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Impressum

Lightning Pioneer (1. Auflage 2014)

Autor: Enya Steinbrecher

Lektorat: Iris Bachmeier

Covergestaltung: Jasmin Waisburd

Bild: © Bigstockphoto.com Copyright

© 2014 Roman Verlag http://www.romanverlag.com 207

Taaffe Place, Office 3A

Brooklyn, NY 11205, USA 

 

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Trotz sorgfältigem Lektorat können sich Fehler einschleichen. Autor und Verlag sind deshalb dankbar für diesbezügliche Hinweise. Jegliche Haftung ist ausgeschlossen, alle Rechte bleiben vorbehalten

Leseprobe Kapitel 1

Um sechs Uhr weckt mich das nervtötende Piepsen meines Weckers. Ich bin versucht, ihn zu packen und gegen die Wand zu schleudern, doch ich weiß, dass meine Geschwister und ich dann den Bus verpassen würden. Also raffe ich mich auf und gehe ins Esszimmer. Dort stelle ich acht Schüsseln auf den Tisch, fülle Milch hinein und platziere Haferflocken daneben.

Mein jüngerer Bruder Justin kommt die Treppe heruntergeschlurft. „Morgen!“, sagt er und setzt sich an den Tisch. Sein müder Blick wandert über das Frühstücksgeschirr und bleibt dann an einem Punkt neben seiner Hand hängen. „Du hast die Löffel vergessen, Emily!“ Er dreht sich zu mir um. Anstatt sich mit dem Stuhl etwas nach hinten zu lehnen, wie er es sonst so oft macht, und die Löffel aus der Schublade hinter ihm zu nehmen, schaut er mich provozierend an.

Ich gehe zum Schrank und hole sieben Löffel heraus, die ich verteile. Jeder bekommt einen, außer Justin. „Haha, sehr lustig!“, meint er und schüttet sich Haferflocken in die Schüssel.

Ich gehe wieder ein Stockwerk höher, öffne die erste Tür rechts neben der Treppe und strecke den Kopf in das abgedunkelte Zimmer. „Nikki …“, flüstere ich meiner Schwester zu, um die anderen nicht zu wecken. „Du musst aufstehen.“

„Ich bin schon wach“, entgegnet meine Schwester, dreht mir den Rücken zu und vergräbt den Kopf unter dem Kopfkissen. „Dann steh jetzt auf!“, sage ich und schließe die Tür. Noch immer müde latsche ich weiter in das Zimmer meiner beiden anderen Brüder. „Jimmy, steh auf! Aber leise, Chris kann noch schlafen“, wecke ich mit gedämpfter Stimme meinen kleinen Bruder und stupse ihn an der Schulter an.

„Das ist gemein“, murmelt er und dreht sich auf die andere Seite.

„Niemand kann etwas dafür, dass du so viel Zeit brauchst! Außerdem musst du noch duschen!“, sage ich. Er grummelt etwas Unverständliches und wendet sich ab. „In fünf Minuten bist du unten, verstanden?“ Ich wuschle Jimmy durch die Haare, was er mit einem wütenden Knurren und einem Schlag nach meiner Hand quittiert. Ich schließe die Tür und gehe wieder die Treppe hinunter.

Unten ist währenddessen mein vierzehnjähriger Bruder Justin dabei, mit meinem Löffel sein Frühstück zu verspeisen. „Haha, sehr lustig“, murmle ich und hole einen achten Löffel aus der Schublade.

„Das Spiel können auch zwei spielen, Schwesterchen“, lächelt er.

Nikki kommt ins Esszimmer und setzt sich. Wenige Sekunden später ertönt von oben ohrenbetäubendes Geschrei und meine Brüder Chris und Jimmy kommen mit lautem „Fick dich!“-Gebrüll die Treppe heruntergestürmt, schlagen sich nicht minder laut in der Küche, bis Jimmy gegen die Küchenanrichte prallt und auf den Fußboden fällt, dann setzen sie ihre Rangelei noch lauter auf dem Küchenboden fort. Wenigstens muss ich jetzt den Rest meiner Geschwister nicht mehr wecken.

Um halb sieben kommen Jessy und Phillip die Treppe herunter und setzen sich an den Tisch. „Wo ist Jenny?“, frage ich sie.

„Schläft noch“, entgegnet Phillip und versucht, die Haferflocken in die Schüssel zu schütten. Es funktioniert nicht. Er schüttet die Hälfte daneben, räumt die Sauerei aber freiwillig weg. Für einen Achtjährigen ist er ziemlich vernünftig. Ich wuschle ihm zum Dank durch die roten Haare.  

„Die Milch ist leer!“, teilt Phillip mir mit, als er sich wieder setzt, und wedelt mit der leeren Milchtüte herum, weshalb er wieder aufstehen und einen Lappen holen muss.

„Du weißt doch wohl selbst, wo der Kühlschrank ist, oder?“, fragt Justin und Phillip schneidet ihm eine Grimasse, bevor er neue Milch holt.

Jimmy schreit auf, als Chris ihm in den Magen tritt. „Jetzt ist aber Schluss!“, beendet Justin streng die Rangelei und ich ziehe die beiden Streithähne an den Haaren hoch. Sie setzen sich wortlos an den Tisch, treten sich jedoch unter der Tischplatte weiter.

„Ich mag keine Haferflocken“, quengelt Jessy und betrachtet die Haferflocken mit angewidertem Blick.

„Dein Problem!“, meint Chris, der dabei ist, die Haferflocken in sich hineinzuschaufeln.

„Iss ein paar“, bitte ich Jessy und gehe hoch ins Zimmer meiner jüngsten Geschwister, Phillip, Jessy und Jenny.

Als ich die Tür öffnen will, stößt sie nach wenigen Zentimetern auf Widerstand. Da ich weiß, dass es unklug wäre, die Tür nun mit Gewalt zu öffnen, versuche ich mich durch den kleinen Spalt zu quetschen. Ich höre Plastik splittern und weiß, dass ich soeben Jessys Barbiepuppenhaus zerstört habe. Jetzt ist sowieso alles zu spät!, denke ich und reiße die Tür auf. Ich untersuche kurz den Schaden am Barbiehaus – ich hoffe, ich kann das wieder kleben –, dann durchsuche ich die Betten nach meiner jüngsten Schwester. Sie schläft nur selten in ihrem eigenen Bett, obwohl sie bereits sechs ist, und in Phillips Bett finde ich sie schließlich. Sie hat sich fast vollkommen unter der Decke versteckt, doch ihr blonder Wuschelkopf verrät sie.

„Aufstehen, Jenny!“, sage ich und ziehe die Decke weg. Sie wehrt sich und zieht die Decke wieder zu sich. Ich ziehe sie wieder weg. Dann hebe ich sie hoch und trage sie die Treppe hinunter, obwohl sie sich heftig zur Wehr setzt.

Unten sind Phillip und Jessy dabei, sich gegenseitig Haferflocken ins Gesicht zu schmieren. Ich setze Jenny auf einen Stuhl und nehme Jessy und Phillip die Löffel weg, mit denen sie angefangen haben, aufeinander einzuschlagen. „Kann hier in der Familie eigentlich keiner vernünftig sein?“, frage ich in die Runde. Justin bekommt einen Lachanfall und auch Nikki versucht verzweifelt, sich das Lachen zu verkneifen. Chris wechselt einen amüsierten Blick mit Jimmy und Jessy, Phillip und Jenny sitzen grinsend und kichernd auf ihren Stühlen. Sie alle wissen, dass ich diejenige bin, die am unvernünftigsten ist.

Ich setze mich an den Tisch und esse. Währenddessen beobachte ich meine Geschwister. Wir sind ein bunter Haufen – acht Kinder von acht verschiedenen Vätern. Mit meinen fünfzehn Jahren bin ich die Älteste. Meine Mutter ist im Ausland berufstätig und deshalb oft nur am Wochenende zu Hause. Manchmal ist sie auch einige Wochen lang gar nicht da. Vor einigen Jahren schon hat sie einen Job in Florida bekommen und ist jetzt wieder für sechs Wochen dorthin gereist.

Hier in Chicago zu sitzen und meine Geschwister zu beaufsichtigen, während meine Mutter ihrer Arbeit nachgeht, war nie mein Plan, doch anscheinend wird das meine Bestimmung sein, bis Jenny volljährig ist – falls ich so lange leben sollte.

Ein Löffel fliegt an mir vorbei und schlägt hinter mir gegen die Wand. Scheinbar hat die kleine Jenny beschlossen, die Wut darüber, aufgeweckt worden zu sein, an mir auszulassen. Nur gut, dass ich schnelle Reflexe habe.

„Aufheben!“, befehle ich in einem Ton, der keinen Widerspruch zulässt.

Jenny steht auf und holt ihren Löffel wieder. Mein Blick wandert weiter zu Justin. Er ist mit vierzehn Jahren nach mir der Älteste. Während ich ihn darauf hinweise, dass sich ein Löffel Haferflocken in seine Haare verirrt hat, ducke ich mich ein weiteres Mal vor Jennys Löffel, der wieder auf mich zugesaust kommt. „Aufheben! Und wenn du das noch einmal machst, hast du für drei Tage Hausarrest!“, sage ich. Jenny ist sofort still und sieht mich unschuldig an, dann rutscht sie vom Stuhl und hebt ihren Löffel auf.

Nikki ist auch vierzehn, allerdings ist Justin neun Monate älter als sie. Ich weiß immer noch nicht, wie meine Mutter das hinbekommen hat.

Justin steht auf und geht in sein Zimmer, Nikki folgt ihm. Auch Chris will aufstehen, doch ich drücke ihn zurück auf den Stuhl. „Aufessen!“, sage ich und deute auf seine Schüssel, in der noch immer die Hälfte der Haferflocken liegt. Er nimmt den Löffel wieder und rührt lustlos in der Schüssel. Er ist zwölf Jahre alt, recht klein, aber immer zu Späßen aufgelegt. Das reinste Energiebündel.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist fast sieben. Wir müssen uns jetzt beeilen.

„Los, ihr müsst euch noch anziehen!“, treibe ich meine Geschwister an und erlaube damit allen, aufzustehen. Chris flitzt sofort in sein Zimmer. Jimmy stopft sich noch einen Löffel Haferflocken in den Mund. Er ist elf, hat dunkelblonde Locken und ist alles in allem ein hübscher Junge.

Ich gehe mit den drei Jüngsten die Treppe hoch. Jessy ist neun. Ich hoffe nur, dass unsere Mutter bald zurückkommt und nicht länger wegbleiben muss als geplant, denn in einem Monat und acht Tagen wird Jessy zehn – und einen Geburtstag ganz ohne Mum zu planen wäre nicht gerade das, was ich mir wünsche.

Phillip ist acht und spielt für sein Leben gern Fußball. Wenn einer von uns etwas aus seiner Zukunft machen könnte, dann wäre es Phillip. Ich bin sicher, dass er in einigen Jahren ein toller Fußballer wäre.

Jenny scheint noch immer sauer auf mich zu sein, aber schließlich kann ich nichts dafür, dass sie zur Schule muss. Sie ist erst sechs und damit die Jüngste von uns, doch sie hat eine Klappe wie eine pubertierende Sechzehnjährige. Ich schleppe sie in ihr Zimmer und reiche ihr die Klamotten, die sie heute anziehen soll. Die anderen sind soweit in der Lage, ihr Outfit selbst zu bestimmen.

Danach sprinte ich in mein Zimmer und ziehe mich an. Während die anderen sich die Zähne putzen, räume ich die Küche auf.

Dann gehe ich selbst hoch ins Badezimmer. „Ich will aber duschen!“, schreit Jessy gerade und klebt Justin eine, den das völlig kaltlässt.

„Du bist heute nicht dran“, sagt er und zieht sein T-Shirt an. Ganz kurz erhasche ich einen Blick auf seine Tattoos, dann sind sie von dem Shirt verdeckt. Er zeigt auf den Duschplan:

 

 

Montag, Mittwoch, Freitag, Sonntag: Emily, Chris, Jessy, Phillip

Dienstag, Donnerstag, Samstag: Justin, Nikki, Jimmy, Jenny

 

Jenny kommt in Unterhosen ins Bad, die Jeans in der Hand. Sie versucht, sich die Hose anzuziehen, hüpft dabei auf einem Bein herum und knallt schließlich gegen Phillip. Der verschluckt sich vor Schreck an der Zahnpasta und beginnt zu husten, wobei er seinen Zahnputzbecher umwirft und das Wasser sich über den Fußboden ergießt.

Jenny hüpft auf einem Bein weiter, tritt in die Pfütze und fällt mit einem lauten Aufschrei hin. Dabei reißt sie Chris mit zu Boden. Justin hilft Chris hoch und ich stelle Jenny auf die Füße.

„Ich nehme mal an, du hast heute nicht geduscht, oder?“, frage ich. Sie zeigt auf die nassen Flecken auf ihrem T-Shirt. „Nein, Jenny, das gilt nicht!“, sage ich genervt.

„Heute Abend!“, behauptet Jenny nach kurzem Überlegen und stopft sich ihre Zahnbürste in den Mund. „Deine Haare sind noch nass!“, sage ich zu Justin. Er zuckt mit den Schultern. „Kann ich nicht ändern!“

„Doch, du kannst sie föhnen!“, fordere ich ihn auf und stelle mich zu Jenny ans Waschbecken, um mir die Zähne zu putzen. Jessy meckert immer noch und schließlich erlaube ich ihr, sich mit einem Waschlappen abzuwaschen. Chris und Jimmy vertragen sich ausnahmsweise mal, doch dafür fangen nun Phillip und Jenny an, sich zu schlagen.

„Phillip Hawkins, verdammt noch mal!“, brülle ich und packe den Jungen an der Hand, die gerade im Begriff war, Jenny ein Büschel Haare auszureißen. Ich übe warnend etwas Druck auf seine Finger aus und er lässt Jennys Haare los. Er weiß, dass ich ihm ohne große Anstrengung die Finger brechen könnte, und er weiß, dass ich absolut keinen Spaß mehr verstehe, wenn ich eines von meinen Geschwistern mit vollem Namen anrede. Das ist sozusagen meine letzte Warnung, denn ich habe vor, meine Geschwister gut zu erziehen, damit nicht alle eine Schande für die Familie Hawkins werden.

Als wir alle soweit fertig sind, verlassen wir gemeinsam das Haus und laufen zur Bushaltestelle. Zum Glück gibt es in Chicago eine Gesamtschule, da kann ich meine Geschwister im Blick behalten.

Leseprobe Kapitel 2

  In der Pause versuche ich, meine Augen überall zu haben. Der Nachteil an der Gesamtschule ist nämlich, dass ältere und jüngere Schüler auf engstem Raum zusammengedrängt sind. Auf dem Pausenhof und in den Gängen gibt es immer wieder Streitereien, nicht nur wegen des Altersunterschieds, sondern auch, weil hier in Chicago zwei soziale Welten aufeinanderprallen: Die reichen Weißen, die ihr ganzes Leben noch nie etwas getan haben, das gegen die Regeln verstoßen oder ihrem guten Ruf schaden würde, und dann die bei den Weißen so genannten „Anderen“, die meist illegal über die Grenze gekommenen Einwanderer aus Mexiko, die jede Sekunde ihres Lebens damit verbringen, sich zu überlegen, wie sie den nächsten Tag überleben sollen.

Kinder, die in ihrem Heimatland dazu gezwungen wurden, mit fünf Jahren arbeiten zu gehen, um für ihre Familie und die vielen jüngeren Geschwister zu sorgen. Vermutlich wäre es mir genauso ergangen, wenn unsere Großeltern nicht mit meiner Mutter und ihren drei Brüdern aus Mexiko geflohen wären … Natürlich genauso illegal wie alle anderen Einwanderer. Doch uns hat das Schicksal nicht so übel mitgespielt wie vielen meiner Freunde.

Aus diesen und vielen anderen Gründen gibt es immer wieder Ärger. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, meinen Geschwistern die Angst zu ersparen, die ich aus den Gesichtern vieler Kinder hier auf dem Schulhof kenne.

Besonders Jenny behalte ich gut im Auge, denn es ist ihr erstes Jahr hier an der George-Jefferson-School und sie hat die Angewohnheit, sich immer in irgendwelche misslichen Situationen zu bringen.

Ich beobachte Jenny gerade dabei, wie sie mit einem dunkelhaarigen Mädchen auf dem Klettergerüst herumturnt, als ich eine mir bekannte Stimme schreien höre. Instinktiv fahre ich herum und sehe, wie ein etwa zwölfjähriger Junge hinter Jessy herrennt und sie aggressiv anrempelt.

Der Junge ist tatsächlich so lebensmüde, meine Schwester vor meinen Augen zu bedrohen. In mir brodelt es vor Wut und ich renne los. „Lass meine Schwester in Ruhe!“, brülle ich den Jungen an und packe ihn am Kragen. Keine zwei Sekunden später stehen Nikki und Justin neben mir. Ich bin nicht die Einzige, die einen enormen Beschützerinstinkt für ihre Familie hat.

Jenny kommt, ist jedoch so schlau, in sicherer Entfernung stehen zu bleiben, denn anscheinend hat auch der Junge, der Jessy gerade bedroht hat, einen 2,10 Meter großen Bruder mit Beschützerinstinkt und Muskeln, der jetzt urplötzlich vor mir, Nikki und Justin auftaucht.

Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass Chris sich schützend vor Jessy gestellt hat und Jimmy und Phillip neben Jenny stehen.

„Wen haben wir denn hier? Emily Hawkins, stimmt’s?“, fragt der 2,10-Meter-Typ und ich hoffe, dass das hier nicht das neueste Hawkins-Familiendrama wird. Neben ihm komme ich mir klein und machtlos vor, und obwohl ich seit drei Jahren Boxunterricht nehme, bin ich mir nicht sicher, ob ich es mit diesem Riesenkerl aufnehmen könnte. Ich frage mich, ob es sehr lächerlich wirken würde, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, lasse es dann bleiben und sage frech: „Stimmt, aber ich glaube nicht, dass dich das interessieren muss. Ich habe nur vor, meine Schwester vor deinem Rowdybruder zu beschützen!“ Der Typ lacht, was klingt, als würde ein Löwe in eine Felshöhle brüllen, und verpasst mir dann einen Stoß, dass ich nach hinten in meine beiden Geschwister taumle.

„Pass auf, wen du hier als Rowdy beschimpfst!“, warnt er mich.

„Pass du auf, wen du hier schubst!“, ruft Phillip hinter meinem Rücken und ich schließe betend die Augen. Er kann nie seine Klappe halten, und einige Leute hier auf dieser Schule sind sehr aggressiv und schrecken auch nicht davor zurück, Kinder zu verprügeln, die halb so alt und nicht einmal halb so groß wie sie sind. Instinktiv gehe ich in Angriffsposition, um meinen Bruder beschützen zu können, doch der Junge vor mir lacht nur noch einmal.

„Ruhe da hinten auf den billigen Plätzen!“, sagt er zu meinem kleinen Bruder, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Lass einfach meine Geschwister in Ruhe, okay? Dann gibt es auch kein Problem zwischen uns!“, meine ich nach einer Pause, drehe mich um und ziehe meine Geschwister hinter mir her. Ich höre noch einmal sein fieses Lachen, doch ich gehe nicht darauf ein, als er mir hinterherruft: „Komm doch her, wenn du dich traust!“

Ich ziehe Jessy zu mir. „Halt dich fern von dem Kerl!“, flüstere ich ihr zu und lasse sie dann gehen. Ich fürchte, ich habe mir gerade einen Feind gemacht, der gut einen halben Meter größer und doppelt so breit ist wie ich.

 

Nach der Schule gehe ich direkt zum Boxunterricht. „Emily, ich hab‘ tolle Neuigkeiten für dich!“, ruft mein Trainier Tommy, als ich aus der Umkleidekabine komme. „Im Juni findet ein Mädchenboxturnier statt und ich habe dich eingetragen. Du könntest natürlich immer noch zurückziehen, wenn du willst, aber ich dachte mir …“ Weiter kommt er nicht, denn ich falle ihm um den Hals.

„Oh, Tommy! Du bist der Größte!“, sage ich. Tommy streicht sich verlegen durch die Haare. „Na ja …“ Ich liebe es, ihn verlegen zu machen, denn dann wird er immer knallrot, wie eine Tomate.

Danach trainieren wir verschiedene Schläge. Nachdem ich eine Stunde auf diverse Boxsäcke eingeprügelt, Liegestütze und viele, viele andere Übungen absolviert habe, gibt Tommy mir noch die genauen Daten des Wettkampfes und ein paar Formulare mit.

Zu Hause finde ich vor der Tür einen Korb mit Einkäufen vor: Milch, Nudeln, Reis, Brot, Salat, Butter. Ich schicke einen Dank zum Himmel, dass wir unsere Nachbarin Mrs. Madinson haben. Ohne sie wären wir schon längst verhungert. Solange unsere Mutter weg ist, hat sie das Sorgerecht für uns. Anfangs hat sie noch für uns gekocht, doch inzwischen kommen wir ganz gut allein klar.

Zweimal in der Woche bringen wir unsere Schmutzwäsche zu ihr hinüber und sie wäscht und bügelt für uns, und wenn uns die Zeit nicht reicht, geht sie für uns einkaufen. Alles in allem ist sie immer für uns da, auch wenn wir versuchen, ihr nicht zu sehr zur Last zu fallen und ihre Hilfe nicht zu oft zu beanspruchen. Zum Dank gehen wir für sie einkaufen, wenn sie keine Zeit hat, im Sommer helfen wir ihr im Garten, und außerdem glaube ich, dass meine Mutter sie dafür bezahlt, dass sie sich oft viele Wochen am Stück mit uns herumschlägt. Denn freiwillig macht sie das sicher nicht, obwohl sie uns gernhat. Das würde keiner tun, egal wie sehr er uns mag.

Ich versuche, mich von Mrs. Madinson fernzuhalten, damit sie mich nicht zu sehr hasst, denn das tun die meisten Erwachsenen über kurz oder lang. Ich bin einfach zu draufgängerisch und hochgradig allergisch gegen jegliche Vorschriften und Regeln, und leider sind meine Geschwister dabei, sich in dieselbe Richtung zu entwickeln, obwohl ich immer versucht habe, sie vor allen schlechten Einflüssen zu schützen.

Ich schließe die Haustür auf und stelle den Korb in der Küche ab. Jessy sitzt am Wohnzimmertisch und macht ihre Hausaufgaben. Jenny und Phillip höre ich oben im Zimmer spielen und aus Justins Zimmer dröhnt laute Musik. Von Nikki und meinen jüngeren Brüdern ist nichts zu hören. „Nikki ist zu Celine gegangen!“, sagt Jessy, als sie meinen fragenden Blick bemerkt. „Ich geh‘ gleich zu Filippa!“, verkündet sie dann und packt ihr Schulzeug zusammen. Ich nicke und schaue auf die Uhr. Viertel vor drei. Vor sieben wird Nikki nicht zu Hause sein. Philipp hat in weniger als einer Stunde Fußballtraining, Jessy ist bis mindestens sechs bei Filippa.

Gleich darauf gehe ich die Treppe hoch und prüfe das Zimmer meiner Brüder. Jimmy sitzt hinter der Tür, eine Paintballpistole im Anschlag. Als er mich sieht, legt er den Finger an die Lippen. Den Jungen wurde hundert Mal gesagt, sie sollen mit ihren Farbpistolen nicht im Zimmer schießen, aber es ist sowohl ihnen als auch mir egal – es ist ihr Zimmer und an der Wand entstehen lustige Muster, wenn die Farbbälle ihr Ziel verfehlen und gegen die Tapete klatschen.

Als Chris mit lautem Angriffsgeheul hinter dem Bett hervorspringt, sich mit einem Überschlag abrollt, den er nur im Judo gelernt haben kann und dann dreimal hintereinander in meine Richtung feuert, schließe ich schnell die Tür und gehe in mein Zimmer. Ich hole meinen MP3-Player aus der Schublade und drehe so laut auf, dass mich Justins Musik im Nebenzimmer nicht stört.

Um kurz vor halb vier verlasse ich mit Phillip das Haus und bringe ihn zum Fußballtraining. Dann gehe ich einen schmalen Trampelpfad durch den Wald, der direkt hinter dem Stadion liegt, und lande nach zehn Minuten in einem kleinen Vorort. Hier, in der armseligsten Gegend von ganz Chicago, ist mein zweites Zuhause. Der Grund, warum die meisten in der Schule Respekt und noch mehr als Respekt vor mir haben.

Unsere Mutter kam aus Mexiko. Sie hat uns diesen Weg quasi in die Wiege gelegt. Nikki und ich hatten keine andere Chance, ebenso wenig wie Chris und Jessy sie haben werden. Doch Justin, Jimmy, Phillip und Jenny sieht man ihr mexikanisches Blut nicht an, da sie nach ihren Vätern kommen, und ich hoffe und bete für sie, dass sie es besser machen als Nikki und ich – auch wenn es für Justin bereits zu spät ist. Er ist, genauso wie Nikki und ich, bereits in einer Gang. Meine Gang ist für mich zu einer zweiten Familie geworden, doch ich würde sie jederzeit gegen ein normales Leben eintauschen, denn das Leben in einer Gang birgt viele Gefahren – einige schlimmer als andere.

Ich versuche Nikki und Justin aus dem Ärger herauszuhalten, ebenso wie den Rest meiner Geschwister. Wenn ein Familienmitglied in einer Gang ist, steht der Rest der Familie unter deren Schutz. Das ist die Regel. Ich war die Erste und ich hatte gehofft, dass es meinen Geschwistern dadurch erspart bleiben würde, in die Hände des skrupellosen Gangleaders Jason Martinez zu geraten. Doch wen Jason in seine Gewalt bekommen will, den bekommt er. Deshalb versuche ich, meine anderen Geschwister für ihn so uninteressant wie möglich zu machen.

Davon, dass Justin der Gang beigetreten war, wusste ich bis zu dem Tag nichts, an dem ich ihn versehentlich unter der Dusche gesehen habe. Bis jetzt habe ich den Anblick der neuen Tattoos, die von da an seine Mitgliedschaft in der Gang bestätigten, nicht vergessen.

Nikki kam eines Tages von allein zu mir und erzählte es. Ich hätte von ihrer Rekrutierung in die Gang nie erfahren, wenn ich nicht ihre Tattoos gesehen hätte. Beide hatten Glück gehabt. Mich dagegen hat Jason damals grün und blau schlagen lassen, bevor ich aufgenommen wurde. Das ist normal bei uns. Etwas anderes kennen wir nicht.

Ich habe versucht, Jason Martinez von Anfang an klarzumachen, dass meine Geschwister tabu sind. Er hat sich daran gehalten – Nikki und Justin sind freiwillig beigetreten. Daher hoffe ich, dass die anderen Kinder meiner Familie so viel Grips besitzen, sich von Jason fernzuhalten.

Wieder denke ich darüber nach, wie ich meiner Familie eine Zukunft sichern und meine jüngeren Geschwister vor Martinez’ Fängen bewahren kann, als ich an einem verlassenen Lagerhaus ankomme. Ich verpasse der Tür einen Tritt und gehe hinein. Jason Martinez hat mich heute herzitiert. Er sagte, er habe mit mir zu reden. Ich hoffe, dass er wirklich nur reden meint.

„Emily, chica!“, sagt er und ich lasse mich auf ein abgewetztes Sofa fallen. Ich habe versucht, meinen Geschwistern das Spanisch abzugewöhnen, wir haben den Namen von Jennys Vater angenommen – der einzige, der uns nicht im Stich gelassen hat – und versucht, wie eine amerikanische Familie zu leben. Ich rede nur hier spanisch oder in den wenigen Momenten, die ich allein mit meiner Mutter oder Justin und Nikki verbringe.

„Jason …“

„Ich habe dich heute hierhergebeten, weil ich mit dir reden will, mamacita!“ Es stört mich nicht, dass er mich mamacita nennt. Jedem anderen mexikanischen Jungen hätte ich eine geklebt, nicht jedoch Martinez. Wieder frage ich mich, ob man ihn überhaupt umbringen kann. Ich mustere den Mann, der mir gegenüber in einem dunkelbraunen Ledersessel sitzt.

Jason Martinez ist neununddreißig Jahre alt und seit zehn Jahren der Kopf der LPs, der Lightning Pioneers, wie sich die Gang nennt, in der ich bin. Er hat nachtschwarzes Haar, dunkle Augen und bronzefarbene Haut. Unter seinem abgerissenen TShirt wölben sich die Muskeln und ich weiß, dass er mir mit einer Hand den Kopf abreißen könnte, wenn er wollte. Viele Leute hier könnten das, und vielleicht könnte ich das bei einigen auch.

Die beiden Typen, die rechts und links von Jason Martinez stehen, sind gut einen Kopf größer als ich. Den rechten kenne ich aus der Schule, doch seinen Namen kenne ich nicht. Er ist in der Abschlussklasse, so wie der dunkelhaarige Junge links von Martinez. Sein Name ist Enrico und er ist mein bester Freund, schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Ich lächle Enrico an und er lächelt zurück, sagt jedoch nichts.

„Ich habe ein problema mit diesem Typen hier!“, lenkt Martinez meine Aufmerksamkeit wieder auf sich und unser Gespräch und schiebt mir einen Zettel zu, auf dem ein Name und eine Adresse stehen. „Er schuldet mir fünf Riesen. Sorg dafür, dass ich sie bis morgen habe, comprendes?“

„¡Comprendo!“, sage ich, nicke knapp, dann stehe ich auf.

„¡Un momentito, chica!“ Ich bleibe stehen und drehe mich noch einmal um. „Nimm Enrico mit. Der wird dir helfen“, sagt Martinez. Mein Herz macht einen Sprung, denn seit Enrico siebzehn ist, ist er nur noch selten mit mir unterwegs.

Er ist jetzt zu wichtig für Martinez, als dass er ihn einfach als seinen Geldeintreiber durch Chicago stromern lässt. Enrico grinst überrascht. Damit hätte er auch nicht gerechnet. Martinez dreht sich zu ihm um und Enrico lächelt glücklich. Endlich sind wir zwei wieder zusammen unterwegs, wie in guten alten Zeiten. Jason Martinez deutet ein Lächeln an. „¡Vamos! Los jetzt!“, sagt er und entlässt mich und Enrico mit einer ungeduldigen Handbewegung.

Impressum

Texte: Enya Steinbrecher
Lektorat: Iris Bachmeier
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich sieben ganz besonderen Menschen, die für mich wie meine "kleinen Geschwister" sind. Jene Menschen wissen, dass sie gemeint sind. Dieses Buch ist Preisträger beim Schreibwettbewerb meiner Schule im Jahr 2013

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