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Ein Kästchen voller Leben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Welche Macht hat das Leben, welchen Drang zu leben,
welche Kraft zu bestehen.
Es genügt schon ein Riss im harten Asphalt und

Es drängt daraus eine Blume empor.“

 

Anke Maggauer-Kirsche

 

 

 

 

 

April 2017

Fest grub sie die Zehen in den Sand. Wollte sich spüren und gleichzeitig Halt finden. Das war nicht einfach, denn eine sanfte Welle spülte den sicheren Boden unter ihren Füßen mit Leichtigkeit fort. Sie ließ den Blick in die Ferne wandern. Weit draußen auf dem Wasser streckten einige Segelboote ihre Masten herausfordernd ins Blau des Himmels. Die Sonne zauberte Lichtpunkte auf den scheinbar endlosen Wasserteppich. Das Funkeln blendete sie. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ins Dunkle flüchten, sich vergraben, diese strahlende Schönheit des Tages nicht wahrnehmen müssen. Dabei war sie hierher an den geliebten Ort gekommen, um endlich Frieden zu finden, die Schwere ihrer quälenden Gedanken abzulegen, und sei es nur für kurze Zeit. Die Wirklichkeit würde sie einholen – so oder so.

Als sie die Diagnose ihrer Krankheit schonungslos serviert bekam, war sie wie in Trance gewesen. Leukämie, das klang so banal. Ärzte, Klinik, dann die erste harte Therapie. Willenlos, gleich einer Marionette, nahm sie alles hin. Als man ihr mitteilte, dass weder Chemo noch Interferon bislang Erfolg gehabt hätten, erwachte sie aus der Trance. Wut, die spürte sie zuerst, maßlos, nagend. Warum gehorchte ihr Körper nicht? Dann kam die Verzweiflung und schließlich – schlimmer – die Resignation. Sie war hierher ans Meer gefahren, an den Ort, wo sie schon immer hatte Kraft tanken können.

Als sie die Augen wieder öffnete und den Kopf drehte, erblickte sie einen alten Mann, der langsamen Schrittes auf sie zukam. Er schaute aufs Meer. Hin und wieder blieb er stehen. Es hatte nicht den Anschein, als müsse er ausruhen, viel eher, als wolle er innehalten, um zu genießen. Auf ihrer Höhe hielt er abermals an und blickte auf sie herab.

„Ist das nicht ein wundervoller Tag heute?“

Sie war nicht in der Stimmung, Small Talk zu machen. Aber irgendetwas an seiner Haltung veranlasste sie zu antworten. Während sie sprach, war sie erstaunt über ihre Worte.

„Sie mögen diesen Tag als herrlich empfinden. Für mich ist er zu hell.“ Plötzlich empfand sie es als unhöflich, im Sand zu sitzen und zu ihm aufzuschauen. Langsam erhob sie sich. Jetzt, auf Augenhöhe, sah sie, dass sein Gesicht von zahlreichen Runzeln durchzogen war, gebräunt, so als sei er viel draußen. Strahlendblaue Augen blickten sie an. War es Mitleid, das sie in seinem Blick las? Nein, eher Sorge. Wie unnötig. Sie sorgte sich doch genug, sodass kein Raum mehr blieb für die Sorge anderer Menschen.

„Gibt es das?“, fragte er. „Zu helle Tage? Vielleicht ist es so, dass das Licht schmerzt, wenn man aus dem Dunkeln kommt.“

„Da mögen Sie recht haben“, antwortete sie zögernd. „Aber ich bin keine gute Gesellschaft, ich möchte Ihnen nicht diesen schönen Tag verderben.“

Er lächelte leicht und öffnete seine Hand. „Schauen Sie, das habe ich gefunden. Solche Exemplare sind sogar hier eine Seltenheit.“

Sie erblickte eine Schneckenmuschel, filigran, perlmuttüberzogen mit bläulichem Schimmer. Nun lächelte auch sie. „Das ist wirklich wunderschön“, flüsterte sie und strich leicht mit den Fingern über die Muschel.

„Ich werde sie meiner Tochter mitbringen“, sagte der Alte. „Haben Sie Lust, mit mir eine Tasse Tee zu trinken? Fiete macht einfach den Besten.“ Er streckte den Arm aus und wies die Dünen hinauf. „Aber ich habe mich noch nicht vorgestellt“, fuhr er fort. „Ich bin Lars Svenson.“ Er machte eine kleine Verbeugung.

Sie lächelte zum zweiten Mal an diesem Tag und wunderte sich darüber.

„Ich bin Carla, Carla Erichson. Komme aus München. Das heißt, ich lebe dort. Ursprünglich bin ich ein Kind der Küste.“

Er nickte, als sei das selbstverständlich, drehte sich um und ging den Strand hinauf Richtung Düne. Carla folgte ihm. Ihre Füße bewegten sich, ohne dass sie es bewusst wahrnahm.

Obwohl es erst April war, konnten sie draußen sitzen. Die Sonne schien ungewöhnlich warm. Beide bestellten sie den Ostfriesentee, Lars mit einer Portion Rum. Carla war erstaunt, wie leicht ihr die Unterhaltung mit dem alten Mann fiel. Sie erzählte von ihrer Arbeit als Architektin, von ihrer Tochter, die Medizin studierte und wie schwer es für das Mädchen gewesen war, als Alleinerziehende der Mutter- und der Berufsrolle gerecht zu werden. Lars konnte das gut verstehen. Auch seine Tochter hatte ihren Sohn allein betreuen und erziehen müssen.

„Ist Ihnen nicht zu warm mit der Wollmütze?“, fragte er plötzlich. Er hatte seine Kappe längst abgesetzt.

Carla erstarrte. Ein Kaleidoskop von Bildern flimmerte vor ihren Augen. Die verzweifelten Momente, als sie vor dem Spiegel gestanden war, ein dickes Haarbüschel in der Bürste, als sie hatte zusehen müssen, wie ihre Haare dünner und weniger geworden waren, was die Kopfhaut mehr und mehr durchschimmern ließ. Eines Tages hatte sie voller Zorn alle Haare ausgekämmt. Herausgerissen, was sich noch gesträubt hatte, und dann ihren Kopf kahl rasiert. Anschließend war sie in Tränen ausgebrochen. Die Haare waren weg, die Chemo sinnlos. Von dem Tag an hatte Carla eine Wollmütze getragen. Inzwischen waren die ersten Haare wieder am Sprießen, heller als vorher. Oder schien es ihr nur so, weil sie noch so dünn waren? Auf jeden Fall sah sie aus wie ein gerupftes Hühnchen.

Sie wollte auf die Frage von Lars schon den Kopf schütteln, das Nein lag ihr auf den Lippen. Doch dann – sie wusste nicht, warum – zog sie langsam die Mütze vom Kopf, ließ sie in ihrem Schoß liegen, senkte den Blick.

Beklemmendes Schweigen, dann legte Lars seine schwielige Hand auf Carlas Arm.

„Es tut mir leid, das wusste ich nicht. Eine Krankheit? Möchten Sie darüber reden?“

„Es ist Leukämie.“ Hatte sie es wirklich ausgesprochen? Einem beinahe Fremden gegenüber? Carla schaute auf, blickte in diese tiefblauen Augen, die in dem gebräunten Gesicht leuchteten. In ihnen lag ein tiefes Wissen um das Leben, auch um das Leid. Und sie begann zu erzählen. Er hörte zu, aufmerksam, anteilnehmend.

Als sie am Ende war und die Sinnlosigkeit ihres Lebens darlegte, widersprach er nicht.

„Wie lange haben Sie vor hierzubleiben?“, fragte er stattdessen.

Carla zögerte. Dann leise, belegt die Stimme: „Ich weiß nicht, ich möchte ein wenig zurückgehen auf meinen Spuren. Meine Wurzeln finden. Abstand gewinnen.“

„Darf ich Sie ein wenig dabei begleiten?“ Lars lächelte, erhob sich mühsam. „Die alten Knochen machen sich immer mehr bemerkbar. Sie haben viel ausgehalten in meinem Leben.“ Spöttisch verzog er die Mundwinkel.

Tief stand die Sonne am Horizont. Der Wind hatte aufgefrischt und es war kühler geworden. Carla fröstelte. Ein Stückweit gingen Lars und sie gemeinsam am Strand entlang. Dann trennten sie sich.

In dieser Nacht schlief Carla zum ersten Mal seit Wochen traumlos durch.

 
Sie trafen sich jeden Tag, meist am Wasser vor den Dünen, wo sie eine Weile liefen, um später gemeinsam Tee zu trinken. Einmal, als es regnete, kamen beide wie selbstverständlich zu Fiete.

Gespräche wechselten mit Schweigen. Lars drängte sie niemals zum Reden. Carla konnte in seiner Gegenwart ihren Gedanken nachhängen, ohne das Gefühl zu haben, dabei verrückt zu werden. Während sie nebeneinander herliefen, dort wo der feuchte Sand fest war und den Füßen Halt gab, erzählte er von seinem Leben, von den Höhen und Tiefen, und Carla erfuhr, dass es nicht wenige Abgründe gewesen waren. Seine Frau war früh gestorben, und er hatte seine Tochter von da an allein großgezogen. Damals, in seinem Schmerz, war er oft am Strand entlanggegangen, hatte daran gedacht, seinem Leben ein Ende zu machen. Doch da war das Kind. Eines Tages, so berichtete Lars, hatte er einen besonders schönen, fast runden Kiesel gefunden.

„Er war schneeweiß und glatt, als sei er besonders geschliffen. Ich nahm ihn mit, diesen Stein, hielt ihn in der Hand, und er fühlte sich gut an, schwer und sicher.“

Er sei weitergelaufen, und wenige Minuten später habe er eine graublaue Feder zwischen den Felsen entdeckt. Es sei ihm unmöglich gewesen, festzustellen, von welchem Vogel diese Feder stammte.

„Auch sie habe ich mitgenommen an diesem Tag, Carla. Sie war wunderschön, wie der Stein, aber so leicht. Hätte ich sie auf meine Hand gelegt, der Wind hätte sie davongetragen.“

„Was ist mit dem Stein und der Feder passiert?“ Carla hatte fasziniert zugehört.

„Ich habe beide gehütet wie einen Schatz, sie waren mir Symbole für das Leben. Der Stein für die Erdgebundenheit, die Feder für das Leichte der Seele und die Gedanken. Es mag seltsam klingen, von diesem Tag an ging es aufwärts in meinem Leben. Allerdings sind es nur Symbole. Leben, das muss man selbst wollen.“ Er hielt kurz inne, schaute in den Himmel, wo die Wolken dahinjagten und immer wieder ein Stück Blau sichtbar werden ließen.

„Dann kam der Tag, an dem ich beides meiner Tochter schenkte. Ich brauchte sie nicht mehr, diesen Stein und die Feder, aber Anna umso mehr.“

Er erzählte die traurige Geschichte von Annas kleinem Sohn Janis, der auf dem Schulweg, als er bei Grün die Straße überquert hatte, von einem Auto erfasst worden und gestorben war.
Carla schossen die Tränen in die Augen.

„Ja“, seufzte Lars. „Das Leben ist manchmal grausam. Wir hadern, stellen Fragen nach dem Warum. Vieles können wir nicht verstehen und wollen es doch so gern. Aber das Leben ist ein Geschenk. Wir dürfen es nicht aufgeben, wenn es schwierig ist.“

Carla wollte einwerfen, dass sie so ein Geschenk nicht wolle und brauche, aber Lars sprach bereits weiter.

„Anna hat den Stein und die Feder sorgsam aufbewahrt. Es sind viele Jahre vergangen. In ihrer Erinnerung – und auch in meiner – ist Janis immer gegenwärtig. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht an ihn denken. Dennoch hat Anna ein gutes starkes Leben, und sie ist dankbar dafür.“

Lars blieb stehen, griff sich an die Brust und holte tief Luft.

Carla erschrak. „Haben Sie Schmerzen? Ist alles in Ordnung?“

„Es geht schon.“ Er nahm ihren Arm und zog sie weiter. „Das Alter zeigt mir manchmal, dass es da ist.“

Am nächsten Tag kam Lars nicht an den Strand. Auch bei Fiete war er nicht, und Carla fühlte sich verlassen. Mehr als die Tage zuvor spürte sie ihre Verzweiflung. War ihr Leben zu Ende? Wie viel Zeit würde ihr bleiben? Würde sie leiden müssen? Und wie so oft kam die Wut hoch. Verdammt, sie wollte nicht sterben.

In dieser Nacht kam der Traum wieder.

Zwei riesige Fäuste strecken sich ihr entgegen und sie muss sich entscheiden, welche sich öffnen soll. Welche Faust sie auch wählt, immer sieht sie glühende Holzscheite, die auf der Hand verbrennen. Den Schmerz spürt sie körperlich. Dann die Stimme: „Keine gute Wahl!“ Die andere Faust öffnet sich und darin liegt eine glänzende Perle. Die Bilder verblassen, und Carla hört ein hämisches Gelächter.

Eine geraume Weile begleitete sie der Traum in unterschiedlichen Variationen. Immer wählte sie die falsche Faust. Sagte ihr dies, dass sie keine Chance mehr habe? Oder dass sie Entscheidungen treffen solle? Doch welche? Da gab es nichts. Jedes Mal wachte sie schweißgebadet mit klopfendem Herzen auf.

Hier am Meer war der Traum ausgeblieben, seit sie Lars kannte. Nun war der Alte einen Tag nicht erschienen, und Carla war wieder in den alten Mustern gefangen.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, erblickte sie Lars, wie er den Strand entlangwanderte. Zunächst sah sie ihn nur verschwommen. Schwankte er? Oder hatten die verdammten Medikamente schon den Sehnerv geschädigt? Carla fokussierte die Gestalt. Sie senkte die Lider, atmete tief ein. Als sie die Augen öffnete, wurden die Konturen schärfer. Es kam ihr jetzt so vor, als ginge Lars leichteren Schrittes. Kurz bevor er sie erreichte, winkte er ihr zu. Etwas verdutzt erhob sie sich von dem Felsen, auf dem sie gesessen hatte und lief zu ihm. Er sagte nichts, schaute sie nur an.

„Was ist?“, fragte sie. „Alles in Ordnung? Wo waren Sie gestern? Ich habe Sie vermisst.“

Er nickte. „Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich nicht Bescheid gesagt habe. Ich musste packen und einiges zu Hause regeln. Ich gehe für ein paar Tage ins Krankenhaus ... Oh nein, keine Sorge, nur eine Untersuchung. Man will mein Herz prüfen.“

Carla seufzte erleichtert. Dennoch Enttäuschung. Die Tage mit Lars waren wunderbar gewesen. Und nun musste er fort. Carla schüttelte den Kopf, verdrängte den Gedanken.

„Es ist wichtig“, sagte sie zu ihm, „dass Sie sich untersuchen lassen. Vielleicht bin ich noch hier, wenn Sie wiederkommen.“

„Ich wollte mich wenigstens von Ihnen verabschieden“, sagte Lars. „Und nun muss ich gehen.“

„Schon?“ Carla schluckte. „Dann wünsche ich Ihnen alles Gute.“

Lars nahm ihre Hand. Sie empfand sie als weniger runzlig und rau, aber seltsam kalt. Es war ein kurzer, flüchtiger Händedruck, dann löste er seine Hand aus ihrer. Er drehte sich um, und über die Schulter rief er ihr zu: „Tragen Sie keine Mütze, wenn es warm genug ist. Sie brauchen das nicht.“

 
Carla empfand eine Mischung aus seltsamer Unruhe und schwerer Trägheit. Nach wie vor ging sie zum Strand, verbrachte lange Zeit in den Dünen, wo es windgeschützt war. Meistens trieb sie erst die Kälte in die Pension zurück. Die Mütze hatte sie in den Koffer gepackt. Sie konnte sich jedoch nicht aufraffen, zu Fiete in die Teestube zu gehen. Am Strand begegnete sie wenigen Menschen. Es war zu früh im Jahr, um hier Urlaub zu machen.

Am dritten Tag, nachdem Lars sich von ihr verabschiedet hatte, kam plötzlich eine Frau auf sie zu. Sie war groß, schlank, lief mit weit ausholenden Schritten zielsicher zu dem Felsen, auf dem Carla wie gewohnt saß. Etwa einen Meter vor ihr blieb sie stehen. Carla schaute verwundert. Was wollte die Frau? Sie war nur wenig älter als sie.

„Sie sind Carla, nicht wahr?“ Traurig ihr Lächeln.

Carla stand auf, irritiert und sofort beunruhigt.

„Ich bin Anna“, sagte die Frau, „die Tochter von Lars. Er hat mich zu Ihnen geschickt.“

Erschrocken rief Carla: „Was ist mit ihm? Die Untersuchung ...“ Sie stockte.

„Es tut mir leid“, meinte Anna leise. „Mein Vater ist Samstagnacht gestorben. Herzinfarkt.“

Carla bekam plötzlich keine Luft mehr. Ihr Gesichtsfeld verengte sich. Der Herzschlag setzte für einen Moment aus.

„Carla! Was ist? Hören Sie mich?“ Wie aus weiter Ferne drang Annas Stimme zu ihr durch, und ihre Umgebung nahm langsam wieder Kontur an. Sie ließ sich in den Sand fallen. „Aber ... das kann nicht sein ... ich habe ... er war ...“, stammelte sie.

Anna setzte sich neben sie. „Es ist bestimmt ein Schock für Sie“, meinte sie. „Mein Vater hat mir so viel von Ihnen erzählt. Es war für ihn eine große Freude, mit Ihnen zu reden in diesen Tagen.“

„Aber er war Sonntag hier, um sich zu verabschieden“, meinte Carla fassungslos. „Er musste doch ins Krankenhaus.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Armen.

Anna legte ihr die Hand auf den Rücken. „Sie müssen sich irren, Carla. Mein Vater hätte längst zu einer gründlichen Untersuchung ins Krankenhaus gehört. Wie habe ich auf ihn eingeredet. Aber er wollte nicht.“ 

Carla hob den Kopf und sah, dass in Annas Augen Tränen standen.

„Er bat mich, Ihnen etwas zu schenken.“ Sie schluckte. Aus der Manteltasche zog sie ein mit kleinen Muscheln besetztes Holzkästchen und reichte es Carla.

„Es war meinem Vater sehr wichtig, dass ich es Ihnen gebe. Das hat er mir am Samstag im Krankenhaus gesagt, als er noch bei Bewusstsein war.“

Carla starrte das Kästchen an. Sie war völlig verwirrt, konnte nicht begreifen, was geschehen war.

„Öffnen Sie es ruhig“, sagte Anna.

Zögernd hob Carla den Deckel des Kästchens hoch und erstarrte. Darin lagen ein runder, glatter, beinahe schneeweißer Kieselstein und eine blaugraue Feder.

„Das kann ich nicht annehmen.“ Sie hielt Anna das Kästchen hin. „Ihr Vater hat mir davon erzählt, von der Bedeutung des Steines und der Feder. Sie brauchen beides doch so sehr.“

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, ich brauche sie nicht mehr, auch jetzt nicht. Mein Vater war achtundachtzig Jahre alt und herzkrank, er hatte ein gutes Leben und jetzt einen gnädigen Tod ohne langes Leiden. Es ist doch etwas Wunderbares, bis zuletzt wachen Geistes zu sein und von der Hilfe anderer unabhängig. Ich bin traurig, ja. Ich werde ihn unendlich vermissen, aber ich habe keinen Grund am Leben zu verzweifeln, so wie damals, als Janis starb. Ich denke, mein Vater hat recht. Sie brauchen Beides nötiger.“

Carla fuhr sanft mit dem Finger über den Stein. „Für die Kraft der Erde“, murmelte sie. Dann berührte sie die Feder. „Und die Leichtigkeit der Seele ...“ Sie schaute Anna an. „Das ist ein wunderbares Geschenk. Danke!“, sagte sie leise.

Die beiden Frauen blieben noch eine Weile sitzen. Irgendwann erhob sich Anna, legte Carla die Hand auf die Schulter und sagte: „Es ist schön, dass Sie keine Mütze mehr tragen.“

Dann ging sie davon.

Carla saß im Sand und schaute aufs Meer. Das Sonnenlicht flirrte zitternd übers Wasser. Am Horizont kündete ein roter Streifen, dass sie bald versinken würde, dort, wo Wasser und Himmel sich berühren. Möwen schrien dem sterbenden Nachmittag entgegen und warfen sich in immer neuen Flugkünsten gegen den Wind.

„Kraft und Leichtigkeit“, murmelte Carla, und endlich kamen die erlösenden Tränen.

 

 

März 2018

 
Lockeren Schrittes rannte Carla am Strand entlang. Es war noch kühl in diesem Jahr. Der Winter hatte einem ersten Frühlingsahnen Platz gemacht. Die Sonne traute sich immer öfter hervor. Es schien jedoch, als könne der Winter sich nicht entscheiden, endgültig zu verschwinden.

„Komm Ronja!“, rief Carla, und ihre Labradorhündin setzte in wilden übermütigen Sprüngen hinterher. Sie hatte sich Ronja vor acht Monaten aus dem Tierheim geholt. Die Hündin war ihre treue Begleiterin geworden. Nur wenn Carla zur Therapie in die Klinik musste, blieb der Hund bei ihrer Tochter.

Carla lief leichtfüßig und freute sich über ihre eigene Kraft. Endlich war sie beim Felsen angelangt und ließ sich in den Sand fallen. Ronja tobte um

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Enya Kummer
Bildmaterialien: Ein Kästchen voller Leben © Enya Kummer Das Versprechen © Enya Kummer Das verlorene Dorf https://pixabay.com/de/users/christels Für immer und ewig https://pixabay.com/de/users/MabelAmber Irrtum © Enya Kummer Der Klang der Wurzeln https://pixabay.com/de/users/Didgeman Kein Paradies auf Erden https://pixabay.com/de/users/Julius_Silver Über alle Grenzen https://pixabay.com/de/users/Hans Verstummt https://pixabay.com/de/users/MikeGoad Das könnt ihr nicht von mir verlangen https://pixabay.co
Cover: Enya Kummer
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0647-2

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