühstück jedoch noch immer nichts aß und Roderick merkte, dass er sich in einem schlechten Zustand befand, bat er den Wirt, einen Arzt zu holen. „Du bist krank, Jolyon, du brauchst einen Arzt, der dich untersucht“, rechtfertigte er sich und brachte seinen Freund ins Bett.
Der Arzt kam und untersuchte Jolyon. Roderick selbst hatte schon eine böse Vorahnung gehabt, als Jolyon von Bauchschmerzen gesprochen hatte und auch der Arzt konnte anhand der Symptome bald eine eindeutige, niederschmetternde Diagnose stellen: „Es handelt sich hier vermutlich um die Seitenkrankheit“, erklärte der Arzt. Roderick, der an die Wand gelehnt stand, fragte: „Seid Ihr Euch da sicher?“ „Ja, Mylord“, antwortete der Arzt. Jolyon verstand nur wenig Französisch, doch er wusste, worum es ging. „Die Seitenkrankheit?“, fragte er Roderick auf Englisch. „Das hat er doch gesagt, oder?“ Roderick nickte, sah ihm aber nicht in die Augen. „Ich danke Euch“, sagte er dann schnell und bezahlte den Arzt, der ihn überrascht ansah. „Eure Hilfe ist nicht weiter vonnöten“, sagte Roderick und führte den Arzt hinaus. Er schloss schnell hinter ihm die Tür, dann begann er, zu packen. „Was machst du da?“, fragte Jolyon ihn. „Ich werde dich zurück nach England bringen. Auf der Stelle!“, sagte er und setzte ihn auf. „Komm. Du musst es nur bis zum Stall schaffen, von dort an musst du nur noch reiten.“
Jolyon hatte so starke Schmerzen, dass er kaum laufen konnte. Auch das Reiten fiel ihm schwer, denn ihm war schwindelig und die Schmerzen schwächten ihn. Dennoch war er nicht gewillt, eine Pause einzulegen, als Roderick ihn gegen Mittag darauf ansprach. Er wollte weiterreiten und so schnell wie möglich England erreichen.
Er hielt die Schmerzen tapfer aus, doch als sie am Abend in einem Gasthaus einkehrten merkte er, wie sehr die Reise ihn geschwächt hatte. Es war kalt und stürmisch draußen, zwischenzeitlich hatte es geregnet und jetzt waren beide nass und durchgefroren. Roderick musste seinem Freund helfen, sich auszuziehen und abzutrocknen, damit er sich dann erschöpft in das warme Bett fallen lassen konnte. „Brauchst du etwas?“, fragte Roderick seinen Freund und setzte sich zu ihm ans Bett. Jolyon war blass und schwach, gleichzeitig glaube Roderick, er habe Fieber bekommen. Jolyon schüttelte den Kopf, zögerte dann jedoch. „Vielleicht etwas zu trinken… Ich habe Durst“, sagte er und Roderick nickte. Dann verließ er das Zimmer und bestellte beim Wirt einen großen Krug Bier, den er Jolyon ans Bett brachte. „Trink nur“, sagte er. „Wenn du ihn brauchst, bestelle ich noch einen.“ Jolyon trank trotzdem nur vorsichtig und stellte den Krug dann ab. „Danke“, sagte Jolyon zu Roderick und sah ihn lange an. Er berührte vorsichtig seinen Arm, als würde er ihm schon jetzt Trost spenden müssen. „Für alles“, sagte er dann. Roderick schwieg und starrte auf die Bettdecke, bis Jolyon ihn aufforderte: „Geh schlafen. Wenn ich etwas brauche, rufe ich nach dir.“
Roderick stand auf und legte sich ins Bett. Es dauerte lange, bis er einschlief, und er hörte schon lange Jolyons gleichmäßiges Atmen, bis er selbst endlich Ruhe fand. Er schlief durch bis zum nächsten Morgen, obwohl er nicht gut schlief. Immer wieder hatte er Albträume, in denen er von Radzaks oder von Jolyons bevorstehendem Tod träumte und sie schienen kein Ende zu finden. Als er am nächsten Tag mit dem Morgengrauen erwachte, fühlte er sich nur noch unausgeschlafener und müder, als am Abend zuvor.
Er wälzte sich in seinem Bett hin und her, als er merkte, dass Jolyon noch schlief und hing seinen Gedanken hinterher. Er fragte sich, ob er Jolyon noch lebend nach Lacock bringen könnte, ob dieser England überhaupt jemals wiedersehen würde. Er drehte den Kopf und beobachtete Jolyon. Seine dunklen Locken waren verschwitzt und sein sonst gebräuntes und rosiges Gesicht blass. Seine Wangen waren eingefallen und er sah um viele Jahre älter aus, als er eigentlich war.
Als Jolyon ein paar Stunden später aufwachte, behauptete er zwar, sich besser zu fühlen, doch Roderick glaubte ihm nicht. Roderick ging allein frühstücken, als Jolyon ihm versicherte, er würde keinen Bissen herunterbringen. Als Roderick wieder ins Zimmer kam, um zu packen, lag Jolyon auf dem Bauch im Bett und hatte das Gesicht in den Kissen vergraben. Er sah kurz auf, als Roderick hereinkam. „Ist alles in Ordnung?“, fragte dieser. Jolyon stöhnte. „Ich fühl mich nicht gut…“, gab er zu. „Ich weiß nicht, ob ich reiten kann, Roderick…“, sagte er fast verzweifelt. „Wir schaffen das schon“, versprach Roderick ihm und setzte ihn auf.
Kaum saß Jolyon aufrecht, beschleunigte sich sein Atem und er klammerte sich an Roderick. Als dieser ihn fragte, was los sei, konnte Jolyon nicht antworten, er starrte nur auf den Boden. Gleich darauf übergab er sich auf den Holzboden vor seinem Bett. Roderick konnte nichts tun, als seinen Freund festzuhalten und ihm beruhigend über den Rücken zu streicheln. Als Jolyon fertig war, gab Roderick ihm Wasser, damit er sich den Mund ausspülen konnte und rief den Wirt, damit er saubermachte.
„Ich kann nicht aufstehen, Roderick“, wimmerte Jolyon. „Ich schaffe es einfach nicht.“ Er hatte seinen Kopf an Rodericks Schulter gelehnt, unfähig, sich zu bewegen. Roderick schob trotzdem seinen Arm um Jolyons Hüfte und zog ihn mit sich hoch. „Warte!“, keuchte dieser und klammerte sich an seinen Freund. Er presste die Stirn gegen Rodericks Schulter und wartete darauf, dass die aufkommende Übelkeit abklang. Roderick bewegte ihn vorsichtig vorwärts und Jolyon fügte sich. Roderick befahl dem Wirt, einen Stallburschen die Pferde aufsatteln zu lassen und half seinem Freund die Treppe ins Wirtshaus hinunter. Dann setzte er ihn draußen auf sein Pferd und blieb bei ihm, bis man ihm sein Pferd brachte. Er bezahlte und stieg auf, dann ritten sie weiter.
Es waren jetzt nur noch wenige Meilen bis zum Meer, wenn sie schnell ritten, konnten sie noch heute Abend England erreichen. Es war früh am Nachmittag, als sie den Strand erreichten und Roderick sich nach den nächsten fahrenden Schiffen erkundigte. Er bezahlte die Überfahrt für sich und seinen todkranken Freund und brachte ihn dann auf das Schiff. Jolyon war kaum in der Lage, zu gehen, als Roderick ihm vom Pferd half und Roderick musste ihn fast tragen.
Als sie endlich wieder Land unter den Füßen hatten, legte Roderick Jolyon am Strand ab. „Jolyon, wir sind wieder zu Hause“, flüsterte er ihm zu. Eigentlich hätte er ihn sofort zu einem Arzt bringen müssen, doch er war sich nicht sicher, ob er seinen Freund soweit tragen konnte und laufen konnte Jolyon auf keinen Fall. Roderick schob seinem Freund eine zusammengefaltete Decke unter den Kopf und legte seine Stirn an die seines Freundes. „Ich fühle mich wieder besser“, sagte Jolyon und legte seine Hand auf Rodericks Rücken. „Ich bin wieder zu Hause…“ Er sah seinen Freund mit Tränen in den Augen an und lächelte. „Wir sind wieder in England.“ Roderick nickte, lächelte zurück und küsste Jolyon Trost spendend auf die Stirn.
Wenig später starb Jolyon am Strand von England in Rodericks Armen. Roderick konnte nichts tun, als bei ihm zu sitzen und ihn genauso zu verlieren, wie er zuvor Radzak verloren hatte. Als Jolyon endgültig die Augen schloss, konnte Roderick die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er hätte niemals fortgehen sollen, er hätte in England bleiben sollen, vielleicht wären Radzak und Jolyon dann noch am Leben…
Schluchzend faltete Roderick seinem Freund die Hände über der Brust, küsste ihn auf die Stirn und begrub ihn dann am Strand. Er konnte ihn nicht bis nach Lacock mitnehmen. Als Roderick sein Pferd wieder bestieg, ging im Westen bereits die Sonne unter. Roderick jedoch trieb sein Pferd an und hoffte einfach nur, so bald wie möglich Lacock zu erreichen und all die dunklen Gedanken und Geschehnisse vergessen zu können, die ihn so fest im Griff hatten.
Roderick war die ganze Nacht durchgeritten, und so erreichte er am frühen Vormittag Lacock.
Er galoppierte durch das Stadttor, ohne die Wachen zu grüßen, er ignorierte die Menschen um sich herum. Er wollte einfach nur nach Hause und seine Familie wiedersehen. Erst vor Lacock Manor zügelte er sein Pferd und ließ es anhalten. Ein Stallbursche eilte auf ihn zu und griff nach den Zügeln seines Pferdes. „Willkommen zu Hause, Mylord“, grüßte er ihn. „Eure Familie wartet schon sehnsüchtig auf Euch!“ Roderick antwortete nicht, warf dem Mann nur einen kurzen Blick zu und sprang ab. Er schritt auf das Tor zu und öffnete es. Er war kaum drinnen, da kam George auf ihn zu. „Sir, ich bin hocherfreut, Euch zu sehen“, sagte er und nahm ihm den Umhang ab. Dann wandte er sich zu einem Pagen: „Kündige das Eintreffen des Lords an!“ Der junge Mann nickte und verschwand. „Nachdem man hier hörte, dass Ihr verletzt worden ward, plagte mich ein unglaublich schlechtes Gewissen“, erzählte George weiter. „Ich sagte mir, George, du hättet ihn mitnehmen müssen, es wäre deine Pflicht gewesen, für seine Sicherheit zu sorgen. Wie froh ich bin, dass Ihr jetzt wohlauf seid!“ Roderick hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, denn er war in die Halle gelaufen, wo gerade seine Familie beim Frühstück saß. Auch Conny und ihr Ehemann waren da, außerdem sah Roderick eine Kinderwiege in einer Ecke stehen, in der er seinen Neffen vermutete.
Tränen schossen ihm in die Wangen, als seine Eltern aufblickten und ihn erkannten. „Roderick!“, rief seine Mutter und sprang auf. Noch nie hatte er seine Mutter so schnell laufen sehen. Auch Roderick lief die Treppe von der Empore hinunter und schloss Susan dann in die Arme. „Mutter“, schluchzte er. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist, ich bin so froh“, weinte seine Mutter und küsste ihn auf die Wangen und die Stirn. Auch der Rest seiner Familie war aufgesprungen und Susan ließ ihn los, damit er sie begrüßen konnte. Er umarmte seinen Vater, dann William, Conny und auch David, anschließend Alan.
„Ich kann es kaum glauben, wie groß ihr alle geworden seid“, sagte er und noch immer liefen ihm Tränen über die Wangen. „Alan, du… du bist ja ein richtiger Mann geworden“, sagte er und drückte seinen Bruder noch einmal.
Susan drehte ihn zu sich herum. „Lass dich ansehen, mein Kind“, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten. Noch immer schimmerten Tränen in ihren Augen, als sie Roderick nach möglichen Verletzungen oder ähnlichem absuchte. Als sie keine fand küsste sie ihn wieder. „Mein Sohn ist zurückgekehrt. Mein Sohn ist unverletzt“, flüsterte sie. „Du siehst so viel älter aus.“ Roderick ließ sie los und sah sich um. „Wo ist Lizzy? Ist sie bei einer Freundin?“, fragte er seine Familie. „Ich möchte sie sehen!“ Eine Weile lang herrschte bedrücktes Schweigen. Roderick begann etwas zu ahnen. „Nein…“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Das… Das ist nicht wahr, oder?“, fragte er. John drückte ihn an sich, als er zu schluchzen begann. „Sie ist kurz nachdem wir die Nachricht von deiner Gefangennahme bekommen haben an einem Fieber gestorben“, sagte er und tätschelte seinen Rücken.
Roderick konnte nicht glauben, was man ihm erzählte. Innerhalb von nur wenigen Wochen hatte er Radzak, Jolyon und seine jüngste Schwester verloren. So grausam konnte die Welt doch gar nicht sein. „Ich glaube das alles einfach nicht“, flüsterte er. John hielt ihn fest, bis er sich beruhigt hatte, dann führte er ihn an den Tisch. „Jetzt musst du uns von deiner Reise erzählen“, sagte er und versuchte ihn damit auf andere Gedanken zu bringen. „Wie geht es Jolyon und dem Sarazenenjungen? Ich kann sie hier nirgendwo entdecken!“ Erst, als Roderick erneute Tränen über die Wangen liefen, begriff John den Sinn seiner Worte. Einen Moment lang sagte niemand etwas, dann umarmte John seinen Stiefsohn ein weiteres Mal. „Ich hab versucht, sie zu beschützen, ich habe alles gegeben, was ich hatte“, weinte Roderick. „Ich… ich…“ Er zitterte, hasste sich selbst dafür, dass er Jolyon und Radzak nicht hatte helfen können. Sein Stiefvater sprach beruhigend zu ihm, während seine Familie regungslos daneben stand.
Aus den Augenwinkeln sah Roderick, wie Conny schließlich zu der Kinderwiege im Eck ging und ein kleines Bündel herausnahm. Das Bündel streckte seine Arme aus, als es seine Mutter erkannte und Conny trug es zu Roderick. „Hier“, sagte sie. „Das hier ist dein Neffe, Elijah. Möchtest du ihn halten?“, fragte sie ihn. Roderick nickte und streckte die Arme nach dem Jungen aus. Conny legte ihn ihm vorsichtig in den Arm und Roderick spürte, wie weich und leicht der kleine Junge war. „Wie alt ist er?“, fragte er Conny. „Fast ein Jahr“, antwortete sie. „Fast ein Jahr“, wiederholte er die Antwort. Der kleine Junge hatte dicke, pausbackige Wange und kleine, hellrote Lippen. Sein Haar war strohblond und seine großen Augen so blau wie Rodericks eigene.
Jetzt streckte Elijah seine kleinen Finger nach Roderick aus und umfasste damit seinen Daumen. Während die anderen sich wieder zum Frühstück setzten hielt Roderick den Kleinen. Er selbst aß nichts, er hatte keinen Hunger und er wollte viel lieber seinen Neffen im Arm halten.
Nach dem Essen kam Will zu ihm. „Hättest du Lust auf einen kleinen Übungskampf?“, fragte er seinen Bruder. „Ich möchte wissen, was du gelernt hast!“ Roderick lächelte ihn traurig an. „Ich glaube kaum, dass das geht“, sagte er. „Wieso nicht?“, fragte William ihn arglos. Roderick merkte, dass seine Familie ihm zuhörte, also wandte er sich an alle. „Der Pfeil, von dem ich in der letzten Schlacht vor Akkon verwundet wurde, hat eine Sehne in meiner linken Schulter zertrennt. Ich kann meinen linken Arm nicht mehr über die Schulter heben.“ Dann wandte er sich an Will. „Tut mir leid, kleiner Bruder, aber ich werde wohl nie wieder mit dir einen Übungskampf austragen können.“ Will sah ihn bestürzt an, er blickte zu Boden. Scheinbar schämte er sich für seine Frage und er hatte Mitleid mit seinem älteren Bruder. „Tut mir leid“, antwortete er. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass…“ „Ist schon in Ordnung“, unterbrach Roderick ihn. „Mach dir deswegen keine Sorgen. Immerhin hast du noch einen Bruder!“, sagte er und wies auf Alan. „Vielleicht wird Alan mit dir üben!“ William nickte und lächelte ihn an.
Roderick fühlte, wie in ihm Übelkeit aufkam, denn er wusste, dass er noch etwas zu erledigen hatte. „Ich… ich muss…“, sagte er und gab den kleinen Elijah hastig an William weiter. „Ich muss noch was erledigen“, sagte er und verließ die Halle.
Er durchquerte Lacock und machte sich auf den Weg zu Jolyons Familie. Ihm war übel, als er an die Tür des Hofes klopfte. Von drinnen bat ihn eine Stimme herein und er trat ein. Gwendolyn und ihre Großmutter saßen am Tisch und aßen – der Platz von Jolyons Großvater war leer. Roderick ließ mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf sinken, denn Jolyons Großvater hätte niemals eine Mahlzeit verpasst. Er musste tot sein. Wie lange war er schon tot? Musste Roderick ihnen jetzt nach dem Tod ihres Mannes und Großvaters auch noch die Nachricht vom Tod ihres Enkels und Bruders überbringen?
Er konnte jetzt wohl kaum wieder gehen, also ging er auf die beiden Frauen zu. Gwendolyn war groß geworden, sie sah aus, wie eine junge Frau. Ihr langes Haar hatte dieselbe Farbe, wie das von Jolyon und auch dieselben leichten Wellen. Wenn Roderick in ihre dunklen Augen sah, hatte er das Gefühl, Jolyon in die Augen zu sehen, weshalb er den Blickkontakt zu ihr vermied.
Er reagierte nicht auf die Begrüßungen und wartete nicht darauf, dass ihm ein Stuhl angeboten wurde, er setzte sich sofort zu ihnen an den Tisch. Eine Weile lang schwieg er und starrte nur vor sich auf den grob geschreinerten Tisch, dann begann er zu erzählen. Davon, wie Jolyon in Frankreich starke Bauchschmerzen bekommen hatte, der Arzt die Seitenkrankheit diagnostiziert hatte und wie Jolyon schließlich am Strand von England in seinen Armen gestorben war.
Als er fertig mit dem Erzählen war, liefen ihm Tränen über die Wangen. „Ich hätte ihn nicht mitnehmen dürfen und ich wünschte, ich könnte all das ungeschehen machen, doch ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier. Jolyon hat mir viele Male das Leben gerettet und ohne ihn hätte ich das Heilige Land vermutlich nie erreicht oder zumindest nicht mehr lebend verlassen. Es tut mir so unendlich leid“, sagte er langsam. Er hörte das Schluchzen von Gwendolyn und der Großmutter. Er schaute noch immer auf den Tisch. „Es tut mir leid“, wiederholte er mit Tränen in den Augen. „Ich habe versucht, ihn zu beschützen, ich schwöre es, jederzeit wäre ich an seiner Stelle gestorben… Wenn ich es gekonnt hätte…“ Er konnte nicht weiterreden, seine Stimme wurde von den Tränen, die jetzt überliefen, erstickt. „Es tut mir leid“, sagte er wieder. Er musste hier raus… Er hielt es hier nicht länger aus. Er konnte nicht bleiben. Es brachte ihn um, dieses Haus, die beiden Frauen, die Jolyon so nahe standen, die Erinnerung, die er mit diesem Hof verband. Eine seltsame Panik stieg in ihm auf, steigerte sich fast bis zur Hysterie, er hatte das Gefühl, von seinen Gedanken und Erinnerungen erschlagen zu werden. „Es… tut… mir… Leid…“, echote er emotionslos und die Worte gingen in den Gedanken, die sein Hirn durchfluteten, unter. Er schien an den Worten und Gedanken zu ersticken. Er sprang auf und verließ überstürzt das Haus.
Er hielt die Gegenwart von Jolyons Familie nicht länger aus, keine weitere Sekunde, er musste jetzt einfach allein sein, nachdenken. Er rannte durch die Gassen Lacocks, als wäre der Teufel hinter ihm her, rempelte mehrere Menschen an, ohne sich um sie zu kümmern. Er riss hastig die Tür zu Lacock Manor auf und stürmte keuchend in das Haus. Seine Schwester kam ihm in die Quere, doch er stieß sie ruppig aus dem Weg. „Roderick, was…?“, fragte sie ihn, doch Roderick rannte an ihr vorbei, die Treppe hoch. „Ist etwas passiert?“, fragte sie ihren Bruder, doch der antwortete nicht. Sie lief ihm hinterher, rief ihn, doch Roderick blieb nicht stehen. Keuchend riss er die Tür zu seinem Zimmer auf und stürzte hinein, dann schlug er die Tür hinter sich ins Schloss. Schwer atmend blieb er mit dem Rücken zur Tür stehen.
„Roderick!“ Conny klopfte an die Tür. „Ich will allein sein!“, schrie Roderick, während er an der Tür nach unten rutschte. Tränen liefen ihm über die Wangen, sein Herz raste und er fühlte sich völlig verzweifelt. Er hörte, wie Conny wieder verschwand und begann zu schluchzen.
Er wurde die Schuldgefühle nicht los, er trug die Schuld für so viele Tote und zwei davon waren Jolyon und Radzak. Radzak, der sich für ihn geopfert hatte und Jolyon, den er nie hätte mitnehmen dürfen. Er zitterte am ganzen Körper, als er wieder daran dachte, wie Jolyon in seinen Armen gestorben war und wie Radzak vor ihn gesprungen war…
Roderick schluchzte hysterisch, er konnte nicht mehr, er wollte nicht mehr. Er hielt das alles nicht mehr aus, er fühlte sich wie ein Mörder – er war ein Mörder.
Er zog zitternd die Knie an und schlug die Hände vors Gesicht. Er konnte mit dieser Schuld nicht weiterleben. Sein Blick wanderte wirr und panisch durch sein Zimmer. Es befand sich auch nach dem Wiederaufbau von Lacock Manor direkt unter dem Dach, es gab drei große Fenster in dem ansonsten recht kleinen, runden Zimmer, in dem nur Rodericks Schrank, ein Schreibtisch und ein Stuhl und außerdem auf einem teuren Teppich sein Bett standen, in zweieinhalb Metern Höhe befanden sich die Dachbalken, von denen einer Roderick und seine Schwester beim Brand fast das Leben gekostet hatte, als er herabgestürzt war. Roderick versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen, doch schließlich blieb in ihm nur ein einziger Gedanke, der nach und nach zu einem Plan heranreifte.
Es war zu viel. Radzak, Jolyon, Lizzy… Die vielen Toten auf dem Schlachtfeld… Und jetzt war er hier… Viel zu plötzlich, viel zu schnell hatte sich sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, er war zurück in einer Welt, in die er nicht mehr hineingehörte, in die er nicht mehr hineinpasste. Wie viel Zeit würde sein Stiefvater ihm lassen, bevor er ihn erneut dazu drängen würde, zu heiraten, ungeachtet seiner inneren Zerrissenheit? Sie wussten doch gar nicht, was er durchgemacht, was er gesehen hatte, sie konnten es nicht wissen… Sein Stiefvater würde es nie verstehen, niemals, er würde Roderick behandeln, als wäre nichts geschehen, doch es war etwas geschehen, so viel, was ihn jetzt langsam und qualvoll zu erdrücken schien…
Als er sich erhob, waren das Zittern und die Hysterie verschwunden, sein Herz klopfte wie verrückt. Es gab noch immer keinen Schlüssel zu seinem Zimmer, deswegen schob er seinen Schrank und seinen Tisch, alle Möbel, die er besaß, vor die Tür. Nur noch ein klarer, strukturierter Handlungsablauf blieb in ihm, den er jetzt ohne zu denken und ohne zu fühlen ausführte…
Conny hatte sich nichts dabei gedacht, als ihr Bruder in seinem Zimmer verschwunden war. Sie war gegangen und hatte sich um ihren Sohn gekümmert. Als es Mittagessen gab, bat John sie, Roderick zu holen. Sie legte Elijah in seine Kinderwiege und ging zu Rodericks Zimmer, wo sie an die Tür klopfte. Als Roderick sie nicht hereinbat, rief sie nach ihm. „Roderick, es gibt Essen.“ Keine Antwort. „Roderick?“ Wieder antwortete er nicht. Conny wusste nicht, was sie machen sollte, also ging sie wieder in die Halle. „Er antwortet mir nicht“, sagte sie und setzte sich an den Tisch, wo die anderen schon saßen. John seufzte, stand auf und ging zu Rodericks Zimmer.
„Roderick!“, rief er und klopfte an die Tür. „Komm zum Essen!“ Als nichts geschah, klopfte er wieder. „Roderick, das ist ein Befehl!“ Er drückte die Klinke herunter, doch die Tür bewegte sich nicht. „Roderick, öffne die Tür!“, rief er durch das schwere Holz der Tür. „Roderick!“ Er stemmte sich gegen die Tür, die sich einen Spalt öffnete, kaum breit genug, um die Finger hindurch zu stecken. „Junge, bist du da?“, fragte John. Im Zimmer regte sich nichts, doch John war sich sicher, dass sein Sohn hier war. Er hatte ihn doch gesehen, als er zurückgekommen war.
Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich seiner. Irgendetwas stimmte hier nicht. „William!“, rief John. „Komm her und hilf mir!“ John hörte Schritte, dann sah er, wie Will gefolgt von David und Alan die Treppe heraufkam. „Helft mir, die Tür aufzubrechen!“, befahl John. „Was ist denn mit Roderick?“, fragte Alan. „Warum kommt er nicht?“ John zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Packt mal mit an!“ Gemeinsam stemmten sie sich gegen die Tür. Auch Susan und Conny waren gekommen und Susan legte John besänftigend die Hand auf die Schulter. „Vielleicht möchte er einfach allein sein“, sagte sie. „Aber er antwortet nicht und ich mache mir Sorgen um ihn“, knurrte John. „Wenn ich sehe, dass es ihm gut geht, lassen wir ihn in Ruhe.“ George, einer der Diener, war gekommen. „Braucht Ihr Hilfe, Mylord?“, fragte er John. Dieser schüttelte den Kopf. „Nein, George, wir bekommen das zusammen schon hin.“ Die Männer schafften es, die Tür aufzustemmen, doch als die Tür aufschwang bot sich ihnen ein grauenvoller Anblick. Conny schrie und Susan drückte sie an sich, Alan vergrub das Gesicht in den Händen.
Rodericks Füße hingen einen halben Meter über dem Boden, um seinen Hals hatte er ein dickes Seil geknotet, das an den Dachbalken befestigt war. „Roderick!“ Der Schrei drang aus Wills Kehle, bevor er ihn aufhalten konnte und er stürzte auf seinen Bruder zu. „Nicht, William, fass ihn nicht an“, rief John ihm hinterher. Er wollte ihn zurückhalten, doch William hatte schon Rodericks Füße gepackt und schnitt das Seil über seinem Kopf durch, woraufhin sein Bruder ihm leblos entgegenfiel. Seine Knie gaben unter dem Gewicht nach und er legte Roderick auf den Boden vor dem Bett. „Roderick, bitte, bitte tu mir das nicht an“, flehte er und löste die Schlinge um Rodericks Hals, als könne er ihn davon wieder zum Leben erwecken, doch Roderick rührte sich nicht. „Nein… Nein“, wimmerte William. Er berührte Rodericks Gesicht, seine Wangen und seine Stirn, er rieb seine Hände. Seine Haut war noch warm, doch es war zu spät. Sein Herz schlug nicht mehr. Roderick hatte den Kreuzzug, seine Gefangennahme und die Seuchen überlebt. Dennoch hatte er jetzt, am selben Tag noch, an dem er aus den Kreuzzügen heimgekehrt war, seinen eigenen Ausweg gefunden. „Nein!“, schrie Will und drückte seinen toten Bruder fest an sich. Erst jetzt lösten sich die anderen aus ihrer Starre. Conny drückte sich an ihren Ehemann, der den Blick nicht von dem leblosen Körper seines Schwagers abwenden konnte, während er ihr beruhigend über die Haare streichelte, Susan begann zu schluchzen und schlug sich die Hände vors Gesicht. George, der noch immer in der Türe stand, murmelte leise ein Gebet und wandte den Kopf ab.
John sah in seinem Stiefsohn, der in den Armen seines jüngeren Bruders lag, nun keinen Selbstmörder mehr, sondern nur noch seinen Sohn und stürzte auf ihn zu. „Roderick!“ Er stieß William zur Seite und legte die Finger an Rodericks Mund und seine Nase, um seinen Atem zu fühlen, als er nichts fühlte, legte John den Herzschlag suchend die Hände auf Rodericks Brust, doch sein Stiefsohn war tot. „Wieso hat er das getan, Vater?“, schluchzte Will. „Wieso?“
John konnte ihm nicht antworten. Er war wie erstarrt „Niemand hier in diesem Raum wird darüber auch nur ein Wort verlieren, verstanden?“, sagte er dann nach einer Pause langsam und eindringlich, dann sah er sie alle der Reihe nach an. „Das ist ein Befehl. Ich will euer Wort darauf!“ Alle gaben ihm ihr Wort. Dann wandte er sich an George: „Hol den Arzt.“ George verneigte sich kurz und lief dann los. „Kommt herein, oder bleibt draußen, aber schließt die Tür!“, befahl John knapp. David wandte sich zu seiner Frau. „Komm mit. Es ist besser, wenn wir jetzt gehen“, sagte er und führte die schluchzende Conny weg, Susan folgte ihnen. Alan schloss hinter sich die Tür und kam näher. Er konnte nicht fassen, was sein Bruder getan hatte.
„Wieso hast du das nur getan, Roderick“, schluchzte William und drückte ihn an sich. Sein Bruder war tot. Er würde nie wieder mit ihm sprechen, nie wieder würde er mit ihm lachen. Er würde ihn niemals mit auf die Jagd nehmen. Er war tot. Gerade erst hatten sie ihn wiederbekommen und nun verloren sie ihn schon wieder.
Es dauerte lange Zeit, bis der Arzt kam. George hatte ihm keinen Grund genannt, weshalb er kommen sollte, doch als er das Zimmer sah, auf dessen Boden die zerschnittene Schlinge lag und an dessen Dachbalken noch der Strick hing, wusste er auch ohne den Toten zu sehen, was hier vorgefallen war.
Ungeachtet dessen bestach John den Arzt, damit dieser aussagte, Roderick wäre an einem Fieber gestorben und ließ ihn zusätzlich noch unter Eid schwören, niemandem von Rodericks tatsächlicher Todesursache zu erzählen, erst dann legten sie den Toten auf sein Bett. Sie behandelten ihn vorsichtig, als würde er noch leben und nur schlafen. Anschließend wuschen sie ihn, wie es Brauch war und zogen ihm dann ein Hemd mit hohem Kragen an, um die verräterischen Würgemale, die der Strick um seinen Hals hinterlassen hatte, zu verbergen. Mit allen Mitteln versuchte John, den Selbstmord seines Stiefsohns zu vertuschen, um die Ehre seiner Familie zu retten.
Jetzt, frisch gewaschen, die Würgemale rund um seinen Hals verdeckt, sah Roderick ganz friedlich aus, fast glücklich. William musterte ihn mit Tränen in den Augen und fragte sich, ob es wirklich das war, was sein Bruder gewollt hatte. Hatte er in diesem Moment die Folgen seines Handelns ermessen können? Wusste er, was er tat, als sich die Schlinge um seinen Hals zugezogen hatte? Und was war in ihm vorgegangen, dass er sich vom Tod die einzige Erlösung versprach? William wusste, dass ihm diese Fragen niemand mehr würde beantworten können. Er setzte sich an die Bettkante und nahm Rodericks Hand, er streichelte über die in der Zwischenzeit kalten, starren Finger seines Bruders.
„Vater…“, sagte Alan und griff nach einem Stück Papier, das neben dem Bett lag. Es musste heruntergefallen sein. „Sieh nur.“ Er gab es an seinen Stiefvater weiter, der es auffaltete und las. „Ist der von Roderick?“, fragte William. John schwieg eine Weile, und las, noch immer betäubt von dem Schmerz, den der unerwartete Selbstmord seines ältesten Sohnes hinterlassen hatte.
„Er schreibt nur, dass wir einem gewissen Sir Henry Geld zurückzahlen sollen, da dieser in Akkon einen Arzt für Roderick bezahlt hat“, sagte John schließlich und ließ das Papier sinken. Er notierte sich den Namen des Mannes und warf den Brief ins Feuer, um jeden Beweis für einen von Roderick selbst verschuldeten Tod zu zerstören.
Anschließend schickte John einen Boten los, der Sir Henry das Geld zurückzahlen und ihm außerdem von Rodericks Tod berichten sollten.
Sie ließen niemand anderen unbeaufsichtigt in die Nähe des Leichnams, damit niemand die Würgemale entdecken konnte. Anstatt den jungen Mann in der Kirche für alle Freunde und Verwandten zugänglich öffentlich aufzubahren, ordnete John an, dass Roderick sofort nach der Totenwache am nächsten Tag bestattet werden sollte.
Die ganze Nacht lang saßen John, Susan und die Kinder, sowie David und alle Diener des Hauses an dem Bett, auf das John Roderick mit Hilfe seiner beiden jüngeren Söhne gelegt hatte. Fast sah es tatsächlich so aus, als würde er nur schlafen und es fast gelang denen, die von Rodericks wahrem Tod wussten, sich einzureden, er wäre wirklich an einer Krankheit verstorben und ruhig eingeschlafen.
Der kleine, enge Raum war nur von ein paar weißen Wachskerzen erhellt, während Rodericks Familie um ihn herum die Totenwache abhielt und als der Morgen anbrach, kehrte der ausgeschickte Bote zurück, der Sir Henry das Geld überbracht hatte. Er drückte Sir Henrys Beileid allen Beteiligten aus und kündigte an, Sir Henry würde zur Beerdigung seines Freundes kommen.
Am späten Vormittag wurde in der Kirche ein Gottesdienst abgehalten, bei dem gesungen und gebetet wurde, anschließend wurde Roderick in einem prunkvoll verzierten Sarg zu Grabe getragen, dazu gelegt wurden seinen Bogen und die Pfeile, sein Schwert und seinen Schild, zusätzlich die Rüstung. William, seine Mutter, sein Vater und Alan ritten hinter dem Leichenzug her. Das ganze Dorf war anwesend und auch Sir Henry war in Begleitung einiger Pagen gekommen. Neben ihm stand ein junger Ritter, der scheinbar zu ihm gehörte und William fragte sich, ob er wohl auch ein Freund Rodericks gewesen war. Jedenfalls hatten beide Ritter Tränen in den Augen, als sie sahen, wie man ihren jungen Freund zu Grabe trug.
Conny stand mit ihrem Mann David, ihrem Sohn Elijah, sowie ihrer Schwiegermutter und ihrem Schwiegervaters am Rand und sah zu, wie die Männer Rodericks Sarg langsam auf das Grab zu trugen.
Gwendolyn und ihre Großmutter standen etwas abseits. Sie konnten nicht glauben, dass Roderick, direkt nachdem er ihr Haus verlassen hatte, so krank gewesen war, dass er kurz darauf verstorben war, doch sie erinnerten sich an seinen überstürzten Aufbruch und sein seltsames Verhalten, also fragten sie nicht weiter nach.
Weitere Verwandte hatte die Familie nicht eingeladen, aus Angst, sie könnten darauf bestehen, Rodericks Leichnam ein letztes Mal zu sehen und dabei die Würgemale entdecken.
Anschließend waren alle Gäste in Lacock Manor zum Essen eingeladen. William, der nun der älteste Sohn war und das Erbe antreten musste, hielt sich abseits von den anderen und blieb für sich. Er konnte noch immer nicht nachvollziehen, weshalb sein Bruder zu solch drastischen Maßnahmen gegriffen und damit sogar bereitwillig riskiert hatte, seine ganze Familie zu entehren und damit in den Ruin zu treiben. Und er wusste nicht, weshalb Roderick zu einer solch brutalen Hinrichtungsart gegriffen hatte… Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Er aß und versuchte die Gedanken an den Selbstmord seines Bruders zu verdrängen.
Dreißig Tage lang fanden jeden Tag Gottesdienste im Gedenken an Roderick statt, so lange dauerte auch die Trauerzeit.
Erst nach diesem Monat hatte Will das Gefühl, sein Leben wieder aufnehmen zu können. Rodericks ehemaliges Zimmer betrat niemand von ihnen mehr. Es war ausgeräumt worden und seine übriggebliebenen Besitztümer verbrannt. Mit einer großen Feier, die er nicht genießen konnte, trat William das Erbe seines älteren Bruders an, in dem Wissen, dass jetzt alle Last auf seinen Schultern ruhte. Am nächsten Morgen waren seine Gedanken noch immer bei Roderick. „Ich verstehe immer noch nicht, warum er das getan hat“, sagte er, als er mit Alan und seinen Eltern am Frühstückstisch saß und lustlos mit der Gabel in seinem Frühstück stocherte.
„Was meinst du?“, fragte John. „Du weißt genau, was ich meine“, sagte William aufgebracht. „Ich rede von Roderick!“ Seit dem Tod seines Bruders, hatte John nicht ein einziges Wort über ihn mehr verloren. Wenn Verwandte und Freunde vorbeikamen, um ihr Beileid zu bezeugen, sprach er jedes Mal nur davon, wie schrecklich es wäre, den ältesten Sohn an ein Fieber zu verlieren, nachdem er aus dem Gröbsten schon heraus war. Will hasste diese Lüge um Rodericks Tod, weshalb er vermied, sich an ihr zu beteiligen. Generell sprach er nicht viel und hielt sich zurück. Er trauerte lieber alleine, im Stillen, wo er seine Gedanken schweifen lassen konnte und darüber nachdenken konnte, was Roderick wohl dazu getrieben haben könnte, einen solchen Entschluss zu fassen.
John seufzte und legte das Besteck weg. „William, ich dachte wir haben uns darauf geeinigt, was passiert ist“, begann er beschwichtigend. „Roderick war krank und er ist am Fieber gestorben.“ Will schüttelte fassungslos den Kopf. „Aber das entspricht nicht der Wahrheit!“, sagte er. „William, ich möchte nichts mehr davon hören!“, sagte John laut und wandte sich wieder seinem Essen zu. „Interessiert dich denn gar nicht, was ihn dazu gebracht hat, sich das Leben zu nehmen?“, fragte Will ihn wütend. „So eine Entscheidung trifft man schließlich nicht zum ohne Grund!“ „Ich sagte, das Thema ist beendet! Da Roderick nicht in der Lage war, an die Ehre seiner Familie zu denken, als er sich wie ein wertloser Dieb erhängt hat, muss ich das nun tun“, sagte John ebenso wütend.
Will sah ihn noch immer fassungslos an. Er konnte nicht glauben, wie sein Stiefvater von Roderick sprach. „Du bist so grausam“, sagte er. „Dein Sohn hat sich das Leben genommen, und du flüchtest dich in irgendeine Lüge, nur um dich nicht mit den wahren Problemen auseinandersetzen zu müssen!“
John antwortete ihm nicht mehr, er ignorierte ihn und zerbrach eine Scheibe helles Weißbrot in seinen Händen. „Möchtest du eine Hälfte?“, fragte er William. Will schüttelte den Kopf, bestürzt über die plötzliche Gefühlskälte seines Stiefvaters. Er senkte den Kopf, aß jedoch nicht weiter, sondern saß mit grimmigem Gesicht da und wartete darauf, dass er aufstehen konnte. Schließlich sprach John ihn an. „William, weißt du, nun, da du Lord of Lacock bist, solltest du bald möglichst heiraten.“
Das war zu viel. William sprang auf, sein Stuhl stürzte nach hinten um. „Wie kannst du sowas nur sagen?“, schrie er seinen Stiefvater an. „Roderick ist gerade einen Monat tot und du sprichst vom Heiraten! Hast du nicht selbst gemerkt, wie sehr Roderick unter dir gelitten hat? Ständig hast du nur vom Heiraten gesprochen, ständig hast du ihm das Gefühl gegeben, nicht gut genug zu sein!“ John stand ebenfalls auf. „Für das, was er hätte leisten müssen, war er nicht gut genug. Er hat nicht eine Sekunde an seine Familie gedacht bei dem, was er getan hatte, und wäre er nicht bereits tot, würde ich ihn nun für diese Dummheit und Ignoranz seiner Familie gegenüber ohne weiteres totprügeln!“, sagte John laut. „Jetzt setz dich!“
William konnte sich einfach nicht beherrschen, er sprang auf seinen Stiefvater zu und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. „So etwas kannst du nicht sagen! Sag so etwas nie wieder!“, schrie er ihn mit Tränen in den Augen an. „Du hast kein Recht, so über ihn zu sprechen! Er ist nicht dein Sohn. Er hat dich immer gehasst und ich verstehe, warum! Immerzu hattest du etwas an ihm auszusetzen, es ist kein Wunder, dass er es nicht mehr ausgehalten hat! Das ist alles nur deine Schuld! Ich hasse dich ebenfalls!“ John hielt sich noch immer den Kiefer, wo sein Stiefsohn ihn mit der Faust erwischt hatte, er sah William in die Augen, doch sein drohender Blick hatte keine Wirkung mehr auf Will.
„Jetzt hör mir genau zu“, sagte William und packte John am Kragen. „Lacock gehört mir, du bist hier nur zu Gast. Du hast kein Recht auf Lacock, du bist nicht mit uns verwandt. Und wenn du bleiben willst, dann nimmst du niemals wieder Rodericks Namen in den Mund, verstanden?“, fragte er ihn drohend. „Und wenn du das nicht kannst…“ William zitterte am ganzen Körper, er holte tief Luft und spuckte seinem Stiefvater die nächsten Worte ins Gesicht. „…dann verlasse dieses Haus!“
Er ließ John los, erst jetzt wurde ihm bewusst, was er gesagt und getan hatte, doch er konnte nicht mehr zurück. John sah ihn einen Moment schweigend und mit undurchdringbarer Miene an, dann rieb er sich über den Unterkiefer und setzte sich wieder an den Tisch. Will ließ sich ebenfalls auf seinen Stuhl sinken und wandte den Blick von seinem Stiefvater. Als er vom Tisch aufstand, folgte Alan ihm. „Ich wollte dir nur sagen…“, sagte er, als sie alleine waren, „…ich bin froh, dass du John die Meinung gesagt hast.“ Dann schloss er seinen größeren Bruder in die Arme. „Ich liebe dich, kleiner Bruder“, flüsterte William ihm zu. „Ich dich auch“, sagte Alan.
Texte: enyabooks
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich möchte mich hier bei allen Menschen bedanken, die mir geholfen haben, dieses Buch entstehen zu lassen, unter anderem bei:
- Meiner Freundin Alina, die in Sachen Namen immer das letzte Wort behalten hat
- Meinem Geschichtslehrer Herr Jägersküpper, der sich in einer Mittagspause bereiterklärt hat, alle meine Fragen zu beantworten
- Meinem Deutschlehrer Herr Müller, der in seinen Ferien entsprechende Lektüren für mich herausgesucht hat, in denen ich bei Bedarf nachlesen konnte