Mila Summers
Tales of Chicago
Über Küss mich wach:
Eigentlich hielt Stacy es für eine gute Idee, dem lukrativen Stellenangebot Hals über Kopf zu folgen. Die Seifenblase zerplatzt schnell, nachdem sie vor Ort feststellen muss, dass der Job bereits vergeben ist. Ohne einen Penny in der Tasche fasst sie einen folgenschweren Entschluss und reist per Anhalter weiter. Mitch Havisham, Anwalt aus Memphis, nimmt sie mit nach Chicago. Während der Fahrt macht er ihr ein unmoralisches Angebot und lässt nicht locker, ehe sie schließlich einwilligt…
Über Vom Glück geküsst:
Als der alljährliche Wohltätigkeitsball der Firma ihres verstorbenen Vaters naht, hofft Drew, über eine Datingseite im Internet endlich den richtigen Mann fürs Leben zu finden. Seit Jahren wird sie von ihrer Stiefmutter Estelle und ihren Stiefschwestern Ashley und Madison bevormundet, verhöhnt und gedemütigt. Ihr letzter Hoffnungsschimmer ist die Suche nach der ganz großen Liebe. Nach mehr oder minder katastrophalen Verabredungen lernt sie unverhofft Brian kennen, der ihr Prinz Charming werden könnte. Oder etwa doch nicht?
Über Ein Frosch zum Küssen:
Emily Havisham verliert kurz vor Weihnachten ihren Job. Wenige Zeit später findet sie sich in der Marketingabteilung eines Unternehmens wieder, das allen Ernstes meint, Freddy der Frosch wäre ein adäquater Ersatz für Santa Claus. Sicher, diese Firma bräuchte unbedingt kompetente Unterstützung, aber ist das wirklich die Herausforderung, nach der sie sucht? Außerdem rückt ihr ihr Chef Liam Morris eindeutig zu nahe auf die Pelle. Noch ehe sie ihren Vorgesetzten in die Schranken weisen kann, verliert sie ihr Herz an den Womanizer, der nichts, aber auch rein gar nichts anbrennen lässt. Kann das gut gehen?
Über Küsse in luftiger Höhe:
Miranda Honeychurch ist ein klassischer Beziehungspechvogel. Irgendwie gerät sie immer an den Falschen. Dann trifft sie auf Noah, der ihr bei einem Brand das Leben rettet. Die Tatsache, dass er für sie sein Leben aufs Spiel setzt, lässt ihr Herz höherschlagen – doch der Feuerwehrmann würdigt sie nach dem gefährlichen Einsatz keines Blickes mehr und lässt sich sogar verleugnen. Hals über Kopf kehrt sie Chicago den Rücken, obwohl der Gedanke an Noah sie bis in ihre Träume verfolgt. Mit ihrer Freundin Emily bricht sie zu einem Roadtrip auf, bei dem sie mehr findet, als sie zu hoffen gewagt hat. Und dennoch quält sie eine Frage: Was für ein Geheimnis verbirgt Noah hinter den ozeangleichen Augen?
Über Zum Küssen verführt:
Niklas ist Junggeselle und denkt gar nicht daran, etwas an seinem Leben zu verändern. Über die Waschlappen in seinem Freundeskreis, die nun Väter geworden sind und unter der Fuchtel ihrer Ehefrauen stehen, macht er sich nur lustig. Als ihn eine Wette für eine Woche an die vier Frauen seiner Kumpels bindet, glaubt er noch, die Zügel fest in der Hand zu halten.
Frisch getrennt macht sich Phoebe, die Leadsängerin einer Band, an die Côte d’Azur auf. Dort soll sie in einem Luxushotel französische Chansons zum Besten geben. Nur dumm, dass sie die Sprache gar nicht beherrscht. Wie gut, dass der Gast mit den vier Frauen im Schlepptau ihr tatkräftig unter die Arme greift - und auch vor ihrem Herzen nicht haltmacht. Aber ist Niklas wirklich ein Traummann?
Über die Autorin:
Mila Summers, geboren 1984, lebt mit ihrem Mann und der kleinen Tochter in Würzburg. Sie studierte Europäische Ethnologie, Geschichte und Öffentliches Recht. Nach einer plötzlichen Eingebung in der Schwangerschaft schreibt sie nun humorvolle Liebesromane mit Happy End und erfreut sich am regen Austausch mit ihren Lesern und Leserinnen.
Bisher von der Autorin erschienen:
»Tales of Chicago«–Reihe
Küss mich wach (Band 1)
Vom Glück geküsst (Band 2)
Ein Frosch zum Küssen (Band 3)
Küsse in luftiger Höhe (Band 4)
Zum Küssen verführt (Band 5)
»Manhattan Love Stories«–Reihe
Irresponsible Desire (Band 1)
Irrepressible Desire (Band 2)
Irresistible Desire (erscheint im April 2017)
Liebe lieber einzigartig
Rettung für die Liebe
MILA
SUMMERS
TALES OF CHICAGO
Sammelband
Band 1 – 5
Deutsche Erstauflage März 2017
Copyright © Mila Summers
Lektorat: Dorothea Kenneweg
Korrektorat: Genya Bieberbach, Martina König, SW Korrekturen e.U.
Covergestaltung: © Nadine Kapp
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, bedürfen der Einwilligung der Autorin.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
mila.summers@outlook.de
Inhaltsverzeichnis
Küss mich wach
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Vom Glück geküsst
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Ein Frosch zum Küssen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Küsse in luftiger Höhe
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Zum Küssen verführt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Danksagung
Weitere Bücher der Autorin
Küss mich wach
Kapitel 1
Tante Anne hatte mich gewarnt. Hätte ich doch nur auf sie gehört. Aber nein, ich musste ja mal wieder meinen Dickkopf durchsetzen. Und was hatte ich nun davon? Ich saß in einer Kleinstadt im Mittleren Westen fest. Das Einzige, was mich daran hinderte den erstbesten Flug nach Hause zu nehmen, war mein geschundenes Ego, das sich die Niederlage nicht eingestehen wollte.
Immer und immer wieder las ich die wenigen Zeilen auf dem fettverschmierten kleinen Zettel in meiner Hand, meinem Fahrschein in ein neues, aufregendes Leben. Allzu gerne folgte ich der Verheißung. Die Bedingungen klangen einfach zu verführerisch. Zwei freie Tage die Woche und bezahlte Überstunden waren in der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Mit dem Geld wäre es mir ein Leichtes gewesen, den Kredit abzubezahlen, den ich dank Mike noch immer tilgen musste. Was mich damals geritten hatte, für diesen Vollidioten den Schuldschein zu unterschreiben, weiß ich bis heute nicht.
Eigentlich trug ich selbst die Schuld daran. Hals über Kopf war ich losgestürmt, um mir den Job zu sichern. Dummerweise ohne meine Referenzen im Gepäck. Viel schlimmer wog allerdings die Tatsache, dass ich wohl vergaß, meine Bewerbungsunterlagen abzuschicken.
Tante Anne versuchte mich noch händeringend an einer überstürzten Abreise zu hindern, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. So war ich nun mal: planlos, neugierig und von nichts und niemandem zu bremsen. Früher halfen mir diese Eigenschaften. Besonders nach dem Tod meiner Eltern musste ich schnell lernen, mich alleine durchs Leben zu schlagen.
Als alleinstehende, ältere Dame stellte sich Tante Anne – damals bereits weit über siebzig – der Herausforderung, ohne zu wissen, was ein sechzehnjähriger Teenager für ein Chaos anrichten konnte. Völlig resigniert ließ sie mich irgendwann einfach machen.
Das Motel, in dem ich mir ein Zimmer nahm, hatte seine besten Jahre weit hinter sich gelassen. Die Fugen im Bad waren so schwarz, dass man fast annehmen könnte, es gehöre so. Die Fenster ließen vor Schmutz kaum Sonnenlicht in den kleinen Raum, wobei dieser Umstand vielleicht gar nicht so schlimm war. Mir reichte das, was ich sehen konnte, bereits vollkommen aus.
Die Bettdecke roch muffig und war von Brandlöchern übersät. Irgendetwas in der Wand schabte wie wild und versuchte, sich offenkundig einen Weg in den Raum zu verschaffen, der sich seit heute mein neues Zuhause schimpfte.
Mein Geld reichte nur für ein One-Way-Ticket. Für das Loch, in dem ich hauste, musste ich die letzten zwanzig Dollar auf den Tisch legen. Es half nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und in Selbstmitleid zu versinken. Ich brauchte einen Plan, wie ich aus dem Schlamassel herauskam, ohne Tante Anne um Hilfe bitten zu müssen.
Eigentlich wollte ich mich gleich nach meiner Ankunft bei ihr melden. Doch dann fuhr ich zuerst zu meinem vermeintlichen Arbeitsplatz. Nach der Absage fehlte mir die Energie, mich Tante Annes sicher gut gemeinten Belehrungen zu stellen. So zögerte ich das Gespräch immer weiter hinaus.
Das schlechte Gewissen nagte an mir, aber mein Stolz wollte einfach nicht klein beigeben. Mit meinen Anfang zwanzig überragte mein Dickkopf den meines Dads um Längen. Ein Charakterzug, auf den ich gerne verzichtet hätte.
Was für Optionen blieben mir noch? Mein Geld war, bis auf die wenigen Pennys, die wahrscheinlich in meiner Tasche neben den Kaugummis und Taschentüchern schlummerten, aufgebraucht. Warum war ich nur so überstürzt aufgebrochen? Wie sollte ich nur die Durststrecke bis zu meinem ersten Gehaltsscheck überbrücken?
Nur weg. Das war alles, was mir durch den Kopf ging, als ich Mike mit Amanda in der kleinen Bar sah. In diese Bar, nur wenige Blocks von Tante Annes Haus entfernt, führte er mich damals bei unserem ersten Date aus.
Er ließ seinen Charme spielen und erhielt dafür bereits am ersten Abend, was er wollte. Ich war nicht stolz darauf und sonderlich bequem war sein alter Chevi auch nicht wirklich gewesen. Aber, hey? Man ist nur einmal jung. Oder?
Ach, Quatsch. Es half nichts, die Dinge zu beschönigen. Mike hatte vom ersten Moment an eine unglaubliche Ausstrahlung auf mich. Ich fühlte mich magisch von ihm angezogen. Klingt abgedroschen, entspricht aber tatsächlich der Wahrheit.
Oh, Mann. Als wäre mein Leben nicht schon kompliziert genug. Jetzt musste ich mich auch noch der Tatsache stellen, dass ich noch etwas für das Arschloch empfand.
Aber ich war ja selbst schuld. Wie ein Lemming war ich hopsend zur Klippe geeilt, um mich möglichst wagemutig in die Tiefen zu stürzen, sodass es alle gut sehen konnten.
Wieder einmal versuchte Tante Anne mit Engelszungen auf mich einzureden. Ohne Erfolg. Ich machte, was ich für richtig hielt, und stand nun mit 5.000 Dollar in der Kreide. Dumm gelaufen oder shit happens. Egal, wie man es drehte und wendete, ich hatte es selbst verbockt.
Vor nicht einmal einem Jahr beendete ich die Uni mit Auszeichnung und dennoch konnte ich keinen Job finden. Dass es nicht leicht werden würde, war mir von Anfang an klar. Doch so schwierig hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Die wirtschaftlichen Probleme des Landes hatten den Museen den Geldhahn abgedreht. In solchen Zeiten gab es keine Mittel für Einrichtungen, die meist keinen Gewinn abwarfen. Als Museologin blieben mir da nicht viele Alternativen. Daraufhin bemühte ich mich um andere Stellen, die allerdings nur im weitesten Sinne zu meinem Fachgebiet zählten. So erging es mir auch mit dem Job als Archivarin in dem kleinen Stadtarchiv.
Wie ein Wink des Schicksals hatte ich es aufgefasst, als ich in der Zeitung die Anzeige las. Erst am Abend zuvor war ich auf Mike und Amanda getroffen.
Ich verfasste schließlich das Anschreiben, packte all die angeforderten Unterlagen in den Anhang und ging auf Senden. Zumindest glaubte ich, dies getan zu haben. Bei genauerer Durchsicht meines Emailaccounts fiel mir allerdings auf, dass ich lediglich einen Entwurf gespeichert hatte.
Die Dame am Empfangsschalter versuchte mich zu trösten, indem sie mir mitteilte, dass der Job ohnehin bereits unter der Hand vergeben worden war. Die Ausschreibung diente lediglich zur Einhaltung der Vorschriften.
Ja, und jetzt stand ich da und wusste nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Mir fehlte der rechte Schwung, die Sache anzupacken und mich aus dem Schlamassel zu ziehen.
Es half nichts. Der Tag war lang genug gewesen und versprach keine nennenswerte Besserung. Ich schlug die muffige Bettdecke zur Seite, legte mich in voller Montur auf das vergilbte Laken und zog die Beine an den Körper. Ich wagte es nicht einmal, die Schuhe auszuziehen. Zutiefst ekelte ich mich vor den Gerüchen und den Fantasien, die mir bezüglich des schäbigen Raumes durch den Kopf schossen.
Irgendwann in dieser Nacht fand ich dann doch in den Schlaf und träumte von dem Leben, wie es sein sollte, wie ich es mir sehnlichst wünschte und stets darauf hoffte, dass es so kommen möge. Ein Prinz auf einem weißen Pferd spielte darin keine unbedeutende Rolle.
Kapitel 2
Der nächste Tag begann, wie der vorherige endete: beschissen. Mein Nacken war verspannt und mein Kopf dröhnte. Ich schlief auf der Seite mit angewinkelten Beinen und wagte es die ganze Nacht nicht, mich zu bewegen. Meine Glieder schmerzten, während mir der modrige Geruch meiner Umgebung in die Nase stieg.
Nichts wie raus aus diesem Zimmer. Mein Entschluss stand fest. Zu Tante Anne konnte ich nicht zurück. Noch nicht. Ich würde mir eine andere Stelle suchen und ihr damit den Beweis liefern, dass ich es alleine schaffen konnte.
Mit dem Auto waren es nur 200 Meilen bis nach Chicago. Dort befanden sich so renommierte Museen wie das »Museum of Science and Industry« oder das »Chicago History Museum«, in dem ich während meines Studiums bereits ein Praktikum absolvieren durfte.
Auch wenn sie mich dort sicherlich nicht mit wehenden Fahnen empfangen würden, war es ein Anfang und vor allem ein Weg hier raus. Ich schämte mich nicht, Klinken putzen zu gehen. Im Gegenteil. Vielleicht fand ja eine Institution Gefallen an meinem Engagement und bot mir einen Job an. Einen Versuch war es wert.
Ich lief in meinen abgetretenen Sneakers in die Nasszelle. Von einem Bad konnte hier wirklich nicht die Rede sein. Der Duschvorhang hing in Fetzen von der Decke und die Badewanne wies Spuren auf, deren Ursprung ich nicht eingehender unter die Lupe nehmen wollte. Notdürftig wusch ich mir Gesicht und Hände mit kaltem Wasser.
Nach dem spärlichen Morgenritual packte ich meine wenigen Habseligkeiten in den kleinen Reisekoffer. Meine Anzughose und die weiße Bluse legte ich mit viel Sorgfalt zusammen. Schließlich würde ich diese die nächsten Tage öfter brauchen.
Nachdem ich offenkundig pleite war, entschied ich mich, per Anhalter zu reisen. »Stacy, steig nie bei fremden Menschen ins Auto ein! Vor allem nicht bei Männern! Hörst du?«, ermahnte mich Tante Anne in Gedanken.
Aber was für eine Alternative blieb mir? Schließlich konnte ich die ausstehenden 200 Meilen ja schlecht zu Fuß zurücklegen, auch wenn meine Figur recht sportlich war. Diesen Umstand verdankte ich allerdings nicht dem Fitnessstudio, sondern den guten Genen meiner Mutter. Ich aß gerne und viel, ohne danach übermäßigen Speck anzusetzen.
Mein knurrender Magen erinnerte mich daran, dass ich seit gestern Vormittag nichts mehr zu mir genommen hatte, und wie es aussah, würde es noch eine ganze Weile so bleiben. Verzweifelt kramte ich in meiner Handtasche nach einem Schokoriegel oder Ähnlichem. Bis auf Kaugummis und ein paar Bonbons, die sich bereits aus dem Papier gelöst hatten, wurde ich allerdings nicht fündig.
Ich hievte mein Gepäck in Richtung Ausgang. Nichts wie weg hier. So Gott wollte, würde mich diese schäbige Behausung nur noch von hinten sehen. Ich sehnte mich so nach einer ausgiebigen, heißen Dusche, um mich von der vergangenen Nacht reinzuwaschen.
Den Schlüssel meines Zimmers gab ich kommentarlos an der Rezeption ab. Das sicherlich nett gemeinte »War alles in Ordnung mit ihrem Zimmer?« der Dame hinter dem Tresen überhörte ich geflissentlich.
Vor der Tür atmete ich die stickige Luft ein. Es war noch nicht einmal zehn Uhr und das Thermometer schien bereits die 30 Grad-Marke überschritten zu haben. Die Tatsache, gleich auf dem heißen Asphalt in der Sonne zu verglühen, trieb mir Freudentränen in die Augen.
Natürlich befanden sich weder Sonnencreme noch eine Mütze in meinem Gepäck. Warum auch? Eigentlich war ich hier, um ein Vorstellungsgespräch zu absolvieren, nicht um einen Wanderurlaub zu machen. Mann, Mann, Mann. Ich musste dringend etwas in meinem Leben ändern.
Lieber Gott, wenn ich in Chicago eine Stelle bekomme, versuche ich mein Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Und außerdem schicke ich Tante Anne von meinem ersten Gehalt einen riesigen Blumenstrauß. Versprochen. Nur bitte steh mir dieses eine Mal bei!, schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel.
Das Hupen eines Pick-ups riss mich aus meinen Gedanken. Ich schaffte es gerade noch, einen Schritt zur Seite zu gehen und mein Gesicht abzuwenden, um den aufwirbelnden Staub nicht in die Augen zu bekommen.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich nach wie vor an einem Stück war, warf ich dem Fahrer in dem dunkelblauen Cadillac Escalade einen bitterbösen Blick zu.
Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Um ein Haar hätte mich dieser Idiot über den Haufen gefahren. Und was tat er? Anstatt besorgt dreinzuschauen und mir seine Hilfe anzubieten, taxierte er mich abschätzig mit seinem Blick.
Offensichtlich überlegte er gerade, ob sich der Halt lohnte. Während er genüsslich seinen Kaugummi kaute, verzog sich sein Mund zu einem freudigen Lächeln. Anscheinend bestand ich seine Musterung. Mit einem Wink forderte er mich auf einzusteigen.
Tante Anne riet mir im Geiste dringend davon ab. Nachdem ich allerdings bereits über eine Stunde in der glühenden Hitze gewartet hatte und mir der Schweiß aus allen Poren lief, war ich nicht gewillt, auf sie zu hören.
So packte ich meinen Koffer, wuchtete ihn auf die Pritsche und schwang mich beherzt auf den Beifahrersitz. Eines wusste ich bereits in diesem Moment ganz genau: Ein Gentleman steckte definitiv nicht in dem Kerl, vor allem aber nicht der Prinz auf dem weißen Pferd.
»Sag mal, machst du sowas öfter? Dir ist schon klar, dass ich ein potentieller Frauenmörder sein könnte und dich nur mitgenommen habe, um meine perversen Fantasien mit dir auszuleben«, setzte der Kerl, der mich beinahe über den Haufen gefahren hatte, zu einer Moralpredigt an.
»Danke, dass du mich auf den Umstand hinweist«, erwiderte ich distanziert, während ich mich anschnallte und meinen Blick fest auf die Fahrbahn vor uns heftete.
Jetzt musste der Typ auch noch den Moralapostel spielen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ob ich ihn vielleicht auf den klitzekleinen Umstand hinweisen sollte, dass er mich vor nicht einmal fünf Minuten beinahe umgefahren hätte? Um keinen unnötigen Streit vom Zaun zu brechen, entschied ich mich dagegen und hoffte inständig, die Fahrt ginge schnell vorüber.
»Wo möchtest du eigentlich hin? Weiß deine Mutter, was du für Sachen machst?«, stichelte er weiter mit seinen penetranten Fragen, während er mit seinem prüfenden Blick über mich glitt.
»Ich möchte nach Chicago und meine Mutter ist seit acht Jahren tot. Sonst noch etwas?«, dabei sah ich ihm tief in die Augen und machte damit unmissverständlich klar, dass weitere Fragen unangebracht wären. Zumindest hoffte ich das.
»Nach Chicago also. Was hast du dort vor? Besuchst du jemanden?«
Genervt stöhnte ich auf und kramte in meiner Handtasche nach dem Etui meiner Sonnenbrille. Als ich sie schließlich fand, setzte ich sie auf und stellte mich für die nächsten Minuten schlafend.
Dass ich tatsächlich eingeschlafen war, bemerkte ich erst, als mich eine Hand an der Schulter berührte. »Hey Dornröschen, aufwachen! Wir sind bald da. Es sind nur noch dreißig Meilen bis nach Chicago. Wo genau soll ich dich dann raus lassen?«
»Was? So schnell?«, antwortete ich schlaftrunken.
»Schätzchen, du hast fast zwei Stunden geschlafen«, flachste mein Gegenüber.
»Oh, tatsächlich?«, hörte ich mich wie aus weiter Ferne sagen.
»Also, wo möchtest du hin? Was ist dein Ziel?«, hielt er hartnäckig an seiner Frage fest.
»Och, vielleicht am »Museum of Science and Industry«, wenn es keine allzu großen Umstände macht«, gab ich klein bei und offenbarte damit meine Planlosigkeit.
»Wartet dort jemand auf dich oder wieso möchtest du dorthin?«
Langsam, aber sicher, ging mir der Typ so dermaßen auf die Nerven, dass ich mich nur unter Aufbietung all meiner Kräfte davon abhalten konnte, ihm an die Gurgel zu springen. Was ging es ihn an, was ich wie mit wem wo machte? Mal ehrlich. Ich war keine sechzehn mehr. Ich brauchte keinen Beschützer. Vor allem keinen, den ich nicht einmal kannte.
»Warum möchtest du das eigentlich wissen? Es kann dir doch vollkommen egal sein, was ich vorhabe. Wenn es dir nicht möglich ist, mich an dem Museum abzusetzen, dann eben nicht. Aber bitte hör auf, mir ein Loch in den Bauch zu fragen.« Wie auf Kommando begann mein Magen zu knurren. Auch meine Hand, die ich schützend davor gelegt hatte, war nicht in der Lage, das donnernde Geräusch einzudämmen.
»Da hab ich dir wohl tatsächlich bereits ein Loch in den Bauch gefragt. Scheint so groß zu sein, dass bereits dein Magen rebelliert. Ich werde am nächsten Diner Halt machen und dich auf ein paar saftige Burger einladen.«
»Das musst du nicht. Lass mich einfach irgendwo raus.« Betont gelassen versuchte ich die Einladung auszuschlagen, während mir der Gedanke an köstlich angebratenes Rindfleisch und ein paar fettige Fritten das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
»Nichts da. Wir genehmigen uns jetzt erst mal eine Kleinigkeit. Wollte eh eine Pause machen, da ich schon eine ganze Weile unterwegs bin. Kann sicher nicht schaden.«
»Wie du meinst. Aber wie gesagt, mach dir wegen mir keine Umstände. Ich komm klar«, entgegnete ich halbherzig.
»Sicher doch«, kam wenig überzeugend die Antwort.
Wenige Minuten später saßen wir uns in einem Diner an der Interstate 55 gegenüber. Kurz nachdem das Essen auf dem Tisch stand, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und stürzte mich auf den Double Cheeseburger mit Pommes und dem in Mayo ertrunkenen Krautsalat.
Ich war mir absolut sicher, dass ich in meinem ganzen Leben noch keinen so guten Burger gegessen hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich mittlerweile ziemlich ausgehungert war. Dennoch verputzte ich die ganze Portion in Windeseile und schüttete den halben Liter Diet Coke gleich hinterher.
Zufrieden strich ich mir über die kleine Wölbung, die sich unter meinem Shirt gebildet hatte. Für einen Moment gab ich mich der aberwitzigen Vorstellung hin, es könne doch noch alles gut werden. Während die aufgenommenen Kohlehydrate meinen Körper mit Energie fluteten, schien sich auch mein Geist zu entspannen.
»Ich heiße Stacy Brewster, bin 24 Jahre alt und auf dem Weg nach Chicago, um mir dort einen Job zu suchen.«
Meine plötzliche Offenheit verwunderte mich selbst. Ich hielt kurz inne, fasste mich dann aber gleich wieder, während ich auf die Reaktion meines temporären Weggefährten wartete.
»Okay, Stacy. Mein Name ist Mitch Havisham und ich bin 28 Jahre alt. Gerade befinde ich mich auf dem Heimweg zu meiner Familie. Ich bin Single und in meiner Freizeit angle ich gerne«, sprang er auf den Zug auf.
Wahnsinn. Der konnte ja regelrecht charmant sein. Was war aus dem gefühllosen Holzklotz von eben geworden? Und diese Augen. Waren die grün oder vielleicht doch eher blau? Oder beides? Sie strahlten auf jeden Fall und funkelten mich dabei so verführerisch an.
»Hey Dornröschen, du kannst ja lächeln. Das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten«, stellte Mitch freudestrahlend fest, während sich Grübchen auf seinen Wangen bildeten. Ein Lächeln hatte sich unbewusst auf meine Lippen geschlichen.
Als mir klar wurde, dass ich Mitch während meines Gedankenspiels wohl etwas zu intensiv musterte und ihm diese Tatsache offensichtlich aufgefallen war, schoss mir die Schamesröte ins Gesicht. Wie peinlich. Der musste ja denken, ich hätte Interesse an ihm, so wie ich ihn anstarrte.
Oh, menno. Reiß dich zusammen, Stacy. Das ist jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu verlieben. Oberste Priorität hat die Jobsuche und dann natürlich Tante Annes Blumenstrauß. Alles andere musst du ausblenden, riet mir meine innere Stimme eindringlich.
»So langsam sollten wir aufbrechen. Findest du nicht auch? Wenn wir noch lange warten, erreiche ich bestimmt keinen mehr im Museum.«
Den Umstand, dass ich mich auch noch um einen Schlafplatz für die Nacht kümmern musste, erwähnte ich lieber nicht.
»Wie du meinst. Dachte, wir teilen uns vielleicht einen Brownie zum Dessert? Aber, wenn du schnell weiter möchtest, dann verschieben wir es eben auf ein andermal.«
Hatte ich gerade richtig gehört? Ein andermal? Hatte er etwa Interesse an mir oder warum wollte er mich wiedersehen? Ich weiß nicht warum, aber die Aussicht, Mitch nach diesem Tag ein weiteres Mal zu treffen, ließ die Schmetterlinge in meinem Bauch aus ihrem Winterschlaf erwachen.
»Das macht dann glatt 60 Dollar. Zahlen Sie bar oder mit Kreditkarte?«, riss mich die Stimme der Kellnerin, die zwischenzeitlich an unseren Tisch gekommen war, aus den Gedanken,
»Mit Karte, bitte!«, erwiderte Mitch und streckte der Dame eine goldene Mastercard hin.
Nachdem ich mich im Restroom frischgemacht hatte, setzten wir unseren Weg fort. Nur noch wenige Kilometer trennten mich von meinem vermeintlichen Ziel. Zweifel nagten an mir. War das wirklich die richtige Entscheidung gewesen? Was, wenn ich das Risiko vollkommen umsonst auf mich nahm?
Die ersten paar Meilen verbrachten wir beide schweigend. Ich überlegte fieberhaft, wo ich die Nacht verbringen konnte, ohne einen Penny dafür zu zahlen. Dabei war mir Lindsey eingefallen. Sie war meine ehemalige Studienkollegin. Wir hatten uns auf dem Campus zeitweise sogar ein Zimmer geteilt.
In den letzten Prüfungsmonaten waren wir ein unzertrennliches Dreamteam, allerdings nur, was das gemeinsame Lernen anging. Besonders gefestigt war unsere Freundschaft nicht, dennoch würde ich sie später anrufen. Soweit ich mich erinnern konnte, lebte sie mittlerweile mit ihrem Mann in Chicago.
Hoffentlich konnte sie mir für die nächsten Tage Obdach gewähren. Wenn nicht, stand es ziemlich schlecht um mich.
Auch Mitch schien in Gedanken. Sein Blick richtete sich starr auf die Straße vor uns. Eine Sonnenbrille bedeckte seine Augen, sodass ich nicht sehen konnte, was ihn umtrieb. Aber dass da etwas war, konnte ich seiner angespannten Körperhaltung entnehmen. Immer wieder begann er sich zu räuspern, während er den Mund leicht öffnete, als wenn er etwas sagen wollte. Doch dann schloss er diesen wieder und fuhr weiter, als wäre nichts.
Einerseits war ich dankbar dafür, dass er die Annäherungsversuche aus dem Diner unterließ. Anderseits kränkte es mich. Erst flirtete er mit mir – nun gut, vielleicht beruhte das Ganze auch auf Gegenseitigkeit – und machte mir Hoffnungen auf ein baldiges Wiedersehen und jetzt saß er da und nahm kaum Notiz von mir.
Merkwürdiger Kerl. War vielleicht besser so. Wenn er mich weiter so angestrahlt hätte, wäre ich seinem Charme sicherlich erlegen. Das war wohl gerade nochmal gut gegangen.
Mühevoll kramte ich mein Smartphone aus der Tasche, um Lindsey eine Nachricht zu schreiben. Hoffentlich war die Nummer noch aktuell. Wir hatten die letzten Monate kaum Kontakt gehabt. Angestrengt überlegte ich, wie ich meine Lage in die wenigen Zeilen quetschen konnte, ohne dass meine Hilflosigkeit gleich offensichtlich wurde. Dennoch musste ich auch die Dringlichkeit meines Anliegens deutlich machen. Das war wirklich zum Haareraufen.
Nervös tippte ich mit meinem Zeigefinger an die Unterlippe, während mir einfach nicht die rechten Worte einfallen wollten. Das konnte doch wirklich nicht so schwer sein. Während ich immer verbissener auf die kleine Tastatur meines Displays starrte, räusperte sich Mitch zum gefühlten hundertsten Mal. Doch diesmal blieb es nicht dabei. Langsam begann er zu sprechen. Leider. Hätte er doch besser geschwiegen.
Kapitel 3
»Du möchtest, dass ich was tue? Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein«, kreischte ich entrüstet los, nachdem mir Mitch sein unmoralisches Angebot unterbreitet hatte.
»Es wäre doch nur für eine Woche. Komm schon, Stacy. Du würdest mir damit einen riesigen Gefallen tun. Überleg doch mal. Außerdem schaden wir ja keinem damit«, versuchte Mitch mich zu beschwichtigten.
»Ich kann wirklich nicht verstehen, warum du deine Familie so hinters Licht führen willst. Was hast du denn davon?«, weigerte ich mich, Verständnis zu zeigen.
»Das ständige Gerede und die permanenten Fragen würden aufhören und ich könnte vielleicht wirklich eine angenehme Woche im Kreise meiner Liebsten verbringen. Nachdem meine kleine Schwester die nächsten Tage heiraten wird, kommen sicherlich noch mehr nervige Kommentare über meinen Beziehungsstatus. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend das ist. Immer muss ich mich rechtfertigen. Wobei keinen interessiert, warum ich mich bewusst für das Singledasein entschieden habe.« Mit diesen Worten brachte er mich zum Nachdenken.
Mich würde es allerdings sehr interessieren, warum Mitch Single blieb. Was bewog ihn dazu, alleine zu sein? Für einen Frauenhelden, der jede Woche eine andere aufriss, um sie ins Bett zu kriegen, hatte ich ihn nicht gehalten. Nein, so würde ich ihn wirklich nicht einschätzen. Aber, was gab mir denn die Gewissheit dazu? Ich kannte ihn viel zu kurz, um mir ein Bild von ihm machen zu können. Dennoch war ich davon überzeugt, dass es einen anderen Grund geben musste.
»Ich würde mir liebend gerne die nervigen Fragen meiner Familie anhören. Aber da ist leider keiner mehr außer meiner Tante. Weißt du eigentlich, wie gut du es hast? Sie wollen doch nur wissen, wie es dir geht. Wollen ein Teil deines Lebens sein. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn du ihre Gefühle dermaßen mit Füßen treten willst«, blieb ich hart.
»Bitte, Stacy.«
Zwischenzeitlich fuhr Mitch vom Highway ab und machte Halt auf einem kleinen Rastplatz. Die Sonnenbrille nahm er ab, woraufhin sich sein trauriger Blick tief in meine Iris grub. Das liebevolle »Bitte, Stacy« hallte wie ein Mantra in meinem Kopf wider. Wie unter Hypnose antwortete ich schließlich:
»Okay, ich mach`s. Aber nur unter einer Bedingung«, dabei löste ich mich mühevoll von seinem Blick und fixierte den Punkt zwischen seinen Augen, um standhaft zu bleiben.
»Alles, was du willst«, hörte ich Mitch jubeln.
»Wenn ich dich nach dieser Woche verlasse, meldest du dich nicht mehr bei mir und schenkst deiner Familie reinen Wein ein. Deal?«
Ich pokerte hoch. Eigentlich hätte ich die Klappe halten sollen. Schließlich brauchte ich die 500 Dollar, die er mir dafür bot, dringend. Die sieben Tage würden schnell vorbeigehen, wobei die genauen Details noch geklärt werden mussten. Ich kannte seine Familie nicht einmal und dennoch verspürte ich den unnachgiebigen Drang, Mitch vor Augen zu führen, wie gut er es hatte.
Völlig unerwartet und für meine Verhältnisse vielleicht eine Spur zu schnell vernahm ich seine Entscheidung: »Deal.«
Ich hatte einen Pakt geschlossen. Blieb nur zu hoffen, dass es keiner mit dem Teufel war. Dennoch würden mich meine Taten in die Hölle bringen. Da war ich mir sicher. Warum nur um alles in der Welt ließ ich mich auf diese beschissene Idee ein?
Mitch drehte das Radio lauter und pfiff die Melodie des Liedes, das bereits seit Wochen von den Sendern auf und ab gespielt wurde. Ich konnte es nicht mehr hören. Immer das gleiche Gedudel. Außerdem passte es mir nicht, dass Mitch nun so ausgelassen wirkte.
»Ich glaube, es gibt da noch einige Dinge, die wir besprechen sollten«, gab ich mürrisch zu bedenken.
»Was meinst du?«
»Naja, so banale Dinge wie Wo haben wir uns kennengelernt? Seit wann sind wir ein Paar? Das Übliche eben, was deine Familie fragen könnte, wenn du plötzlich in Begleitung zuhause aufmarschierst und die Frau an deiner Seite als deine Freundin präsentierst.«
»Oh, das meinst du. Okay. Wie du meinst. Sprechen wir darüber. Dachte schon, du wolltest wissen, welche Dienste ich im Einzelnen für meine großzügige Entschädigung erwarte«, dabei grinste er mich schelmisch an, während er mir vielsagend zuzwinkerte.
»Pah. Du hast sie ja wohl nicht mehr alle. Wenn du dich mir auch nur ein einziges Mal unsittlich näherst, dann erzähl ich deiner Familie, was sie da für einen tollen Sohn und Bruder haben«, dabei verschränkte ich wutschnaubend meine Arme vor dem Körper.
»Oh. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass dich ein Hauch von Mutter Theresa umhüllt. Interessante Wortwahl: unsittlich! Bist du in eine Klosterschule gegangen oder warum wirfst du mit solch antiquierten Formulierungen um dich?«
Das brachte mein Fass zum Überlaufen.
»Die Sache ist gestorben. Ich mach nicht mehr mit. Such dir doch eine andere Dumme für deine Spielchen. Lass mich an der nächsten Tankstelle raus!«, forderte ich unnachgiebig.
»Ach, komm schon, Stacy. Tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Aber, was meinst du, was meine Eltern davon halten würden, wenn ich frischverliebt dort antanze und meine Freundin weder in den Arm nehme noch küsse?«
»Ich bin katholisch erzogen. Kein Sex vor der Ehe. Wäre doch ein gutes Argument. Ich werde dich auf jeden Fall nicht küssen. In den Arm kannst du mich meinetwegen nehmen, aber mehr auch nicht. Kein Händchenhalten und kein Hinterntätscheln. Dass das klar ist!«, versuchte ich die Oberhand zu behalten.
»Okay, okay. Ich verklickere meinen Eltern, dass ich mich in eine eiserne Jungfrau verliebt habe. Du bekommst ein eigenes Zimmer und ich küsse dich allerhöchstens auf die Wange. Gut so?«
»Besser.«
***
Na, also. Geschafft. Die Kleine würde sich prima als seine Freundin machen. Entsprach sie doch ziemlich genau dem, was man sein Beuteschema nennen konnte. Sportlich, zierlich, hübsch. Das war alles, worauf es ihm ankam. Er hatte kein Faible für eine besondere Haarfarbe oder dergleichen. Solches Machogehabe war ihm zuwider.
Außerdem schien Stacy nicht auf den Mund gefallen zu sein. Er fand es regelrecht prickelnd, wie sie ihm Kontra gab. Das kannte er nicht. Mit Samantha war das anders gewesen. Die hatte getan, als wäre sein Wille auch ihrer. Bis zu dem einen Abend vor nicht einmal drei Monaten.
Er schob die Bilder beiseite. Die Erinnerung schmerzte zu sehr. Im Radio lief die Nationalhymne Alabamas »Sweet home Alabama« und er konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche.
In wenigen Minuten würden sie sein Elternhaus erreichen. Dann galt es, sich nichts anmerken zu lassen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Wegen Stacy hatte er keine Bedenken. Sie würde sich an ihre Abmachung halten. Wirklich schade, dass er sie gerade jetzt kennengelernt hatte. Sie schien nett zu sein. Vielleicht hätte es für sie eine Chance gegeben, wenn die Sache mit Samantha nicht passiert wäre. Aber so würde er sie auf Distanz halten. Das war für sie beide das Beste.
***
»Wie heißen deine Eltern eigentlich?«, durchbrach ich die Stille, die sich beklemmend zwischen uns niedergelassen hatte.
»Wer?«
»Na, wie deine Erzeuger heißen. Weißt schon, diejenigen, die dich in diese Welt gesetzt haben und denen du gleich das Herz brechen wirst.«
»Ach, die beiden. Mom und Dad.«
»Ha, ha, ha. Selten so gelacht«, erwiderte ich gereizt.
»Komm schon. Der war lustig.«
»Fand ich nicht.«
»Nicht mal ein klein wenig?«
»Na, gut. Vielleicht ein klitzekleines bisschen«, gab ich mich geschlagen. »Aber wie heißen sie denn nun? Verrätst du`s mir jetzt endlich oder muss ich erst raten?«
»Abigail und James. Meine Eltern heißen Abigail und James Havisham. Mein Vater ist pensionierter Finanzbeamter und meine Mom ist Hausfrau. Sie engagiert sich ehrenamtlich in vielen Vereinen. Die beiden reisen gerne in ferne Länder und Sonntagnachmittag gibt es immer um Punkt 16 Uhr Kaffee und Kuchen. Komme, was wolle. Das ist, seit ich denken kann, schon immer so.«
»Okay, Abigail und James. Das sollte ich mir merken können. Und wie heißt deine Schwester?«
»Ich habe zwei. Die eine, die in wenigen Tagen heiraten wird, heißt Sue und die andere Emily. Sie sind Zwillinge.«
»Ist notiert. Gibt es sonst noch jemanden, den ich kennen sollte?«
»Buzz. Er ist etwas speziell. Kommt nicht unbedingt mit jedem klar, aber wenn er einen ins Herz geschlossen hat, gibt er ihn so schnell nicht mehr her.«
»Wie alt ist Buzz? Klingt so, als wäre er noch ziemlich jung.«
»Buzz ist älter als ich. Er müsste dieses Jahr vierzehn oder fünfzehn werden.«
»Du veräppelst mich doch schon wieder. Weißt du, wenn das jetzt die ganze Woche so weitergehen soll, dann zieh ich lieber gleich jetzt und hier die Reißleine. Auf diese Art von Späßchen kann ich echt verzichten. Ich hab es nicht nötig, mich von einem Spaßvogel wie dir ständig aufs Glatteis führen zu lassen. Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.«
»Sorry, Stacy. Ich versteh gerade nur Bahnhof. Womit hab ich dich denn jetzt wieder verärgert? Buzz ist ein Jack Russell. Nach langem Hin und Her hab ich zu meinem dreizehnten Geburtstag von meinem alten Herrn endlich einen Hund bekommen. Tja, und das war Buzz.«
»Ach so. Buzz ist ein Hund.« Jetzt konnte ich mir das Lachen wirklich nicht mehr verkneifen.
»Was hast du denn gedacht?«
Trotz der Missverständnisse und Neckereien war die Stimmung zwischen uns wieder ausgeglichener. Wenn wir die nächsten Tage auf engstem Raum vor Publikum bestehen wollten, mussten wir dringend einen guten Draht zueinander finden.
Mir lag nicht daran, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Dazu sah ich die ganze Sache ziemlich realistisch. Wir hatten eine Abmachung. Ich würde eine Woche seine Freundin spielen und er würde mich im Gegenzug dafür bezahlen. Nicht mehr und nicht weniger.
Mit der Kohle konnte ich mir dann ein Zimmer suchen und nach und nach die potentiellen Arbeitgeber der Umgebung abklappern. Vielleicht hatte ich ja Glück. Man durfte die Hoffnung nie aufgeben.
Wenn keine Stelle zu finden war, dann konnte ich immer noch zurück zu Tante Anne in das verschlafene Nest, das sich seit nahezu acht Jahren mein Zuhause nannte. Aber dann hatte ich es zumindest versucht und nicht nur darauf gewartet, dass das Schicksal an meine Türe klopft.
»Wir sind da«, hörte ich Mitch sagen.
Ich wischte die Gedanken über meine ungewisse Zukunft beiseite und war überrascht, als wir an einem großen Eisentor Halt machten. Die prächtig gearbeiteten Rosetten gaben mir eine vage Vorstellung davon, was mich gleich erwarten würde.
»Befindet sich dahinter dein Elternhaus?«, fragte ich überrascht.
In Gedanken stellte ich mir Mitchs Familie in einem kleinen wohligen Heim vor. Auf der Veranda stand ein alter Schaukelstuhl und der Anstrich der Holzfassade begann bereits zu bröckeln. Der Blick auf die sich selbst öffnenden Flügeltüren, die uns Einlass auf das riesige Gelände gewährten, offenbarte mir, dass ich mit meiner Einschätzung ziemlich daneben lag.
»Sag mal, Mitch. Willst du mir vielleicht erklären, was hier Sache ist?«, gab ich leicht panisch von mir. Eine plötzliche Unruhe ergriff meinen ganzen Körper und ich hatte große Mühe, mich daran zu hindern, meine Fingernägel anzuknabbern.
»Naja, die Sache ist die: Meine Eltern sind recht wohlhabend, musst du wissen. Aber keine Angst. Wir sind ganz normale Leute. Wir essen weder von goldenen Tellern, noch trinken wir ständig Champagner.«
»Pah. Das sagt sich so leicht. Du hast mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierher gelockt. Schau mich doch mal an. So kann ich deinen Eltern auf gar keinen Fall das erste Mal unter die Augen treten. Meine Shorts sind ausgewaschen und mein Shirt ist löchrig, von meinen Sneakers gar nicht erst zu sprechen. Außerdem hab ich dringend eine Dusche nötig. Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
»Bitte? Ich hab nie behauptet, bettelarm zu sein. Da musst du dich schon an die eigene Nase fassen. Außerdem finde ich deinen Aufzug vollkommen okay. Was juckt es dich überhaupt, was meine Eltern von dir halten? Wenn du dich erinnerst, ist unsere kleine Abmachung zeitlich begrenzt. Und was deine Körperhygiene angeht: Erstens konnte ich dich die ganze Fahrt über gut riechen«, dabei grinste er mich wieder so vielsagend an, »und zweitens kannst du dich ja gleich nach der Begrüßung frisch machen gehen. Das ist dann die perfekte Ausrede, um erstmal in Ruhe anzukommen. Wir schaffen das. Meine Eltern sind wirklich keine reichen Schnösel. Keine Angst.«
Merkwürdigerweise beruhigten mich seine Worte. Meine Panik war wie weggeblasen und ich spürte, wie sich mein Körper zu entspannen begann. Es war lange her, dass jemand diese Wirkung auf mich hatte.
Außerdem konnte es mir wirklich egal sein, was seine Eltern von mir hielten. In einer Woche würde ich gehen und sie vermutlich nie wieder sehen. Dennoch versetzte es mir einen Stich ins Herz, als er die Dinge so klar beim Namen nannte.
»Stacy? Ist alles okay mit dir?«
»Ja, ich denke schon.«
»Was meinst du? Wollen wir es wagen?«
»Von Wollen kann gar keine Rede sein. Ich fühle mich lediglich dazu verpflichtet, meinen Teil der Vereinbarung einzuhalten«, gab ich pampig zu Protokoll. Dass ich die 500 Dollar dringend brauchte, behielt ich für mich.
»Na, dann sehe ich mal zu, dass wir möglichst schnell dort oben ankommen. Ich möchte auf gar keinen Fall daran schuld sein, dass du deine Pflichten vernachlässigst.«
Dabei trat er aufs Pedal und rauschte in Windeseile die Auffahrt zu seinem Elternhaus empor, für meine Verhältnisse etwas zu schnell. So hatte ich nicht mehr die Gelegenheit, mir einen ersten Überblick über meine Umgebung zu verschaffen.
Als wir oben ankamen, erschlug mich der Anblick des Kolosses aus weißem Stein, dessen überdachtes Portal von klassischen Säulen getragen wurde. Das Haus war mindestens so groß wie das Weiße Haus, wenn nicht sogar größer. Unzählige hohe Fenster säumten die Vorderseite des Anwesens. Davor war ein kleiner Brunnen angelegt, der emsig das Wasser in kleinen Fontänen in die Höhe katapultierte.
Das war es also. Hier würde ich wohnen. Das war mein Zuhause für die nächsten sieben Tage.
Mitch stellte den Motor ab und warf mir einen aufmunternden Blick zu. Daraufhin stieg er aus, lief um den Wagen und öffnete mir, ganz Gentleman, die Türe. Als er mir schließlich seine Hand bot und Anstalten machte, mir beim Aussteigen behilflich zu sein, durchzuckte mich ein Gefühl, das ich lieber im Verborgenen gewusst hätte.
Gemeinsam liefen wir die wenigen Schritte bis zur Haustür. Am Absatz angelangt, rebellierte mein Magen und hätte sich am liebsten übergeben. Jetzt gab es kein Zurück mehr. In wenigen Sekunden war es soweit. Ich würde Mitchs Eltern kennenlernen, ihnen einen Bären aufbinden und gleichsam ihre Gastfreundschaft schändlich ausnutzen.
Mitch spürte meine innere Unruhe. Nachdem er seinen Schlüssel aus der Tasche gekramt und im Schloss versenkt hatte, sah er erneut zu mir auf, griff wie selbstverständlich nach meiner Hand und umschloss sie zärtlich.
Ich wehrte mich nicht dagegen. Dennoch warf mich seine körperliche Nähe dermaßen aus der Bahn, dass ich erst zu mir kam, als ich ihn rufen hörte:
»Mom? Dad? Wir sind da!«
Kapitel 4
»Ich komme gleich runter«, ertönte eine melodische Frauenstimme aus dem oberen Stockwerk. Der Anblick des riesigen Eingangsbereichs und der imposanten Steinwendeltreppe, die sich schwungvoll ins Obergeschoss schlängelte, verschlug mir den Atem.
Wenn ich mich bei dem wundervoll gearbeiteten Eisentor bereits unwohl fühlte, so wünschte ich mir nun sehnlichst ein Mauseloch, in das ich mich verkriechen konnte.
Mit offenem Mund scannte ich aufmerksam meine Umgebung. Jeder einzelne Gegenstand schien sündhaft teuer zu sein, von dem edlen Marmorboden ganz zu schweigen. Über all dem hing ein riesiger Kronleuchter, dessen Kristallbehang tief in den Raum hineinragte.
Das Entrée allein war größer als das Haus, das ich mir mit Tante Anne teilte. Diese Erkenntnis trug nicht sonderlich dazu bei, dass ich mich wohler in meiner Haut fühlte. Während ich noch überlegte, ob es nicht besser wäre, einfach zu gehen, vernahm ich Mitchs Antwort:
»Okay, Mom. Wir gehen solange in die Bibliothek.«
»Wir?«, dröhnte der ungläubige Aufschrei seiner Mutter lautstark in der Halle wider.
Ehe Mitch etwas antworten konnte, kam eine zierliche Gestalt von maximal 1.60 m die Treppe hinuntergerannt. Bei jedem ihrer hastigen Schritte überkam mich die Sorge, sie könnte auf den glatten Steinstufen ausrutschen und stürzen. Wobei das Wippen jeder einzelnen ihrer Lockensträhnen im Gleichklang der rhythmischen Bewegung geradezu drollig wirkte und ich mir nur mühevoll ein Schmunzeln verkneifen konnte.
Während sie sich uns bis auf wenige Meter näherte, schien das Strahlen ihres Lächelns den ganzen Raum zu erhellen. Ohne von ihrem Sohn Notiz zu nehmen, kam sie auf mich zugestürmt und schloss mich ganz fest in ihre Arme.
Da ich Abigail nahezu um einen Kopf überragte, sah ich erschrocken zu Mitch auf, der mir mit seinem Blick zu verstehen gab, dass das Verhalten seiner Mutter vollkommen normal sei.
Nun, vielleicht für ihn, nicht für mich. Noch einen Moment länger in diesem Schraubstock und ich konnte für nichts garantieren. Nachdem mir bereits das Atmen schwerfiel, zeigte er dann doch Erbarmen mit mir und meldete sich schließlich zu Wort.
»Hey Mom, könntest du Stacy bitte wieder loslassen? Du zerquetschst sie ja. Weißt du, ich brauch sie noch«, dabei sah er mich prüfend an. Offensichtlich interessierte ihn, was ich von seinem letzten Satz hielt. Ich reagierte nicht, sondern sah unumwunden in das Gesicht seiner Mom, die mich überschwänglich in ihrem Haus willkommen hieß.
»Stacy, entschuldige bitte die stürmische Begrüßung. Du musst wissen, Mitch hat bisher nie eine Freundin nach Hause gebracht«, dabei wandte sie sich zu ihrem Sohn und begann ihn mit dem Zeigefinger zu ermahnen.
»Warum hast du denn nicht gesagt, dass du in Begleitung kommst? Dann hätte sich doch die ganze Familie eingefunden, um deine Freundin kennenzulernen.«
So langsam, aber sicher bekam ich ein Gefühl dafür, was mir Mitch während der Fahrt über seine Familie klarmachen wollte. Ob ihn der Umstand, ein weibliches Wesen mit nach Hause gebracht zu haben, allerdings aus der Schusslinie brachte, wagte ich zum jetzigen Zeitpunkt stark zu bezweifeln.
»Mom, ich wollte keine große Sache daraus machen. Schließlich heiratet Sue in wenigen Tagen. Da sollte das Hauptaugenmerk auf der Hochzeit liegen und nicht auf Stacy und mir. Findest du nicht auch?«, versuchte Mitch seiner Mutter den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Ach, papperlapapp. Deine Schwester hat sicher nichts dagegen. Ich muss sie gleich anrufen. Wir könnten heute Abend ein kleines Dinner geben?«
Die Frage war wohl rein rhetorischer Natur, denn auf eine Antwort von uns beiden wartete sie gar nicht mehr. Vielmehr warf sie ihrer Armbanduhr einen prüfenden Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter einer der zahllosen Türen, die von der Eingangshalle abgingen.
»Puh. Was war das denn?«
»Darf ich vorstellen: das war die Art und Weise, wie meine Mom längst überfällige Gäste willkommen heißt. Ich weiß, ein Tornado ist nichts dagegen.«
Meine entsetzte Miene ließ ihn noch ergänzen: »Spaß beiseite. Sie hat das Herz am rechten Fleck und meint es in 99% aller Fälle nur gut. Jetzt hast du sie gleich mal in Aktion erleben dürfen. Kannst du nachvollziehen, warum es für mich mit dir an meiner Seite leichter ist?«
»Ehrlich gesagt, eigentlich nicht. Wirst du durch mich nicht erst so richtig in den Mittelpunkt gezerrt? Das Dinner heute Abend – für das ich übrigens nichts anzuziehen habe – findet ja wohl nur statt, weil du hier mit mir aufgekreuzt bist.«
»Glaub mir, es ist dennoch besser so. Und für deine Abendgarderobe leihen wir uns etwas bei meiner Schwester. Emily wohnt hier im Haus und müsste ziemlich genau die gleiche Kleidergröße wie du haben. Auf den Rodeo Drive kann ich dich heute leider nicht mehr schicken, Pretty Woman. Ein andermal vielleicht«, scherzte er, wobei sich halbmondförmige Grübchen auf seinen Wangen bildeten.
Mitch wusste, wie man eine Frau um den Finger wickelte. Zwar sträubte ich mich innerlich immer noch dagegen, sein Vorhaben gutzuheißen, dennoch ließ ich mich darauf ein.
Nachdem ich seine Mutter kennenlernen durfte, machte mich Mitch mit den Räumlichkeiten im Erdgeschoss vertraut. Mein Lieblingszimmer stand gleich fest.
In der Bibliothek schienen tausende Bücher in meterhohen Regalen aus massiver Eiche untergebracht. Langsam ging ich an den einzelnen Schränken vorbei und besah mir die Buchrücken näher.
Manchmal verweilte ich kurz vor einem, nahm mir ein Exemplar heraus und tauchte ab in eine Welt, die mir seit dem Tod meiner Eltern eine tröstliche Zuflucht bot.
Insbesondere die Märchen der Brüder Grimm hatten es mir angetan. Wie erbaulich die Vorstellung doch ist, am Ende einer jeden Geschichte ein Happy End vorzufinden.
Könnte das Leben nicht ebenso einfach diesem feinverwobenen Muster folgen und am Ende alles gut werden lassen? All die Qualen, die Schicksalsschläge und Herausforderungen wären um einiges leichter zu ertragen, wüsste man, alles wird sich fügen. Alles wird sich schlussendlich in Wohlgefallen auflösen.
»Dornröschen? Träumst du schon wieder?«, riss mich Mitch aus meinen philosophischen Überlegungen.
»Hm? Oh, nein. Ich bin hier«, antwortete ich abwesend.
»Wollen wir dann mit der Führung weitermachen? Es warten noch einige Räumlichkeiten, die ich dir zeigen möchte. Es wird nicht nötig sein, dir für die Kürze der Zeit, in der du hier Gast sein wirst, alles zu zeigen.«
Und da war er wieder. Der unvorbereitete Schlag in die Magengrube, der mich ohne Rücksicht auf Verluste in das Hier und Jetzt zurück katapultierte. Wollte ich unbeschadet aus dieser Liaison herauskommen, galt es, eine schützende Mauer um mich herum zu errichten und meinen Träumen abzuschwören. Zumindest für die nächsten sieben Tage.
»Was ist nun? Können wir weiter?«, machte sich Mitch ungeduldig bemerkbar.
»Klar«, gab ich unumwunden zur Antwort.
»Sehr schön. Dann zeige ich dir als nächstes am besten die Küche. Keine Sorge, du wirst nicht in den Genuss kommen, dort für mich zu kochen. Wir haben Angestellte dafür. Martha mag es nicht besonders, wenn jemand in ihr Hoheitsgebiet eindringt, musst du wissen. Sie ist, solange ich denken kann, schon immer die Köchin in diesem Haus. Nicht mal Mom wagt es, ihr in die Quere zu kommen. Kaum vorstellbar bei ihrem Temperament. Findest du nicht?«
»Doch. Sicher«, gab ich knapp meinen Kommentar dazu.
Während Mitch die Tür zur Bibliothek hinter mir schloss, hielt er inne und besah sich mein Gesicht näher. »Alles okay bei dir? Hast du immer noch Gewissensbisse wegen der Sache mit meiner Familie? Glaub mir, wir schaden keinem damit«, beeilte er sich die Sorgenfalten aus meinem Gesicht wegzuzaubern.
»Nein, das ist es nicht. Ich bin unglaublich erschöpft und würde mich am liebsten frisch machen und etwas ausruhen, bevor ich später deiner Familie Rede und Antwort stehen muss. Könntest du mir vielleicht mein Zimmer zeigen und wir verschieben die Besichtigungstour auf ein andermal?«, versuchte ich mir einen Ausweg aus der Zweisamkeit mit Mitch zu verschaffen, um endlich etwas Ruhe zu finden.
»Wenn's weiter nichts ist. Komm«, schulterzuckend nahm er meine Ausrede zur Kenntnis und machte sich auf, mir im oberen Stockwerk mein Zimmer zu zeigen.
Ich folgte ihm ohne weitere Worte Schritt um Schritt die Treppe empor und verharrte einen Moment auf dem Absatz, während Mitch weiter nach oben lief.
Von hier strahlte die Eingangshalle etwas wahrlich Märchenhaftes aus. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie ein solches Haus gesehen, geschweige denn bewohnt. Ich schloss meine Hände fest um das Geländer, während mir eine innere Stimme riet, besser weiterzugehen und mich nicht zu sehr am Glanz des Interieurs zu erfreuen.
Eiligen Schrittes folgte ich Mitch in das Obergeschoss und erreichte ihn erst, als er bereits vor einem Zimmer innehielt und mir bedeutete, zu ihm zu kommen.
»Und, was sagst du? Wirst du es hier eine Woche aushalten?«, dabei öffnete er die Tür zu einem Traum aus 1001 Nacht. Mein Blick wanderte durch das Zimmer, während ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam.
Wie in Trance überschritt ich die Schwelle und steuerte zielstrebig auf das riesige Himmelbett zu, das den überwiegenden Teil des Raumes einnahm. Ohne darüber nachzudenken, strich ich über die feine Seidenbettwäsche, die sich unnatürlich weich an meine Haut schmiegte.
»Das ist für mich? Ganz alleine?«, wagte ich schließlich zu fragen, denn glauben konnte ich es nicht.
»Ja. Wenn es dir denn gefällt? Wir haben hier noch weitere Gästezimmer, musst du wissen. Allerdings bin ich der Meinung, dass dieses hier perfekt zu dir passt. Was meinst du? Gefällt es dir?«
Zwischenzeitlich hatte Mitch sich mir bis auf wenige Schritte genähert. Sein betörender Duft aus Sandelholz und einem Hauch erfrischender Zitrone stieg mir in die Nase und ließ mich an Dinge denken, denen ich glaubte längst abgeschworen zu haben.
Um nicht vollends die Kontrolle über meine Sinne zu verlieren, versuchte ich mich aus seiner unmittelbaren Nähe zu befreien und eilte an das große Fenster, dessen Flügel weit offenstanden.
Auf den Anblick, der sich mir dort bot, war ich nicht vorbereitet. Ein Meer aus Rosen, Astern und Anemonen in allen erdenklichen Farben lag mir zu Füßen. Dahinter befand sich eine mindestens ebenso große Grünfläche, die förmlich dazu einlud sich drauf niederzulassen.
Und alles war so unglaublich ruhig. Ich konnte gar nicht glauben, dass wir nur wenige Meilen von Chicago-City entfernt waren. Einfach nur unglaublich. Unglaublich schön.
»Zu deinem Zimmer gehört ein angeschlossenes Badezimmer, das für die Dauer deines Aufenthaltes nur dir zur Verfügung steht. Wenn du möchtest, bring ich dir schnell dein Gepäck nach oben und lass dich dann in Ruhe ankommen?«
»Das wäre super. Wann wird das Dinner später stattfinden?«
»Sicherlich nicht vor 20 Uhr. Wir sollten gegen 19 Uhr zu meiner Schwester wegen passender Kleidung. So hast du noch zwei Stunden für dich. Ruh dich gut aus! Der Abend wird anstrengend«, mit diesen Worten verließ Mitch den Raum und ich ließ mich aufs Bett fallen.
Konnte es wirklich wahr sein oder war es womöglich nur ein Traum? Ich entschied mich dagegen, mich zu kneifen, da ich schnell zu blauen Flecken neigte, und besah mir dafür meine neuen vier Wände etwas genauer.
Der barocke Stil der Tapete mit den rostfarbenen Schnörkeln auf ockerfarbenem Grund entsprach nicht ganz meinem Geschmack.
Die Möbel schienen im Vergleich zur übrigen Dekoration des Raumes eindeutig neueren Datums. Neben dem wundervollen Himmelbett befanden sich noch ein großer Kleiderschrank und eine kleine Kommode in dem Raum.
Für das Wenige, das sich in meinem Koffer befand, würde mir die Kommode vollkommen ausreichen. Mit einem Satz sprang ich aus den Federn, befreite mich von meinen Sneakers und der verschwitzten Kleidung und machte mich in mein eigenes Badezimmer auf.
Meine Befürchtung, der barocke Stil würde sich hier in goldenen Wasserhähnen und anderem Kitsch widerspiegeln, bewahrheitete sich dankenswerterweise nicht. Vielmehr entsprach der Raum dem Trend der letzten Jahre. Bis auf eine winzige, aber für mich freudige Kleinigkeit, eine freistehenden Badewanne, war alles ziemlich gewöhnlich.
Kurzerhand entschloss ich mich, ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Duftöle und Kerzen standen bereit und luden mich regelrecht dazu ein. Zeit hatte ich auch noch genug. Also tauchte ich ab, schloss die Augen und begann zu träumen.
Nachdem meine Hände und Füße völlig verschrumpelt waren, raffte ich mich auf und stieg aus der Wanne. Meine Armbanduhr verriet mir, dass ich doch etwas mehr Zeit in der Wanne verbracht hatte, als geplant. So schnappte ich mir eilig ein Handtuch, wickelte mich darin notdürftig ein und öffnete die Tür zu meinem Schlafzimmer.
Als ich den Türrahmen gerade durchschritt und Ausschau nach meinem Koffer hielt, den mir Mitch zwischenzeitlich hatte bringen wollen, erschrak ich zutiefst, als ich bemerkte, dass dieser auf meinem Bett Platz genommen und offensichtlich auf mich gewartet hatte.
Vor lauter Schreck fiel mir – wie sollte es auch anders sein? – das Handtuch zu Boden und ich stand splitterfasernackt vor ihm. Als ob der Moment nicht schon peinlich genug gewesen wäre, fing der Idiot doch tatsächlich zu lachen an.
Ja, er lachte. Und wie er lachte. Er war gar nicht mehr zu bremsen. Während ich wütend das Handtuch vom Boden fischte und die Tür hinter mir ins Schloss pfefferte, hörte ich ihn völlig außer Puste sagen:
»Oh, Gott. Entschuldige bitte, Stacy. Es tut mir wirklich leid, aber diese Situation war so klischeehaft, dass ich einfach nicht anders konnte. Das ist ja wie in einem dieser Hollywoodschinken«, dabei wischte er sich die Tränen aus den Augen und erhob sich von meinem Bett.
»Freut mich, dass du dich gut amüsierst. Dennoch wüsste ich gerne, was du in meinem Zimmer machst. Ich kann mich nicht daran erinnern, dich hereingebeten zu haben«, gab ich trotzig zurück, während ich energisch meine Arme vor der Brust verschränkte.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Wir wollten um 19 Uhr bei Emily sein, falls du dich noch erinnern kannst. Jetzt ist es bereits kurz vor halb acht«, erwiderte er besserwisserisch.
Ein erneuter Blick auf meine Armbanduhr und mir wurde klar, dass ich nicht nur mehr Zeit im Wasser verbracht hatte, als ich wollte, sondern auch als mir zur Verfügung gestanden hatte. Mist. Mist. Mist.
»Und wenn du mich jetzt noch länger aufhältst, kommen wir sogar zu spät zum Dinner. Möchtest du das?«, antwortete ich schnippisch. »Ich bin in fünf Minuten soweit. Würdest du bitte vor der Tür warten, damit ich mir etwas anziehen kann?«
»Ach, von mir aus kannst du gleich so mitkommen. Nachdem ich deinen Körper bereits in Augenschein nehmen durfte, spielt es doch eh keine Rolle mehr. Oder?«
»Ha. Das würde dir so passen. Nichts da. Raus hier und wehe du wagst es noch einmal, einfach so hereinzuplatzen. Dann…«, dabei erhob ich drohend meinen Zeigefinger. Noch ehe ich etwas sagen konnte, beschwichtigte mich Mitch.
»Ist ja schon gut. Ich geh schon. Aber beeil dich!«
»Du bist also Mitchs neue Freundin«, brachte Emily das Gespräch gleich auf den Punkt, während sie mich von oben bis unten musterte.
Mitch hatte mich zu der blonden Schönheit Anfang zwanzig gebracht, uns kurz einander vorgestellt und war dann ziemlich schnell verschwunden. Bei dem Frauenkram würde er keine große Hilfe sein können, offenbarte er uns, bevor er mich perplex zurückließ.
Na, prima. Jetzt stand ich hier auf verlorenem Posten und musste mir alleine eine stimmige Geschichte aus den Fingern saugen, wie wir uns kennen- und lieben gelernt hatten.
Verdammt! Ich war doch keine Schauspielerin. Was dachte sich Mitch nur dabei? Nicht nur, dass er mich in diese missliche Lage brachte, nein, jetzt erwartete er auch noch von mir, dass ich seiner Schwester Rede und Antwort stand. Das konnte wirklich nicht sein Ernst sein.
»Komisch. Für gewöhnlich bringt mein Bruder seine Freundinnen nicht mit nach Hause. Muss wohl was Ernstes mit euch Beiden sein«, dabei musterte sie mich erneut wie einen Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum bereits seit Wochen abgelaufen war.
»Ziemlich«, gab ich wenig überzeugend von mir.
»Seit wann kennt ihr euch?«
»Ach, noch gar nicht so lange. Vielleicht ein, zwei Monate?«
»Vielleicht? Sollte man das nicht genauer wissen? Ich meine, gerade zu Beginn zählt man doch Tage, Wochen und vor allem die Monate. Da ist schließlich jeder Etappensieg ein großes Fest.«
»Da hast du sicher recht. Bei uns ist das etwas anders. Herrje, wie die Zeit vergeht«, versuchte ich abzulenken, indem ich entsetzt auf die Uhr an Emilys Handgelenk deutete. »So langsam müssen wir uns sputen. Meinst du nicht auch? Am besten wird es sein, wir unterhalten uns beim Abendessen weiter.«
Auch wenn es ihr offensichtlich nicht sonderlich gefiel, löcherte sie mich nicht weiter mit ihren Fragen und machte sich daran, mir aus ihrem begehbaren Kleiderschrank ein paar dinnertaugliche Kleider zu präsentieren.
Auf den Etiketten waren so namhafte Designer wie Gucci, Dior oder Chanel zu lesen. Mir stockte der Atem bei der Hochrechnung der Vermögenswerte, die hier eng beieinander hingen.
»Ich hätte ein schönes Sommerkleid von Versace. Ist allerdings bereits aus der letzten Kollektion. Wenn es dich nicht weiter stört, überlasse ich es dir gerne für den heutigen Abend.«
»Oh, das ist vollkommen in Ordnung. Hast du vielleicht auch passende Schuhe für mich? Mein Reisekoffer gibt nicht allzu viel her«, gestand ich verlegen.
»Aber sicher doch«, mit einem prüfenden Blick nahm sie imaginär Maß und fragte schließlich »39?«
Ich nickte anerkennend und blieb allein in dem wunderschönen Raum mit all den Kleidern, Hosen, Blusen und Mänteln der letzten Saison zurück, während Emily sich auf die Suche nach passenden Sandaletten für mich machte.
»Was hältst du von diesen Manolo Blahniks? Sie dürften gut zu dem Kleid passen. Sie sind mir sogar ein bisschen zu eng. Deshalb habe ich sie bisher nie getragen. Wenn sie dir passen, kannst du sie gerne behalten.«
Echte Blahniks? Für mich? Ich hatte meine Schuhe bisher immer vom Wühltisch bei Walmart. Blahniks waren mir da nie untergekommen. Mitchs Schwester kannte mich nicht und dennoch wollte sie mir so teure Schuhe schenken?
»Danke«, gab ich kleinlaut von mir.
»Na, jetzt probier erstmal.«
Sie passten wie angegossen. Nachdem ich mir noch das Kleid übergezogen, Make-up aufgelegt und mein Haar frisiert hatte, wagte ich einen letzten Blick auf den großen Ganzkörperspiegel in Emilys Ankleideraum.
Märchen wurden vielleicht doch wahr. Zumindest für begrenzte Zeit. Ich wandte mich erst von meinem Spiegelbild ab, als Emily mich auf den Umstand aufmerksam machte, dass wir los mussten.
Ein letzter Blick auf das grüne Sommerkleid und die passenden Sandaletten mit den feinen Riemchen. Eine Strähne hatte sich aus meiner Frisur gelöst und hing mir ins Gesicht. Ich ließ sie gewähren, während ich mich erinnerte, dass solche Erlebnisse meist nur von kurzer Dauer sind. Bei Aschenputtel erlosch der ganze Zauber um Mitternacht und sie verwandelte sich wieder in das arme Mädchen mit dem Ruß auf den Wangen zurück. Würde es mir auch so ergehen?
Kapitel 5
»Gibst du mir bitte mal die Sauce? Stacy?«
»Oh. Was?«, erwiderte ich erschrocken.
»Die Sauce. Bitte«, forderte Mitch erneut.
Ich reichte ihm das kleine Porzellanschälchen und verlor mich wieder in meinen Gedanken.
Der Abend verlief soweit ganz gut. Als Emily und ich pünktlich in dem großen Esszimmer ankamen, stellte sich Mitch an meine Seite und küsste mich liebevoll auf die Stirn. Die Geborgenheit, die meinen Körper daraufhin durchflutete, wärmte mich behaglich von innen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits die anderen Havishams eingefunden. Neben seinem Vater James kamen auch Michts Schwester Sue und ihr Verlobter Bob, um die Frau kennenzulernen, die es offenbar vermochte, Mitch zu zähmen, wie sie es amüsiert nannten.
James Havisham war ein hagerer alter Mann, der mich mit seinem Schnurrbart nur allzu sehr an unseren Nachbarhund Rufus, den Riesenschnauzer, erinnerte. Im Gegensatz zu seiner Frau blieb er eher distanziert, reichte er mir zur Begrüßung doch lediglich die Hand.
Sue und Bob zeigten sich ähnlich skeptisch wie Emily und löcherten uns beide sogleich mit einer Vielzahl an Fragen. Während mir bereits der Angstschweiß auf der Stirn ausbrach und mein Magen begann, Achterbahn zu fahren, präsentierte sich Mitch ganz souverän.
Er hatte an wirklich alles gedacht. Ohne mit der Wimper zu zucken, berichtete er seinen Geschwistern, wie wir uns angeblich kennenlernten. Er trug an manchen Stellen – für meine Verhältnisse – etwas zu dick auf, aber seine Zuhörerschaft hing wie gebannt an seinen Lippen.
Abigail reihte sich ebenfalls ein, um aus allererster Hand über das Ereignis des Jahres mehr zu erfahren. Die Hochzeit ihrer Tochter in wenigen Tagen rückte dabei weit in den Hintergrund, was allerdings keinen sonderlich zu stören schien, nicht einmal sie selbst.
Der Schnauzer, pardon, Mitchs Vater nahm zwischenzeitlich am Tisch Platz und mit dem Ausruf »Die Suppe wird kalt!« lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf sich. Ohne ein weiteres Wort eilten alle an ihre Plätze.
Mitch rückte mir einen Stuhl zurecht, auf den ich mich gerne sinken ließ. Eine große Anspannung fiel von mir ab. Mitch war perfekt vorbereitet gewesen. Als hätte er diesen Auftritt seit langem geplant. Irrte ich mich oder wirkte er nun etwas in sich gekehrt? Eine Sorgenfalte durchfurchte seine glatte Stirn und seine Miene verdüsterte sich. Woran er wohl gerade dachte?
Als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, lächelte er mich an, als wäre nichts gewesen. Dabei griff er zärtlich nach meiner Hand und legte die seine darauf.
Diese Geste beinhaltete etwas Beruhigendes, etwas Tröstliches, sodass ich nicht weiter über seinen Gesichtsausdruck von eben nachdachte. Ich genoss den Augenblick und lauschte den zaghaft einsetzenden Tischgesprächen.
»Sue, wie läuft es mit den Hochzeitsvorbereitungen? Ist soweit alles arrangiert?«, fragte Abigail ihre Tochter interessiert.
»Nun, ich denke, es dürfte alles vorbereitet sein. Wenn Bobs Eltern jetzt noch heil aus Houston ankommen, bin ich zufrieden«, antwortete sie ruhig und gelassen. Für eine Braut, die in drei Tagen vor den Traualtar schreiten würde, war sie ziemlich cool.
Wie ich mich wohl an ihrer Stelle verhalten würde? Mit Sicherheit nicht so cool wie Sue. Ich würde Tage – ach, was sag ich? –, wochenlang wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend rennen, hundertfach irgendwelche Checklisten durchgehen und am Tag der Hochzeit bereits am frühen Morgen in einen Tränenschwall ausbrechen.
»Das hört sich sehr gut an. Wenn du noch Hilfe benötigst, sagst du bitte Bescheid, Liebes.«
Egal, wie der Tag meiner Hochzeit sein würde, etwas würde mir immer fehlen: liebende Eltern, die mir den Rücken stärkten, für mich da waren und mir bei den Vorbereitungen halfen.
Wehmütig erinnerte ich mich an die letzten Tage mit meinen Eltern, bevor sie bei dem schrecklichen Autounfall ums Leben kamen. Wir hatten gerade eine wundervolle Zeit in Europa verbracht. Wenige Tage vor Schulbeginn kamen wir Zuhause an und Mom und ich gerieten uns wegen der Bügelwäsche in die Haare.
Bügelwäsche. Pah. Im Nachhinein ist es kaum vorstellbar, dass wir uns wegen solch einer Kleinigkeit so stritten.
Der Deputy, der mitten in der Nacht vor unserer Tür stand, war blutiger Anfänger gewesen und suchte eine gefühlte Ewigkeit nach den richtigen Worten.
Als er mir endlich erklärte, was passiert war, fiel ich in ein tiefes schwarzes Loch. Von jetzt auf nachher war ich vollkommen auf mich allein gestellt. Da war niemand mehr. Neben meinem Zuhause verlor ich meine Freunde und meine vertraute Umgebung, als ich zu meiner Tante zog. Tante Anne war die einzig lebende Verwandte, die sich meiner annehmen konnte.
Verdammt. Die hatte ich ja vollkommen vergessen. Noch immer schob ich den Anruf vor mir her. Das sollte ich jetzt schleunigst ändern. Sie machte sich sicherlich schon fürchterliche Sorgen um mich.
Das Gespräch am Tisch konzentrierte sich nahezu ausschließlich auf das bevorstehende Familienfest. Ich beteiligte mich nur sehr zurückhaltend daran und war froh, aus der Schusslinie zu sein. Mitch schien es ganz ähnlich zu sehen. Ab und zu lächelte er mir aufmunternd zu und drückte meine Hand.
Nach dem ausgesprochen leckeren Lammkarree mit Kräuterkruste war ich gespannt, was Martha uns zum Dessert zaubern würde. Während der Gang abgetragen wurde, verebbte die Unterhaltung kurzzeitig und ließ Raum für neuen Gesprächsstoff.
Wie konnte es auch anders sein? Diesmal waren wir wieder am Zug.
»So, Stacy, was machst du denn eigentlich beruflich?«, hörte ich Emily fragen.
»Ich bin Museologin und momentan auf Jobsuche. Also, wenn jemand eine Stelle weiß, nur her damit«, offenbarte ich ehrlich.
»Oh, da einen Job zu finden, dürfte schwierig sein. Wo hast du denn bisher gearbeitet?«, blieb sie hartnäckig.
»Ich habe während des Studiums nur Praktika absolviert. Bisher hat sich leider noch nichts aufgetan. Allerdings bin ich guter Dinge. In Chicago wird sich sicherlich etwas finden lassen«, gab ich mich optimistisch.
»Chicago? Mitch, ich wusste gar nicht, dass du wieder hierher ziehst. Was ist mit Memphis und deinem Job in der Anwaltskanzlei?«
Während ich mich am liebsten für meine Ehrlichkeit geohrfeigt hätte, vernahm ich Mitchs stimmige Antwort.
»Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Wenn Stacy hier etwas findet, dann suche ich mir auch eine neue Herausforderung. Anwälte werden überall gebraucht.«
»Wow, Stacy, du scheinst echt großen Einfluss auf meinen Bruder zu haben. Noch vor wenigen Wochen hätten ihn keine zehn Pferde zurück nach Chicago gebracht«, bemerkte Emily anerkennend.
»Wo werden Sie für die Zeit ihrer Jobsuche wohnen?«, fragte Mitchs Vater. Er hatte sich bisher den ganzen Abend noch nicht zu Wort gemeldet. Als er zu sprechen begann, wanderten alle Blicke überrascht zu ihm.
»Ich habe eine Freundin, die mich bei sich aufnehmen wird.«
So hoffte ich zumindest. Mit Lindsey hatte ich noch gar nicht gesprochen. Hoffentlich lebte sie überhaupt noch in Chicago. Momentan zogen alle möglichen Bekannten und Freunde ihrem Job hinterher und verließen dafür sogar ihre Heimat.
»Das kommt gar nicht in Frage«, mischte sich Abigail ein. »Du wohnst natürlich bei uns. Schließlich gehörst du nun zur Familie. Nicht wahr, Mitch? Solange Stacy auf Jobsuche ist, wirst du sicherlich noch in Memphis bleiben. Da sollte sie hier bei uns wohnen, finde ich. Das fänden deine Eltern bestimmt auch besser.«
»Ich habe keine Eltern mehr. Sie starben vor über acht Jahren bei einem Autounfall«, erwiderte ich mit gesenktem Blick.
Für gewöhnlich sahen die Menschen immer sehr betrübt drein, wenn ich ihnen meine Lebensgeschichte erzählte. Im Moment konnte ich diese Blicke auf mich nicht ertragen und schloss meine Augen.
Vorsichtig legte sich eine Hand auf meinen Rücken und strich sanft darüber.
»Mom, lass uns über etwas anderes reden. Du siehst ja, wie die Geschichte Stacy noch immer mitnimmt. Wir werden für alles eine Lösung finden. Jetzt freuen wir uns lieber auf die Hochzeit und wischen die trüben Gedanken beiseite. Was meint ihr?«
Dabei fuhr er mir noch immer behutsam mit seiner Hand über den Rücken. Seine Nähe tat mir gut. Womöglich zu gut. Doch ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, nicht weiter die Starke spielen und so gab ich mich meinen Gefühlen hin und ließ mich für einen Moment fallen.
Einzelne Tränen kullerten mir langsam über die Wangen. Ich strich sie mit dem Handrücken fort und hoffte, sie blieben den anderen verborgen. Doch weit gefehlt. Anscheinend klebten nach wie vor alle Blicke auf mir.
Wie ich es hasste, im Mittelpunkt zu stehen. Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut. Noch ehe ich selbst eine Möglichkeit fand, unter einem Vorwand den Raum zu verlassen, hörte ich Mitch sagen:
»Es wird besser sein, wenn Stacy und ich uns für den heutigen Abend zurückziehen«, dabei erhob er sich von seinem Stuhl und bot mir seinen Arm.
Die betretene Stimmung im Raum schmerzte mich. Ich wusste ja selbst nicht genau, was da über mich gekommen war. Der Tod meiner Eltern lag Jahre zurück. Eigentlich hatte ich die Sache ganz gut verarbeitet.
Doch heute Abend war es aus mir herausgebrochen. Heute Abend hielt ich die Tränen nicht zurück. Das Familienidyll der Havishams zeigte mir, wie es hätte sein können. Was es hieß, eine richtige Familie zu haben und nicht nur auf sich allein gestellt zu sein, führten sie mir bitter vor Augen.
Als Mitchs Mom mir wie selbstverständlich anbot, hier zu wohnen, war der Damm gebrochen. Die Tatsache, dass sie einer völlig Fremden ein Dach über dem Kopf gewährte, erinnerte mich an meine Mom. Diese hatte, wann immer es ihr möglich war, versucht, das Leid der anderen zu verringern.
»Das wird wohl das Beste sein«, hörte ich Michts Vater noch sagen, während wir uns bereits auf den Weg zur Tür machten.
»Entschuldige bitte. Es war nicht meine Absicht, deiner Familie den Abend zu verderben. Ich weiß ja selbst nicht, was da plötzlich über mich gekommen ist«, sprach ich leise, nachdem wir mein Zimmer erreichten.
»Mach dir keine Sorgen. Dir ist keiner böse. Ganz bestimmt nicht«, dabei hob er mein Kinn an. »Viel wichtiger ist es, dass es dir wieder besser geht. Kann ich etwas für dich tun?«, fragte er, während er mir tief in die Augen sah.
Ich verlor mich darin, gab mich dem Moment hin und hätte mich am liebsten an seine Brust geschmiegt. Doch ich tat es nicht. Ich blieb standhaft.
»Alles gut. Wie gesagt, ich weiß gar nicht, wie es dazu kommen konnte. Für gewöhnlich macht es mir nichts mehr aus. War wohl alles etwas viel für mich.«
»Das Beste wird sein, du legst dich hin und ruhst dich aus. Du wirst sehen: Morgen ist ein neuer Tag und über Nacht sind die trüben Gedanken wie weggeblasen.«
»Meinst du wirklich?«
»Aber sicher doch. Schlaf gut, Dornröschen.«
Dabei löste er seine Hand von meinem Kinn und küsste mich sanft auf die Stirn.
Kapitel 6
Die wenigen Tage bis zur Hochzeit vergingen wie im Flug. Ich verbrachte viel Zeit damit, Emily und Sue bei den Vorbereitungen zu helfen. Schnell stellte sich heraus, dass wir drei oft gleicher Meinung waren und viele Ansichten teilten. Ob ich die Tatsache allerdings gut fand, wusste ich nicht. Mit jedem anregenden Gespräch, mit jeder lustigen Anekdote aus Mitchs Kindheit wuchs mir die Familie immer mehr ans Herz.
So nahe wie am ersten Abend kam mir Mitch allerdings nicht mehr. Er hielt meine Hand, wenn andere dabei waren, oder küsste mich auf die Wange. Sonst blieb er distanziert. Seine Unnahbarkeit schrie förmlich nach Anteilnahme. Irgendetwas in mir wollte ihn fragen, warum er sich so verhielt. Dennoch wagte ich es nicht, ihn darauf anzusprechen.
Wir hatten einen Deal und daran wollte ich mich halten. Es war keine gute Idee, Mitch mit seinen Gefühlen zu konfrontieren. Vielleicht musste ich mich dann auch meinen stellen. Dazu war ich nicht bereit. Noch nicht.
Während sich die Familie nach dem Essen zusammensetzte und in Erinnerung an ihre gemeinsamen Erlebnisse schwelgte, zog sich Mitch meist frühzeitig zurück. Er schien lieber für sich bleiben zu wollen.
Dahingehend war mein Verhalten eher masochistischer Natur. Ich lauschte den Zwillingen, wenn sie ihre Doppelten-Lottchen-Geschichten aus der Schule zum Besten gaben, erfreute mich an den Fotos, die Abigail passend dazu parat hielt, und reagierte überrascht, als mich James neben sich auf die Couch bat.
Wenn das Ganze nicht nur eine Geschichte mit kurzer Verweildauer gewesen wäre, hätte ich mich rundum wohlfühlen können. Tagtäglich nagte der Zweifel an mir, ob mein Verhalten den Havishams gegenüber fair war. Das war es ganz sicher nicht, bedachte man den Umstand, dass ich sie in wenigen Tagen ohne ein Wort des Abschieds verlassen würde.
Kehrte einmal Ruhe im Haus ein, zog ich mich in die Bibliothek zurück und schmökerte auf dem gepolsterten Fenstersims in einem der zahlreichen Bücher. Ich sog den unverkennbaren Geruch nach altem, bedrucktem Papier tief ein. Dabei ließ ich meinen Blick auf Wanderschaft gehen. Vor mir lag der traumhaft schöne Garten, der, wie Abigail mir berichtete, ausschließlich von ihr selbst gehegt und gepflegt wurde.
Das sah man auch. Hier war kein Profigärtner am Werk. Dazu standen die Blumen teils viel zu nahe beieinander oder wirkten aufgrund der Farbkombination etwas deplatziert. Aber das war der ganz eigene Charme, den dieser Garten ausstrahlte. Da steckte kein ausgereiftes Konzept dahinter, sondern einfach nur Freude an der Tätigkeit.
Während ich mich meinen Überlegungen hingab, musste zwischenzeitlich die Tür geöffnet worden sein. Ich bemerkte es erst, als ich hinter mir Schritte hörte.
»Dachte ich es mir doch, dass du hier bist. Meine Schwestern sind auf der Suche nach dir. Sue hat sich eingebildet, sie möchte dich gerne als ihre Brautjungfer neben sich am Traualtar stehen haben. Ich dachte, ich berichte dir davon. Entscheide bitte selbst, ob du solch einen wichtigen Posten auf der Feierlichkeit wahrnehmen möchtest. Mir persönlich wäre es lieber, du würdest dich im Hintergrund halten. Schließlich wirst du als Brautjunger auf einer Vielzahl von Bildern auftauchen und nachdem du dieser Familie in wenigen Tagen den Rücken kehren wirst, fände ich es nicht angebracht. Dennoch möchte ich dir diese Entscheidung, wie gesagt, selbst überlassen.«
Auf die Kälte, die mir aus Mitchs Worten entgegenschlug, war ich nicht vorbereitet. Unvermittelt ließ ich meine Beine vom Fenstersims zu Boden gleiten und stellte mich dicht vor ihn. Ich wollte in seinen Augen lesen, ob er es ernst meinte oder ob er aus einem reinen Schutzmechanismus heraus so unterkühlt mit mir sprach.
Doch ich konnte nichts erkennen. Seine Augen blieben verhüllt und offenbarten mir keinen Blick in sein Inneres. Starr blickten wir uns an. Keiner wagte zu sprechen. Die Zeit schien endlos langsam voranzuschreiten, als plötzlich die Zimmertür aufgerissen wurde und das freudige Grinsen von Sue den Raum erhellte
»Da seid ihr ja. Ich suche dich schon eine ganze Weile, Stacy. Hast du kurz Zeit? Ich würde gerne etwas mit dir besprechen. Oder störe ich euch gerade bei etwas Wichtigem?«
»Nein, nein. Wir sind bereits fertig. Sie gehört dir«, hörte ich Mitch sagen, während er zielstrebig den Ausgang ansteuerte. Kein Wort des Abschieds, keine Berührung, nichts.
Natürlich fehlten mir nachvollziehbare Argumente, warum ich nicht Sues Brautjunger werden konnte. Ich versuchte Sue damit zu überzeugen, dass wir uns erst seit einigen Tagen kannten, doch meine Worte prallten an ihr ab. Ich wand mich und wollte nicht nachgeben. Letzten Endes musste ich mich allerdings geschlagen geben.
Keine zwanzig Minuten später stand ich in der kleinen Brautboutique in der Elston Avenue und begutachtete mich in dem türkisblauen knielangen Brautjungfernkleid vor dem meterhohen Spiegel. Meine Schultern waren lediglich von einem leichten Tülltuch verdeckt.
»Wie findest du es? Hab ich dir zu viel versprochen?«, fragte Sue ganz ungeduldig.
»Es ist wirklich ein Traum. Da hast du richtig schöne Kleider rausgesucht«, bestätigte ich ehrlich ihre ausgezeichnete Wahl.
»Das freut mich zu hören. Möchtest du auch mal mein Kleid sehen? Ich möchte es kurz anprobieren. Hoffentlich passt noch alles. Bob und ich haben seit Tagen kaum etwas gegessen. Die Aufregung ist mir zwar nicht anzumerken, allerdings bin ich innerlich ein nervliches Wrack. Glaube mir«, versuchte sie mich zu überzeugen.
»Sehr gerne«, erwiderte ich, während mir Mitchs Worte ins Gedächtnis kamen.
Was tat ich hier eigentlich? Ich sollte schleunigst zusehen, dass ich das Weite fand. Es war keine gute Idee gewesen, das Kleid anzuprobieren, geschweige denn den Posten anzunehmen. Sue hatte etwas Besseres verdient als eine Heuchlerin, die sich bald für immer aus dem Staub machte.
Mein Smartphone klingelte und ich zog mich für das Gespräch in die Ankleidekabine zurück. Im Display war Tante Annes Nummer zu sehen. Ich hatte mich noch immer nicht bei ihr gemeldet. Hoffentlich war alles in Ordnung bei ihr.
»Stacy? Bist du es?«, hörte ich sie ängstlich fragen.
»Hallo Tante Anne. Ja, ich bin es. Entschuldige bitte, dass ich mich bisher noch nicht gemeldet habe. Ich bin jetzt in Chicago auf Jobsuche«, offenbarte ich ganz nebenbei die Pleite mit der anderen Stelle.
»Wieso denn jetzt Chicago? Warum kommst du nicht nach Hause? Wo bist du denn überhaupt untergekommen?«, drang sie weiter in mich.
»Ich wohne bei meiner Collegefreundin Lindsey«, log ich, ohne rot zu werden.
»Pass auf dich auf und lass dich nicht auf irgendwelche Männer ein. Hörst du?«
»Das werde ich nicht. Mach dir keine Sorgen«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Was sagst du? Ich kann dich nur ganz schlecht hören.«
War ja klar. Mit Sicherheit hatte sie vergessen, ihr Hörgerät einzustöpseln. Wahrscheinlich lag es wieder auf der Fensterbank neben den Orchideen.
»Ich lass mich auf keine Männer ein. Mach dir keine Gedanken, Tante Anne. Ich melde mich bald bei dir«, versuchte ich das Gespräch zu einem Ende zu bringen.
Zwischenzeitlich musste ich regelrecht schreien, damit sie mich überhaupt verstehen konnte. Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte, packte ich mein Telefon in meine Handtasche und öffnete den Vorhang der Kabine.
Während ich diesen zur Seite schob und einmal tief durchatmete, stand Sue unerwartet vor mir. Sie beäugte mich misstrauisch und verzog dabei keine Miene.
»Wusste gar nicht, dass du bei deiner Freundin wohnst? Warum hast du deiner Tante nicht die Wahrheit gesagt und ihr erzählt, wo du wirklich untergekommen bist? Und warum um alles in der Welt verheimlichst du ihr Mitch?«, fuhr sie mich ohne Punkt und Komma an.
»Wow. Hast du mich etwa gerade belauscht?«, fragte ich perplex.
»Entschuldige mal. Du hast hier so laut rumgeschrien, dass man gar nicht in der Lage war, wegzuhören.«
Wie zur Bestätigung nickten die umstehenden Verkäuferinnen und gaben mir damit umso mehr das Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben.
»Also, was ist jetzt Sache? Warum verheimlichst du uns vor deiner Tante?«
»Tante Anne ist streng katholisch«, versuchte ich mich aus dem Schlamassel zu manövrieren, in das ich knietief hineingeschlittert war.
»Und? Das ist meine Granny auch.«
»Wenn ich meiner Tante erzähle, dass ich einen Freund habe und bei dessen Familie zu Besuch bin, würde sie mindestens von mir verlangen, dass ich ihn heirate«, trug ich etwas dick auf.
»Ganz schön antiquierte Einstellung. Deshalb auch die getrennten Zimmer?«
»Dieses Zugeständnis musste ich machen, sonst hätte ich keinen Seelenfrieden mit mir gefunden.«
Hoffentlich erfuhr Sue nie die Wahrheit. In was für einer verfahrenen Situation befand ich mich hier eigentlich? Warum, um alles in der Welt, hatte ich mich nur auf diese bescheuerte Idee eingelassen und war mit Mitch zu seiner Familie gefahren?
Ich bemühte mich, Sue eine plausible Erklärung zu liefern, doch der Keim des Zweifels war gesät. Das konnte ich ganz deutlich erkennen.
Einen Moment schien sie noch mit sich zu hadern, ob sie mir Glauben schenken sollte. Dann forderte sie mich allerdings doch auf, ihr in die hinteren Räumlichkeiten zur Anprobe ihres Hochzeitskleides zu folgen. Ich atmete tief durch, ehe ich ihr betreten nachging.
Sues Hochzeitskleid war atemberaubend schön. Die schlanke Blondine füllte die Corsage perfekt aus. Ab der Hüfte ging das Kleid fließend in Berge von Tüll über, die mit einer Vielzahl von Stickereien und Perlen verziert waren. Für mich wäre es zwar nichts gewesen, aber Sue stand das Kleid wie angegossen, wie für sie gemacht.
Ich sah die Freude in ihren Augen, als sie sich vor dem Spiegel betrachtete und ihren Schleier zurechtzupfte.
»Und? Wie findest du es?«
»Du bist atemberaubend schön. Bob kann sich glücklich schätzen, so eine wundervolle Braut zu bekommen«, gab ich meine ehrliche Meinung ab.
»Meinst du wirklich?«
Dabei stiegen Sue Tränen der Rührung in die Augen. Sie breitete ihre Arme aus und ich ließ sie gewähren, als sie mich ganz fest an sich zog. Wenn ich mir jetzt noch weismachen wollte, dass ich aus der ganzen Sache unbeschadet herauskäme, dann log ich mir nur selbst in die Tasche.
Ich musste dringend mit Mitch reden.
»Mitch? Bist du hier?«
Hm, komisch. Er war nirgends zu finden. Weder in der Bibliothek noch im Garten oder sonstwo im Haus. Obwohl wir gemeinsam unter einem Dach wohnten, wusste ich nicht, wo sich sein Zimmer befand.
Ich erklomm das obere Stockwerk und streifte den langen Korridor gemächlich entlang. Immer auf der Hut, ob mir ein Geräusch Mitchs Aufenthaltsort verraten würde. Als ich tatsächlich seine Stimme aus einem der Zimmer vernahm, blieb ich davor stehen.
Etwas in mir riet mir, umzukehren und später mit ihm zu reden. Schließlich schien er gerade beschäftigt zu sein. Da wollte ich nicht stören. Natürlich war ich mir dessen bewusst, dass es eine fadenscheinige Ausrede war. Aber noch ehe mich der Mut vollends verließ, wurde Mitch hinter der Tür lauter. Unbeabsichtigt wurde ich Zeuge einer sehr interessanten Unterhaltung.
»Nein, Samantha. Das wirst du nicht tun. Es ist ein für alle Mal aus. Ich will dich nie mehr wiedersehen. Hast du das verstanden?«, schrie Mitch ungehalten.
Was war da bloß los? Wer um alles in der Welt machte ihn dermaßen wütend? So aggressiv kannte ich ihn gar nicht. Und wer war Samantha? Seine Ex?
Während ich noch überlegte, riss Mitch die Zimmertür sperrangelweit auf. Als er mich bemerkte, hielt er in seiner Bewegung kurz inne. Zur Salzsäule erstarrt, war ich nicht in der Lage, ihm aus dem Weg zu gehen.
Er funkelte mich wütend an. Wie ein Tier, das sich in die Enge gedrängt fühlt, ging er ohne ein Wort an mir vorbei und rannte davon.
Was sollte ich tun? Ihm hinterher gehen? Ihn in Ruhe lassen? Verdammt, ich kannte ihn zu wenig, um abschätzen zu können, was in dieser Situation das Beste war.
Letzten Endes war es der traurige Schein seines Blickes, der sich hinter der wütenden Fassade versteckte, der mich dazu bewog, ihn zu suchen. Ich eilte die Treppen hinunter ins Erdgeschoss, durchstreifte das Entrée und ging auf direktem Weg in den Garten.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn hier wirklich finden würde, allerdings schien es mir eine gute Idee zu sein, ihn hier zu suchen. Im Garten hatte man seine Ruhe und lief meist nicht Gefahr, jemandem zu begegnen.
Und tatsächlich. Noch ehe ich die Gartentür vollends öffnete, sah ich ihn. Hinter den Blumen und dem Rasen stand er an einen Baum gelehnt. Er blickte in die Ferne, sodass er nicht bemerkte, wie ich mich ihm vorsichtig näherte.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich war mir nach wie vor nicht sicher, ob ich gerade das Richtige tat. Dennoch war ich der Überzeugung, dass ich es versuchen musste. Vielleicht brauchte er ja meine Hilfe oder jemanden, mit dem er in Ruhe reden konnte.
Noch ehe ich etwas sagen konnte, war Mitch auf mich aufmerksam geworden.
»Komm ruhig näher. Ich fresse dich auch nicht, keine Sorge«, gab er sich taff.
Langsam ging ich auf ihn zu, bis uns nur noch wenige Schritte voneinander trennten. Dann hielt ich inne und wartete. Gerade als ich dachte, es wäre besser zu gehen, begann er zu erzählen.
»Ich hatte gerade ein sehr unangenehmes Gespräch mit einer Person, die ich vor gar nicht allzu langer Zeit für immer aus meinem Leben verbannt habe«, offenbarte er mir.
»Kann ich etwas für dich tun? Möchtest du mit mir darüber reden?«, fragte ich leise.
»Samantha war meine große Liebe. Wir haben uns auf einer Party kennengelernt und es hat sofort zwischen uns gefunkt. Nach wenigen Wochen sind wir bereits zusammengezogen und schmiedeten gemeinsame Pläne für die Zukunft. Als ich geschäftlich für einige Zeit nach Boston musste, entschied ich mich, dort für Sam einen Ring zu besorgen und ihr nach meiner Ankunft einen Heiratsantrag zu machen. Ich kaufte ihr also einen Diamantring, flog ein paar Stunden früher zurück, als ich ihr mitteilte, und nahm meinen ganzen Mut zusammen. Der Flug war eine Tortur. Immer und immer wieder dachte ich über die richtigen Worte nach. Darüber, wie ich ihr klarmachen konnte, dass sie die Einzige für mich war und dies auch immer sein sollte. Tja, zuhause angekommen, wurde mir dann unverblümt vor Augen geführt, dass ich ein absoluter Narr war, ein Idiot sondergleichen. Als ich die Tür zu unserer Wohnung öffnete, beschlich mich bereits ein ungutes Gefühl. Ich rief Sams Namen, da sie eigentlich zuhause sein müsste, erhielt jedoch keine Antwort. Eine dunkle Vorahnung ergriff meine Sinne und ich näherte mich auf direktem Weg unserem Schlafzimmer. Als ich dahinter Geräusche vernahm, öffnete ich unumwunden die Tür und musste mit ansehen, wie sich die Liebe meines Lebens mit meinem bis dato besten Freund vergnügte.«
Er endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Sein Blick war dabei nach wie vor in die Ferne gerichtet. Seine Hände hielt er zu Fäusten geballt, während sein Körper sich versteifte.
Ich wusste nicht, wie ich auf dieses Geständnis reagieren sollte. Was konnte man einem Menschen schon sagen, der von der Liebe seines Lebens dermaßen betrogen worden war?
Lange blickte ich ihn an, ehe ich einen Entschluss fasste und mich ihm näherte. Behutsam strich ich ihm mit der Hand über den Rücken, ließ sie auf seinen Arm gleiten und verharrte dort einen Moment. Als ich mich gerade dazu entschied, den Rückzug anzutreten, um ihm Ruhe zu gönnen, war es einfach so passiert.
Völlig unvermittelt griff Mitch nach meiner Hand, zog mich noch ein Stück näher zu sich und küsste mich ohne Vorwarnung auf den Mund. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich versteifte mich, schockiert von der Regung meines Körpers, der sich offensichtlich nichts Schöneres vorstellen konnte, als an Mitchs Lippen zu hängen.
Ich weigerte mich nicht, ließ ihn gewähren und erwiderte seinen innigen, sehnsüchtigen Kuss. Wie ein Getriebener küsste er mich immer heftiger, vergrub seine Hände ganz tief in meinem Haar und presste sich fest an mich.
Egal was nach diesem Kuss passieren würde, eines wusste ich bereits in diesem Moment: Ich war im Begriff, mein Herz an diesen Mann zu verlieren. Nein, wenn ich ehrlich war, hatte ich das bereits getan.
»Stacy? Mitch? Wo seid ihr beiden denn? Wir wollten uns die Hochzeitslocation nochmal zusammen anschauen. Wo steckt ihr beiden denn?«
Erschrocken fuhren wir auseinander. Mitch stopfte sich das Hemd in die Hose, während ich mich bemühte, die Unordnung in meinem Haar zu beseitigen. Emily kam uns bedrohlich nahe und noch ehe ich meinen Puls unter Kontrolle bekommen konnte, stapfte sie zielstrebig auf uns zu.
»Da seid ihr ja? Habt ihr mich nicht rufen hören? Wir wollen gleich los. Kommt ihr mit? Sue und Bob stoßen mit Mom und Dad am Strand zu uns. Alles okay bei euch? Ihr seht so verstört drein und eure Wangen glühen ja. Oh, Gott! Hab ich euch gerade bei etwas gestört? Verdammt, das tut mir leid. Ich warte dann wohl besser im Haus auf euch.«
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
»Stacy?«, begann Mitch.
Doch ich ließ ihn nicht gewähren. Ich wollte es nicht hören. Es wäre zu schmerzlich für mich, wenn er sich jetzt für diesen unglaublichen Kuss entschuldigte. Das hätte ich nicht ertragen. Ehe mir mein Herz gebrochen werden konnte, nahm ich Reißaus und rannte zurück zum Haus.
Kapitel 7
Als wir den kleinen Strandabschnitt am Michigan Lake erreichten, konnte ich es gar nicht mehr erwarten, endlich aus dem Wagen auszusteigen. Mitch hatte angeboten zu fahren. So saßen Emily, Mitch und ich seit einer geschlagenen halben Stunde in seinem Auto und keiner wagte es, etwas zu sagen. Totenstille. Nicht einmal das Radio lief.
Emily schien der Zwischenfall noch immer peinlich zu sein. Mitch dachte wohl noch darüber nach, wie er mir klarmachen konnte, dass er der Sache im Garten keine Bedeutung beimaß.
Beherzt griff ich nach dem Türgriff, um möglichst schnell die Flucht nach vorne anzutreten. Ohne einen Blick zurück, warf ich die Tür ins Schloss und lief barfuß im Sand, nachdem ich meine Sneakers ausgezogen hatte. Nur weg.
Die Location für die Feierlichkeit am morgigen Samstag war unglaublich schön. Ich beobachtete die Badegäste, die sich im Wasser tummelten, auf den Badetüchern sonnten oder sich der Lektüre ihres Buches widmeten. Was gäbe ich jetzt dafür, an ihrer Stelle hier zu liegen?
Ich lief weiter. Als das Wasser begann, meine Füße sanft zu umspielen, entspannte ich mich und atmete tief durch.
Kaum zu glauben, dass der Lake Michigan lediglich ein See ist. Man hatte wirklich das Gefühl, am Meer zu sein. Ich vergrub meine Zehenspitzen im Sand und beobachtete zwei Mädchen, die neben mir eine Sandburg bauten.
»Lucy, wir brauchen noch eine Zugbrücke über den kleinen Bach, der um das Schloss herumgeht«, hörte ich das größere der beiden Mädchen sagen.
»Wieso?«, fragte das andere.
»Na, sonst kommt der Prinz ja nicht ins Schloss und Dornröschen kann nicht gerettet werden.«
»Oh, Kathie, da hast du recht. Das müssen wir schnell ändern.«
Kinder. Was wussten die denn schon vom wirklichen Leben? Bauten hier Sandburgen und Brücken in der Hoffnung, der Prinz würde kommen, um Dornröschen zu erwecken.
Ich wünschte mir sehnlichst meine kindliche Naivität zurück. Am liebsten hätte ich mich zu ihnen in den Sand gesetzt und mitgeholfen.
Doch mir waren andere Dinge für diesen Nachmittag beschieden. Die Trauung von Sue und Bob fand morgen hier unter freiem Himmel statt. Es galt noch ein paar Vorbereitungen zu treffen.
Als ich der Skyline Chicagos meinen Rücken zuwandte, entdeckte ich Mitchs Eltern sowie Sue und Bob, die zielstrebig auf mich zu eilten.
Mitch und Emily waren ebenfalls auf dem Weg. Ich fühlte mich umzingelt und wäre am liebsten ins Wasser gesprungen und davon geschwommen. Jetzt hieß es Nerven bewahren und sich nichts anmerken lassen.
»Sehr schön. Da seid ihr ja schon alle«, empfing uns Abigail freudig.
»Lasst uns gleich mal schauen, wo wir die Stühle am besten hinstellen. Die Firma mit dem Equipment kommt in wenigen Minuten«, bat Sue.
»Übrigens hab ich uns für später einen Tisch im Grace reserviert. Hoffe, ihr hattet keine anderweitigen Pläne für den Abend«, dabei sah Sue erwartungsvoll in die Runde.
Na, prima. Jetzt würde ich auch noch endlose Stunden neben Mitch im Restaurant sitzen müssen. Ich sehnte mich nach der Einsamkeit vergangener Tage. Eigentlich hätte ich dringend auf Abstand gehen müssen, doch so quittierte ich Sues familiäres Abendprogramm lediglich mit einem Lächeln.
Das Grace war ein ziemlich nobler Schuppen. Einer von der Sorte, bei der man nach fünf Gängen hungrig nach Hause ging, um sich dort Macaroni & Cheese in der Mikrowelle warmzumachen.
Dummerweise floss allerdings reichlich Wein dazu. Ich trank nur gelegentlich und so zeigte bereits das zweite Glas seine Wirkung. In meinem Kopf begann es sich zu drehen und ich driftete immer weiter in eine »Ach-was-soll`s-Stimmung« ab.
Die Gespräche am Tisch drehten sich ausschließlich um die morgige Hochzeit. Ich hatte keine große Lust, mich einzubringen, und verhielt mich deshalb eher zurückhaltend.
Mitch schien es ganz ähnlich zu gehen. Gelegentlich riskierte er einen Blick zu mir, schaute dann aber schnell wieder weg und konzentrierte sich auf die mickrige Portion vor ihm auf dem Teller.
Mit jeder Minute, die ich länger neben ihm sitzen musste, ging es mir schlechter. Ich verzog mich zu den Restrooms, wusch mein Gesicht mit eisigkaltem Wasser und gönnte mir eine kurze Verschnaufpause.
Kritisch besah ich mein Gesicht im Spiegel, während Sue und Emily in den kleinen Raum drängten.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragten sie wie aus einem Munde.
»Ja, alles gut«, erwiderte ich schnell, in der Hoffnung, mir damit lästige Fragen zu ersparen.
»Mitch macht sich Sorgen um dich und hat uns gebeten, nach dir zu sehen«, offenbarte Sue.
Mitch machte sich Sorgen um mich? Wahrscheinlich hatte er Angst, dass ich abhauen könnte und er dann sein falsches Spiel erklären müsste. Oder machte er sich womöglich doch Gedanken um mich? Vielleicht gab es ja noch Hoffnung.
»Mir ist tatsächlich etwas unwohl. Liegt bestimmt am Wein. Ich bin es nicht gewohnt, Alkohol zu trinken.«
»Herrje, und bei den kleinen Portionen hier bist du sicherlich nicht satt geworden«, brachte Emily die Sache auf den Punkt.
»Na, dann komm mal wieder raus hier. Vielleicht wird dir etwas frische Luft gut tun. Mitch geht bestimmt noch eine Runde mit dir spazieren«, ergriff Sue die Initiative.
»Nein. Das kann ich auch alleine. Ihr sitzt doch alle so schön beieinander. Da möchte ich ihn nicht stören«, wand ich mich wie ein Aal.
»Papperlapapp. In deinem Zustand lassen wir dich auf gar keinen Fall alleine draußen umher spazieren. Mitch geht mit und basta.«
Widerworte waren hier fehl am Platz. Da war ich mir sicher. Also fügte ich mich in mein Schicksal und ging mit Mitch eine Runde um den Block.
Anfangs sprach keiner von uns und ich war dankbar dafür. Sue behielt recht. Die frische Luft tat mir wirklich gut. Ich atmete tief ein und spürte, wie der Sauerstoff meinen Kopf flutete.
Mitch lief neben mir. Den Blick nach vorne gerichtet, schritt er an meiner Seite gemächlich voran. Er machte keine Anstalten, meine Hand in seine zu legen. Stillschweigend schienen wir übereingekommen zu sein, dass es so besser war.
Irgendwie konnte ich ihn ja auch verstehen. Nach der Sache mit seiner Ex-Freundin zog er sich lieber in einen schützenden Kokon zurück. In solch einer Situation wollte man der Welt den Rücken kehren und nicht das nächste Abenteuer eingehen.
»Stacy, ich glaube, wir müssen miteinander reden«, durchbrach er die Stille.
»Ich weiß, was du mir sagen möchtest und es ist okay für mich. Mach dir wegen mir keine Gedanken. Ich akzeptiere deine Entscheidung«, sprudelte es aus mir heraus.
»Tatsächlich?«, erwiderte Mitch skeptisch, während er innehielt und mir tief in die Augen blickte.
»Aber klar. Ich verstehe dich nur allzu gut. Glaube mir, die Sache von heute Nachmittag ist bereits vergessen. Du hast dir deinen Kummer von der Seele geredet und ich war da. Es ist einfach so passiert«, log ich, um Haltung bemüht.
»Einfach so passiert?«, wiederholte Mitch.
»Genau. Also, lass uns zur Tagesordnung übergehen und morgen die Hochzeit hinter uns bringen. Danach sind es nur noch drei Tage, in denen wir uns aus dem Weg gehen müssen. Das sollten wir doch schaffen?«, gab ich mich selbstsicher.
»Stacy, ich kann dir das, was du suchst, im Moment nicht geben. Verzeih mir bitte, aber ich bin einfach nicht in der Lage«, versuchte er, sich zu erklären.
Tränen stiegen in mir auf. Ich unterdrückte sie, ließ sie nicht vordringen und verlor doch den Kampf.
»Sicher. Können wir zurück? Mir wird langsam kalt«, brachte ich noch heraus, bevor ich mich von ihm abwandte und zurücklief. Leise kullerten Tränen über meine Wangen und ich ließ es geschehen.
Kapitel 8
Du schaffst das, wiederholte ich gebetsmühlenartig die aufmunternden Worte. Wenn man mich neben dem Himmelbett so auf und ab laufen sah, konnte man fast meinen, ich würde heute vor den Traualtar schreiten. Dabei war ich doch nur Mitchs schmuckes Beiwerk, das ihm die unliebsamen Fragen seiner Freunde und Verwandten vom Hals halten sollte.
Unter den geladenen 150 Gästen waren auch eine Vielzahl enger Freunde der Familie. Das hieß für mich im Umkehrschluss, dass ich auch heute wieder auf Herz und Nieren geprüft werden würde.
Wo hatten wir uns noch gleich kennengelernt? Seit wann waren wir ein Paar?
Ich brachte die ganzen Details einfach nicht auf die Reihe. Mitch hatte sich die Eckpunkte unserer Beziehung zurechtgelegt, ohne mir ein adäquates Mittel zu verraten, mit dem ich mir diese merken konnte.
Es war zum Verrücktwerden. Je öfter ich versuchte, mich an den ersten Abend mit den Havishams zu erinnern, desto schwerer fiel es mir, das Hauptaugenmerk auf Mitchs Worte zu legen.
Viel lieber rief ich mir sein Gesicht mit den geschwungenen Lippen ins Gedächtnis. Den Lippen, die mich im Garten so innig geküsst hatten, dass ich heute noch beim Gedanken daran weiche Knie bekam.
Was, um alles in der Welt, hatte mich dazu bewogen, ihm nachzulaufen? Warum war ich nicht in mein Zimmer gegangen und hatte ihn seinem Schmerz überlassen?
Aufgewühlt trocknete ich meine nassen und verschwitzten Handflächen an der Jeans. Wenn ich nicht zu spät kommen wollte, musste ich mich nun in Schale werfen.
Mitch überließ mir vor einigen Tagen seine Kreditkarte und bat Emily, mit mir shoppen zu gehen. Es war zwar nicht der Rodeo Drive, auf dem wir Ausschau nach einem passenden Kleid für mich hielten, dennoch gab es auch in Chicago eine Vielzahl an Geschäften, die die namhaften Designer führten.
Während ich ehrfürchtig vor den Kleiderstangen stand und mich nicht traute, einen der zarten Stoffe zu berühren, griff Emily beherzt zu und hielt bereits nach wenigen Minuten eine stattliche Auswahl für mich parat.
Das kurze fliederfarbene Cocktailkleid von Armani kostete ein kleines Vermögen. Emily nötigte mich dennoch es mitzunehmen. Blieb nur zu hoffen, dass Mitch seine Kreditkartenabrechnung erst bekam, wenn ich aus seinem Leben verschwunden war.
Als eine von Sues Brautjungfern legte ich mir zunächst das türkisfarbene Kleid zurecht und ließ das Designerteil im Schrank hängen. Emily hatte mich darauf hingewiesen, dass wir nach dem offiziellen Teil und den Bildern in unsere eigenen Kleider schlüpfen würden.
Ich nahm es kopfschüttelnd zur Kenntnis. Das Brautjungferndress, das ich gestern erst anprobierte und das eigens für mich umgenäht wurde, reichte also nicht aus, um den Schein zu wahren.
Das Klopfen an meiner Zimmertür ließ meine Überlegungen abrupt enden.
»Stacy? Bist du da?«, hörte ich Mitch von außen fragen.
»Nein«, antwortete ich in der Hoffnung, er würde den Wink verstehen und mich in Ruhe lassen.
»Komm schon, Stacy. Lass mich kurz reinkommen«, bat er mich flehentlich. Dabei nahm seine Stimme eine mir unbekannte, sanfte Klangfarbe an.
»Was genau verstehst du an meinem Nein nicht?«, blieb ich eisern.
»Es dauert auch wirklich nicht lange. Bitte.«
Seufzend ging ich zur Tür und öffnete diese schwungvoll. Dabei stolperte Mitch ohne Vorwarnung in mein Zimmer. Doch noch ehe ich durch sein beschwingtes Eintreten das Gleichgewicht verlor und stürzte, streckte Mitch seine Hände nach mir aus und umklammerte schützend meine Schultern.
Als er meine Haut berührte, zuckte ich leicht zusammen. Auf die Wärme, die seine Finger ausstrahlten, war ich nicht vorbereitet. Eine Woge des Glücks durchflutete meinen ganzen Körper und bescherte mir weiche Knie.
Noch ehe sich mein Gehirn einschalten konnte, um mir zu raten, dringend die Flucht zu ergreifen, zog mich Mitch noch ein Stückchen näher an sich heran, sah mir tief in die Augen und presste unvermittelt seine Lippen auf meine.
Es war zu spät. Keine Chance mehr zu entkommen. Ich gab mich hin, schlang meine Arme um seinen Nacken und erwiderte seinen Kuss.
Wir drängten uns immer näher aneinander, während ich meine Hände immer fester um ihn schlang. Mitchs Hand glitt unter mein Shirt und strich mir zärtlich über den Rücken. Ein leichter Schauer überkam mich, den ich mit einem erregten Aufstöhnen kompensierte.
Es kam, wie es kommen musste und wir landeten schließlich auf dem Himmelbett, das uns regelrecht dazu einlud, seine Qualitäten zu testen.
Ich war bereit. Meine Bedenken warf ich unbeachtet über Bord und gab mich nur dem Moment hin. Was danach kommen würde, war nun nicht wichtig. Nichts war wichtig, nur das Hier und Jetzt.
Doch noch ehe es richtig zur Sache gehen konnte, löste Mitch seine Lippen von meinen, strich mir sanft mit dem Handrücken über die Wange und hauchte mir liebevoll zu:
»Nicht so. Nicht jetzt. Das erste Mal mit dir soll etwas Besonderes werden.«
Ich wollte etwas erwidern, doch er legte seine Finger behutsam auf meinen Mund und signalisierte mir damit zu schweigen. Ich fügte mich, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als in seinen Armen zu liegen.
Während er aufstand, offenbarte er mir, was ihn umtrieb. »Stacy, ich bin eigentlich gekommen, um dir zu sagen, dass du mir nicht mehr aus dem Kopf gehst. Seit Tagen versuche ich dir zu widerstehen und mich von dir fernzuhalten, aber ich schaff es einfach nicht. Der heftige Drang, immer in deiner Nähe sein zu wollen, lässt mich nachts nicht schlafen. Mit Händen und Füßen hab ich mich dagegen gewehrt, denn die Sache mit Samantha hängt mir immer noch nach. Ich brauche augenblicklich etwas Zeit für mich, um das Ganze zu verarbeiten. Es wäre dir gegenüber nicht fair, wenn ich meinen Kopf nicht zu hundert Prozent für dich frei hätte. Verstehst du, was ich meine?«
Ich nickte, während mir das Herz bis zum Hals schlug. War das gerade eine Liebeserklärung? Wollte er mir sagen, dass er sich in mich verliebt hatte? Sollte es wirklich möglich sein, dass diese Geschichte doch noch ein Happy End fand?
Ich wagte es nicht, zu hoffen. Viel zu oft hatte es in meinem Leben Situationen gegeben, in denen ich besser einen kühlen Kopf bewahrt hätte. Natürlich verstand ich sein Dilemma, dennoch war ich enttäuscht darüber, dass er wieder einen Rückzieher machte. Zwar nur auf bestimmte Zeit, aber wer konnte mir schon sagen, wie sich die Dinge entwickelten.
»Und wie soll das jetzt mit uns weitergehen? Wie stellst du dir das vor?«, wollte ich wissen. Schließlich koppelte er seine Liebeserklärung an die Bedingung, ihm ausreichend Freiraum zu gewähren, bis er seine letzte desaströse Beziehung verwunden hatte.
»Das kann ich dir nicht sagen«, gab er schulterzuckend zu. »Aber ich werde alles , was in meiner Macht steht, daran setzen, dass wir beide glücklich miteinander werden«, behauptete er im Brustton der Überzeugung.
Seine Ehrlichkeit schmeichelte mir. Warum sollten wir es nicht versuchen? Ich fühlte mich schließlich auch zu ihm hingezogen. Mehr noch. Am liebsten würde ich mich gleich hier und jetzt mit ihm in den Laken meines Bettes wälzen und das lästige Gerede hinter uns lassen.
Das gab ich natürlich nicht offen zu. Auch wenn es mir schwerfiel. Doch er sollte sich anstrengen und nicht das Gefühl haben, er hätte bei mir leichtes Spiel. So einfach wollte ich es ihm dann auch wieder nicht machen.
»Mitch, ich werde nicht ewig warten.«
»Aber du schließt es nicht von vornherein kategorisch aus. Das reicht mir. Damit kann ich leben. Du wirst es nicht bereuen.«
Dabei kam er wieder einen Schritt auf mich zu, küsste mich – nicht so leidenschaftlich wie zuvor – und legte seine Hände sanft auf meine Wangen.
»Wir sollten uns nun für die Hochzeit fertigmachen«, wechselte er jäh das Thema.
»Gib mir noch zehn Minuten, dann bin ich soweit.«
»Könnte ich nicht hier auf dich warten? Ich bin bereits fertig und so ein kleiner Vorgeschmack auf das, was mich erwartet, kann doch nicht schaden«, dabei schien er meinen Körper zu mustern und seiner Fantasie freien Lauf zu lassen.
»Nichts da. Du wirst schön artig sein und unten in der Eingangshalle auf mich warten.«
Mit dem Zeigefinger wies ich ihm die Tür. Schmollend machte er sich schließlich auf, diese zu passieren.
Trotz der fast 30 Grad wehte eine erfrischende Brise vom Michigan Lake auf. Wir Brautjungfern positionierten uns und warteten neben Bob und den übrigen Gästen ganz sehnsüchtig darauf, dass Sue von ihrem Dad zum Altar geführt wurde.
Hinter mir lag die atemberaubende Skyline Chicagos. Ein unglaublich schönes Panorama für eine Hochzeit, wie ich fand.
Mitch saß in der ersten Reihe und schien nur Augen für mich zu haben. Verschämt lächelte ich ihn an. Zeitweise war es mir etwas peinlich, da er mich einerseits durch seine lüsternen Blicke aus dem Konzept brachte und andererseits bereits die Brautjungfern um mich herum amüsiert tuschelten.
Ihnen schien es nicht entgangen zu sein, dass ich einen Verehrer hatte. Aber offiziell waren wir ein Paar und so konnte es uns niemand verübeln, wenn wir einander in der Öffentlichkeit gegenseitig dermaßen schamlos mit Blicken auszogen.
Bob friemelte immer aufgeregter an seinem Smoking. Mit dem weißen Einstecktuch aus Leinen tupfte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Dabei zitterte seine Hand dermaßen, dass ich inständig hoffte, Sue würde bald Erbarmen mit ihm haben und den schmalen Weg durch den Sand zu ihm hinabschreiten.
Da endlich setzte die Hochzeitsmelodie ein und verkündete uns, dass die Braut jeden Moment erscheinen würde. Das Quartett aus Streichern schaffte die perfekte Hochzeitsatmosphäre und trieb mir damit die ersten Tränen in die Augen.
Es half nichts, es zu beschönigen. Ich war und blieb eine unverkennbare Romantikerin. Sue und Bob würden sich gleich das Ja-Wort geben und lebten dann hoffentlich happily ever after.
Vielleicht sollte ich Mitch eine Chance geben und abwarten, was sich in der Folge daraus ergab. Liebe musste nicht immer schmerzhaft sein. Manchmal war sie einfach nur Balsam für eine geschundene Seele und die Erfüllung aller Träume.
Nach der traumhaften Zeremonie stand eine Vielzahl von Fototerminen an, zu denen natürlich auch die Brautjungfern antreten mussten. Ich fügte mich mal wieder in mein Schicksal und trottete der Karawane ergeben hinterher.
Mitch schien immer in meiner Nähe zu sein. Zumindest bildete ich mir ein, seinen Blick ständig auf mir zu spüren.
Bevor es zum Essen in ein Nobelrestaurant, ähnlich dem Grace, ging, schnappte mich Emily und eröffnete mir, dass es nun an der Zeit wäre, unsere Kleider zu wechseln.
Mein fliederfarbener Traum war bereits im Auto. Wir ließen uns von Mitch den Schlüssel geben und machten uns auf den Weg.
»Sag mal, was ist denn heute eigentlich mit Mitch los?«, fragte mich Emily ganz unvermittelt.
»Wieso? Was meinst du?«, erwiderte ich ahnungslos.
»Na, der hat heute irgendwie nur Augen für dich. Sei mir nicht böse, aber er macht einen frisch verliebten Eindruck auf mich. Als wärt ihr gerade erst zusammengekommen. Sein Verhalten dir gegenüber war in den ersten Tagen regelrecht distanziert. Da überrascht mich seine plötzliche 180-Grad-Wendung dann doch etwas. Kannst du mir das erklären?«
»Emily, ich weiß beim besten Willen nicht, wovon du redest«, log ich, während ich mir die Bilder aus meinem Zimmer von heute Vormittag ins Gedächtnis rief. Ich spürte, wie sich meine Wangen röteten, nachdem ich an die einschlägigen Szenen denken musste.
»Ach, komm schon. Du weißt genau, was ich meine. Ich glaube vielmehr, du willst mit mir nicht darüber reden. Soll mir recht sein. Dann eben nicht«, gab sie etwas eingeschnappt zurück.
»Ich genieße und schweige«, antwortete ich theatralisch.
Darauf sah mich Emily belustigt an und wir beide prusteten ungehalten drauflos.
Kapitel 9
In meinem traumhaften Kleid fühlte ich mich wie eine Prinzessin. Emily hatte mich geschminkt und mir die Haare im Restroom des Restaurants zurechtgemacht.
Mit einem letzten prüfenden Blick besah ich mir das Make-up und musste anerkennend feststellen, dass Emily ganze Arbeit geleistet hatte. Meine Wangen waren mit einem zartroten Rouge bedeckt. Die Augen waren dermaßen gut geschminkt, dass sie um einiges größer wirkten. Ich musste sie bei Gelegenheit unbedingt fragen, wie sie das machte.
Emily war bereits vorgeeilt, um die Gäste in Empfang zu nehmen und sie an ihren Platz zu geleiten. Jeder von uns hatte Aufgaben zugewiesen bekommen, um den weiteren geregelten Ablauf der Festivität nicht zu stören.
Mitch und ich erhielten den Auftrag, nach dem Essen dafür zu sorgen, dass Tante Margaret und Tante Heather sich nicht die Köpfe einschlugen. Die beiden Schwestern hatten wohl vor langer Zeit, ihr Herz an ein und denselben Mann verloren. Dumm nur, dass die beiden nichts davon wussten und der Kerl sich einen Spaß daraus machte, mit beiden ein Verhältnis anzufangen. Als die Sache aufflog, gingen sich die beiden Rivalinnen an die Kehle und der Missetäter verschwand über alle Berge. Seit diesem Tag sprachen sie kein Wort mehr miteinander.
Für das Essen waren die beiden Zankhähne weit auseinander gesetzt worden und danach würden Mitch und ich uns um jeweils eine der Damen kümmern. Ich hoffte nur inständig, dass Heather mich nicht permanent mit nervigen Fragen drangsalieren würde.
Bisher hatte ich Glück gehabt. Auf Mitch und mich waren die Gäste noch nicht aufmerksam geworden. War ja auch nachvollziehbar. Das Hauptaugenmerk lag ausschließlich auf dem Brautpaar. So, wie es sein sollte.
»Du siehst zum Anbeißen aus«, hörte ich Mitch leise in mein Ohr flüstern, während er mir den Stuhl zurechtschob.
»Danke«, erwiderte ich ebenso leise, während sich das Rouge auf meinen Wangen um einen Farbton verdunkelte.
Während des Essens streifte Mitch, wie zufällig ein ums andere Mal mit seiner Hand mein Knie und bahnte sich langsam, aber gewissenhaft einen Weg nach oben. Ich wies ihn immer rechtzeitig in die Schranken, obwohl es mir bei jedem seiner Versuche schwerer fiel, ihn davon abzuhalten.
Seine Berührungen entfachten ein Feuer in mir, das lichterloh brannte und sich in alle Regionen meines Körpers vorarbeitete. Hoffentlich sah keiner, was wir da für Spielchen unter dem Tisch trieben. Peinlich genug, dass ich mich kaum auf das Tischgespräch konzentrieren konnte.
Neben mir begann Emily gerade etwas über das Essen zu berichten, doch ich bemerkte es erst, als sie mich fragend anblickte und offensichtlich auf eine Antwort von mir wartete.
»Was sagst du nun dazu?«
»Hm?«, offenbarte ich meine Unachtsamkeit.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«
»Doch, doch. Nur gerade war ich etwas … abgelenkt«, dabei sah ich strafend zu Mitch, der mir sein amüsiertes Lächeln präsentierte.
»So, so«, erwiderte Emily, der unsere vielsagenden Blicke nicht entgangen waren.
»Muss Liebe schön sein«, hörte ich sie sagen, während Mitch etwas zu mir rüber rutschte und mir einen Hauch eines Kusses auf die Lippen legte.
Nach dem Essen standen einige Reden auf dem Programm, die wir geduldig über uns ergehen ließen. Nachdem Onkel Paul immer wieder aufs Neue anhob und sich in scheinbar endlosen Erinnerungen verlor, griff James beherzt ein, indem er die Tanzfläche für eröffnet erklärte.
Keinen Augenblick zu früh. Auf den Gesichtern der Gäste waren bereits die ersten Anzeichen von Müdigkeit zu sehen. Die einen gähnten, die anderen rieben sich die Augen. Man musste sie dringend von den Sitzen reißen, sonst drohte die Stimmung zu kippen. Nichts war schlimmer als eine Hochzeit, auf der die Gäste bereits vor Mitternacht die Feier verließen.
Bevor Mitch und ich uns um die beiden älteren Damen kümmerten, wollten wir einen ersten Tanz miteinander wagen. Er reichte mir auffordernd die Hand, während ich ihm nur allzu bereitwillig zunickte.
Nachdem das Brautpaar ihren Eröffnungstanz beendete, stürmte die breite Masse auf die Tanzfläche und so mischten wir uns einfach wie selbstverständlich unters Volk.
»Bereit?«, fragte mich Mitch, als er mich in die Ausgangsposition brachte.
»Ich denke schon«, erwiderte ich zaghaft.
Die nächsten drei Minuten blickte Mitch mir tief in die Augen, direkt in meine Seele. Routiniert führte er mich über das Parkett, während wir beide die Menschen um uns herum komplett ausblendeten.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch schlugen Purzelbäume und knallten dabei immer wieder gegen meinen Magen. Darunter verstand man sicherlich das Kribbeln im Bauch, von dem so viele sprachen.
Dieses Gefühl war neu für mich. Ich hatte es bisher noch nie in diesem Maße gespürt. Bei Mike war es anders gewesen. Da glaubte ich zwar, so zu empfinden, im Nachhinein betrachtet, musste ich mir allerdings eingestehen, dass ich mich getäuscht hatte.
Als das Lied zu Ende war, zog Mitch meine Hand zu sich, küsste sie zärtlich und dankte mir für den Tanz. Eine gefühlte Ewigkeit später, standen wir immer noch Hand in Hand auf der Tanzfläche. Keiner war bereit sich von dem anderen zu trennen.
Erst ein Tumult in den hinteren Reihen des Restaurants ließ uns erschrocken auseinander fahren. Offensichtlich hatten sich ein paar Gäste in die Haare bekommen. Unsere Schützlinge Heather und Margaret waren wohl nicht der Ansicht, dass uns weitere Zeit zusammen zustünde.
Zumindest schienen sich die beiden zielstrebig gesucht und gefunden zu haben. Gerade tauschten die beiden nette Anekdoten aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit miteinander aus und achteten recht sorgsam darauf, dass auch wirklich alle im Saal Zeuge ihrer Unterredung werden konnten.
Mitch riss sich von mir los und machte sich auf direktem Weg zu dem streitenden Paar auf. Nur wenige Worte von ihm genügten und sie ließen voneinander ab. Ich bahnte mir ebenfalls einen Weg durch die Menge und übernahm Heather, indem ich vorsichtig ihren Arm ergriff und sie in den anderen Teil des Saales zog. Weit weg von Margaret.
»Lass mich los«, keifte sie mich wütend an, als sie bemerkte, dass ich sie aus der Gefahrenzone brachte.
»Das werde ich gerne tun, sobald wir etwas Raum zwischen dich und Margaret gebracht haben«, erwiderte ich sachlich.
»Was fällt dir ein? Wer bist du überhaupt?«, blaffte sie mich weiter an.
»Ich bin Stacy, Mitchs Freundin«, hörte ich mich sagen. Die Bedeutung dieser Worte wurde mir allerdings erst bewusst, als Heather innehielt, mich von der Seite musterte und dann anerkennend meinte:
»Alle Achtung, mein Kind. Das hat noch keine geschafft. Mitch war bisher immer der lonely wolf, musst du wissen. Wie hast du es geschafft, ihn zu ködern?«, dabei warf sie mir einen interessierten Blick zu.
»Ich weiß auch nicht«, gab ich schulterzuckend zur Antwort.
»Komm, wir setzen uns dort hinten an den Tisch. Da ist keiner mehr, der uns stören könnte. Dort kannst du mir alles haarklein erzählen«, dabei ergriff sie meine Hand und zog mich ruckartig zu der nahegelegenen Sitzgruppe.
Heather biss sich an mir fest wie ein Piranha, wobei mich nicht nur ihr Verhalten an diese kleinen Biester erinnerte. Vielmehr sah sie diesen auch sehr ähnlich. Neben den hervortretenden Glubschaugen und dem schmalen eingefallenen Gesicht stachen besonderes ihre dünnen Zähne hervor, zwischen denen sich schon einige Lücken gebildet hatten.
Während mich Heather erneut ins Kreuzverhör zwang, ging die Party erst so richtig los. Die Band spielte einen Hit nach dem anderen und lud die Gäste immer wieder aufs Neue dazu ein, das Tanzbein zu schwingen.
Ich beobachtete Sue und Bob, wie sie ausgelassen über den Boden schwebten. Die Anspannung der vorhergehenden Stunden war ihnen nicht mehr anzumerken. Auch Mitchs Eltern und seine Schwester Emily waren in der Masse deutlich zu erkennen. Alle amüsierten sich blendend, bis auf Mitch und mich.
Wir beide waren an zwei Exemplare aus der Steinzeit gebunden, bei denen, wenn man nicht hinsah, immer die Gefahr bestand, dass sie sich gegenseitig mit der Keule die Köpfe einschlugen. Sporadisch schickten wir uns aufmunternde Blicke zu. Ohne diese wäre mir Heathers Betreuung um einiges schwerer gefallen.
»Weißt du, Kind. Das Leben ist eigentlich viel zu kurz, um zu streiten, aber wenn es um die wahre Liebe geht, dann neigt man doch dazu, diesen Grundsatz zu übersehen.«
Ich wandte mich interessiert zu Heather um und lauschte ihren Worten. Die Wut war zwischenzeitlich aus ihrer Stimme verschwunden. Vielmehr war da nur noch die Einsicht einer alten Frau zu hören, die sich dessen bewusst wurde, was sie in ihrem Leben verpasst hatte.
»Jim war ein Handelsvertreter, der von Stadt zu Stadt zog. Als er sich für einige Wochen in unserem kleinen Nest niederließ, standen die Frauen nach wenigen Tagen bereits Schlange vor seiner Moteltür. Ob verheiratet oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Alle waren sie scharf auf ihn. Da gab es keine Ausnahme. Als er dann eines Tages vor unserem Haus stand und mich um ein Date bat, war ich mehr als geschmeichelt. Das kannst du dir sicher vorstellen. So schien es doch, als würde er mich all den anderen Frauen und Mädchen vorziehen. Als er mich bat, die Verbindung geheim zu halten, hatte ich nichts dagegen. Du musst wissen, unser Vater war sehr streng und hätte es niemals erlaubt, dass wir ohne Trauschein mit einem Mann ausgingen. Die Zeiten waren anders. Manchmal sehne ich mich danach zurück. Wo war ich stehengeblieben? Ach, ja. Nun, Jim war ein Casanova sondergleichen, musst du wissen. Neben dem Techtelmechtel mit mir und Margaret hatte er noch eine Handvoll anderer Gespielinnen. Der Mann war einfach unersättlich. Nachdem die ganze Sache aufflog, verließ er fluchtartig die Stadt und ließ eine Vielzahl gebrochener Herzen zurück. Ich hab das nie jemandem erzählt, aber ich bin Margaret nicht böse, dass sie ihm ebenso auf den Leim gegangen ist wie ich. Das Einzige, was mich zutiefst traf, ist die Tatsache, dass sie mir nichts davon erzählte. Sie wusste, wie verliebt ich in ihn war, und hat sich ihm trotzdem an den Hals geworfen. Das macht eine große Schwester nicht. Das kann ich ihr bis heute nicht verzeihen«, endete Heather ihren Monolog schließlich.
»Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, dass sie es vielleicht ähnlich sehen könnte?«, fragte ich, bemüht, etwas Objektivität in die Sache zu bringen.
»Wie meinst du das?«
»Naja, vielleicht ist sie dir ja auch böse, dass du ihr nichts von dem Verhältnis mit Jim gesagt hast. Ihr solltet euch wirklich dringend mal aussprechen, finde ich. Wie lange liegt die Sache denn nun schon zurück? 40 Jahre? 50 Jahre? Willst du ewig so weitermachen, bis es irgendwann zu spät ist und eine von euch beiden stirbt, ohne dass ihr euch vorher versöhnen konntet?«
Heather blickte mich durchdringend an. Ich rechnete bereits damit, dass sie mir jeden Moment die Leviten lesen würde, doch gegen jede Erwartung stimmte sie mir nickend zu, erhob sich und marschierte direkt auf Margaret zu.
Mitch kam zu mir, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass Heather mit guten Absichten gekommen war.
»Was um alles in der Welt hast du ihr nur gesagt? Sie kam gerade lammfromm bei uns an und wollte in Ruhe mit Margaret reden. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Nicht mehr in diesem Leben.«
»Wir haben uns nur etwas unterhalten. Weiter nichts«, gab ich mich bescheiden.
»So, so, Geheimnisse unter Frauen?«
»Schon möglich«, hielt ich mich bedeckt.
»Na, wenn das so ist, will ich dich gar nicht um weitere Details bitten. Hast du Lust, mit mir die Tanzfläche zu stürmen?«
»Immer doch. Aber diesmal führe ich«, meinte ich scherzhaft.
»Na, das hättest du wohl gerne«, raunte er mir vielsagend ins Ohr.
Kapitel 10
Wenn man glaubt, der Abend könnte nicht schöner werden, sollte man ein Ende finden und einfach nach Hause gehen. Irgendwie überschritten wir unseren Zenit und das machte die Ereignisse, die dann folgten nicht weniger furchtbar, aber womöglich eine Spur erklärbarer.
Die Stimmung blieb bis in die frühen Morgenstunden ausgelassen. Nachdem Margaret und Heather nach 47 Jahren ihr Kriegsbeil begruben, fand sich ein weiterer Grund, den Abend ausgiebig zu feiern. Nicht, dass es dieses Event noch gebraucht hätte. Aber die Familie sah es als glückliche Fügung, dass die beiden gerade an diesem Tag ihren Streit beilegten.
Nach all dem Hin und Her genehmigte ich mir mit Mitch einen Cocktail an der Bar. Wir stießen miteinander an, freuten uns darüber, den Tag so gut gemeistert zu haben, und hätten eigentlich zufrieden nach Hause gehen können.
Tja, so hätte es werden können. Man beachte den Konjunktiv an dieser Stelle, denn natürlich kam es wieder anders als gewollt, geplant oder erhofft. Bevor ich mein Glas zum Mund führen konnte, hörte ich hinter mir eine laute Stimme Mitchs Namen rufen.
Verwundert blickte ich zuerst Mitch an, dessen Augen sich bereits unnatürlich weiteten, und sah dann erst über meine Schulter. Eine gut aussehende Brünette, schätzungsweise Mitte zwanzig, steuerte auf uns zu, während sie mit den Armen wie wild wedelte, um auch ja Beachtung zu finden.
Während ich wie gebannt darauf wartete, was es mit dieser Person auf sich haben würde, lief Mitch an mir vorbei und begrüßte sie wenig herzlich, indem er sie schroff am Arm packte.
»Was machst du hier?«, hörte ich ihn sagen.
»Aua, du tust mir weh«, erwiderte die schlanke Gestalt, während ihre rehbraunen Augen schmerzerfüllt dreinsahen.
»Noch
Verlag: Elaria
Texte: © Mila Summers
Bildmaterialien: © Nadine Kapp
Lektorat: ektorat: Dorothea Kenneweg; Korrektorat: Genya Bieberbach, Martina König, SW Korrekturen e.U
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2017
ISBN: 978-3-96465-078-8
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