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Das verlorene Dorf




Ligurien, ein Dorf oberhalb der Küste, Sommer 2011



Mariella sitzt auf dem großen Felsen, fühlt mit ihren sorgfältig manikürten Fingern das raue Gestein, spürt den Rissen nach, die ihren Gedanken gleichen. Müde ist sie nach der anstrengenden Fahrt, die sie ohne Pause von Mailand bis hierher unternommen hat.
Zum Schluss hat sie sich verfahren, die Straße, die früher ins Dorf geführt hat, gibt es nicht mehr und irgendwie hat sie die Abzweigung von der Schnellstraße verpasst.
Stattdessen ist sie der kleinen Serpentinenstraße gefolgt, die scheinbar ins Niemandsland führt. Hier oben scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und Mariella meint, beinahe jeden Stein, jeden Baum zu kennen.
Sie lässt ihren Blick schweifen, sucht mit den Augen die alten Häuser des Dorfes. Was sie sieht, erfüllt sie mit Entsetzen und Ungläubigkeit. Seitlich unterhalb des Felsvorsprungs wird sie einer riesigen Hotelanlage gewahr. Die Straße, die dort vorbeiführt, endet bei einem großen Einkaufszentrum, etwas weiter links meint sie ein modernes Schwimmbad zu erkennen.
Vergeblich sucht sie nach dem Dorf, den kleinen Häusern, die sich einst – schief teilweise, aber harmonisch in die Landschaft integriert hatten.
Damals, vor beinahe vierzig Jahren. Die Hotelanlage passt zwar in die Landschaft, das muss sie zugeben, aber der weite Blick ist verstellt. Autoschlangen kriechen die Straße entlang und sie vermeint sogar aus der Entfernung die Motorengeräusche zu hören.
Traurigkeit überdeckt plötzlich das Gefühl der Müdigkeit und noch etwas anderes verursacht eine Beklemmung, die ihre Brust eng werden lässt, ein Hauch von einem schlechten Gewissen, ein unbestimmtes Schuldgefühl...
Was ist mit ihrem Heimatdorf geschehen?
All die Jahre, die sie nicht hier gewesen ist, hat ihre Mutter mit keinem Wort die Veränderungen erwähnt, die sich hier wohl vollzogen haben. Wenn Mariella es sich überlegt, sind sowohl die Telefonate als auch die Briefe nichtssagend gewesen und sie hat es stillschweigend hingenommen.

Etwas schwerfällig erhebt sie sich und geht zum Auto.
Sie muss ihr Dorf finden, übermorgen wird Mama beerdigt werden. Im Geiste sieht Mariella die Prozession der schwarz gekleideten Alten, die dem Sarg durch die Straßen folgen werden, hört den eintönigen Singsang und das Gemurmel der Trauernden. Nun plötzlich verspürt sie eine seltsame Sehnsucht nach eben diesen alten Riten, die sie früher so gehasst hat.

Es dämmert schon, als sie endlich das Dorf erreicht. Schnurgerade führt die Straße an den ersten modernen Häusern vorbei, viele gekennzeichnet mit Schildern, die freie oder besetzte Zimmer verkünden. Mariella ist verwirrt. Hier müsste eigentlich der Torbogen kommen, hinter dem sich die Piazza befindet, damals Treffpunkt der Männer, die vor der kleinen Trattoria gesessen, Brettspiele gespielt oder gelesen haben. Die Piazza, die umgeben gewesen ist von den alten kleinen Häusern mit den grünen Fensterläden, die sich im Sommer nie geöffnet haben. Die Piazza mit den Kübeln von Bougainvillae und Oleander, die seitlich der großen Kastanie gestanden haben.
Stattdessen mündet die Straße auf einen großen Platz, in dessen Mitte – abgetrennt hinter einem niedrigen Gitter eine Art modernes Denkmal steht. Mariella fährt im Kreis um den Platz herum, sieht Menschen in bunten Kleidern, Mototroller überholen sie, ein Hupen zeigt ihr an, dass sie zu langsam ist. Kleine Geschäfte, Cafés, Boutiquen, sogar ein Andenkenladen säumen den Weg, der den Platz umrundet. Plötzlich entdeckt Mariella zwischen den modern anmutenden Bauten und dem Gewimmel an Menschen ein altes Haus und sie lenkt den Wagen in die kleine Einfahrt. Mama, denkt sie. Warum hast du nie etwas erzählt von dem, was hier passiert ist. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Sie muss sich zusammenreißen um nicht einfach erstarrt hier stehen zubleiben vor dem Haus, in dem sie ihre ganze Kindheit und Jugend verbracht hat.
Mariella strafft die Schultern, geht zum Nachbarhaus, das neu verputzt ist. Da, sie liest beinahe erleichtert den Namen auf der Klingel: Paolo Foti.
Entschlossen drückt sie den Knopf und wartet auf den Summton. Die Tür öffnet sich und vor ihr steht ein kleiner Mann mit weißen Haaren. Mariella versucht ihr Erschrecken zu verbergen. Ja, es ist Paolo, einstmals Bürgermeister des Dorfes. Aber wie hat er sich verändert.
Natürlich sind vierzig Jahre eine lange Zeit und Mariella ist klar, dass dies an niemandem spurlos vorübergeht. Sie weiß nicht, was sie eigentlich erwartet hat. Wenn auch nicht gerade den früher kräftigen, vor Selbstbewusstsein strotzenden Mann, so doch nicht diese alte, magere Gestalt, die jetzt vor ihr steht. Das Bild will nicht in ihren Kopf, wie auch all die anderen Bilder nicht, die ihr in der kurzen Zeit hier begegnet sind.
Paolo streckt seine faltigen Hände aus, erfasst ihre, sein Griff ist fest, sein Blick herzlich.
„Mariella“, sagt er, „schön, dass du gekommen bist. Wie traurig der Anlass, es tut mir leid, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen.“
„Paolo“, sagt Mariella. Sie stockt, weiß nicht, was sie sagen soll. Fragen brennen in ihr, purzeln durcheinander in ihren Gedanken, suchen den Weg nach draußen, wollen Antworten.
Aber sie schweigt, macht nur eine hilflose Bewegung mir ihrem Kopf in Richtung der Piazza.
„Komm erst mal rein,“, meint der Alte nun. „Es ist noch so heiß draußen. Drinnen ist es angenehmer.“ Er lässt Mariellas Hände los, dreht sich um und tapst mit unsicheren Schritten ins Haus. Sie folgt ihm zögernd, und sie spürt Furcht vor dem, was sie vorfinden könnte.
Dann Erleichterung. Hier drinnen scheint wenig verändert. Es sind immer noch die alten Familienbilder, die an den Wänden im Flur hängen. Der Teppich ist abgewetzt, auch die alte Truhe an der hinteren Wand erkennt sie.
Sie sitzen in der Küche. Paolo hat ein Glas Wasser eingeschenkt, nachdem Mariella Kaffee dankend abgelehnt hat. Auch hier hat sich nicht allzu viel verändert. Ein neuer Herd und ein Kühlschrank, den es damals nicht gegeben hat. Aber der alte Tisch in der Mitte – an dem hat sie früher schon gesessen und auch die schwarzweißen Fliesen, die nun einige Risse aufweisen, kennt sie.
Sie schweigen, Mariella trinkt, aber auch das kühle Wasser kann die Trockenheit ihrer Kehle nicht lindern. Sie räuspert sich. Dann sprudeln die Worte aus ihr heraus, all die Fragen, die sie bedrängen, bahnen sich ihren Weg und sie spürt selber, wie unverständlich sie redet. Sie spricht von ihrem Entsetzen über die Veränderungen, über ihre Hilflosigkeit, nichts mehr wiederzuerkennen, über das Gefühl der Fremdheit. Am Ende ist sie erschöpft.
Sie lässt den Kopf sinken und ihr „Warum?“ wird von Tränen erstickt.
Paolo antwortet nicht sofort, legt seine raue Hand auf ihre, die ganz kalt ist, trotz der Wärme.
So sitzen sie eine Weile, das Schweigen scheint greifbar in der Dämmerung, die sich in der Küche ausbreitet, die dichter wird und Mariellas Gedanken einspinnt in eine Art Kokon aus Watte.
„Vierzig Jahre, Mariella", sagt Paolo. "All die Veränderungen müssen dich treffen wie ein Schlag, so plötzlich bist du ihnen ausgesetzt. Wir haben das langsam erlebt, Schritt für Schritt und irgendwann merkt man, dass man sich gewöhnt hat. Nein, nichts ist mehr wie früher. Nicht nur die Umgebung hat sich gewandelt, auch die Menschen sind verändert. Viele sind nicht mehr...“ Er lacht bitter. „Sie durften nicht mehr erleben, wie es ist, einen gewissen Wohlstand zu haben. Es sind andere, die partizipieren von unserem gewachsenen Dorf. Und wenn du dich richtig umschaust: Hier pulsiert das Leben...“ Er stockt, seine Worte verlieren sich im Raum. Mariella schüttelt den Kopf.
„Du verneinst? Oder willst es nicht glauben?“ Paolo klingt plötzlich ärgerlich. „Erinnerst du dich wenigstens an unsere letzte Auseinandersetzung, bevor du gingst? DU warst es, die von der Notwendigkeit des Wandels gesprochen hat. Du hast gemeint, hier sei alles verkrustet, würde in Stillstand erstarren. DU hast gefordert, wir sollten endlich aufwachen und Angebote annehmen, die uns den Tourismus eröffnen würden. Dann bist du verschwunden, hast dich all die Jahre nicht mehr blicken lassen. War es dir nicht egal, was hier geschieht?“ Seine Stimme ist mit jedem Wort lauter geworden und Mariella spürt jedes Wort wie einen Schlag, einen Schlag, der Wahrheit verkündet.
„Ich habe es nicht gewusst“, haucht sie schließlich. „Mama hat nie etwas gesagt....“
„Warum sollte sie auch?“, fragt Paolo, nun etwas ruhiger. „Du hast eine Entscheidung gefällt, die hat Anabella akzeptiert.“ Dann fügt er hinzu und es klingt traurig: „Auch wenn du in vielem Recht hattest damals, meinst du, man kann einfach weggehen und dann wiederkommen und erwarten, alles sei noch wie es gewesen ist? Und wenn verändert, dann nur zum Guten? Nein, Mariella, alles hat seinen Preis.“
Mariella nickt. „Ja“, sagt sie leise. „Mama...sie hat auch bezahlt, und ich bin verantwortlich.“
Paolo schüttelt leicht den Kopf. „Jetzt ist nicht die Zeit, sich mit Schuldgefühlen zu belasten“, meint er. „Du bist gegangen und sie hat es verstanden, mehr als sonst jemand hier. Anabella hat diesen Wandel mitgetragen. Wusstest du, dass sie sogar in dem ersten neuen Café gearbeitet hat? Nein, natürlich nicht. Sie hat dir ja nichts erzählt von all dem, was hier geschehen ist. Sie hat mir gesagt, dass du sie immer nach Mailand holen wolltest, aber was wäre da aus ihr geworden? Hättest du dich so um sie kümmern können in den letzten Jahren, so wie es Francesca hier getan hat? Sicher nicht. Es ist gut so. Nichts, was geschehen ist, lässt sich rückgängig machen.“

Während des folgenden Schweigens kriecht ein neuer Gedanke in Mariellas Kopf. Kann es sein, dass sie sich verändert hat? Dass sie des hektischen Lebens in Mailand überdrüssig geworden ist und nun geglaubt hat, hier einen Gegenpol zu finden? Ist sie wirklich so blauäugig, dass sie meint, alles könne noch beim Alten sein? Oder haben ihre Erinnerungen sich gewandelt? Sind die Bilder des Dorfes und des früheren Lebens gar nicht mehr so schrecklich, wie sie es damals empfunden hat? Muss sich nicht alles wandeln mit der Zeit? Nicht nur die äußeren Dinge, sondern auch die Menschen und ihre Einstellungen? Das Dorf, es scheint ein verlorenes. Nein, korrigiert sie sich in Gedanken, ein für mich verlorenes.

Seufzend steht sie auf. „Paolo, kann ich drüben in Mamas Haus übernachten?“
Der alte Mann erhebt sich auch und nickt. „Ich hole dir den Schlüssel, heute ist es zu spät, ins Beerdigungsinstitut zu gehen. Deine Mutter wird morgen in der Kirche aufgebahrt. Ruh dich erst mal aus.“ Er schlurft davon und kommt mit dem Schlüssel zurück, drückt ihn Mariella in die Hand und begleitet sie zur Tür.

An diesem Abend denkt sie nach, sie weiß, sie muss eine Entscheidung fällen.
Ist dieser Wandel, den das Dorf und seine Menschen erfahren haben wirklich so schlecht, oder empfindet sie es nur, weil ihre Erwartungen so enttäuscht worden sind?
Ihre Gedanken führen sie beinahe vierzig Jahre zurück zu dem Tag, als sie auch über dem Dorf auf dem Stein gesessen hat...


1972



Mariella war wütend, in ihr kochte es. Sie würde das nicht mehr aushalten können.
Ein leichter Wind kühlte ihre heiße Stirn und sie holte tief Luft.
Was war nur geschehen? Dieser Streit mit Paolo, dem Bürgermeister, diese verständnislosen Gesichter der Dorfbewohner, als sie ihre Rede gehalten hatte, Mamas Entsetzen. Nun, es war vielleicht nicht gerade der geeignete Zeitpunkt gewesen. Man hatte die alte Benedetta zu Grabe getragen. Hier wurde gestorben – am laufenden Band, wie Mariella meinte. Die dritte Beerdigung innerhalb von drei Wochen. Geboren wurde kaum noch. Piedro war nun schon beinahe zwei Jahre alt und er war das letzte Kind, das in diesem Dorf das Licht der Welt erblickt hatte.
Nichts bewegte sich hier. Einziger Höhepunkt war der sonntägliche Kirchgang. Man traf sich zum Gottesdienst, hörte beinahe immer die gleichen Worte von Pater Antonio, danach zerstreute man sich, saß auf der Piazza oder verkroch sich in seinem Haus.
Im Sommer brannte die Sonne auf die ausgestorbenen Straßen, im Winter kroch die Kälte in die Häuser. Armut, das war es, was hier vorherrschte. Man beackerte seinen kleinen Weinberg und pflegte die Gärten. Von einst 800 Seelen war die Bevölkerung in Mariellas zwanzig Lebensjahren auf gut 400 geschrumpft.
Heute war der Trauerzug wie gewohnt durchs Dorf gezogen. Schwarze Gestalten waren die Dorfstraße entlang geschlurft und sogar in der Hitze hatten die Frauen ihre Kopftücher aufgehabt. Einzig Francesca hatte darauf verzichtet und natürlich sie selbst, Mariella. Francesca war es auch gewesen, die am Grab einige persönliche Worte über Benedetta gesprochen hatte. Pater Antonio hatte wie üblich gepredigt, in der kleinen Kapelle, die wie immer überfüllt gewesen war. Eine Beerdigung ließ sich niemand entgehen, kein Wunder bei diesem eintönigen Einerlei. Beim anschließenden Treffen in der Trattoria hatte niemand mehr über die arme Benedetta geredet.
Paolo und Giancarlo hatten sich in die Haare bekommen wegen des möglichen Investors, der unterhalb des Dorfes eine Hotelanlage errichten wollte. Es ging darum, das Dorf großzügig zu verändern, touristengerecht zurechtzustutzen – wie Paolo abfällig bemerkt hatte.
Einige kleine Weinberge würden dran glauben müssen, da eine neue Zufahrtstraße geplant war. Eins würde zum anderen kommen. Paolo war strikt dagegen gewesen und jetzt hatte er dies in aller Schärfe kundgetan. Außer Giancarlo, der den Neuerungen gegenüber nicht abgeneigt war, hatte niemand etwas gesagt. Nicken, leises Murmeln, man hatte sich rasch wieder seinen Getränken zugewandt. Die Unterhaltung hatten Paolo und Giancarlo allein bestritten. Irgendwann war Mariella der Kragen geplatzt. Sie war aufgesprungen und hatte das Wort ergriffen.
„Meine Güte, was seid ihr verkrustet hier! Ihr werdet noch ersticken in eurem Altersmief. Merkt ihr denn nicht, dass ihr schon halb tot seid, wenn ihr euch gegen jeglichen Wandel sperrt? Wo sind all die jungen Menschen? Schaut mich doch nicht so entsetzt an! Es kann doch nicht in eurem Interesse sein, immer weltfremder und verbiesterter vor euch hin zu vegetieren... und…“ „Schluss jetzt, Mariella. Es reicht!“, hatte Paolo ihren Ausbruch gestoppt. „Was bildest du dir eigentlich ein? Glaubst du, du wüsstest, wie die Menschen hier fühlen, wie es ihnen geht? Was maßt du dir an mit deinen jungen Jahren! Die Menschen hier arbeiten hart, sie leben in Armut und Gottesfurcht. Was soll schlecht daran sein? Schau dir nur die Dörfer an, die nahe der Küste liegen. Aufgefressen werden sie von den Touristenströmen. Und es wird schlimmer kommen. Nein, kein Wort mehr!“, hatte er seine Rede beendet, als Mariella etwas hatte einwenden wollen.
Wortlos hatte sie sich umgedreht und den Raum verlassen.

Nun saß sie hier, immer noch zornig, entrüstet. Sie ließ ihren Blick schweifen, sah die herrliche Landschaft, die kleinen Baumgruppen zwischen den Felsen und den Weinbergen, das viele Grün, die kleinen Häuser des Dorfes, die sich an den Felsen schmiegten. Langsam wurde sie ruhiger. Mit der Ruhe kam die Gewissheit, dass sie einen Wandel vollziehen musste, in sich und ihrem Leben. Dies konnte nicht mehr ihr Platz sein, den sie Zuhause nannte. Sie war jung, fühlte sich lebendig, war voller Neugier auf das, was dieses Leben zu bieten hatte. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde das Dorf verlassen.

Ja damals war sie gegangen, verabschiedet hatte sie sich nur von ihrer Mutter, von ihrer Freundin Francesca und von Giancarlo, der traurig gesagt hatte: „Du lässt mich allein. Aber ich kann es verstehen.“ Sie hatten unter der alten Kastanie gestanden, in die sie vor sechs Jahren ihre Initialen geritzt hatten mit einem Herz außen herum. Anabella, ihre Mutter war stumm geblieben und kurz hatte Mariella gezögert. Es war nicht leicht gewesen für Mama, sie allein groß zu ziehen, nachdem ihr Vater ihre Mutter hatte sitzen lassen, einfach verschwunden war. Ein uneheliches Kind – in diesem Dorf eigentlich eine unmögliche Sache. Aber Anabella hatte sich tapfer durchgekämpft, hatte dem Gerede die Stirn geboten und irgendwann waren es die Leute überdrüssig geworden, mit Worten und Blicken ihr Missfallen zu bekunden. Man hatte sich gewöhnt und letztlich akzeptiert.
Die Mutter hatte Mariellas Zögern wohl bemerkt. „Geh nur, mein Kind“, hatte sie leise gesagt. „Das ist der Lauf der Welt, die Jungen müssen eigene Wege gehen und irgendwie hast du ja Recht. Hier bewegt sich nichts, was eine gute Zukunft versprechen könnte.“
Und Mariella war gegangen und all die Jahre nicht mehr zurückgekommen.


2011



Jetzt sitzt Mariella in der Küche des Hauses, in dem sie aufgewachsen ist. Sie macht kein Licht, die Dunkelheit tut ihr gut, lässt Raum für all die Bilder, die gleich einem Kaleidoskop vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen. Die Kastanie, denkt sie, nun ist auch sie weg und mit ihr ein Stück von meiner und Giancarlos Jugend.
Ja, sie hat den Wandel gewünscht damals, zuerst für das Dorf und dann schließlich für sich selbst. Sie hat ein ereignisreiches, interessantes Leben gehabt., beruflich zumindest. Die letzten Jahre hat sie selbständig eine Maklerfirma geleitet. Sie ist gut situiert, hat eine Eigentumswohnung in Mailand, kann sich alles leisten, was sie möchte. Sie hat sich zur Ruhe gesetzt im letzten Jahr, will ihr Leben ohne Arbeit genießen. Sie hat Freunde. Wenngleich ihr auch ein fester Partner zuweilen fehlt (ihr Lebensgefährte ist vor zwei Jahren gestorben), will sie jetzt keine neue Beziehung. Sie möchte frei sein von Pflichten und Bindungen. Ist das vermessen? Warum erschreckt sie das veränderte Dorf so sehr? Sucht sie nach ihrer Kindheit, nach den Erinnerungen, die so langsam immer mehr verblassen?
Sie geht durch das Haus, durch alle Zimmer, berührt Gegenstände, atmet den Geruch, der ihr auch nach all den Jahren vertraut scheint.
Auf einmal spürt sie erstaunt, wie sich ihr ahnendes Empfinden konkretisiert, sich etwas ins Bewusstsein drängt, das ein erstes Gefühl der Sicherheit vermittelt.. Morgen wird sie nach Savona fahren und in einer Baumschule einen kleinen Baum kaufen. Den wird sie im Garten hinter dem Haus einpflanzen. Übermorgen wird Anabella beerdigt, sie wird Abschied nehmen von ihrer Mutter und damit noch einmal von einem Stück ihrer Jugend. Sie wird in das Haus ziehen hier, vielleicht ein paar kleine Veränderungen durchführen, nicht allzu viel, und sie wird einen erneuten Wandel durchmachen und sich mit dem veränderten Dorf arrangieren. Das alte ist für sie verloren, denkt sie wehmütig.
„Aber vielleicht gewinne ich ein neues“, sagt sie laut und horcht den Worten nach, ein wenig verwundert.

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: epmuts / pixelio.de http://www.pixelio.de/index.php
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2012

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Widmung:
Beitrag zur 4. Runde des Kurzgeschichtenturniers 2012 "Wandlung ist notwendig wie die Erneuerung der Blätter im Frühling." (Vincent van Gogh)

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