Die tapfere Prinzessin
Es war einmal ein König namens Wolfgang. Andauernd führte dieser König einen Krieg gegen andere Königreiche. Alle Münzen wurden dem Volk genommen, um damit das riesige Heer des Königs zu bezahlen. Aber das Leid seines Volkes war dem König egal, er hatte nur Augen für den Krieg, Schlachten und neue Länder. Der König eroberte viele neue Länder, sein Reich wurde sehr groß, aber er hatte keinen Thronfolger, der nach ihm in diesem Reich weiterherrschen konnte. Nach langem Warten auf einem Erben, gebar die Königin Zwillinge, einen Jungen, den sie Henri nannten und ein Mädchen, das wurde Henriette benannt. Die Kinder glichen sich bis aufs Haar und waren unzertrennlich. Als Henri reiten lernte, lernte Henriette es auch, und wurde genau so eine gute Reiterin wie ihr Bruder. Da die Zwillinge alles zusammen lernten, konnte Henriette genauso gut mit dem Schwert umgehen und Bogen schießen wie Henri. Nur eines konnte Henriette, was Henri nicht konnte: Henriette sang wie kein anderer im gesamten Königreich. Wenn die Prinzessin ein fröhliches Lied sang, tanzten und lachten alle Leute im Königsschloss, und sang Henriette ein trauriges Lied, waren alle traurig und weinten.
So vergingen vielen Jahre, die königlichen Kinder wurden groß. König Wolfgang führte wie immer die Kriege gegen anderen Königsreichen und gewann alle Schlachten. Einmal verließ ihn das Glück. Der König verlor den Krieg gegen das Dragon Land, das weit im Norden lag. Im Dragon Land herrschte König Roger, der ein guter Herrscher war und sich zu verteidigen wusste. Als Besiegter musste König Wolfgang viel Gold dem König von Dragon Land zahlen und ein Teil seines Landes dem Sieger überlassen. Aber das war nicht alles: Er musste seinen Sohn als Geisel dem König Roger übergeben. Nur so war Dragon Königreich sicher, dass kein Krieg mit dem König Wolfgang mehr gebe. Da Henri der einzige Thronfolger war, wollte König Wolfgang den Prinzen nicht weg geben. Darum beschloss er die Prinzessin Henriette als Prinz Henri zu verkleiden und an seiner Stelle dem König Roger zu geben. Henriette und Henri weinten bitter, sie wollten sich nicht voneinander trennen, aber sie mussten sich dem Willen ihres Vaters beugen.
Die Prinzessin wurde als Ritter verkleidet und fuhr, anstatt des Prinzen Henri, weit nach Norden in das Dragon Königreich. König Roger, der Herrscher des Dragon Landes, hatte drei Söhne und eine Tochter, die Prinzessin Albina. Die Prinzen hießen den Prinzen Henri willkommen, der in Wirklichkeit die Prinzessin war. Henriette wurde gut behandelt, wie ein Prinz des Königshofes, sie ging auf die Jagd, speiste mit der Königsfamilie und nahm an allen Hoffesten teil. Die drei Königssöhne waren schöne und tapfere Ritter, aber am schönsten und tapfersten war der Jüngsten der drei Söhne, Königssohn Elmar. Das war zu erwarten: Henriette verliebte sich in Elmar! Es war eine schöne Zeit für Henriette, da sie immer im der Gesellschaft des Prinzen Elmar, den sie von Tag zu Tag mehr liebte, bleiben konnte. Nur bedauerlich war es, dass Henriette auf den Festen mit der Prinzessin Albina tanzen musste. So verging ein glückliches Jahr für die Prinzessin Henriette.
Aber dieses Glück dauerte nicht lange. Im Dragon Königsreich, in den Bergen lebte ein Drache. Damit er nicht mit dem Feuer, den er aus seinem Rachen spie, das Land vernichtete, brachten die Menschen dem Drachen viel Vieh zu fressen. Aber einmal im Jahr musste der Drache eine Jungfrau fressen, da die Jungfrauen gut für sein Verdauen waren und ihn gesund hielten. Um den Drachen zu besänftigen brachten die Menschen ihm auch die Jungfrauen, die arme Bauernmädchen waren. Doch in diesem Jahr wurde der Drache krank, und zur Genesung brauchte er eine Prinzessin zum fressen. Aber im Dragon Reich gab es nur eine Prinzessin – Prinzessin Albina. Weil der König seine einzige Tochter nicht opfern lassen wollte, schickte er seinen ältesten Sohn mit großem Kriegsheer, um das Biest zu töten. Die kämpften mit dem Drachen, aber der Drache verbrannte den Prinzen und seinen Kriegern. Das Brüllen des Biestes wurde lauter, er verlangte nach einer Prinzessin! Die Prinzessin Albina weinte und zitterte vor Angst. Dann ging der zweite Prinz um mit dem Drachen zu kämpfen und kam nicht zurück. Er und seine Kriegern wurden auch von des Drachens Feuer verbrannt. Das Königsreich hatte keine Krieger mehr. Elmar, der letzte Prinz, nahm sein Schwert und sagte: „Ich gehe zu Drachenhöhle und kämpfe mit dem Drachen! Ich werde nicht meine Schwester ihm zu fressen geben!“ Der König wollte ihn von seinen Vorhaben ausreden, da Elmar sein letzter verbliebener Sohn und einziger Thronfolger war, aber nichts konnte den Prinzen aufhalten. Henriette nahm ihr Schwert und begleitete Elmar. Sie war in den jüngsten Sohn des Königs unsterblich verliebt, sie wollte mit ihm kämpfen, und wenn es sein musste, mit ihm sterben. Albina weinte, da sie Angst um ihren Bruder hatte und um den geliebten, schönen Prinz Henri, der in der Wirklichkeit nur die tapfere Prinzessin Henriette war.
Elmar und Henriette ritten zur Höhle des Drachen. Der Drache kroch aus seiner Höhle. Der Biest stellte sich vor ihnen auf und breitete seine Schwingen aus. Er hatte grüne Schuppen, blutrote Augen, scharfe Krallen und Reißzähne. Rauch qualmte aus seinen Nüstern. Der Drache wollte schon den Feuer spieen, dann sah er, dass es nur zwei Menschen waren, und schnaubte beruhigt. Henriette hatte Angst, als sie dieses Ungeheuer sah, aber sie blieb tapfer bei Prinz Elmar stehen und zog zum Kampf ihr Schwert. Plötzlich gab der Drache einen Freudenlaut von sich, als er Henriette sah.
„Endlich bringt ihr mir eine Prinzessin!“, brüllte der Drache erfreut und verlangte, dass Henriette beim ihm blieb. Henriette gestand Elmar, dass sie eine Frau sei, die Prinzessin Henriette, die Tochter des Königs Wolfgang. Sie überreichte dem Prinzen ihr Schwert und ihr Pferd, dann sprach sie:
„Hab keine Angst um mich! Lass mich hier beim Drachen, aber am Abend komm wieder und bring mir mein Schwert mit. Es wird alles gut!“ Widerwillig ritt der Prinz zu dem Königschloss zurück, aber er machte das, was Henriette sagte: Er ließ die tapfere Prinzessin mit dem Drachen allein.
„Bevor ihr mich frisst, gewährt mir bitte noch einen letzten Wunsch: Lasst mich für euch singen!“, bat Henriette. Der Drache freute sich ein Lied vor dem Fressen zu hören und ließ sich nieder. Leise und vorsichtig begann Henriette ein Tanzlied zu singen, dass sie am Hofe von König Roger gehört hatte. Sie wurde immer lauter und sang immer fröhlicher. Zunächst lauschte der Drache nur schweigend, dann stellte er sich auf die Pfoten und tanzte. Die Prinzessin sang immer lauter und immer schneller, auch der Drache tanzte immer schneller. Der Drache tanzte und tanzte, bis er schließlich erschöpft zu Boden sank. Henriette holte tief Luft und begann wieder zu singen. Sie erhob ihre Stimme zu einem sanften, flüsternden, aber dennoch lautem Ton und sang ein Schlaflied. Langsam beruhigte sich der Drache und es qualmte wieder gleichmäßig aus seinen Nüstern. Seine Augen fielen zu, der Drache fiel im tiefen Schlaf. Henriette sang und sang, bis Prinz Elmar, wie er es versprach, am Abend wiederkehrte. Die Prinzessin nahm ihr Schwert und führte Elmar zu dem schlafenden Drachen. Sie schlugen dem Drachen den Kopf ab und ritten zurück zum Königsschloss.
Die Nachricht über den Tod des Drachens verbreitete sich schnell über das ganze Land. Das Volk freute sich. Ein großes Fest wurde gegeben, wo man Henriettes Klugheit und Mut feierte. Der König vom Dragon Land lud Henriettes Vater und Mutter, und auch den Prinz Henri zu diesem Fest ein. Die beiden Könige schlossen Frieden und Freundschaft. Kurz darauf heirateten Prinz Elmar und Henriette, und auch Prinz Henri und Prinzessin Albina, sie feierten eine doppelte Hochzeit, die so prächtig war, dass noch viele Jahre darüber erzählt wurde.
Die Nixe und Jan
Einmal, vor langer Zeit, wohnte in einem Dorf ein schöner Jüngling namens Jan. Seine Eltern starben sehr früh und Jan lebte allein in einem kleinen Häuschen am Rande des Dorfes. Er verdiente sein Brot als Hirte, er hütete die Kühe des ganzen Dorfes. Die Leute waren freundlich zu Jan und er hatte ein gutes Leben in diesem Dorf. Der Hirte Jan war ein sehr schöner Bursche, er hatte einen stattlichen Körper, blonde Locken und blaue Augen. Alle Frauen und Mädchen des Dorfes liebten ihn, aber sie liebten ihn nicht nur für sein Aussehen, sie liebten ihn auch für seine Musik: Jan konnte herrlich Flöte spielen. Er spielte seine Flöte überall, er spielte, wenn er auf der Wiese die Kühe hütete, oder im Garten, wo er sich ausruhte, und spielte auch, wenn er die Dorfstraße entlang lief, oder zuhause. Aber am liebsten spielte er spät abends am Ufer des großen Sees, der nicht weit entfernt vom Dorf lag. Nur dort konnte er alleine und ungestört Flöte spielen, da die Dorfbewohner in der Dunkelheit nie zum See gingen. Sie hatten Angst vor den Nixen, die im See lebten. Die Leute glaubten, wenn man zu nah ans Wasser kommt, dann werden die Seejungfrauen denjenigen ins Wasser ziehen und ertränken. Jan hielt dies für dummes Geschwätz und spielte gern nachts Flöte am Ufer.
Aber er war dort nicht allein! Heimlich reckten die Nixen ihre Köpfe aus dem Wasser und lauschten seiner bezaubernden Musik.
Eines Abends, als die große Mondscheibe den ganzen See beleuchtete, hörte Jan ein Platschen im Wasser, er hob den Kopf und sah eine Frau, die aus dem Wasser kam. Ihre nackte Haut war schneeweiß und langes, grünes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie lächelte Jan an und kam langsam näher. Verwundert fragte er:
„Wer bist du?“
„Ich bin eine Nixe aus dem See, ich heiße Nuri.“, antwortete die Frau mit einer Stimme wie das Rauschen des Wassers. Jan konnte seine Augen nicht von der Nixe abwenden, da sie so atemberaubend schön war. Er fragte nur:
„Wenn du eine Nixe bist, warum hast du dann normale Menschenbeine?“ Die Nixe erklärte:
„Nachts, wenn der Mond leuchtet, verwandelt sich der Fischschwanz der Nixen zu Menschenbeinen, und wir können an Land gehen. Bitte, hör nicht auf zu spielen, deine Musik ist wunderbar!“ Jan begann wieder zu spielen und die Seejungfrau saß neben ihm und lauschte seiner Musik. So verbrachten der Hirte und die Nixe die ganze Nacht unter Mondschein zusammen. In dieser Nacht verliebten sie sich in einander.
Von da an trafen sich die beiden jede Nacht am Ufer des Sees. Wenn der Mond am Nachthimmel stand, dann spaltete sich der Fischschwanz der Nixe und verwandelte sich in zwei Beine, und sie kam ans Ufer. Wenn aber die Nacht mondlos war, dann saß Nuri auf einem ins Wasser gefallenem Baum und ließ ihren schuppigen Schwanz im Wasser. Sie lauschte Jans Musik und das Glück strahlte aus ihren Augen.
Als jedoch der Herbst immer näher kam und die Nächte kälter und kälter wurden, wurde die Nixe traurig. Besorgt fragte Jan, warum sie so unglücklich sei. Nuri seufzte:
„Im Winter, wenn der See zugefroren ist, können wir Nixen nicht an die Wasseroberfläche. Wir müssen am Grund des Sees bleiben und ich kann dich nicht sehen! So werde ich vor Sehnsucht nach dir sterben!“ Jan grübelte lange, wie es weiter gehen sollte, und schlug vor:
„Lass uns zum Wasserhexer gehen und ihn bitten, mich in einen Wassermann zu verwandeln, dann kann ich mit dir am Grund des Sees im Winter leben!“ So nahm Jan ein Boot und ruderte zur Insel in der Mitte des Sees, wo der Wasserhexer namens Nicor lebte. Nicor war ein freundlicher Hexer, alle Dorfbewohner mochten ihn. Als Jan und seine Nixe bei Nicor ankamen, sprach Jan:
„Verwandle mich in einen Wassermann! Dann brauchen wir uns im Winter nicht zu trennen!“ Der Hexer tadelte Jan:
„Die Nixe liebt dich! Du sollst dich nicht verändern!“ Aber Jan flehte und bat den Hexer, dass er ihn in einen Wassermann verwandelte, bis Nicor nachgab. So rief der Wasserhexer die Kraft des Mondes, braute einen Zaubertrank und gab ihn Jan zum trinken. Jans Beine verwandelten sich in eine große Flosse. Er wurde zu einem Wassermann und schwamm mit Nuri zusammen bis zum Grund des Sees.
Dort verbrachten sie den ganzen Winter. Sie wohnten in einem Palast, der aus Muscheln gebaut war. Jan litt keine Not und hatte es gut bei den Seejungfrauen und Wassermännern. Aber am Grund des Sees war es dunkel, die Sehnsucht nach Sonne und Licht nagte an Jan, aber am meisten vermisste er seine Flöte. Als endlich der Frühling kam und das Eis auf dem See geschmolzen war, kamen die Nixe und Jan an die Oberfläche des Wassers. Glücklich verbrachten sie den Sommer zusammen im See. Wenn nachts der Mond am Himmel stand, dann wurden aus ihren Fischschwänzen Beine und die Beiden kamen ans Ufer, sie konnten im weichen Gras laufen und Jan konnte Flöte spielen.
Als der Herbst kam, wurde Jan bekümmert. Nuri sprach zu ihm:
„Wir sollen zum Wasserhexer schwimmen, du sollst wieder ein Mensch werden, da ich nicht sehen kann, wie du dich in der Dunkelheit am Grund des Sees quälst. Ich werde Nicor bitten mich in eine Frau zu verwandeln, dann kann ich mit dir im Dorf leben.“ Und so machten sie es auch, sie schwammen zu dem Wasserhexer und Nuri bat ihn:
„Lieber Nicor, verwandele mich in eine Frau, ich will zwei Beine haben, so dass ich immer am Land bei meinem Liebsten leben kann.“ Der Wasserhexer schüttelte den Kopf:
„Aber Jan liebt doch eine Nixe! Du sollst dich nicht verändern!“ Die Nixe blieb entschlossen, und wieder erfüllte der gutmütige Nicor ihnen den Wunsch. Der Hexer braute seinen Zaubertrank, gab ihn Jan und Nuri zu trinken: Sie bekamen Beine. Der Wasserhexer gab den Beiden zwei alte Hemden um den nackten Körper zu bedecken. Sie nahmen das Ruderboot und fuhren zurück zum Dorf.
Täglich badete Nuri im See und fühlte sich wohl, doch als erneut der Winter kam und eine dicke Eisschicht den See bedeckte, wurde Nuri unglücklich und sehnte sich nach dem Wasser. Bekümmert und kraftlos wartete sie den ganzen Winter über, bis das Eis wieder schmolz. Die Beiden wussten keinen Rat mehr, was sie machen sollten.
Sie fuhren wieder zum Wasserhexer und klagten:
„Lieber Nicor, was sollen wir nur tun? Wie können wir nur glücklich sein?!“ Nicor lachte und sprach:
„Ihr seid doch schon glücklich, da ihr einander liebt! Ihr sollt euch nicht verändern!“ Der Wasserhexer bereitete das Mondwasser zu und gab ihn Nuri zu trinken, sogleich verwandelten sich ihre Beine in einen Fischschwanz. Sie wurde wieder eine Nixe.
Von da an blieb Nuri eine Nixe und Jan ein Mensch. Im Winter waren sie getrennt, sie warteten geduldig bis der Frühling kam und das Eis schmolz. Die Beiden trafen sich vom Frühling bis zum späten Herbst jede Nacht am Ufer des Sees. Und wenn der Mond die Landschaft in ein helles Licht tauchte, verwandelte sich der Fischschwanz der Nixe in zwei hübsche Beine und sie konnte an Land zu Jan gehen. Und so waren sie glücklich, da das Glück so einfach sein kann!
Texte: Illustrationen von meiner Mutter
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
"Die tapfere Prinzessin" - Erstveröffentlichung in der Anthologie "Drachenwelt und Feenstaub", Balthasar Verlag
"Die Nixe und Jan" - Erstveröffentlichung in der Anthologie "Wovon träumt der Mond?", Wurdack Verlag