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Die Stimme

Doktor Henke war in der Stadt ein Muster von Pflichteifer; aber die sechs Urlaubswochen verträumte er, auf dem Rücken liegend, an dem weißen Strand des Ostseebades Misdroy in heroischer Faulheit. Er hatte die Hände als Kissen unter den kurzgeschorenen Kopf geschoben und schaute in die hohen Buchenwipfel. Dabei war er sehr ärgerlich über seinen Freund Erwin, der vor ihm stand und den heranrollenden Wellen kleine Steinchen in den Rachen warf; denn er musste ihm folgende ernste Rede halten:

»Du bist ja ein Esel. Erholen sollst du dich hier. Nicht solche Tollheiten ausspinnen. Ich kann gar nicht klug daraus werden. ›Eine Stim­me.‹ Hat man so was schon gehört? Du bist so einer, den man unter die Haube bringen muss um jeden Preis. Werde übrigens für dich auf Brautschau gehen. Was ich in diesen paar Tagen alles zu hören bekommen habe. Zwei Diebe verteidigen und einen Raubmörder, und die Hinterlassenschaft einer Erbtante, die ohne letzten Willen gestorben ist, regeln, strengt lange nicht so an, wie dir alle deine Dummheiten ausreden. – Überarbeitet bist du.«

Erwin lächelte in die Wellen hinaus: »Da magst du ja recht haben. Ich bin sehr müde. Und gerade deshalb sehne ich mich darnach. In einem weichen tiefen Stuhl lehnen und von einer süßen Stimme sich erzählen lassen, wie das Leben ist. Durch diese liebe Stimme sich mit dem Leben versöhnen, und alles wieder liebgewinnen an ihm: seine kleinen Ereignisse und seine großen Wunder.«

Doktor Henke hob ungeduldig den Kopf und suchte die Augen des Freundes. Er hatte keinen Sinn

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: gemeinfrei
Bildmaterialien: gemeinfrei
Cover: Bernd Mannhardt
Lektorat: historisch
Korrektorat: histrorisch
Übersetzung: keine
Satz: Bernd Mannhardt
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2024
ISBN: 978-3-7554-7950-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Ich suche ja keine Menschen. Ich suche die Stimme." Rilkes „Erwin“ in „Die Stimme“ (1896/97)

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