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Ulrich Wilhelm Scheifele

Fieber


Ich liege. Heftiges Fieber schüttelt meinen Körper durch, martert meine Seele. Schüttelfrost lässt meine Glieder zittern wie Espenlaub. Der Virus gönnt mir keine ruhige Minute. An Schlaf gar nicht zu denken. Meine Frau setzt sich zu mir ans Bett, streicht mir sanft über die schweißnasse Stirn. Sie nimmt meine Hand und ich kann ihre heilende Energie spüren. Eine Energie, die nur ein liebendes Herz ausstrahlen kann. Ich brauche nicht zu reden. Sehe sie nur an, wie sie meine zitternde Hand in ihrer birgt. Dann endlich kommt der lange ersehnte Schlaf. Und er ist gnädig, schenkt mir einen Traum:

Ich schwebe in einem violett wabernden Nebel. Es ist nichts zu erkennen. Dann - ein grüner Mann, der anscheinend nur aus Blättern und Zweigen besteht, kommt aus dem Nebel auf mich zu. Er hat ein freundliches offenes Gesicht und lächelt. „Dir geht es anscheinend nicht gut“, sagt er. „Was möchtest du ?“ Eine so einfache Frage und ich habe keine Antwort darauf. „Komm mit!“, fordert er mich auf. Mit einem Schlag verändert sich die Umgebung. Ich kann einen See mit wunderschönen Teichrosen sehen. Ich blicke in mein Spiegelbild. Das soll ich sein? Blass, eingefallene Wangen, schweißnasse Haare. Eine Fratze zum fürchten. Wie der blühende Tod. Wieder fragt er: „Was möchtest du?“
„Raus!“, sage ich „raus aus meiner Haut und gesund sein!“ – „Na dann – gute Reise!“, ruft er mir zu und löst sich auf. Mein Spiegelbild im See beginnt sich auf groteske Art aufzulösen und schwimmt wie ein Fettauge in der Suppe auf der Wasseroberfläche. Ich habe mich aufgelöst, gelöst oder bin erlöst? Bin nur noch diese dahintreibende Haut? Ich weiß es nicht. Aber alle meine Sinne sind noch da. Ich kann sehen, hören, riechen und fühlen. Ich treibe auf ein Teichrosenblatt zu, auf dem eine Libelle sitzt. Die amorphe Haut die ich jetzt bin berührt das Blatt und sofort verändert sich alles. Ich bin eine Libelle! Ich schaue, und habe plötzlich ein riesiges Gesichtsfeld. Ich sehe alles. Was links und rechts von mir passiert, ebenso wie ich nach vorne und hinten gleichzeitig sehen kann. Ich starte. Wie ein Hubschrauber schieße ich senkrecht nach oben. Stehe in der Luft. Drehe mich, fliege vorwärts und rückwärts, wie es mir gerade in denn Sinn kommt. Ein tolles Gefühl sich so ungebunden und frei bewegen zu können. Kein Hindernis kann sich mir in den Weg stellen, ich fliege einfach darüber weg. Ich beschließe mir die Gegend anzuschauen. Steige hoch und höher, bis ich den kleinen See, der in einem Bach abfließt, ganz überschauen kann. Am Horizont sehe ich mächtige Berge mit schneebedeckten Gipfeln. Riesige Grasflächen sind um den See, dichte Wälder schließen sich an. Ich weiß wo ich bin. Alaska, das Land das mich schon immer brennend interessiert hat. Jetzt bin ich da. Ich erkunde den See. Fliege knapp über dem Wasser zwischen den Teichrosen im Zickzack dahin. Genieße meine Freiheit. Ein dicker grüner Frosch sitzt auf einem der Seerosenblätter. „Den schaue ich mir näher an“, denke ich mir und fliege auf ihn zu. Urplötzlich macht er sein Maul auf und seine lange Zunge schießt auf mich zu. Im letzten Augenblick kann ich einen Haken schlagen und seine Zunge verfehlt mich um Haaresbreite. Ich stehe in sicherer Entfernung in der Luft und sehe ihm zu wie er seine Zunge wieder in sein großes, breites Maul zieht. Das war knapp. Der wollte mich doch tatsächlich fressen. Ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass in dieser so friedlichen Idylle überall Gefahren auf mich lauern können. Nichts ist so wie es im ersten Augenblick scheint. „Also, sei auf der Hut“, denke ich mir und fliege weiter. Knapp über der Wasseroberfläche schwebe ich über den See. Ich erfreue mich an den herrlichen Farben der Seerosen, die rosa, rot und samtweiß im warmen Sonnenlicht leuchten. Ich folge dem Bach, der aus dem See abfließt und an dessen Ufern Schilfgras zwischen den Steinen wächst. Die Sonne wärmt mich und ich fühle mich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Der Bach mündet in einen wilden Fluss, an dessen Stromschnellen sich die Gischt des Wassers aufbäumt. Ich fliege flussaufwärts und erkunde das Gelände. Riesige Felsbrocken liegen im Flussbett, an denen sich das Wasser scheuert. Wild und ungezähmt bahnt sich das Wasser seinen Weg. Treibgut, das der Fluss gesammelt hat, verkeilt sich hier und da zwischen den Felsen. Ich lande auf einem Stück Treibholz und ruhe mich aus. Ich tanke die wärmende Energie der Sonne, bin einen Augenblick tief in Gedanken versunken und unaufmerksam. Eine Welle, die sich am Felsen bricht und über mir zusammenschlägt, spült mich ins wilde Wasser. Der Fluss reißt mich mit und ein Strudel zerrt mich in die Tiefe. Panik! Endlich komme ich frei und treibe zur Oberfläche hinauf. Gierig sauge ich Luft. Ich versuche zu fliegen, wieder frei zu sein, doch das Wasser gibt mich nicht frei. Gerade, als ich wieder zu dieser amorphen Haut werden will, schnellt ein Lachs mit weit aufgerissenem Maul aus der Tiefe, und ich bin seine Beute.

Wieder verändert sich alles mit einen Schlag. Jetzt bin ich der Lachs. Das Wasser reißt mich mit, und ich muss all meine Kraft aufwenden um gegen den Strom anzuschwimmen. Die Energie der Libelle gibt mir neue Kraft, und so gewinne ich Meter um Meter den Fluss hinauf. Ich gewöhne mich schnell an mein neues Dasein und weiß, dass ich meiner Bestimmung folgen muss. Ich muss stromaufwärts koste es was es wolle, um zum Laichplatz zu kommen. Also nimm alle Kraft zusammen und folge dem Plan der Natur. Eine Stromschnelle ist mein nächstes Hindernis. Ich lasse mich ein Stück zurücktreiben und nehme Anlauf. Wie der Blitz schieße ich durchs Wasser und springe. Ich verfehle mein Ziel, schlage an einem Stein an und falle in die Flut zurück. „Nur nicht aufgeben“, denke ich mir. Ich suche mir einen anderen Ausgangspunkt und sammle und konzentriere meine Kraft. Dann der neue Versuch. Pfeilschnell schwimme ich auf das Hindernis zu, schlage wie wild mit meiner Schwanzflosse und schnelle aus dem Wasser über das Hindernis hinweg. Geschafft! Ich stabilisiere mich im Fluss und schwimme weiter stromauf. Es kann nicht mehr weit sein sagt mir mein Instinkt. Wieder eine Flusstreppe die es zu überwinden gilt. Sie ist noch höher als die letzte. Ich weiche zunächst seitlich ans Ufer aus um Kraft zu sammeln. In Ufernähe fließt das Wasser langsamer und ich kann mich erholen. Ein unvorsichtiger kleiner Fisch, der mich nicht wahrnimmt wird meine nächste Beute. Erholt und gekräftigt, gehe ich nun das nächste und hoffentlich letzte große Hindernis an. Ich schwimme in die Mitte des Flusses, taxiere die Entfernung zur Stromschnelle und jage los. Meine ganze Kraft auf den entscheidenden Moment konzentriert springe ich aus dem reißenden Wasser und überwinde die Höhe. Ruhig schwimme ich weiter dem Laichgrund entgegen. Plötzlich fährt etwas mächtiges ins Wasser neben mir, wühlt es auf und scharfe Krallen ritzen meine Haut. Ein Grizzly will Lachs fischen. Schon wieder bin ich in der Beuterolle, die mir ganz und gar nicht gefällt. Ich versuche zu entkommen und schwimme so schnell ich kann in Richtung Mitte des Wassers. Doch die Laichgründe sind seicht. Donnernd mit Getöse, das ich unter Wasser deutlich wahrnehmen kann folgt mir der Bär, immer wieder nach mir schlagend. Wieder und wieder zischen die scharfen Krallen an meiner Flanke vorbei. Ich kehre blitzschnell zu meiner Haut zurück. Im gleichen Augenblick, treibe ich unbemerkt wieder als Schimmer auf der Wasserfläche und kann beobachten, was nun geschieht. Der Grizzly hat es geschafft den Lachs, der ich vor Sekunden noch war zu fangen. Zappelnd und sich gegen sein unausweichliches Schicksal wehrend, hängt er im Fang des Bären. Der trägt ihn ans Ufer, um ihn dort in aller Seelenruhe zu fressen. Fressen und gefressen werden, das sind die Gesetze die in dieser Welt, in der ich mich nun bewege, gelten. Natürlich und erbarmungslos. Unbemerkt von den Bären, mittlerweile haben sich einige mehr zur Jagd eingefunden treibt meine Haut zwischen ihnen hindurch wieder flussabwärts. Ich lege den ganzen Weg, den ich mühsam stromauf dem Wasser abgetrotzt habe, nun spielerisch leicht, an der Oberfläche, mit dem Strom schwimmend zurück. Zerreiße in der Gischt, finde mich wieder zusammen und folge weiter und weiter dem Lauf des Flusses, der sich immer mehr beruhigt und gegen Ende gemächlich dahinfließt. Ich nehme eine Veränderung wahr. Das Wasser schmeckt irgendwie anders. Salzig! Der Fluss mündet ins Meer. Wind treibt mich hinaus auf die offene See.
Vor mir steigt eine Fontäne aus dem Wasser. Wale! Ein riesiger Pottwal schwimmt direkt in meine Richtung. Als er mich berührt, verschmilzt meine Haut mit seiner. Ich bin ein Wal.

Ruhig und friedlich schwimme ich hinaus aufs offene Meer. Ich höre meine Freunde rufen. „Komm!“, rufen sie, „wir wollen Krill jagen.“ Zwei drei kräftige Schläge mit meiner Finne, und ich bin mitten in der Gruppe meiner Artgenossen. „Du bist neu“, sagt einer, „ich habe dich hier noch nie gesehen. Weißt du wo es Futter gibt?“. „Nein“, singe ich zurück „vielleicht könnt ihr mir helfen.“ Das Wasser hallt vom vielfachen Walgesang und ich habe Schwierigkeiten die einzelnen Stimmen auseinander zu halten. Aber alle sind freundlich und wollen mir zeigen wo es was zu jagen gibt. Jetzt bin ich nicht mehr in der Beuterolle, denke ich. „Pass auf, wenn du auftauchst“, höre ich. Ein großer, alter Wal schwimmt an meine Seite. Seine Haut hat zahlreiche Verletzungen. „Sie machen hier Jagd auf uns! Wenn du dieses hässliche Brummgeräusch hörst, dann bleib weit unten, und versuch zu entkommen. So schnell wie möglich. Hab also immer genug Atem.“ „Danke“, sage ich. Es ist schon irgendwie seltsam. Nun bin ich so groß und mächtig, und trotzdem bin ich immer noch Beute. „Hol tief Luft, und auf zur Jagd“, höre ich die anderen singen. Ich pumpe meine Lungen voll mit Atem, tauche ab und folge meinen Freunden. Tiefer und tiefer steigen wir hinab in die dunkle See. Das Wasser ist eiskalt und trotzdem empfinde ich diese Kälte als angenehm. Wir verständigen uns und koordinieren die Jagd. Ein großer Schwarm Krill ist direkt vor uns. Wir tauchen ein und fressen so viel wir können. Immer wieder schwimmen wir mitten in den Schwarm. Dann ist der Hunger gestillt. Wir orientieren uns nach oben und schwimmen durch lange Unterwassertäler, erkunden gigantische Höhlen, an deren Wände fluoreszierende Bakterien ein fahles Licht spenden. Hier und da sehe ich Oktopusse, die sich schnell in ihre Verstecke zurückziehen, da auch sie zu unserer Beute zählen. Jetzt ist es an der Zeit wieder aufzutauchen. Ich denke an die Worte des alten Wals, und lausche vorsichtig auf die Geräusche im unendlichen Meer. Kein hässliches Brummgeräusch. Also kann ich gefahrlos auftauchen um zu atmen. Ich stoße durch die Wasseroberfläche, blase die Restluft aus meinen Lungen und atme die frische, noch saubere Luft ein. Nach und nach sehe ich meine Freunde auftauchen. Irgendwie drängt es mich das Meer zu erkunden. Diesen Lebensraum, über den ich nicht viel weiß. Ich verabschiede mich von den anderen Walen und gehe auf meine Reise. Tag und Nacht bin ich unterwegs, immer lauschend, nach diesem hässlichen Brummgeräusch, das so gefährlich für mich sein kann. Aber alles bleibt still. Das Wasser wird immer wärmer. Ich bin irgendwo im Golfstrom gelandet. Eine stille Bucht von Felsen umrandet mit feinem Sandstrand lädt zum Rasten ein. Ich wünschte ich könnte hier Urlaub machen.

Sofort ändert sich mein Zustand. Ich werde wieder zu dieser ungewöhnlichen Haut, die auf dem Wasser treibt. Der Wal dreht ab und ich sehe seine Finne steil aus dem Wasser ragen, bevor er wieder in der Tiefe verschwindet. Ich werde wieder zum Mensch, schwimme auf den Strand zu. Wie durch Zauberei sehe ich meine Frau, die freudig ins warme Wasser der Lagune läuft und auf mich zukommt. Wir nehmen uns in die Arme und albern noch eine zeitlang im türkisfarbenen Wasser herum. Dann verdunkelt sich der Himmel. Die Sonne verbirgt sich hinter großen, schwarzen Wolken. Ein Unwetter zieht auf. Wir flüchten vor dem aufkommenden Gewitter in eine strohgedeckte, offene Strandhütte. Sie kuschelt sich an mich, denn es ist merklich kühler geworden. Ich spüre ihre warme, weiche, samtige Haut. Wir streicheln uns, wollen uns lieben. Ein greller Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag, holt mich in die Realität zurück.

Ich liege. Das Fieber hält mich fest, mit eiserner Hand. Meine Frau setzt sich zu mir, streicht mir sanft über die schweißnasse Stirn. „Du hast lange geschlafen“, meint sie. Mit einem Lächeln sage ich nur: „ Nicht lange genug!“

Impressum

Texte: Coverbild Copyright by ab&uw design
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet: Meiner Frau in tiefer Liebe

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