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In Orconia, einem Land, wo nur Zwerge, Hexen, Trolle und andere „unmenschliche“ Wesen lebten, war es Winter.
Überall lag Schnee, alles war still und die Bäume erstarrten unter ihren weißen Schneedecken. Es war klirrender Frost. Der See war gefroren. Auf der Mitte des Sees lag eine große Insel, an ihrem Ufer stand die Hütte des Hexers namens Nicor. Er war ein Wasserhexer, oder der Hexer des Großen Sees. Nicor war klein und rundlich, sein freundliches, rundes Gesicht, war haarlos wie der glänzende Schädel. Seine Hütte lag direkt am See gestützt auf vier großen Holzbalken. Er bewohnte diese Insel zusammen mit einer Riesenschildkröte namens Tartila. Tartila war riesig, wog über 300 Kilogramm und ihr glockenförmiger grau-grüner Panzer war zwei Meter lang. Im Sommer saß Nicor auf Tartilas Panzer, und die Schildkröte fuhr ihn zum Ufer des Sees. Im Winter schlief Tartila im Heu unter seiner Hütte, in dieser Zeit fühlte sich der Hexer sehr einsam.
Das Wasser wurde mit Eis bedeckt, was Nicor zur Verzweiflung trieb, denn heute war das Fest Imbolc, ein sehr wichtiges Fest für die Hexen, zu dem jedes Jahr alle Hexen und Hexer kamen. Sie trafen sich an einem großen Festplatz, tranken gemeinsam Zaubergebräu und tanzten um ein riesiges Feuer. Auch Nicor kam jedes Jahr zu diesem Fest, außer in diesem Jahr! Er konnte nicht mit seinem Ruderboot über den gefrorenen See fahren. Laufen ging auch nicht, da das Eis nicht so fest war und er einbrechen könnte. Im Morgengrauen saß Nicor verbittert in seiner Hütte und braute einen Trank, den alle Hexen an den Festen tranken. Warum hatte er den Trank überhaupt gebraut? Er konnte doch nicht zum Fest gehen! Warum nur? Er wusste es selber nicht.
Seit 150 Jahren kochte er zu jedem Hexenfest den gleichen Trank, es war einfach eine Angewohnheit.
An diesem Morgen bekam Nicor Post: Ein Rabe mit einem Lederbeutel um den Hals kam vorbei. Im Beutel lagen zwei Kastanien und eine Eichel, das bedeutete: „Kommst du zum Imbolc?“ Es war die gewöhnliche Art in Orconia Nachrichten zu schicken.
Nicor nahm die zwei Kastanien und die Eichel raus und legte eine Rabenfeder in den leeren Beutel, das bedeutete: „Nein“. Als der Rabe mit seiner Antwort weg war, überlegte Nicor: „Wer hat mir die Post geschickt?“
Er erkannte den Raben, es war der Rabe der Grünhexen. Aber welche der Hexen war das? „Es war bestimmt Garpia, so eine zänkische Hexe, überall musste sie ihre grüne warzige Nase hinein stecken!“, dachte Nicor. Auf jeden Fall verfiel er nach dieser Post in noch düstere Stimmung. Sie wissen doch, dass mein See zugefroren, dachte Nicor sauer und wünschte den Grünhexen verflucht zu sein!
Als es schon dämmerte, zog Nicor seinen kurzen Fellmantel an und stapfte zum See. Der Schnee knisterte unter seinen Fellmokassins. Traurig schaute er auf die gefrorene Fläche des Sees. Nicor war ein guter Hexer, er verehrte die Götter und Geister von Orconia, er hielt alle Rituale, so wie es sich für einen guten Hexer gehörte. Grimmig dachte er: „Warum bestrafst du mich, du böser Geist Mara? Dir, dem ich immer huldige.“
In dieser Zeit waren alle Hexen schon unterwegs auf ihren Besen zum Festplatz, und Borr, der Große Waldhexer, ritt auf seinem riesigen Wolf um dieses Fest zu leiten. Nur Nicor war auf seiner Insel eingesperrt. Er sah mit Wehmut auf die andere Seite des Seeufers. Heute bedauerte Nicor es zum ersten Mal, dass er nicht eine Hexe war: Die Hexer konnten nicht auf den Besen fliegen wie die „weiblichen“ Hexen. Die „männlichen“ Hexer mussten laufen, oder sie ritten auf verschiedenen Tieren.
Es war Zeit etwas zu essen. Nicor schlug mit einem Stock ein Loch in die Eisfläche, durch das er ein Netz gleiten ließ. „Brr…!“, sagte er und rieb sich seine frierenden Hände. Schon nach einigen Minuten zog er einen dicken Wels heraus. Der Fisch war zu groß, viel zu groß für einen alten Hexer. Aber ihn zurück in den See zu schmeißen und einen anderen zu fangen, dafür war es Nicor viel zu kalt. Dann eilte der Hexer zu seiner Hütte, wo das Holzfeuer knisternd brannte. Er kochte eine Fischsuppe mit vielen Kräutern und Wurzeln. Als die Suppe fertig war, hörte Nicor die Schreie seines Raben und schaute hinaus.
Er sah drei kleine Hexen auf ihren Besen fliegen, sie steuerten direkt auf seine Hütte zu! Als sie bei ihm eintrafen, erkannte Nicor, dass es Kora, die kleine Grünhexe, und die Sumpfzwillinge Moorana und Moorina waren. Die Zwillinge waren die Töchter der Sumpfhexe Kikimoora, sie waren zwei achtjährige süße Hexen, die Nicor sehr gern hatte. Die beiden hatten feuerrote zerzauste Haare und sommersprossige Gesichter mit grünen Augen. Fast den ganzen Sommer hindurch waren die Zwillingsschwester Gäste bei Nicor: Im Mai bekamen sie ihre eigenen Besen, endlich mussten sie nicht mehr bei ihrer Mutter auf dem Besen mitreiten. Von da an besuchten sie Nicor öfter, aßen seine Fischsuppe und ließen sich von der Schildkröte Tartila im See herum fahren. Trotz ihrer langen Sumpfbiberfellmäntel, die sie heute über ihren mausgrauen Kleidern trugen, waren sie halb erfroren. Mit eiskalten Händen umarmten sie Nicor’s Hals und plapperten wild durcheinander: „Nicor, oh, Nicor, es ist so kalt, ich bin durch und durch erfroren.“
Nur Kora stand ruhig da und lächelte.
„Ich spüre meine Hände nicht und konnte meinen Besen nicht mehr halten. Ich sterbe gleich und meine Nase fällt ab.“, jammerte Moorina.
„Mein Gesicht brennt…und meine Ohren-… “, klagte Moorana und rieb ihre Ohren.
„Ruhig, ruhig ihr Struwwelköpfe! Kommt schnell rein!“, sagte Nicor, lachte gutmütig und öffnete die Tür. Kora sprang als erstes in die Hütte und streckte ihre gefrorenen Hände zum Feuer. In der Hütte war es dunkel, nur die Flammen des Feuers erleuchteten sie kärglich. Nicor eilte zum Feuer um einen Span anzuzünden. Kora streifte ihr schwarzes Kopftuch ab, und ihre langen grünen Haare fielen über ihre Schultern. Sie war schon 12 Jahre alt, ruhig, ernst, mit einem Wort: fast erwachsen. Nicor war nun mehr als gut gelaunt: „Ihr meine Lieben, Moorina, Moorana und du, Kora, ich bin so froh euch zu sehen!“
„Hier riecht es nach der Fischsuppe!“, unterbrach ihn Moorina und schnupperte herum. Sechs grüne hungrige Augen sahen den Wasserhexer an.
„Das Wasser läuft mir im Munde zusammen! So großen Hunger habe ich!“, sagte Moorana mit ihrer Klagestimme. Nicor eilte zum Kessel, nahm ihn vom Feuer herunter und stellte ihn auf den Tisch. Er gab jedem einen Holzlöffel. Die Hexen setzten sich, ohne ihre Mäntel auszuziehen und aßen direkt aus dem Kessel. Ein paar Minuten war kein Wort zu hören.
„Es war doch sehr gut, dass der Fisch groß war!“, dachte Nicor und schaute zufrieden auf die drei schmatzenden Hexen. Von der heißen Suppe wurde allen warm. Als erstes sprach Kora:
„Unser Trauerweiden-Weiher im Wald ist schon seit vier Tagen eingefroren, aber heute ist der Frost noch stärker geworden. Ich habe gleich an dich gedacht, Nicor. Dass du hier fest sitzt!“
„Oh! Dann warst du es, die mir den Raben geschickt hat?“, fragte Nicor.
„Ja. Und du hast mir eine Rabenfeder zurückgeschickt: Ich habe gleich gewusst, dass der See eingefroren ist und du hier alleine eingesperrt bist! Ich musste einfach hierher fliegen!“
„Kora hat uns auch ihren Raben geschickt: „Komme zu euch. Kora.“, sagte Moorana kauend, Moorina sprach weiter: „Aber wir haben nicht gewusst, dass Kora hierher fliegen wollte!“
„Dann weiß eure Mutter nicht, dass ihr bei mir seid? Und, Kora? Weiß die Große Grünhexe, dass du hier bist?“, fragte Nicor. Die drei schüttelten verneinend mit den Köpfen.
„Ah, Nicor, wir haben gewusst, dass du hier ganz alleine bist und nicht auf das Imbolc Fest gehen kannst. Wir haben abgewartet, dass meine Ururgrossmutter und die Sumpfhexe Kikimoora mit der Großen Sumpfhexe mit ihren Besen weg waren und haben uns gleich auf den Weg gemacht! Wir kommen vor ihnen zurück, keiner wird wissen, dass wir hier waren!“, so sprach Kora und ihre Augen funkelten grün.
„Lasst uns auch das Imbolc Fest hier feiern!“, schrie Moorana aufgeregt.
„Bitte, Nicor, bitte!“, bettelte Moorina.
„Bitte, bitte!“, sagte Kora flehend: „Wir haben so einen langen Weg gemacht und mussten so frieren! Hast du den Hexentrank?“
Nachdenklich sah Nicor auf die volle Schüssel mit dem Trank: „Es war doch eine Vorsehung, dass ich heute den Trank gekocht habe!“, dachte er, dann sagte er aber laut: „Eure Mäuler werden nach dem Hexentrank riechen, wenn ihr nach hause kommt! Dann wissen alle gleich, was ihr gemacht habt!“
Kora lachte schelmisch: „Sie werden das nicht merken, da sie selber den gleichen Geruch haben werden! Sag schon „Ja“!“
„Gut. Aber das wird unser Geheimnis! Niemand soll davon erfahren!“, gab Nicor nach.

Die kleinen Hexen rannten heraus. Viele Sterne waren auf dem schwarzen Himmel verstreut und ließen den weißen Schnee in Silberfarben schillern. Der große Polarstern flimmerte, als würde er sagen: „Was macht ihr hier, ihr kleinen Hexen?“
Kora und die Zwillinge nahmen das Brennholz und machten nicht weit von der Hütte ein Feuer. Mit einer vollen Schüssel Hexentrank kam Nicor heraus, er war gut gelaunt und spürte den Frost nicht mehr. Jeder nahm einen Schluck und dann noch einen Schluck, und noch einen bis die Schüssel leer war. Moorina und Moorana fingen wie aus einem Mund zu lachen an. Nach einigen Augenblicken geschah das gleiche mit Kora auch. Der Hexer nahm die Schellentrommel und fing an zu spielen. Die drei kleinen Hexen tanzten erst langsam, dann wurde die Musik schneller und schneller. In dem Trommeltakt tanzten die drei Hexen immer und immer schneller.
Sie drehten sich in Kreisen mit zum Himmel gestreckten Armen, als wollten sie sich vom Boden heben. Ihre Haare flogen, ihre Röcke plusterten sich auf und alles drehte sich im wilden Tanz. Alle tanzten und sangen, gackerten und lachten. Es war ein riesiger Spaß! Sie waren so laut, dass Nicor Angst hatte, dass der Schnee von den Ästen der Bäume rutschen würde. Er wollte etwas sagen, aber nur ein Freudeschrei kam über seine Lippen. Die Schellentrommeln wurden lauter, auch die drei Hexen sangen und lachten lauter.
Plötzlich hörte man unter dem Haus ein lautes Geräusch: Etwas bewegte sich, und Schnee rieselte vom Dach zu Boden. Die vier wurden alle ganz still und lauschten. Etwas kam mit schweren Schritten auf sie zu! Kora murmelte leise: „Tartila!“
„Juhu! Juhu!“, schrieen Moorana und Moorina vor Freude. Langsam, mit schweren stampfenden Schritten kam Tartila aus ihrem Schlafplatz! Sie streckte verschlafen ihren Kopf hinaus, als wollte sie sagen: „Was ist hier los? Warum macht ihr so einen Lärm?“
Die drei kleinen Hexen rannten zu der Riesenschildkröte, umarmten ihren Hals, und drückten sie fest an sich. Aber als sie ihren großen, wie einen Hügel geformten Panzer sahen, konnten sie nicht widerstehen: Die drei hüpften auf ihren Panzer zu, kletterten und schoben sich gegenseitig hoch, und rutschten wieder herunter. Sie fielen in den kalten Schnee, was ihnen aber nichts auszumachen schien. Mit schneebedeckten, durchnässten Haaren und Mänteln kletterten sie immer wieder auf den Panzer
und rutschten ihn hinab. Moorana fiel kopfüber, Kora purzelte hinterher und alle zwei landeten auf Moorina, die im Schnee unten lag. Mit schallendem Lachen lösten sich ihre ineinander verschlungenen Körper. Nicor musste unheimlich lachen, als die Zwillinge ausrutschten und mit Kora den Panzer herunterkullerten. Er hatte die ganze Zeit nicht aufgehört mit seiner Schellentrommel zu schlagen. Keiner bemerkte wie kalt es eigentlich draußen war und wie eisig der Schnee war.
„Nicor, komm doch auch! Wir helfen dir hoch zu klettern!“, schrie Kora, ihr immer bleiches Gesicht war jetzt rosa vor Aufregung und Frost, ihre grünen zerzausten Haare umrahmten ihr schmales Gesicht.
„Ich bin zu alt dafür! Jo, je, je…!“, schrie der Hexer zurück und tanzte, und schlug wild auf seiner Trommel. Sie rutschten eine Stunde lang, dann bewegte sich die Schildkröte. Tartila schüttelte leicht mit ihrem Panzer, sodass Moorina, die gerade oben stand, runter in den Schnee flog. Die Schildkröte drehte sich um und ging langsam zu ihrem Schlafplatz zurück. Die Hexen schrieen hinter ihr her:
„Tartila, Tartila, bleib noch ein Bisschen bei uns!“
Aber Tartila hörte nichts mehr, alle ihre Gedanken waren beim warmen Heu unter der Hütte. Nicor hörte auf zu spielen, Kora sah ihn traurig an und sagte: „Wir müssen zurück! Wir wollen doch rechtzeitig zurück sein!“
Moorana setzte eine sauere Miene auf, auch Moorina zog ein Gesicht: „Jetzt schon?“
„Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, kommt eure Mutter vor uns nach hause!“, sagte Kora ernst.
„Ihr seid ja ganz nass! Was werdet ihr nur eurer Mutter sagen, wenn sie euch sieht?!“, fragte Nicor besorgt.
„Wir sagen, dass Kora bei uns war und wir haben eine Schneeballschlacht gemacht!“, schoss Moorina prompt zurück.
Traurig gingen die drei Hexen zu der Hütte und nahmen ihre Besen. Kora gab Nicor einen Kuss auf die Backe:
„Wir besuchen dich wieder!“
Moorana und Moorina machten es ihr nach und sagten: „Gute Nacht, lieber Nicor!“
Die drei setzen sich auf ihre Besen und stiegen schweigend in die Höhe, dann geleiteten sie langsam durch den rabenschwarzen Himmel. Ihre Haare wehten und ihre Röcke flatterten im Wind. Traurig sah Nicor ihnen nach. Dann ging er in seine warme Hütte um zu schlafen.
Als er schon im Bett lag, dachte er glücklich: „Es war keine Bestrafung, dass der See eingefroren ist, es war ein Geschenk für mich! Heute war mein glücklichster Imbolc-Tag seit 150 Jahren! Ich danke euch, See- und Waldgeister!“

In der tiefen Nacht, als alles in der Stille versank, kam der Wind. Er bewegte die große Tanne. Ihre schweren schneebedeckten Äste ächzten bei jeder Bewegung. Sprechen die Äste? Ja! Sie erzählten die Geschichte über ein Imbolc Fest mit drei kleinen Hexen und einem alten Wasserhexer. Und der Wind wird weiter wehen und diese Geschichte weiter erzählen, weiter und weiter, in ganz Orconia!



Impressum

Texte: Coverillustration von meiner Mutter
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Erstveröffentlichung in "Märchenwelten", P&B Verlag

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