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In einem dichten, dunklen Wald, lebte einmal eine Hexe. Die Waldhexe war eine gute Heilerin. Sie hatte einen Sohn, der Grom hieß. Sie sammelten Kräuter und Wurzeln und bereiteten Pulver zu, Salben und Tränke, um die Kranken zu heilen. Ihr Sohn lernte viel von ihr, und als er groß war, war er ein genauso guter Heilkünstler wie seine Mutter. Aber Grom wollte den Wald verlassen und in die Stadt gehen, da es in der Stadt viele Kranke gab, denen er helfen konnte.
Lange bat er seine Mutter vergebens um Erlaubnis, ihn zu den Menschen gehen zu lassen, aber nach einer Weile gab sie nach: „Gut, geh in die Stadt, wenn diese Menschen dir so wichtig sind! Auf dem Weg gebe ich dir, mein Sohn, drei Geschenke!“
Die Waldhexe nahm aus ihrem Beutel eine Dose mit Salbe und schmierte ihrem Sohn das Gesicht und die Hände damit ein. Sie sprach:
„Die Salbe wird dich von jeder Krankheit schützen. Du wirst die Leidenden heilen, aber selbst wirst du nie krank!“
Danach gab sie Grom einen Trank und befahl ihm zu trinken:
„Das ist mein zweites Geschenk! Trink es, und du wirst die Gabe haben, den Tod zu sehen. Wenn du einen Kranken heilst und den Tod siehst, wird dieser sterben, du kannst ihm nicht mehr helfen. Aber wenn du den Tod nicht siehst, dann kannst du den Kranken heilen, da du der beste Heiler bist, den es je auf dieser Welt gab. Aber sei vorsichtig: Du darfst den Tod nicht berühren, sonst wirst du sterben! Vergiss das niemals!“
Die Hexe gab ihrem Sohn ein Amulett und belehrte ihn:
„Mein drittes Geschenk ist dieses Amulett! Wenn dieses Amulett an einer Haustür hängt, kommt der Tod nicht in dieses Haus.“
Grom bedankte sich bei seiner Mutter und verließ den Wald.

Er lebte in einer großen Stadt und behandelte die Kranken. Nach kurzer Zeit wurde er der berühmteste Heiler im ganzen Land. Grom freute sich, wenn er einem Kranken helfen konnte. Hin und wieder sah er eine gruselige Gestalt, die beim Krankenbett stand. Grom konnte eine Greisin im schwarzen Gewand mit Kapuze erkennen. Ihr Gesicht war wie ein Totenschädel, langes schneeweißes Haar hing aus der Kapuze. Mit ihren knochigen Fingern umklammerte sie eine Sichel. Grom wusste: Er sah den Tod. Wenn er den Tod sah, heilte er den Kranken nicht – das war sinnlos. Und wenn Grom den Tod nicht sah, dann machte er den Kranken völlig gesund. Sein Ruf verbreitete sich im ganzen Land: Wenn Grom einen behandelte, dann wurde der gesund, und wenn er sagte, dass er nicht helfen konnte, dann konnte auch kein anderer Arzt helfen.

So vergingen viele Jahre. Eines Tages brach die Pest in der Stadt aus. Grom sah bei jedem Kranken den Tod. Bedauernd teilte Grom den Leuten mit, dass er nicht helfen konnte. Der Heiler war verzweifelt, da er wusste, dass eine furchtbare Seuche, gegen die er keine Medizin hatte, ausgebrochen war. Es vergingen Tage, er sah den Tod immer öfter, des Todes Gewand war pechschwarz, und seine Sichel glitzerte bedrohlich.
Grom riet den Menschen in der Stadt, ihre Häuser mit Essig und dem Rauch brennender Kräuter zu reinigen, da verbreitete die Pest sich nicht so rasch, doch mehr konnte er nicht tun. Lange überlegte Grom, wem er das vor dem Tod schützende Amulett geben sollte. In der Nachbarschaft wohnte eine arme Witwe, die neun kleine Kinder hatte. Der Heiler hängte das Amulett an die Tür des Hauses der Witwe.
„Mindestens wird dieses Haus vor dem Tod geschützt.“, dachte Grom, und der Witwe sagte er,
dass sie nicht aus dem Haus gehen sollte, er würde ihr alles Nötige bringen.
Es war gruselig in der Stadt. In jedem Haus waren Kranke und Tote. Kinder, Frauen, Männer und die alten Leuten waren von der Krankheit befallen, keiner wurde verschont. Unzählige Rufe nach Hilfe bekam Grom und jedes Mal sah er den Tod, welcher deutlicher und deutlicher zu erkennen war. Der Tod grinste und zog unheimliche Kälte mit sich.
Eines Tages, unterwegs zur Witwe, sah er den Tod auf der Straße tanzen. Schlechte Zeichen! Grom sah die gruselige Fratze des Todes, und dieser lachte ihm boshaft ins Gesicht:
„Ich nehme alle mit!“
„Es sind genug Tote! Geh weg!“, bat Grom die böse Greisin. Der Tod forderte ihn heraus:
„Tanz mit mir, Heiler Grom!“
Aber Grom erinnerte sich an die Worte seiner Mutter: „Du darfst den Tod nicht anfassen, sonst wirst du sterben!“
Niedergeschlagen ging der Heiler vorbei, der Tod lachte hinter ihn her.

Der Heiler ging zu seiner Mutter, der Waldhexe, und bat sie um Rat: Wie konnte er den Menschen in dieser Stadt helfen? Die Hexe teilte ihm mit:
„Die Menschen werden sterben, solange der Tod in der Stadt ist. Der Tod muss aus dem Stadttor gelockt werden, und wenn er auf der anderen Seite des Tores ist, musst du das Amulett, das ich dir gegeben hatte, an dem Tor befestigen. Dann geht der Tod nicht in die Stadt zurück, sondern er zieht weiter.“ Dann ermahnte sie noch einmal ihren Sohn: „Aber vergiss nicht: Du darfst den Tod nicht berühren!“

Mit diesem Rat ging er zurück in die Stadt. Lange grübelte der Heiler darüber nach, wie er den Tod dazu bringen könnte, aus der Stadt gehen, aber nichts fiel ihm ein. Es lag Totenstille auf den Straßen. Unzählige Leichen stapelten sich im Torgraben, wo sie in der Nacht aus der Stadt gebracht wurden. Das Stadttor wurde geschlossen, keiner durfte weder rein noch raus. Grom konnte es nicht mehr aushalten, so viele Menschen sterben zu sehen. Er nahm das Amulett, das ihm seine Mutter gegeben hatte, und befestigte es am Stadttor. Die Stadtwachen bat Grom ihm das Tor zu öffnen, wenn sie ihn kommen sehen würden, und wenn er aus der Stadt sein würde, sollten sie sofort das Tor schließen und es drei Tage lang geschlossen lassen.
Die Stadtwachen wunderten sich, aber sie hatten großen Respekt vor dem Heiler und vertrauten ihm. So versprachen sie, alles zu machen, wie Grom es gesagt hatte. Dann ging der Heiler zum Marktplatz, wo der Tod tanzte. Ohne Furcht rief er:
„Allein tanzen macht keinen Spaß! Ich will mit dir tanzen!“
Der Heiler gab dem Tod seine Hand, die andere Hand schlug er um die Todes Hüfte. Grom hielt die Greisin an ihrer knochigen Hüfte fest, und sie kreisten im Tanz.
Grom führte den Tod im Tanz die Straße entlang zum Stadttor. Die Stadtwachen wunderten sich sehr, dass der Heiler allein (da sie den Tod nicht sehen konnten) im Kreis auf das Tor zutanzte. Als Grom aus der Stadt war, schlossen die Wachen das Tor. Der Heiler fiel erschöpft um. Er konnte nicht mehr aufstehen und starb. Der Tod war verärgert: Er hatte die Stadt verlassen und konnte nicht mehr hinein. Und so musste der Tod weiterziehen.

Das Herz der Waldhexe sagte ihr, dass mit ihrem Sohn ein Unheil geschehen war. Sie kam in der Nacht in die Stadt und sah Grom tot vor der Stadt liegen. Traurig schüttelte die Hexe den Kopf: Sie verstand ihren Sohn nicht.



Impressum

Texte: Cover Illustration von meiner Mutter
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Erstveröffentlichung in der Anthologie "Drachenstarker Feenzauber", Wurdack Verlag

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