Mila Summers
Irresponsible desire
Über das Buch:
Hopes Leben ist die Hölle. Da sie von ihrem einflussreichen Vater unterdrückt wird, zieht sie zu ihrem Verlobten. Doch leider entpuppt sich Lucian schnell als untreuer Choleriker. Hope ist verzweifelt. Ihr tyrannischer Vater würde ihr nie erlauben, die Verlobung zu lösen, denn er fürchtet den Skandal für seine politische Karriere.
Als ihr attraktiver Arbeitgeber Jayden sie um einen Gefallen bittet und ihr im gleichen Zuge eine Beförderung in Aussicht stellt, sieht sie ihre Chance gekommen, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Nur darf ihr Verlobter auf keinen Fall von dem Deal erfahren. Vor allem, da Jayden Gefühle in ihr weckt, die in ihrer Situation alles andere als vernünftig sind …
Über die Autorin:
Mila Summers, geboren 1984, lebt mit ihrem Mann und der kleinen Tochter in Würzburg. Sie studierte Europäische Ethnologie, Geschichte und Öffentliches Recht. Nach einer plötzlichen Eingebung in der Schwangerschaft schreibt sie nun humorvolle Liebesromane mit Happy End und erfreut sich am regen Austausch mit ihren LeserInnen.
Bisher von der Autorin erschienen:
»Tales of Chicago«–Reihe
Küss mich wach (Band 1)
Vom Glück geküsst (Band 2)
Ein Frosch zum Küssen (Band 3)
Küsse in luftiger Höhe (Band 4)
Vielleicht klappt es ja morgen ... Liebe in deiner Stadt (Lago-Verlag)
MILA
SUMMERS
Irresponsible desire
Roman
Band 1
Manhattan Love Stories
Deutsche Erstauflage Juli 2016
Copyright © Mila Summers
Lektorat: Dorothea Kenneweg
Korrektorat: Sandra Nyklasz
Covergestaltung: Nadine Kapp
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
mila.summers@outlook.de
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Danksagung
Weitere Bücher der Autorin
Kapitel 1
Verschlafen wische ich mir über die Augen. Die Nacht war kurz, an Schlaf nicht zu denken. Ich kann die Wahrheit nicht länger verleugnen: Ich sitze wieder in der Falle. Bisher dachte ich, Lucian wäre meine Rettung, um aus den Fängen meines Vaters zu entkommen, aber da bin ich wohl vom Regen in die Traufe geraten.
Im Mixer vor mir püriere ich das Obst für meinen Smoothie. Ich beobachte die umherwirbelnden Erdbeerstücke und reibe mir die verspannten Schultern.
»Guten Morgen, Hope, mein Engel.« Erschrocken fahre ich herum. Ich habe nicht damit gerechnet, Lucian noch zu sehen, bevor ich ins Büro muss. Wie selbstverständlich drückt er mir seine Lippen auf die Stirn, ehe er auf den Kaffeeautomaten zusteuert. »Wie hast du geschlafen?«, fragt er schließlich, während er sich an dieser zu schaffen macht und mich dabei nicht mal ansieht.
»Gut. Danke«, erwidere ich kurz angebunden und verschränke unbewusst die Arme vor der Brust, wie um Halt zu finden.
»Ich habe wie ein Stein geschlafen.« Lucian streckt sich demonstrativ. »Nach dem Meeting gestern wollte ich dich nicht wecken. Ist ziemlich spät geworden mit den Japanern. Ganz schön zähe Verhandlungspartner, wenn du mich fragst. Aber – und das ist das Einzige, was zählt – ich glaube, wir haben den Auftrag an Land gezogen. Ist das nicht perfekt?« Er sieht nun mit diesem kindlichen Funkeln in den Augen zu mir rüber. Doch der Schein trügt.
Ich nicke mechanisch, während mir der Kopf schon am frühen Morgen zu schwirren beginnt. Will er jetzt allen Ernstes einfach Smalltalk machen?
»Damit muss mich John befördern. Er muss einfach. Das ist er mir schuldig. Ohne mich würde der ganze Laden den Bach runtergehen. Hoffentlich sieht er es jetzt auch endlich ein.« Mir kommt die Galle hoch bei diesem unwichtigen Geplänkel. Lucian führt seine Espressotasse an die Lippen und wartet auf eine Regung von mir. Ich starre noch immer auf den Mixer vor mir und auf das tiefe, satte Rot, das mir einen Schauer über den Rücken jagt.
»Schwer vorstellbar«, erwidere ich so ruhig, wie es mir möglich ist.
»Was meinst du?« Lucian blickt mich mit in Falten gelegter Stirn an.
»Nachdem du den Auftrag bekommen hast, wird dein Boss nicht einsehen, wie wichtig du für die Firma bist. Schließlich hat er ja nicht den Vergleich. Er weiß nicht, was passiert wäre, wenn du nicht dort gewesen wärst.«
Lucians gute Laune schwindet schlagartig, seine Miene verfinstert sich zusehends. Schließlich schmettert er die kleine Tasse in seiner Hand mit voller Wucht auf die marmorne Küchenzeile. Wie durch ein Wunder geht sie nicht zu Bruch.
Ich zucke zusammen und weiche einige Schritte zurück, wie um einen Sicherheitsabstand zwischen ihn und mich zu bringen.
»Sag mal, hast du deine Tage?«
»Wieso? Weil ich dir mit etwas Logik zu erklären versucht habe, dass deine Rechnung nicht aufgehen wird?« Ich zittere am ganzen Körper, dennoch begehre ich das erste Mal in meinem Leben auf. Erinnerungen kommen in mir hoch. Wie oft habe ich als Kind sehenden Auges dagestanden und gewartet? Auch damals ist der Wutausbruch des übermächtigen Patriarchen gegen den wir alle machtlos waren, unausweichlich gewesen.
»Gott, wenn du schon am frühen Morgen so daherschwafelst, dann vergeht mir echt alles.« Angewidert blickt er drein, während er achtlos auf den Küchenboden spuckt. Das weiße Hemd spannt an den Muskeln seines Oberkörpers. Sein Blick fixiert mich, dringt in mich und meine Gedankenwelt ein. Er versucht zu ergründen, was heute anders ist als all die Tage zuvor.
»Hm, tatsächlich? Vielleicht sollte ich dich zukünftig damit verschonen und gleich mit den wirklich brennenden Fragen konfrontieren: Woher kommt die Kratzwunde an deinem Hals, die du unter dem Kragen zu verstecken versuchst? Was hat es mit dem roten Spitzenslip auf sich, der neben der Couch liegt, auf der du heute Nacht wohl nicht alleine geschlafen hast, während ich im ersten Stock in unserem Schlafzimmer auf dich gewartet habe? Warum komm ich mir in meiner eigenen Küche so vor, als würde ich in einer Parfümerie arbeiten? Hast du dir nicht einmal die Mühe gemacht, etwas Frisches anzuziehen? Deine Kleidung riecht nach einer anderen Frau.« Ohne es zu wollen, weiche ich immer weiter zurück. Meine Fassade droht zu bröckeln. Lange kann ich das Pokerface nicht mehr aufrechterhalten.
»Hast du mir gar nicht zugehört? Ich war gestern bis spät in der Nacht in einem Meeting.« Lucian erhebt die Hand, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, und kommt dabei bedrohlich langsam einige Schritte auf mich zu. Mich fröstelt bei der Vorstellung, ihm unmittelbar gegenüberzustehen. Doch weiter ausweichen kann ich nicht. Hinter mir spüre ich bereits die Wand.
»Wo soll das stattgefunden haben? Im Puff? Oder bei Cindy, Lilian, Susan und wie sie alle heißen? Und in der Nachspielzeit dann in unserem Wohnzimmer?« Hope, lass es gut sein, redet meine innere Stimme eindringlich auf mich ein, um mich vor Schlimmerem zu bewahren. Lucians Wut ist ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Dieser Ausdruck ist mir nur allzu vertraut. Mein altes Leben hat mich schon wieder eingeholt. Wie konnte ich nur so blauäugig sein zu glauben, ich könnte den Klauen meiner Vergangenheit entkommen? Mein Vater hat ganze Arbeit geleistet.
»Deine ständige Eifersucht ist kaum noch zu ertragen. Wenn du so weitermachst, dann weiß ich nicht, ob das mit unserer Hochzeit im Juni eine gute Idee ist. Ich kann dein andauerndes Gejammer nicht mehr hören. Ich bin ein Mann. Finde dich damit ab. Ich habe Bedürfnisse und wenn wir einen dicken Fisch an Land gezogen haben, dann feiert das die ganze Abteilung. Das ist nichts Neues. Ich weiß gar nicht, warum ich mich jetzt vor dir rechtfertigen muss.« Lucian hält nun in der Bewegung inne und verschränkt seine Arme selbstgefällig vor der Brust.
»Das gibt dir noch lange nicht das Recht, mit allem zu schlafen, was zwei Beine hat und bei drei nicht auf dem Baum ist.« Ich werde laut. Das erste Mal in meinem Leben lehne ich mich auf. Es fühlt sich gut an. Das Blut rauscht in meinen Ohren, während meine Hände vor Wut zu zittern beginnen. Schützend lehne ich mich gegen die Wand, um etwas Halt zu finden.
»Du wolltest doch bis zur Hochzeit mit dem Sex warten. Das war deine Entscheidung und ich respektiere sie nach wie vor. Aber du kannst nicht allen Ernstes geglaubt haben, dass ich bis dahin im Zölibat lebe, oder?« Lucian lacht süffisant auf. »Wie naiv bist du eigentlich? Ich habe Bedürfnisse, die gestillt werden müssen. Wenn ich so unausgeglichen durchs Leben gehen würde wie du, hätte ich bald keinen Job mehr. Und wovon wollen wir dann leben? Kannst du mir das sagen? Von deinem mickrigen Gehalt als drittklassige Immobilienmaklerin könnte ich nicht mal die Leasingraten für den Porsche bezahlen.«
»Oh, bitte, komm mir jetzt nicht so. Schieb nicht meinen Job vor, um dein Verhalten zu rechtfertigen.« Meine Stimme überschlägt sich bei dem Versuch, noch mal aufzubegehren.
»Hope, mach nicht mich für dein Versagen verantwortlich. Ich habe es nicht nötig, dir die heile Welt vorzugaukeln. Du weißt so gut wie ich, dass du wieder zu deinen Eltern ziehen müsstest, wenn ich dich sitzenlassen würde. Denen zu erklären, warum unsere Verlobung gescheitert ist, würde für dich sicher kein Pappenstiel werden. Ich kann morgen ein neues Leben anfangen, ohne eine Frau an meiner Seite, die mich ständig bevormunden will und nichts Besseres zu tun hat, als mir schon am frühen Morgen die Laune zu verderben. Aber was ist mit dir?«
Ich bemühe mich, die Fassung zu bewahren. Das ist mein wunder Punkt und Lucian weiß es ganz genau. Er weiß, welche Strippen er ziehen muss, um mich einzuschüchtern.
Lucian scheint bemerkt zu haben, wie ich einknicke. Ich senke meinen Blick und muss mir eingestehen, dass er mich in die Enge getrieben hat.
»Wenn du gehen willst, weißt du ja, wo die Tür ist. Ich schaue jetzt, dass ich hier weg komme. Falls du heute Abend noch hier sein solltest, warte nicht auf mich. Ich verbringe ihn nämlich mit Cindy, Lilian, Sue oder wie sie alle heißen. Du weißt gar nicht, wie wütend du mich gemacht hast.« Nun kommt er die wenigen Schritte, die uns von einander getrennt haben, auf mich zu. Bemüht zärtlich streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legt sie mir hinter das Ohr, ehe er meinen Pferdeschwanz packt und ihn grob nach hinten zieht. »Sei froh, dass ich deinem Vater bei meinem Leben geschworen habe, dich nicht vor der Hochzeitsnacht anzurühren. Mir wäre gerade danach, dir mal zu zeigen, wer hier das Sagen hat.«
Aus weit aufgerissenen Augen blicke ich ihn an. Körperlich habe ich ihm nichts entgegenzusetzen. Lucian ist fast zwei Köpfe größer als ich und trainiert beinahe täglich im hauseigenen Fitnessstudio. Ich wage es nicht mehr zu atmen, während er sich an der Angst in meinen Augen weidet.
Ich wundere mich über mich selbst. Wie ist es möglich, dass mir die ganze Zeit nicht aufgefallen ist, wie dieser Mann wirklich tickt? Vor nicht allzu langer Zeit hat er mir noch die Welt zu Füßen gelegt und ich habe mich blenden lassen.
»Gott, wie ich mir den Tag herbeisehne, an dem du ganz mir gehörst und ich dich endlich für deine Taten bestrafen kann. Denn wenn wir mal ehrlich sind, wirst du sicher heute Abend, morgen Abend und all die Abende bis zu unserer Hochzeit hier auf mich warten, mein Liebling. Du würdest es nie wagen, dich gegen eine Entscheidung deines Vaters aufzulehnen. Das würde ich dir auch nicht raten.« Lucians selbstgefälliges Lachen hallt durch den Raum. Seine Miene hat sich aufgeklart. Er bekommt zusehends gute Laune.
Wenig zimperlich drückt er mir seinen Zeigefinger unter das Kinn und hebt meinen Kopf so weit an, dass ich in seine wollüstigen Augen blicken muss. Das Verlangen darin lässt mich frösteln. Ich versuche mir die Angst nicht anmerken zu lassen, doch sein schmieriges Grinsen zeigt mir, dass es mir nicht gelungen ist.
Ich presse meine Lippen fest aufeinander und öffne sie erst, als Lucian mich hart zu küssen beginnt. Nicht um den Kuss zu erwidern, sondern um ihm mit all meiner Kraft auf die Unterlippe zu beißen. Keine gute Idee. Seine Antwort folgt auf dem Fuße.
»Du Miststück!«, schreit er und schubst mich wenig zimperlich gegen die Steinwand hinter mir. Mein Kopf schlägt mit voller Wucht dagegen. Langsam gleite ich zu Boden, während meine Hand panisch den Hinterkopf nach Blut abtastet. »Wenn du auch nur noch ein einziges Mal auf die Idee kommen solltest, dich mir zu widersetzen, dann kann ich für nichts mehr garantieren.«
Ich wappne mich bereits für den nächsten Schlag, doch er bleibt aus. Lucian verlässt den Raum eiligen Schrittes und knallt die Haustür mit voller Wucht ins Schloss.
Ich bin zutiefst erschüttert über die Abgründe, die sich heute Morgen vor mir aufgetan haben. Er ist ein von sich selbst überzeugter Widerling, der nur auf seinen Spaß aus ist. Bisher hat er jedoch nie die Hand gegen mich erhoben.
Wenn ich nicht will, dass mich das gleiche Schicksal wie das meiner Mutter ereilt, dann muss ich schleunigst zusehen, wie ich hier wegkomme. Aber wohin? Ich habe weder Geld noch Freunde, die mich aufnehmen könnten. Ich habe niemanden auf dieser Welt – bis auf Lucian und meine Eltern.
Kapitel 2
»Jayden, ich glaube, du verstehst den Ernst der Lage nicht. Wir stecken bis Unterkante Oberlippe in der Scheiße. Ja, ich kann und will es nicht länger beschönigen: Wenn du nicht bald einen ganz großen Deal an Land ziehst, können wir unser Maklerbüro vergessen!« Mike greift sich verzweifelt mit beiden Händen an den Kopf, fährt sich durch das kurze, schüttere Haar und blickt dann mit besorgter Miene über den Schreibtisch zu mir hinüber.
Ich könnte sagen, dass ich es nicht habe kommen sehen. Aber das stimmt natürlich nicht. Dennoch bemühe ich mich darum, Mike zu beschwichtigen. Sein Gesicht hat bereits diese krebsrote Tönung angenommen, die mich zwingt zu handeln. Wenn mein bester Freund sich weiterhin so aufregt, stirbt er mir noch unter der Hand an einem Herzinfarkt weg.
»So schlimm kann es nicht sein. Wir haben es bisher immer geschafft, das Ruder noch mal rumzureißen.« Heute scheint Mike für derlei Aufmunterungen nicht empfänglich zu sein.
»Wir schreiben seit Monaten nur noch rote Zahlen. Herrgott, lange werden wir uns diese exquisite Lage in Downtown nicht mehr leisten können. Wir sollten dringend überlegen, ob es nicht doch einen Weg gibt, dass du dich mit Kelly aussprichst. Das ist jetzt Jahre her und die einfachste Lösung für das verdammte Problem.« Mike zieht die Brauen angespannt hoch und blickt mich aus weit geöffneten Augen durchdringend an, um dann fortzufahren: »Schau nicht gleich so entsetzt! Kelly ist unsere einzige Chance, den Karren doch noch aus dem Dreck zu ziehen. Spring über deinen Schatten und vergiss, was war!«
Noch immer starre ich Mike an, als hätte er gerade versucht mir den Pakt mit dem Teufel schmackhaft zu machen. Ich ertappe mich dabei, wie ich fieberhaft überlege, ob er mit seiner Einschätzung recht haben könnte. Gott, ich habe wirklich keinen blassen Schimmer von den harten Zahlen unseres Unternehmens.
Mike kümmert sich ums Finanzielle, während ich dafür sorge, dass wir neue Kontakte knüpfen, um den Kundenstamm unseres Büros weiter auszubauen. Dafür gehe ich mehrmals in der Woche auf Empfänge, Tagungen, Golfclubfeiern, Firmenjubiläen und überall dorthin, wo man eben sonst noch ins Gespräch kommen kann.
Das klappt mal besser, mal schlechter. In letzter Zeit läuft es leider gar nicht. Während mir die Damen auf diesen Events regelrecht an den Lippen hängen, liegt letztendlich die Entscheidung oft bei deren Ehemännern. Die zeigen zunehmendes Desinteresse an meiner Person und meinem Konzept.
Einen Reim kann ich mir darauf nicht so recht machen. Liegt wohl an der katastrophalen Wirtschaftslage im Land. Da setzt man vermutlich eher auf einen renommierten Makler, der in der Branche bekannt ist, und hofft, dieser holt den besten Preis für einen raus. Nicht, dass wir das nicht könnten.
Die Häuser, die aktuell auf dem Markt sind und unserem Büro zur Vermittlung anvertraut wurden, sind höchstens Mittelklasse, wenn überhaupt. Die ganz großen Fische schwimmen in anderen Gewässern, weitab des plätschernden Rinnsals, das nach und nach zu versickern droht und in dessen schlammigen Erdreich wir Zentimeter für Zentimeter tiefer eintauchen.
Egal, wie verfahren die Situation auch ist, Kelly ist keine Option.
»Sieben«, presse ich schließlich zwischen zusammengekniffen Lippen hervor, während sich in meinem Kopf ein Film in Gang setzt, der mich unumwunden in die Zeit von damals zurückkatapultiert. Ich sehe mich und Kelly vor mir, wie wir unser gemeinsames Leben planen. Kelly, wie sie mir zulächelt und sagt, wie sehr sie mich liebt. Und schließlich sehe ich sie, wie sie mir mitteilt, dass es für uns beide keine Zukunft mehr geben kann, nachdem sie mich kurzerhand gegen ein älteres, gewinnbringenderes Modell ausgetauscht hat.
»Was?« Mike hält seine Brille in der Hand und wischt sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Es ist jetzt ziemlich genau sieben Jahre her, dass ich Kelly zuletzt gesehen oder gesprochen habe. Du weißt, wie beschissen es mir nach der Trennung ging.« Meine Kiefermuskeln sind angespannt, die Hände habe ich zu Fäusten geballt. Es fällt mir noch immer sehr schwer, über das Geschehene zu sprechen. »Es hat lange gedauert, bis ich über diese Frau hinweggekommen bin, also komm mir jetzt nicht mit diesem verdammten Vorschlag.« Mein Blut gerät in Wallung. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich in der kleinen Bar Ecke 64ste den Schmerz um meine erste große Liebe verarbeitet habe. Seither bin ich nur noch für One-Night-Stands offen und habe mich damit prima arrangiert. Die Liebe ist für mich ein Trugbild, eine Wunschvorstellung ohne realen Bezug.
»Jayden, ich kann ja verstehen, dass dich die Sache damals ziemlich verletzt hat, aber Kellys Eltern verkehren in den Kreisen, in denen ich potenzielle Auftraggeber für unsere Firma vermute. Wenn wir nicht bald eine Lösung für unser Problem finden, müssen wir unseren Angestellten kündigen. Hörst du?« Mike schlägt mit der Faust auf meinen Schreibtisch, während ihm die Gesichtszüge immer mehr zu entgleisen drohen.
»Klar und deutlich«, presse ich genervt zwischen meinen Zähnen hervor. Allein die Vorstellung, auch nur ein Wort mit Kelly zu wechseln, lässt mich sauer aufstoßen.
Nachdem sie mich kurzerhand aus ihrem Leben verbannt hatte, als sie einen lukrativeren Fisch an der Angel vermutete, war die Frau für mich Geschichte gewesen. Und so wird es auch bleiben.
Klar, ihre Familie hat gute Kontakte und könnte uns sicher den ein oder anderen Neukunden verschaffen, aber das wäre aufwendig und zeitintensiv. Kelly ist zwar durchaus ansehnlich mit ihren Silikonbrüsten Größe DD und der schmalen Taille, aber ich lasse mich ungern für dumm verkaufen und würde nie, wirklich nie, zu einer Verflossenen zurückkriechen. Schon gar nicht, nachdem sie mich wie die alten Batterien ihres Vibrators einfach durch neue ersetzt hat.
Abermals erinnere ich mich an die Gerüchteküche, die damals wild zu brodeln begann. Kelly sei schwanger von einem älteren Mann, der durchaus ihr Vater sein könnte. Bei der Erinnerung an die mitleidigen Blicke von Freunden und Verwandten, die uns bereits in den sicheren Hafen der Ehe einfahren gesehen haben, spannt sich jeder Muskel meines Körpers unwillkürlich an.
»Mike, wir brauchen eine andere Lösung für unser Problem. Kelly werde ich in diesem Leben sicher nicht fragen, ob sie mir hilft. Da ziehe ich lieber zu den Pennern unter die Brooklyn Bridge.«
»Hey, Mann, du warst jahrelang mit ihr zusammen. In der Highschool hast du alles drangesetzt, damit sie dich wahrnimmt. Du hast dir den Arsch aufgerissen, um Quarterback der Footballmannschaft zu werden.« Als er merkt, dass seine Worte an mir wie an einem Felsen abprallen, fügt er versöhnlicher hinzu: »Du findest bestimmt wieder einen Draht zu ihr. Sagt ja keiner, dass du wieder mit ihr ins Bett musst. Ihre Familie hat Verbindungen, die uns im Moment wirklich guttäten. Ihr Daddy heißt zwar nicht Trump, spielt aber in einer ähnlichen Gewichtsklasse.« Mike fährt sich abermals durchs Haar. Wann ist es nur so grau geworden? Er ist gerade einmal zwei Monate älter als ich und scheint in kürzester Zeit um Jahre gealtert.
»Mike, wisch dir den Sabberfilm vom Mund. Wenn du auf Kelly stehst, dann schmeiß du dich doch an sie ran!«
»Du weißt ganz genau, dass sie kein Interesse an mir hat. Sie hat nie auch nur Notiz von mir genommen, geschweige denn, dass sie sich gemerkt hätte, wie ich heiße. Ich bin nicht der Typ Traummann. Nein, ein Ken wird nie aus mir, aber ich kann ziemlich gut mit Zahlen umgehen. Weißt du? Mittlerweile träume ich nicht mehr von Kelly und all den anderen schönen Frauen, sondern von den beschissenen Ergebnissen unserer monatlichen Bilanz.« Nun schreit er regelrecht, während er abermals unkontrolliert seine geballte Faust auf meinen Tisch fahren lässt. Der Stapel an Unterlagen darauf gerät bedrohlich ins Wanken. »Ich weiß gar nicht, wie du noch so ruhig dasitzen kannst. Mann, die können uns jeden Moment den Strom abstellen. Wenn es so weitergeht, wird der Zufluchtsort unter der Brooklyn Bridge in naher Zukunft traurige Gewissheit.« Entkräftet lässt er sich zurück in den Stuhl fallen und wischt sich erneut über die tropfnasse Stirn.
»Jetzt komm mal wieder aus dem Jammermodus raus. Mensch, du machst dir ja gleich ins Höschen, Mike. Wir schaffen das. Wir haben es doch bisher noch immer geschafft.«
»Es gäbe durchaus noch eine andere Möglichkeit, aber die wird dir bestimmt noch viel weniger gefallen.« Mike fixiert mich und achtet auf jede meiner Gemütsregungen.
»Lass mal hören! Alles, was mich nicht dazu zwingt, bei meiner Ex zu Kreuze zu kriechen, klingt perfekt für mich.«
»Na, da bin ich ja mal gespannt, ob du das noch sagst, wenn ich dir von meiner Idee erzählt habe.« Mike klingt ruhiger, hat zwischenzeitlich die Beine übereinandergeschlagen.
»Jetzt mach es nicht so spannend. Was ist es? Schieß los!« Ich unterdrücke den Impuls, zu ihm rüberzugehen und die Antwort aus ihm herauszuschütteln.
»Du solltest zu den Veranstaltungen eine Frau mitnehmen – und jetzt unterbrich mich nicht gleich wieder. Ich weiß, dass du wenig bis gar nichts davon hältst, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass eine gut aussehende Frau an deiner Seite den ein oder anderen Verhandlungspartner mürbe macht und einknicken lässt.« Ein verstohlenes Lächeln schleicht sich auf Mikes Gesicht.
»Das ist die beschissenste Idee, die du je hattest«, beeile ich mich, diesen hirnrissigen Vorschlag aus dem Raum zu verbannen. »Du weißt ganz genau, dass ich keinen Bock auf etwas Festes habe, und egal, wie schlecht es uns geht, ich werde sicher nicht anfangen, eine Frau zu daten, nur um sie dann auf diese Events mitzunehmen. Und die soll dann als Lockvogel dienen, oder wie? Die Ärmste. Aber ich habe von den Weibern sowieso die Nase gestrichen voll. Das ist mein letztes Wort.« Wie kann Mike das nur von mir verlangen? Nach all dem, was vorgefallen ist? Nach all dem, was er mit mir durchgemacht hat?
»Ich sag ja nicht, dass du etwas mit der Dame, die dich begleitet, anfangen sollst. Ich dachte eher, dass wir jemanden fragen, der charmant und gebildet ist und sich gleichsam mit dem Geschäft auskennt.« Ein süffisantes Lächeln umspielt seine Lippen.
»Jetzt verstehe ich wirklich nicht mehr, worauf du hinaus möchtest. Sollen wir uns eine Nutte holen oder wie stellst du dir das vor?« Irritiert blicke ich zu Mike rüber, während mein rechtes Auge plötzlich zu zucken beginnt.
»Ach, Jayden, manchmal kann ich nicht glauben, dass du an einer der renommiertesten Universitäten des Landes studiert hast.« Mike lacht kurz auf. »Natürlich nicht. Eine Prostituierte hätte mit Sicherheit nicht den Stil und Esprit, den wir für die Rettung unseres Unternehmens dringend benötigen. Nein, wir werden eine unserer Angestellten dazu verpflichten, jemanden, der Ahnung von der Materie hat.«
»Wie stellst du dir das vor? Neben Michelle und Olga ist nur noch diese Neue da, deren Namen ich nicht einmal mehr weiß. Was ziemlich schlecht ist, da sie mir dann mit ihrem Stil und Esprit – um bei deiner Wortwahl zu bleiben – nicht im Gedächtnis haften geblieben ist.« Unwillig schüttele ich den Kopf, um das Bild zu verscheuchen, das sich mir aufdrängt. Offenbar weiß ich sehr wohl, von welcher jungen Frau gerade die Rede ist, denn ich sehe ihr von glänzenden langen Haaren umrahmtes Gesicht mit den braunen Augen prompt vor mir. Um mich selbst abzulenken, fahre ich fort: »Michelle ist Anfang fünfzig und ich wage stark zu bezweifeln, dass sie mit ihren von Krampfadern geplagten Beinen auch nur ansatzweise in der Lage wäre, einen ganzen Abend in High Heels neben mir eine gute Figur zu machen. Du weißt selbst, dass wir sie wegen ihrer Schmerzen kaum mehr auf Außeneinsätze schicken können. Und Olga? Nun, sie mag unsere fähigste Maklerin sein, aber ich kann einfach nicht mit ihr. Das würde nicht funktionieren.« Und damit ist die Sache für mich vom Tisch.
»Du tust gerade so, als müsstest du mit ihr in die Kiste springen. Herrgott, Jayden, du bist dir echt nicht bewusst, wie kurz wir vor dem Abgrund stehen.« Mike öffnet die ersten Knöpfe seines Hemdes. Sein Gesicht ähnelt immer mehr den überreifen Tomaten aus Grannys Garten.
»Du hast leicht reden. Du hockst hinter deinem Schreibtisch und jonglierst mit den Zahlen hin und her. Ich muss da draußen in der Wirklichkeit mit Menschen in Kontakt treten und eine Basis schaffen, auf der sich zukünftige Geschäfte abwickeln lassen. Stell dir das mal nicht so einfach vor, mein Lieber! Wenn ich dort mit einer Frau auftauche, die ich nicht leiden kann, werden sich die bad vibes sicher bemerkbar machen. Und jetzt komm mir nicht mit so Sachen wie ›Ich dachte, du bist Profi‹. Das hat damit überhaupt nichts zu tun.« Das Zucken an meinem Augen hört gar nicht mehr auf. Ich spüre, wie Mike mich immer weiter in die Enge treibt. Nicht mehr lange und ich stehe mit dem Rücken an der Wand.
»Gut. Dann bleibt noch Hope.«
»Wer ist das?«, frage ich mit gerunzelter Stirn, während ich Mike dabei beobachte, wie er nach und nach immer mehr von dem Lack seiner Stuhllehne abkratzt.
»Hope ist die Neue, wenn du so willst. Allerdings kann man sie schwerlich so bezeichnen, nachdem sie nun schon fast ein halbes Jahr hier arbeitet.« Mike springt von seinem Stuhl auf, läuft rüber zu dem Schrank, in dem die Personalakten verwahrt werden, und bringt mir einen Ordner, auf dem Hope Cavanaugh zu lesen ist.
Er schlägt mir die erste Seite auf. Ich halte mich nicht lange mit dem allgemeinen Geplänkel auf, sondern suche nach den einschlägigen Informationen wie dem Foto und dem Geburtsdatum.
»Sieht nicht schlecht aus. Aber sie ist verdammt jung, gerade mal zweiundzwanzig. Ich weiß nicht, ob sie der Sache gewachsen ist«, gebe ich unumwunden zu Protokoll. Die geschwungenen Lippen und die zarten Gesichtskonturen gefallen mir. Ich ertappe mich bei der Überlegung, wie es sich wohl anfühlt, sie zu berühren, verwerfe den Gedanken daran allerdings sogleich.
»Das müssen wir herausfinden. Im Moment ist es die einzige Option, die uns noch geblieben ist.«
Kapitel 3
»Kindchen, was ist denn mit dir los? Du zitterst ja am ganzen Leib.«
Meine Kollegin Michelle stürzt besorgt zu mir, als ich unbeholfen im Türrahmen Halt suche. In letzter Zeit häufen sich die Vergewaltigungen in Downtown so sehr, dass man abends nicht mehr allein durch die Gegend laufen sollte. Die Gewalt gegen Frauen in dieser Stadt hat einen traurigen Höhepunkt erreicht.
Ich kann deutlich spüren, was für Gedanken Michelle durch den Kopf gehen, aber ich bringe es einfach nicht über mich, sie zu beruhigen.
Die unschöne Szene heute Morgen erinnert mich zu sehr an das, wovor ich geflohen bin. Sie hat mir traurig vor Augen geführt, wie naiv ich war, wenn ich geglaubt habe, meiner ganz persönlichen Hölle so glimpflich entkommen zu sein.
»Setz dich zu mir. Soll ich dir ein Glas Wasser holen? Was ist denn nur passiert? Bist du in der U-Bahn überfallen worden? Soll ich die Polizei rufen?« Die kann mir auch nicht helfen. Das konnte sie nie.
»Soll ich deine Eltern oder deinen Verlobten verständigen? Hope, bitte sprich mit mir. Ich mache mir große Sorgen um dich.« Ich torkele die wenigen Schritte zu Michelles Platz hinüber und versuche das Kopfkino, das sich ganz von alleine eingeschaltet hat, wieder wegzuzappen. Vergeblich.
»Danke, Michelle, ein Glas Wasser wird schon reichen. Ich glaube, mein Kreislauf mag sich nicht so recht an die wärmeren Temperaturen gewöhnen. Nach dem Winter kippe ich bei den ersten Sonnenstrahlen des Jahres regelmäßig um«, behaupte ich im Brustton der Überzeugung und hoffe, dass meine Notlüge unentdeckt bleibt. Ich fühle mich furchtbar dabei, Michelle die Wahrheit vorzuenthalten. Aber so ist es besser. Für alle.
»Oh, wenn das so ist, dann hole ich dir gleich noch einen Donut aus der Teeküche. Einer der Chefs hat heute höchstpersönlich ein paar von diesen kleinen Leckereien mitgebracht. Kommt nicht oft vor. Heute ist wohl unser Glückstag.« Michelle zwinkert mir aufmunternd zu. »Vielleicht ist das ja ein gutes Omen für uns. Wir bräuchten dringend neue Aufträge. Das, was sich in unserer Kartei tummelt, ist minderwertige Ausschussware, die wir kaum vermittelt bekommen. Da sind ja die Wohnungen gleich neben den Bahngleisen attraktiver und nicht mal die haben wir momentan im Angebot. Was wollte ich noch gleich? Ach, ja, ich bin gleich wieder zurück.« Ich blicke in das freundlich lächelnde Gesicht mir gegenüber. Michelle ist einer der warmherzigsten Menschen, die ich kenne.
Seit knapp sechs Monaten arbeite ich nun in diesem kleinen Maklerbüro in Downtown, unweit vom Macys und dem Empire State Building und teile mir mit Michelle ein Zimmer. Diesen hart erkämpften Freiraum würde ich für nichts auf der Welt aufgeben wollen. Denn endlich habe ich die Möglichkeit aus der Enge auszubrechen, die bisher mein Leben bestimmt hat.
Neben uns ist gleich das Büro eines der beiden Chefs, was nicht bedeutet, dass wir sie oft zu Gesicht bekämen. Den einen habe ich seit dem Tag meines Vorstellungsgesprächs nicht mehr wirklich gesehen.
Er kommt oft erst am späten Nachmittag in die Firma. Viele von uns sind dann schon nach Hause gegangen. Wenn ich richtig im Bilde bin, kümmert er sich hauptsächlich um die Akquise. Wie genau das aussieht, weiß ich nicht, aber dass es dabei offensichtlich Probleme gibt, hat mir Michelle erzählt.
Sie kümmert sich um den ganzen Schriftkram in der Firma, nimmt die eingehenden Anrufe entgegen und vereinbart Besichtigungstermine für Interessenten, die sich gerne eines der Objekte aus unserem Bestand ansehen würden. Außerdem ist sie Mädchen für alles und kümmert sich wie eine sorgende Mutter um uns.
Ich bin froh, nicht so genau in alles involviert zu sein. Je weniger man weiß, desto besser ist es. Das habe ich in der Vergangenheit oft bitter am eigenen Leib spüren müssen. Seither kümmere ich mich weitestgehend um meine eigenen Angelegenheiten und laufe mit geducktem Kopf durch die Gegend. Immer in der Hoffnung, möglichst unbemerkt zu bleiben.
»Das ist lieb von dir. Danke.« Michelle wuchtet sich aus ihrem viel zu engen Schreibtischstuhl und schlüpft schwerfällig in ihre Schuhe. Es kostet sie große Mühen, die angeschwollenen Füße in das enge Leder zu pressen.
Es gehört zu einem festen Ritual, dass meine Kollegin gleich nach der Ankunft in unserem Büro ihre Schuhe auszieht und die Füße auf einen kleinen Schemel unter ihrem Tisch legt.
Der Weg von ihrem Zuhause bis zum Arbeitsplatz kommt für sie einem Marathon gleich. Michelle ist übergewichtig und kaum mehr in der Lage, sich frei zu bewegen. Sie überlegt jeden ihrer Schritte genau, bevor sie sich in Gang setzt. Umso dankbarer bin ich ihr dafür, dass sie mir die Chance gibt, für einen Moment alleine in diesem Raum zur Ruhe zu kommen.
Ich atme einmal tief durch und blicke durch das Fenster im zweiunddreißigsten Stockwerk. Im gegenüberliegenden Gebäude spiegelt sich die Sonne an der Glasfront und taucht diese in ein glitzerndes Meer aus Farben.
Lucian hat heute das erste Mal sein wahres Gesicht gezeigt. Obwohl es mir hätte klar sein müssen, was für ein Mensch er ist, habe ich mich in den vergangenen Monaten von seinem Verhalten blenden lassen.
Meine Erfahrungen mit Männern sind überschaubar. Im Grunde habe ich keine. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich kaum Kontakt zum anderen Geschlecht knüpfen konnte. Umso geschmeichelter fühlte ich mich, als dieser attraktive Mann mich im Central Park ansprach und aus heiterem Himmel um ein Date bat.
Dass er von meinem Vater auf mich angesetzt worden war, erfuhr ich erst viel später. Da war es schon zu spät, einen Rückzieher zu machen. Den hätte ich sicher bitter bereut. Wobei ich gerade nicht weiß, was schlimmer gewesen wäre.
Als ich vor einigen Wochen herausgefunden habe, dass mich mein zukünftiger Mann mit anderen Frauen betrügt, habe ich ernsthaft versucht mich in Lucian hineinzuversetzen.
Schließlich ist er knapp zehn Jahre älter als ich und hat bereits eine Vielzahl an Beziehungen hinter sich. Sicher hat er ganz andere Bedürfnisse als ich, die ich in diesen Dingen ziemlich unerfahren bin.
Ja, ich bin mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch Jungfrau. Nicht, weil es mein sehnlichster Wunsch ist, unberührt in die Ehe zu gehen. Nein, es hat vielmehr mit meinem Vater und seinen Wertevorstellungen zu tun. Er führt ein sehr strenges Regiment und versucht in dieser Wahlperiode erneut den Sitz des New Yorker Bürgermeisters ins Wanken zu bringen, um selbst auf dessen Stuhl Platz zu nehmen.
Richard Cavanaugh ist einer dieser Männer, die sich nehmen, was sie wollen. Wenn es ihnen nicht aus freien Stücken gegeben wird, finden sie einen Weg, mit viel gutem Zureden und Androhung körperlicher Gewalt, ihrem Ziel ein Stück näherzukommen.
Lucian arbeitet für eine von Dads Firmen. Durch sein großes Engagement konnte er dort wohl aus der Masse herausstechen. Mein Vater schätzt Menschen, die sich durchbeißen können und dennoch ihre eigenen Wege gehen, solange sie ihm nicht in die Quere kommen und sich an seine Regeln halten, versteht sich.
Seit ich vor einiger Zeit zu ihm gezogen bin, hat Lucian mir die heile Welt vorgegaukelt. Er hat versucht mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Von seinen Frauengeschichten habe ich zu diesem Zeitpunkt weder etwas geahnt, noch hätte ich es geglaubt, wenn mir jemand davon erzählt hätte.
Als der Tag unserer großen Verlobungsfeier näherrückte und er die Sache für sich in trockenen Tüchern wähnte, nahm er Stück für Stück seine Maske ab. Nach und nach erhielt ich ein Bild von dem echten Lucian, der über Leichen geht, um an sein Ziel zu gelangen.
Die Sache mit den anderen Frauen hätte ich wegstecken können, auch wenn es mich schwer gedemütigt hat. Spätestens nach der Hochzeit hätte ich darauf bestanden, dass er keine andere Frau auch nur ansieht.
Doch seit wir nun ganz offiziell verlobt sind, behandelt er mich, als wäre ich Luft. Er nimmt keine Notiz mehr von mir, überlässt mich völlig mir selbst und lebt sein eigenes Leben wie bisher.
Ausschweifende Partys, Besuche im Puff oder das Übernachten außer Haus gehören mittlerweile zur Tagesordnung. Seit er sich in Sicherheit wiegt, behandelt er mich wie den letzten Dreck, nimmt keine Rücksicht auf meine Gefühle und macht, was er will.
Und ich? Ich lasse mir das alles gefallen, weil mir die Alternativen fehlen. Ich kann nicht zurück nach Hause. Dad würde mich umbringen, wenn ich so kurz vor den Wahlen für einen solchen Eklat sorgen würde.
Mom hat nicht die Kraft, sich gegen ihn zu stellen, und wird es in diesem Leben auch sicher nicht mehr tun. Er hat sie völlig in der Hand, benutzt sie wie eine Marionette und weidet sich an dem Anblick ihrer leblosen Hülle. Da mir eigenes Geld fehlt und ich in den letzten Jahren dank der Autorität meines Vaters kaum Freunde finden konnte, stehe ich ziemlich mittellos da. Ob ich will oder nicht, ich bin dazu gezwungen, bei Lucian zu bleiben. Wenn nicht doch noch ein Wunder geschieht, werde ich einen Mann heiraten müssen, der meinem Vater mindestens das Wasser reichen kann. Ein ebenso freudloses Leben, wie es meine Mutter seit nahezu dreißig Jahren führt, wird dann zur traurigen Gewissheit für mich.
Ich wische mir die Tränen von der Wange und blicke zur Tür. Hoffentlich sieht mich keiner, während ich weine. Darauf zu achten, hat man mir schon als Kind eingebläut. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Wer Schwäche zeigt, ist ein Verlierer.
Wenn ich als Kind beim Spielen hinfiel, dann flehte mich meine Mom regelrecht an, bloß nicht zu weinen, wenn mein Vater in der Nähe war. Es war für uns alle die Hölle, wenn er das mitbekam.
Vater hat nie die Hand gegen uns erhoben. Nein, das musste er gar nicht. Seine Methode ist wesentlich effektiver und lässt unseren Teint weiterhin ohne Blessuren erstrahlen. Er weiß, wie man Menschen zusetzt, ohne sie zu berühren. Das macht es noch viel schlimmer, unberechenbarer.
Ein Zuhause, in das ich zurückflüchten könnte, habe ich nicht. Geld besitze ich keines. Seit ich meinen jetzigen Job angenommen habe, hat Vater all meine Konten auf Eis gelegt.
Ich habe mich das erste Mal im Leben seinem Willen widersetzt und das getan, was ich wollte. Er hätte mich lieber in der Politik oder an der Börse gesehen, doch das war nicht das, was ich wollte.
Ich wollte endlich meine eigenen Entscheidungen treffen, die Richtigen und die Falschen, selbst meine Erfahrungen machen und dabei lernen, wie das da draußen im wirklichen Leben funktioniert. Wie man sich behauptet in der großen weiten Welt.
Zur Strafe hat er mir den Geldhahn zugedreht und Lucian auf den Hals gehetzt. Die beiden wollten sich meine Abhängigkeit von ihnen zunutze machen.
Richard Cavanaugh wird nicht eher ruhen, bis er das bekommt, was er möchte. Er will eine Tochter, die sich neben ihm am Rednerpult bei seinen öffentlichen Auftritten positioniert, nett in die Kamera lächelt und gute Miene zum bösen Spiel macht.
Aber das kann ich nicht. Nicht mehr. Seit der Sache von damals möchte ich am liebsten gar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nur um es für meine Mutter und meine Schwester nicht noch schlimmer zu machen, beuge ich mich zeitweise seinen Befehlen und spiele dieses perfide Spiel aus Größenwahn und unkontrollierter Selbstüberschätzung mit. Immer in der Hoffnung, dass ich irgendwie einen Weg finde, mich da herauszuwinden.
Michelle öffnet die Tür, die kurz darauf quietschend ins Schloss fällt. Ich blicke zu ihr rüber und versuche mir die trüben Gedanken nicht anmerken zu lassen. Sie stellt mir einen Teller und ein Glas auf meinen Schreibtisch und meint aufmunternd: »Wirst sehen, jetzt wird alles wieder gut.«
Kapitel 4
Die Zeit wird allmählich knapp. Mit gefurchter Stirn blicke ich auf den Stapel Unterlagen vor mir, den Mike nach unserem Meeting zurückgelassen hat. Ich muss sie gar nicht durchsehen, um zu wissen, wie beschissen es um die Firma steht. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich schon viel früher auf dieses beklemmende Gefühl in meiner
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: © Mila Summers
Bildmaterialien: Covergestaltung: Nadine Kapp, Solomin Viktor (Fotograf) © gudrun / Fotolia
Lektorat: Lektorat: Dorothea Kenneweg, Korrektorat: Sandra Nyklasz
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2016
ISBN: 978-3-7396-6329-6
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