Die Straße lag düster und lauernd auf den kommenden Tag und die Straßenlaternen wirkten wie kleine Inseln, die wenigstens ein bisschen Licht und Trost spendeten.
Es war Spätsommer, die Nächte begannen immer früher und die ersten Blätter zeigten sich bereits in herbstlichem Gewand.
Lukas klemmte sich die Hände unter die Achseln. Es war unverschämt kalt für diese Jahreszeit und er fror in seinem dünnen Hemd. Wenigstens hatte er auf das Kurzarmhemd verzichtet und der Wettervorhersage nicht getraut, denn sonst wäre ihm um einiges kälter. Aus dem Radio hat es noch morgens getönt, was für ein warmer und sonniger Tag bzw. milde Nacht es doch werden sollte.
Den Gedanken verdrängend, dem Sender einen Dankesbrief für die zutreffende Wettervorhersage zu schicken, konzentrierte er sich vielmehr darauf, von keiner Windböe weggeweht zu werden. Weit hatte er es immerhin nicht, denn von der Parkbucht zum eigentlichen Wohnhaus waren es gerademal fünfzig Meter. Normalerweise parkte er näher, aber irgendwo in der Nähe musste eine Veranstaltung sein und die Besucher davon hatten sich wild auf sämtliche Einwohnerparkplätze verteilt. Lukas war das jedoch im Moment alles recht egal. Er wollte nur nach Hause, schließlich hatte er wieder einige Überstunden geschoben, damit ein Thema fertig wurde. Das Thema war nicht sehr interessant gewesen, eigentlich war bisher keines der Themen, über die er geschrieben hatte, wirklich interessant gewesen, aber Lukas gefiel sein Job und er würde mit niemanden tauschen wollen.
In erster Linie freute er sich schon auf sein Bett und nicht zuletzt auf die Dame, die dieses wärmte. Er dürfte sich vermutlich wieder etwas anhören, warum es schon wieder halbzwölf geworden ist, aber selbst das war ihm im Moment egal. Ein warmes, weiches Bett war derzeit alles, an das er denken konnte.
Vorsichtig drehte er den Schlüssel im Schloss. Die Wohnung lag recht günstig im ersten Stock und die wenigen Treppen waren ein Klacks, aber für einen solchen Tag waren selbst diese zu viel. Lukas war zweimal gestolpert, ehe er schließlich die Tür mit einem metallisch klackenden Geräusch aufmachen konnte. Alle Zimmer lagen in kompletter Dunkelheit und so feuerte er seine Schuhe unschön durch den Flur, alles andere hätte zu viel Anstrengung gekostet. Morgen hätte er wenigstens frei und könnte ausschlafen und das war ein verdammt guter Gedanken!
Als er unsanft mit der Kommode im Flur zusammenstieß, erinnerte ihn ein Aufseufzen aus dem Schlafzimmer, dass es noch eine Person hier gab, die vermutlich nicht sehr erfreut war, ihn jetzt erst zu sehen. Nach einem kurzen Intermezzo im Bad, trat Lukas schließlich mit einem entschuldigenden Lächeln in die Höhle des Löwen.
Seine Freundin saß aufrecht im Bett und ähnelte bei näherer Betrachtung mehr einem Feuer speienden Drachen als wirklich einen Menschen. In Lukas’ Kopf fügte er die fehlenden Bilder hinzu und dicke Rauchschwaden kamen aus den Nasenflügeln.
Das schwache Licht der Nachtischleuchte tat ihr übriges und ließ die Situation noch unheimlicher wirken.
„Kannst du mir mal sagen, warum du jetzt erst nach Hause kommst? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Nein sicherlich nicht, denn für dich zählt nur die Arbeit. Daran zu denken, dass ich zuhause bin und mir Sorgen machen könnte, wäre natürlich zu viel verlangt,“ wütete die junge Frau gleich los. Ohne zu antworten öffnete fahrig er den Knopf seines Hemdes und zog den Rest dann über den Kopf, um das Hemd dann wenig später in irgendeine Ecke des Schlafzimmers zu befördern.
Lukas blendete seine Freundin vollkommen aus und ignorierte wohl ganzen Schimpfattacken, denn als er sich ins Bett begeben wollte, bekam er nur noch den letzten Teil eines Satzes mit und konnte sich ehrlich gesagt keinen Reim dazu bilden. Doch das war egal, er hatte sein Bett und gut war es.
Es dauerte noch eine Weile bis Claudia ebenfalls eingeschlafen war. Stocksteif hatte sie da gesessen und gedanklich Flüche auf den Mann neben sich losgelassen, bis sie schließlich merkte, dass diese Diskussion schon beendet war, bevor sie angefangen hatte. Frustriert machte sie es sich gemütlich, rückte aber ein Stück von Lukas ab um ihren Protest damit klarzumachen.
Die Glut der Zigarette leuchtete auf als er daran zog.
Pierre Ressot stand nervös da und blickte auf die Überreste von etwas, das mal einen Mensch dargestellt hatte. Schmerzverzehrt war das Gesicht des Toten, die Augen weit vor Schreck geöffnet. Man konnte erahnen, dass er kein friedliches Ende gefunden hatte.
Was sollte er tun, der arme Pierre, der schon wegen Mordes gesessen hatte? Würde man ihm glauben, dass er wirklich nur der Finder der Leiche war? Er wollte nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht werden, deshalb tat er das, was er für das Beste hielt: er nahm die Beine in die Hand und machte sich aus dem Staub.
Zu blöd allerdings, dass er bei dem Versuch zu flüchten beobachtet worden war. Eine alte Dame, die ihren kleinen Pekinesen Gassi führte, wunderte sich warum der Mann so schnell an ihr vorbei hastete. Wenig später erfuhr sie den Grund, denn ihr kleiner Hund begann eifrig an etwas zu schnüffeln und sein Bellen hallte durch den morgendlichen Park. Als ihr klar wurde, was für das Verhalten des Hündchen verantwortlich war und sie durch ihre durch den Grauen Starr getrübten Augen sah, schallte ihr Schrei an den Bäumen im Umkreis wider. Mühsam nahm sie das Handy heraus, das ihr ihre Tochter für Notfälle mitgegeben hatte. Die alte Dame hatte nichts an der modernen Technik und ihre schlechte Sicht machten das Mobiltelefon auch meistens recht unsinnig, aber in diesem Fall bekam sie gerade noch so die Nummer der Polizei hin. Resolut und recht taff für ihr Alter, meldete sie den Fund und wartete darauf, bis die Polizei eintraf.
Es dauerte nur wenige Minuten und schon stand ein Polizeiauto mitten im Park und ein etwas korpulenter Monsieur Policier und sein spindeldürrer Kollege stiegen aus. Der Eindruck eines schlechten Films entstand bei diesem Anblick und wenn die Situation nicht so grausam und schrecklich für Madame Griser gewesen wäre, hätte sie bestimmt ein Lächeln für die beiden Polizisten übrig gehabt.
Mit einem gewissen Ekel, wenn auch äußerst fachlich, näherte sich einer der beiden der Leiche, während der andere den Bericht der Augenzeugin aufnahm.
Man musste keinen geistigen Höhenflug haben um zu erkennen, dass der Tote wohl an einer äußerlichen Gewaltanwendung gestorben war und da das Gesicht noch immer den Ausdruck von Erstaunen aufwies, war es wahrscheinlich, dass der Tod auch plötzlich und unerwartet über ihn gekommen war. Hatte der Tote seinen Mörder gekannt?
Während sich der dickliche Polizist also mit Handschuhen der Leiche näherte und sie sich etwas genauer ansah, sein Kollege die alte Dame befragte, kam ein zusätzliches Polizeifahrzeug mit Blaulicht daher. Man sperrte den Tatort ab und machte Fotos von der Leiche. Alles sollte für die spätere Auswertung noch unberührt sein.
Bei dem Toten handelte sich um einen jungen Mann, vielleicht höchstens Mitte Dreißig. Herkunft war schwer zu erraten, wohl aber europäisch oder skandinavisch, da seine Haut und Haare sehr hell waren. Doch in diesem Fall musste wohl das Morddezernat an die Arbeit. Einfache Streifenpolizisten wie der Dicke und sein Kollege würden hier nicht weit kommen. Hier brauchte es jemanden mit Elan, mit Ausdruck, ja mit Verstand! Diese drei Punkte fehlten unseren beiden Freunden hier, aber nichtsdestotrotz erledigten sie ihre Arbeit so gut es ging und warteten schließlich auf den einen Herren, der ihnen alle Antworten bringen konnte: Comandant Philippe Rivière.
Der Comandant war ein älterer Herr Ende Fünfzig, der seine besten Jahre hinter einem Schreibtisch verbracht hatte, bevor man sein wahres Talent zu Ermitteln bemerkte. Sein Haar war schütter und graumeliert. Bei Weitem keine Schönheit, aber ein fähiger Mann, ohne Frage.
Mit den Jahren hatte er sich wohl an die ganzen Toten gewöhnt, denn abgesehen von einem argwöhnischen Blick sah man nicht viel in seinem Gesicht. Falls es einen Menschen geben sollte, den man als maskenhaft bezeichnen konnte, so war dies auf jeden Fall Rivière.
Mit einer äußerst ruhigen, emotionslosen Stimme wendete er sich an die Polizisten um sie zu dirigieren. Alle Fotos waren gemacht und so konnte sich Rivière den Toten etwas genauer ansehen, nachdem er jedem seine Rolle zugetragen hatte.
Der dickliche Polizist hatte für ihn das Feld geräumt und nun rief er den anderen Polizisten herbei, der zuvor die alte Dame befragt hatte. Kurz ließ Rivière die Erzählung von Madame Griser auf sich wirken, bevor er sich gänzlich der Leiche widmete.
Die Kleidung des Toten war in Blut getränkt, aber dennoch konnte man erkennen, dass sie schon etwas betagt war. Abgetragene Jeans, ein altbackenes Hemd und ausgelatschte Schuhe aus schwarzem Leder. Er wirkte schon etwas ärmlich, der Tote, doch er strahlte auch so etwas wie Weisheit auch – vielleicht auch nur, weil man sich so den typischen Junglehrer vorstellte und der Comandant konnte sich nicht einmal vorstellen, wie nah diese Vorstellung an die Realität herankam, doch noch lag die wahre Identität des Toten im Dunkeln.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, war er wie auch sonst jeden Abend alleine. Ohne Verbitterung oder Wehmut gedachte er der Frau, die hier einst einmal gelebt hatte und nun mit ihrem neuen Mann und ihren beiden Kindern über die Champs Elysée in Paris flanierte.
Er nahm sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Milch. Hastig trank er die kühle, weiße Flüssigkeit und wischte sich fahrig über den Mund, als er das nun geleerte Glas auf den Tisch stellte. Er füllte noch einmal nach, ehe er die Milch zurück in den Kühlschrank stellte und sich ins Wohnzimmer begab, wo er auch schon den Fernseher einschaltete und seine allabendliche Sendung anschaute.
Nach genau einer Stunde schaltete Rivière den Fernseher wieder aus und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, in dem er nun die Fälle des Tages aufarbeitete. Jeden Tag das gleiche Spiel, doch diesen Abend beschäftigte ihn ausschließlich der Fall des jungen Toten im Park. Die Spurensicherung hatte nichts gefunden, nicht mal Kugeln in der Brust des Toten. Sie mussten nachträglich entfernt worden sein und man konnte mit einer recht großen Sicherheit sagen, dass der Mann auch nicht im Park gestorben war, da am Fundort kein Blut zu finden war.
Wenn man bloß den Mann finden konnte, den Madame Griser gesehen hatte, aber auch er blieb noch im Verborgenen.
Es würde wohl noch weitere Wochen dauern, bis man endlich ein paar brauchbare Ergebnisse bekäme. Den perfekten Mord gab es nach Philippe Rivières Ansicht nicht und jeder Täter hatte sich früher oder später selbst verraten. Zugegebenermaßen hatte er bisher auch noch nie einen solchen Fall erlebt, in dem sogar die Kugeln aus der Leiche verschwunden waren. Um es auf den Punkt zu bringen, war das einzige, was die Polizei zu diesem Zeitpunkt wusste, war, dass der Mann tot war.
Seufzend legte Rivière die Akten beiseite und rieb sich die Augen. Das helle Licht der Schreibtischleuchte brannte darin. Wieder hatte er zu lange mit Fotos und Berichten jongliert und versucht irgendwo den Hinweis schlechthin zu finden, der diesen Fall endlich aufklären würde. Doch er fand ihn nicht und legte ein Tatortfoto zurück an seinen Platz. Frustriert hatte er für heute aufgegeben und würde nun in sein Bett steigen und eine traumreiche Nacht verbringen.
Es wurden keinerlei Papiere oder ähnliches gefunden, das auf die Identität hinwies und so wusste man auch nach einer Woche nicht, wer der mysteriöse Tote war. Keine der Vermisstenauszeigen passte auf das Aussehen des Mannes ohne Namen.
Der Fund der namenlosen Leiche schaffte es immerhin einen recht großen Aufhänger in der lokalen Presse zu erhalten. Man bat um die Mithilfe und suchte nach Augenzeugen. Ohne Erfolg. Der einzige Hinweis, der aussagekräftig genug war um diesem nachzugehen, war die Aussage der Madame Griser. Sie erinnerte sich noch gut daran, was sie gesehen hatte und so suchte die Polizei schließlich unseren armen Pierre Ressot.
Der Tote jedoch ließ kein Geheimnis entweichen, auch nach zwei Wochen wusste man nicht, wer er war - und warum er sterben musste konnte man nur erahnen. Alles schien auf einen Raubmord hinzuweisen, aber der Comandant zweifelte an dieser Theorie – nicht zuletzt wegen der fehlenden Kugeln im Körper des Toten. Er konnte nicht genau sagen, was ihn an der ganzen Sache störte, aber seine feine Polizistennase, sagte ihm, dass hinter dem Mord (von dem man dank der drei Löcher in der Brust des Opfers ausgehen konnte) mehr steckte, als es auf den ersten Blick schien.
Trotz seiner Kompetenz hing dem Comandant auch der Ruf eines sehr zynischen, wenn nicht gar neurotischen Menschen an, was sich vor allem in seinem Arbeitseifer und seiner pedantischen Art die Wahrheit herauszufinden zeigte. Vertrauen hatte er nur in seine Arbeit. Überall witterte er Verschwörungen und böse Machenschaften. Von Vielen belächelt, war er jedoch für Neulinge im Beruf eine Ikone und dessen war es sich auch bewusst.
Texte: F. Schuck
Bildmaterialien: F. Schuck
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meinen geliebten Ehemann, der mich immer wieder aufs Neue zu inspirieren weiß.