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Selina und die Tauben


Selina und die Tauben

Als Selina eines Tages wieder einmal die Tauben fütterte, flog eine direkt auf ihre Schultern und flüsterte ihr leise ins Ohr:

„weil Du so ein liebes Kind bist und uns immer gut mit Futter versorgst und unsere Kranken wieder gesund gepflegt hast, soll Dir ein Herzenswunsch erfüllt werden. Du brauchst ihn mir nur zu sagen.“

Selina dachte zuerst, sie hätte nicht richtig gehört und es wäre nur der Wind, der flüsterte.
Dann merkte sie doch, dass es die Taube auf ihrer Schulter war, aus dessen Schnabel richtige Worte kamen.
Da Mama schon immer so viele Märchen erzählt hatte, in denen Kinder für ihre guten Taten belohnt wurden, wunderte sich gar nicht lange über die sprechende Taube. Sie überlegte was sie sich schnell wünschen könnte. Eigentlich wäre es doch wunderschön, einmal genauso wie eine Taube fliegen zu können. Hoch in der Luft dahin zu segeln, müsste herrlich sein. Einmal rund um die Kirchturmspitze zu fliegen und unter sich die Menschen als kleine, lustige Gestalten zu sehen.


So flüsterte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme:
„Ich möchte einmal einen ganzen Tag lang eine Taube sein und bei so schönem Wetter wie heute mit Euch durch die Luft fliegen. Aber diesen Wunsch wirst Du mir kaum erfüllen können.“

Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen,“ sagte die sprechende Taube
Du musst, wenn Du eine Taube bist, schön bei uns, in unserer Nähe bleiben, damit Dir kein Leid geschehen kann. Die Gefahren für uns sind größer, als Du ahnst. Wenn Du mir das versprichst, wirst Du gleich für einen ganzen Tag eine der unseren sein.“


Ohne Bedenken sagte Selina sofort zu.
Da spürte sie, wie ihr Körper mit einem Male einschrumpfte und seltsam leicht wurde. Ihr Kopf wurde winzig klein, und aus ihrem Mund wurde ein Schnabel.
Von ihren Füßen fielen die Schuhe ab, und ihre kleinen Fußzehen schrumpften ein, zu zierlichen Krallen.

Aus ihren Armen wurden Flügel, die sich weich und geschmeidig um ihren Körper legten. Sie war eine richtige Taube geworden.

Die anderen Tauben umdrippelten sie. Erstaunt bemerkte Selina, dass das Gegurre, das sie immer gehört hatte, die Sprache der Tauben war, welche sie jetzt wunderbar verstehen konnte.
Aufmunternd riefen die Vögel ihr zu, ihre ersten Schritte zu probieren und dann zu fliegen, wie sie es sich doch gewünscht hatte. Aber so einfach war das gar nicht. Sie trippelte ein paar mal im Kreis herum bis ihr fast schwindelig wurde, und erst als sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden, probierte sie ihre Flügel aus.


Siehe da,
es ging alles so wunderbar leicht, das es nur einiger Flügelschläge bedurfte und schon merkte sie, wie sie sich leicht und schwerelos von der Erde löste und richtig fliegen konnte.
Kaum war sie ein paar Meter vom Boden hoch gekommen, als sie ihre Flügel mit aller Kraft gebrauchte. Schnell wie ein Pfeil war sie schon bald darauf hoch über den Dächern ihrer Vaterstadt.
Ihr kleines Herz klopfte vor Aufregung als wenn es zerspringen wollte. Sie war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben.


Wie das unter ihr wimmelte! Die Menschen schienen winzig klein geworden zu sein. Doch als Selina jetzt etwas tiefer flog, da sah sie, dass die Menschen doch wieder größer wurden. Sie fürchtete das sie erkannt werden konnte und flog schnell wieder hoch und immer höher.
Das war herrlich! Alles um sie herum hatte sie vergessen. Sogar die anderen Tauben und das Versprechen, das sie gegeben hatte. Diese mühten sich redlich ab, ihrer neuen Gefährtin zu folgen. Wenn Selina alleine weiter fliegen würde, konnte sie bald von einem Raubvogel gefangen werden.
Doch lange brauchten sie Selina nicht nach zu fliegen, denn diese wurde nun müde und suchte sich einen Ruheplatz, um neue Kräfte zu sammeln.
Hoch oben auf dem Dach des Kirchturms schien ihr der geeignete Platz dafür zu sein. Kaum hatte sie sich dort nieder gelassen, als alle Tauben sie sogleich umringten;
Alle gurrten zur gleichen Zeit aufgeregt auf sie ein, so dass sie kein Wort verstehen konnte.
Die Tauben wollten wissen, wie es ihr gefallen habe. Selina verlor viele Minuten ihrer knappen Zeit als Taube damit, dass sie den anderen erzählte, wie es war-


Bald hatte sie sich wieder erholt und wollte nun auf Abenteuer aus gehen, um einmal zu sehen, wie sich die Menschen ihr gegenüber verhalten würden. Sie flog über den Marktplatz und lies sich von den Leuten, die sie fast alle kannte, füttern.

Auf einer nahen Bank saßen zwei ältere Frauen, die neben dem Haus ihrer Eltern wohnten. Selina konnte gerade noch verstehen, wie die eine sagte:!
Die arme Mutter ist ganz verzweifelt, denn nie ging Selina von zu Hause weg, ohne zu fragen. Es muss etwas passiert sein.“
Ach Gott, die Mutter hatte sie ja ganz vergessen. So schnell sie ihre Flügel tragen konnten, flog sie nach Hause.
Ihre Mutter stand vor der Tür und weinte um ihre Tochter
.

Selina sprang ihr vor den Füßen herum und gurrte aufgeregt;
„Hier bin ich, liebe Mama, ich bin bald wieder, als Deine Tochter bei Dir, mach Dir keine Sorgen!“
Aber dann fiel ihr ein, dass ihre Mama die Sprache der Taube ja nicht verstehen konnte. Was soll sie denn jetzt nur tun?
Da kam ihr die Taube zu Hilfe, die ihr heute Morgen ihren Wunsch erfüllt hatte.
Diese bat sie eindringlich, sie doch schnell wieder zu einem Mensch zu machen, denn ihre arme Mama sei so sehr in Sorge um sie.
„Komm mit, gurrte diese, fliege mir nach und ich will dir diesen Wunsch erfüllen.“
So flogen die beiden durch ein Dachfenster auf den Boden ihres Elternhauses. Dort angekommen, befahl die Taube Selina, hier auf sie zu warten, bis sie wieder kommen würde, und ließ sie allein.
Selina wartete und wartete. Als niemand kam, fielen ihr vor Müdigkeit die Augen zu, und schlief fest ein.


Sie wurde erst wieder wach, als sie von ihrer Mama an den Schultern gerüttelt wurde.
„Hier finde ich Dich endlich! Wir haben dich überall gesucht und Du bist nur eingeschlafen.“
Selina rieb sich überrascht die Augen und ihre Hände tasteten ihren Körper ab.
Aber von einer Taube hatte sie nichts mehr an sich. Sie war wieder ein richtiges Menschenkind, und niemand konnte ihr sagen, ob sie nur geträumt, oder ob sie alles wirklich erlebt hatte.
Doch diese Frage bewegte sie nicht lange. Für sie war die Hauptsache, wieder in den Armen ihrer Mama zu sein.


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Tag der Veröffentlichung: 23.01.2012

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