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Klappentext

Horst-Frank Demmler, ein „Immo-Mann“ aus Berlin, setzt am 24. Dezember auf die idyllische Ostsee-Insel Hiddensee über – samt Frau, Sohn und Hund. Sein Chef hat sie alle eingeladen, gemeinsam mit ihm und seiner Gattin Heiligabend auf dem Eiland zu verbringen. Da wittert Demmler plötzlich Morgenluft! Wochen zuvor hatte er über den Flurfunk der Firma erfahren, dass der Chef einen neuen Führungsjob ausloben will, um zum Angriff auf den Insel-Immo-Markt zu blasen. Für diese Aufgabe wäre Demmler durchaus bereit – aber jetzt gilt es erst mal, gesund und munter auf Hiddensee anzukommen. Das ist einfacher gesagt als getan: Demmlers familiärer Insel-Trip entpuppt sich als turbulenter Hindernislauf und die Karriere-Träume nehmen bald alptraumhafte Züge an … (Klappentext)

„Lachmuskeln bekommen reichlich Arbeit!“
(Birgit Kleffmann / wir-besprechens.d)

 

Zitat

 

„Erfolg ist die beste Rache.“

Michael Douglas

Prolog

Sängerknaben

 

Am Nachmittag des 24. Dezember lenkte Horst-Frank Demmler über die Insel Rügen gen Westküste und sollte sich alsbald wün­schen, diese Reise nicht angetreten zu haben. Wochen zuvor hatte ihn die Einladung er­reicht, Heiligabend mit seinem Boss Hugo und dessen Gattin Käthe auf Hiddensee zu ver­bringen.

„Wir würden uns freuen“, hatte der Boss betont, „wenn auch Ihre Frau Brigitte, Ihr Sohn Leon und Ihr Hund Trixi mit von der Partie wären.“

„Sehr gerne“, hatte Demmler gesagt und mit einem Lächeln signalisiert, dass er von der Offerte begeistert sei. Die Begeisterung war echt, sie nährte sich aller­dings insbe­son­dere von einem bestimmten Kalkül.

Der hochachsige Porsche, den Demmler fuhr, war ein Allradvehikel zum Preis eines Reihenmittelhauses und nach jenem Gewürz benannt, das zwar Pfeffer im Namen trägt, aber zur Gattung der Paprika gehört: Cayen­ne. Möglicherweise sollte damit so etwas wie „scharfes Geschoss“ zum Ausdruck gebracht werden, jedenfalls schwän­gerte der Werbung der Stuttgarter Autobauer zufolge eine „Sym­phony of Per­for­mance“ den Innenraum des Wagens. Das konnte im vorliegenden Fall zum aktuellen Zeitpunkt zumindest insofern gelten, als die Wiener Sängerknaben über 13 Lautsprecher und eine 160-Watt-Passiv-Sub­wooferbox Stille Nacht into­nier­ten, während das Sport Utility Ve­hicle, dessen Au­ßen­spiegel in Chilirot einen farblichen Akzent zum Car­raraweiß­metallic der Wagenfarbe setzten, über die L 302 schnurrte wie eine gesättigte Raub­katze durchs Gras der Serengeti.

Etappe Eins: Aller Anfang ist schwer

Chilirot

 

Demmler umfasste das Steuer fest, ließ aber dennoch den sprichwörtlichen Tiger im Tank. Es genügte ihm, zu wissen, dass das „Herz­stück des Turbo“, wie der Her­steller infor­mierte, „der neue Vierliter-V8-Motor mit Bi-Turbo-Aufladung“ war: „Mit einer Leistung von 550 PS übertrifft das Triebwerk das des Vorgängers um 30 Pfer­de­stärken.“

Das waren relevante Informationen für Demmler, welcher im unbuntesten allen denk­baren Farbenglanzes gewandet war, der im westlichen Kulturkreis für Freudiges wie Hochzeit, Reinheit, Jungfräulichkeit, aber auch Unsterblichkeit steht – also, kurz: Demmler steckte in einen weißen Smoking mit ebensolchem Hemd, dessen gesteiften Kragen eine im Kolorit der Außenspiegel ge­haltene Stofffliege zierte. Ja, er hatte sich in Schale geschmissen – oder, richtiger gesagt: Er war von seiner Frau Brigitte so und nicht anders ausstaffiert worden, um bei seinem Boss, den Brigitte gerne Bossi nannte, weil sie Verniedlichungsformen von Namen ein­fach gerne mochte, einen guten Eindruck zu machen.

Demmlers Chef, der Bossi, hatte ein Ferienhaus auf Hiddensee erworben, und zwar direkt hinterm Deich, was ihr, Brigitte, die sich gerne Gitti rufen ließ, über ihn, Demmler, also Franki, bekannt geworden war. „Ein Traumdomizil“, hatte der Boss Demmler gegenüber geschwärmt, „weil mit naturgemäß unverbaubarem Sonnenunter­gang.“ Und Demmlers Chef wusste durch­aus, wovon er sprach – nicht zuletzt als Eigentü­mer ei­ner der größten inha­bergeführten Im­mobi­lien­firmen Deutschlands namens Immo-Union. Er unterhielt in jedem Bundesland ei­ne Depen­dance, also 16 an der Zahl, die alle mit dem glei­chen Motto um die Gunst ihrer Kunden – Haus- und Grundstücksverkäufern so­wie -käufern gleichermaßen – warben und genau so und nicht anders gestrickt waren: „Ihr Ziel ist unser Weg!“

 

Deichgraf

 

Den ausgerufenen Empfang hatte Demmler nicht nur als freundliche Ehrer­bie­tung ge­genüber einem loyalen wie auch fleißigen Mitarbeiter, der aus dem Berliner Immo-Stall kam, gewertet, mehr noch machte er sich auch allergrößte Hoffnungen auf eine Bescherung der Extraklasse: In der Firma hatte es sich unlängst her­umge­sprochen, dass der Boss nächstes Jahr expan­dieren wolle: Ein spezielles Geschäftsfeld wolle er ge­sondert beackern, nämlich, zum Immo-Angriff auf die ost-, west- und nord­deut­schen Inselregionen zu blasen mit dem Ziel, eben­dort die Immo-Marktführer­schaft an sich zu reißen. Der neu geschaffene und dem Flur­funk nach gut dotierte Posten eines Immo-Chefs für dieses Marktsegment – vom Boss, so das Ge­rücht, im Scherz „Deichgraf“ ge­nannt – sollte noch in diesem Jahr vakant und besetzt wer­den.

Ach schön, hatte Demmler gedacht, für so etwas ist der Heiligabend ja eine originelle und auch recht persönliche Gelegenheit. Demmler hoffte nicht einfach nur, der Aus­erwählte zu sein – mitnichten: Seit einem ge­schlagenen Jahrzehnt leitete er erfolgreich die Depen­dance Berlin und hat­te Villen und Grund­stücke unterm Strich in mehrstelliger Millionenhöhe unter Dach und Fach ge­bracht.

Ja, nee – klar, hatte Demmler gedacht und sich erin­nert: Sein Chef hatte letzten Sommer ihm gegenüber durchblicken lassen, dass er, Demmler, sich „über die Jahre und zudem über alle Maßen bewährt“ habe und er, der Boss, sich nun durchaus vor­stellen könne, seine Leistung und nicht zuletzt seine Person „entsprechend zu würdigen“. Scherz­hafte For­mu­lierung hin oder her, hatte Demmler gedacht, aber „Deichgraf“ klingt doch gar nicht so übel. Ob ihm der Boss das so auch auf seine neue Visitenkarte drucken würde, wäre dann noch eine andere Frage.

Während Demmler gemächlich und immer der Nase nach kutschierte, also ge­radeaus, sinnierte er in Vor­freude auf das, was auf ihn zukommen mochte, auch da­rü­ber, was sein Boss für Augen machen würde, wenn er, Demmler, mit diesem Schmuck­stück auf vier Rädern vorführe: So und nicht anders, dach­te er, wäre beiläufig wie auch eindrucksvoll bewiesen, dass der Deichgraf in spe nicht nur in Belangen attrak­tiver Geschäftsab­schlüs­se – zum dritten Mal in Folge war Demmler, ei­nem Gerücht im betrieblichen Umlauf zu­folge, vom Boss als Immo-Mitar­beiter des Jahres nominiert worden –, sondern auch in au­tomobilen Ge­schmacks­fragen die Nase ganz weit vorn hatte. Ihm, Demmler, war auch bekannt, dass der Chef selbst das Vorgängermodell des Cayenne fuhr, und ihm war ebenfalls geläufig, dass der Chef auf so genannte „weiche Faktoren“ in der Zusam­menarbeit be­sonderen Wert legte: „Kollegen“, hatte der Boss auf der letzten Haupt­versammlung be­tont, „die Chemie zwischen uns muss stimmen, das überträgt sich auch auf das Ver­hält­nis zum Kunden.“

Demmler war sich sicher, dass die „Chemie“ zwischen ihm und seinem Chef stimmte, also so von Mann zu Mann, was sich seiner Er­fahrung nach eben auch daran bemaß, dass Automobile „auf Augenhöhe“ gefah­ren wur­den. Allerdings zweifelte Demm­ler mitunter, ob vor den Autos nicht eventuell doch noch die Wahl des richtigen Fußballvereins oder der passenden Ehefrau käme – und gerade im letzteren Punkt war er sich mit­un­ter nicht so ganz sicher.

Wie auch immer – Wahnsinnskutsche, sin­nierte Demm­ler, auch wenn ihm das Kraftpaket unter der Motorhaube etwas über­dimen­si­o­niert schien, zumindest für diese Landstraße: 70 km/h waren Höchst­geschwin­digkeit und nur 50 Sachen waren möglich – einerseits wegen der nicht vorhandenen Stra­ßen­beleuchtung und andererseits kannte er sich in der Gegend des Zielortes, des Hafen­städtchens Schaprode, „keinen Millimeter“ aus, wie Demmler zu sagen pflegte.

 

Besinnlichkeit

 

„Gitti, heute gehen wir’s mal betont ruhig an“, nuschel­te er und drehte den Wiener Sängerknaben den Ton ab. „Wir sollten un­sere Besinnlichkeit nicht gleich auf einmal ver­ballern.“

„Schade, Franki“, kommentierte Brigitte, die auf der Beifahrerseite saß. Sie hielt Trixi – ei­nen Chihuahua mit in Wagenfarbe gefärb­tem Fell – auf den Schoß und kraulte ab­wechselnd die überproportional großen und senkrecht aufstehenden Ohren, zwischen de­nen ein chilirotes Haarschleifchen steckte. „Ich war so schön dabei, mich einzustim­men“, merkte sie an.

„Aber Gitti, das haben wir doch nicht nötig“, behauptete Demmler. Er klang ironisch. „Als zukünftiger Deichgraf bin ich ja sozusagen von Berufs wegen besinnlich ge­stimmt“, schob er nach und intonierte leise: „Süßer die Kassen nie klingen als zu der Weihnachtszeit, ’s ist, als ob Engelein singen wieder von Frie­den und Freud’.“ Er grins­te schief zu Brigitte hinüber. „Immo-Punktlan­dung: Heute früh Immo-Termin beim Nachtnotar ge­habt.“

„Wieso Nachtnotar?“

„Was?“

„Es war doch in der Früh.“

„Ja, nee – klar, Gitti, das heißt doch nur so, weil die­se Leute auch zu unkon­ven­tionellen Zeiten antreten. Jedenfalls hab’ ich noch mal satt Provision kassieren können.“

„Aber Franki“, mokierte sich Brigitte, „Pro­vision hat doch nichts mit Besinn­lichkeit zu tun!“

„Ja, nee – klar, war ’n Scherz“, stellte Demm­ler fest. „Aber gönnen wir den Sänger­knaben doch mal ’ne Pau­se. Ich muss mich ab jetzt konzentrieren.“ Es war zwi­schen­zeitlich 17 Uhr und damit stockfinster gewor­den. „Aber wir wollen doch die richtige Ab­zwei­gung be­kommen, Gitti“, erklärte Demm­ler. „Müsste bald so weit sein.“

„Ach so“, sagte Brigitte. Das schien ihr ein schlüs­siges Argument zu sein. Wohl eher reflexhaft griff sie sich an ihre wasserstoff­blon­de, auf Volumen toupierte Frisur und strich sich ein verirrtes Haarsträhnchen aus der Stirn, das jedoch widerspenstig gleich wieder zu­rückfiel. Sie klappte die Sonnen­blende herunter, um im Schminkspiegel zu sehen, was da das Problem war. „Saß vorhin irgendwie besser“, merkte sie an.

Demmler schaute zu Brigitte hinüber. „Siehst doch prima aus.“

„Aber die Strähne hier.“

„Abschneiden“, empfahl Demmler launig.

„Was?!“ Brigitte blickte entsetzt zu ihrem Mann hin­über.

„Ja, nee – klar, war ’n Scherz“, winkte Demmler ab. „Mach mal, wie du’s brauchst.“

„Sicher, Franki?“

„Natürlich, Gitti.“

Brigitte griff mit ihrer Rechten an Trixi vor­bei nach unten und hinein in die zwischen ihren Beinen geparkte Handtasche. Aus den scheinbar endlosen Tiefen dieses Damenbe­hält­nisses kramte sie etwas Längliches her­vor. Entschlossen und zielsicher setzte sie die Dose an und zähmte die widerborstige Sträh­ne mit einem ordent­lichen Hub Haarspray. Eine voluminöse Wolke parfü­mierten Fein­staubs rieselte auf Trixi herunter, so dass das Hündchen umgehend zu niesen begann.

„Ja, nee – klar“, brabbelte Demmler und ließ sein Sei­tenfenster herunter.

„Du hast doch gesagt, ich könne machen, wie ich’s brauche.“

„Kann ja keiner ahnen, dass du eine Nebelmaschine auspackst.“

Während sich Brigitte noch einen Hub gönn­te, sagte sie: „Es zieht, Franki.“

Demmler schaute unlustig – und Brigitte versenkte die Spraydose zurück in ihr mobiles Verließ.

„Das Fenster“, erinnerte sie.

„Momentchen noch.“

„Trixi holt sich noch was weg.“

„Ach, was!“

„Sie hat schon geniest.“

„Ja, nee – klar“, sagte Demmler. Er run­zelte die Stirn, ließ aber um des lieben Frie­dens willen die Schei­be hochfahren. Er­stun­ken ist ja noch keiner, erfroren sind schon viele, dachte er sarkastisch. Dann herrschte Funkstille – aber nur für einen kurzen Mo­ment.

„Weißt du was, Franki?“, fragte Brigitte un­vermittelt.

„Was denn?“

„Also – nur für den Fall, dass du die Sän­ger­knaben nicht magst …“

„Ja?“

„… hab’ ich auch Weihnachten mit Hansi da­bei!“

„Hansi?“ Demmler überlegte. „Heißt so nicht der Wel­lensittich unserer Nachbarn?“, fragte er.

„Na, hör’ mal, Franki!“, sagte Brigitte.

„Ja, nee – klar, war ’n Scherz, Gitti.“

 

Klingelingeling

 

Brigitte blickte das Profil ihres Mannes an – und schau­te plötzlich etwas entrückt. Das lag jetzt nicht an Demm­ler, sondern vielmehr da­ran, dass sie sich Hansi, also den Hinterseer, ans Lenkrad herträumte. Hansi lä­chel­te Bri­gitte charmant an und zwinkerte ihr zu: „Bri­gitte, darf ich Sie Gitti nennen?“

Aber Brigittes Imagination bröckelte und brach dann in dem Moment zusammen, als Demmler erneut seine Stimme erhob: „Gitti, du weißt doch, den Hansi ertrage ich erst ab 1,9 Promille. Das wäre jetzt ganz schlecht. Lege mal lieber Sinatra ein – der hatte noch Schmalz in der Stimme.“

Demmler gab mal wieder den Frank Si­natra-Fan. Ob er Sinatra deshalb so mochte, weil er die Stimme des Sän­gers so mochte, oder „Frankie Boys“ Evergreens so moch­te, weil sein Boss Sinatra so mochte, war ihm nicht wirklich klar. Im betrieblichen Anpas­sungs­prozess zwischen dem Boss und ihm, dem Mitarbeiter, oder umgekehrt – „die Che­mie muss stimmen!“ – ver­wisch­ten zuweilen auch die Geschmacksgrenzen. Wie dem auch war. Demmler intonierte frei von der Leber weg Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!

Oh the weath­er outside is frightful. But the fire is so delightful. Since we've no place to go. Let it snow, let it snow, let it snow."

„Ich kann kein Englisch”, maulte Brigitte.

Demmler zuckte mit den Schultern: „It doesn't show signs of stoppin'. And I've brought some corn for pop­pin'. The lights are turned down low. Let it snow, let it snow, let it snow.”

„Dabei haben wir so schöne deutsche Lie­der.“

Demmler nickte bejahend: „When we final­ly kiss good­night. How I'll hate goin' out in the storm. But if you'll really hold me tight. All the way home I'll be warm. The fire is slowly dyin'. And, my dear, we're still good­byin'. As long as you love me so. Let it snow, let it snow, let it snow.”

Kling Glöckchen zum Beispiel …”

„He doesn't care if it's ten below . He's just sittin' by the fire's cozy glow. He don't care about the cold and the winds that blow. He just says, ,let it snow, let it snow, let it snow’ (let it snow). ,Ooh wee’, goes the storm. Why should …“

„Außerdem lebt er noch …”

„Sinatra? Du irrst, Gitti: Frankie Boy ist schon lange tot – aber seine Stimme, ja, die kann man heute noch kaufen! Habe ich für den Boss eingepackt: Christmas Songs by Si­natra! Die Original-Langspielplatte. Colum­bia Records - eine Rarität. Aus den Fünfzigern. Direkt­im­port aus USA, natürlich. Ein Samm­ler­stück. Bossi wird Augen machen!”

„Ich spreche von Hansi, Franki!”

„Ach so.”

„Ist ein ganz Süßer“, seufzte Brigitte.

„Ja, nee – klar.“ Demmler wiegte den Kopf. „Aber sag’ mal, Gitti, wieso nennt sich ein erwachsener Mann eigentlich nach einem Wel­lensittich?“

„Was ist an diesem Namen denn so schlimm?“, frag­te Brigitte. „Ein Fußballnati­onaltrainer hieß ja auch mal so ähnlich wie der Kumpel von Erni aus der Sesam­straße: Ber­ti. Und das hat dich damals gar nicht ge­stört.“

„Natürlich nicht!“

„Weil?“

„Kann man nicht miteinander vergleichen.“

„Wieso?“

„1990 ging es um die Bewältigung einer Aufgabe von nationaler Bedeutung“, argu­men­tierte Demmler.

„Was hatte dieser Berti denn mit der Wie­der­vereini­gung zu tun?“, hakte Brigitte nach.

„Ja, nee – klar, nichts“, klärte Demmler auf. „Wir waren Weltmeister geworden, Be­cken­bauer ist stiften gegangen und einer muss­te die Jungs ja trainieren. Hat­te es nicht einfach, der Vogts: War spröder als der Kai­ser. Aber dann, ’96, hat er’s allen Unken­rufern ge­zeigt: Europameister, weißt du noch?“

„Nein“, antwortete Brigitte. Sie dachte über die Wor­te ihres Mannes nach und konsta­tierte für sich, dass sie die Logik „Berti top – Hansi flop“ nicht wirklich ver­stand. Weil aber ihrer Meinung nach Begeisterung für Sport allgemein und für Fußball im Besonderen nichts mit Logik zu tun hatte, ging sie ge­danklich dann doch lieber wieder einen Schritt zurück: „Tolle Stimme, der Hansi“, sagte sie, nestelte eine CD des Volkssängers her­vor und hielt ihrem Mann die quadra­tische Plastikhülle vors Gesicht. „Schau mal, Franki“, flötete sie, „da ist auch Kling Glöck­chen, klingelingeling drauf.“

„Ja, nee – klar.“ Mit der Rechten wischte Demmler Brigittes Linke, in der sie den Tonträger hielt, reflexhaft weg. „Schau ich mir später an“, behauptete er und war sich da­bei bewusst, vorsätzlich zu lügen.

Trotz oder wegen der schroffen Ablehnung tauchte Brigitte jetzt gedanklich ab und imaginierte sich ihren Schwarm erneut herbei, während die CD anlief. Hansi signa­lisierte Brigitte offenbar, dass sie doch mit ein­stimmen möge, als er vorlegte: „Kling Glöckchen, klein­ge­lingeling, kling Glöckchen kling!“ Bei der Wiederho­lung dieser Zeile stieg Brigitte dann mit ein.

Sie traf die Melodie zwar nur bedingt, ei­nen halben Ton zu hoch oder zu tief, aber das störte Hansi wohl nicht oder nur wenig. War Hansi vielleicht so hart im Nehmen wie sei­ner­zeit Gotthilf F., der – wir erinnern uns – in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts, wie Spöt­ter damals behaupteten, „ohne Rück­sicht auf Ver­luste“ ganze Arenen in Volks­chöre verwandelte? – Wir wis­sen es nicht! Hansi lächelte jedenfalls nach wie vor routi­niert vom CD-Cover und sang unbeirrt weiter, mit Brigitte im Duett: „Lasst mich ein, ihr Kinder, ist so kalt der Winter, öffnet mir die Türen, lasst mich nicht er­frieren. Kling Glöck­chen …“

„Ja, nee – klar“, ging Demmler, mittlerweile schon etwas angefressen, wieder dazwischen. „Alles zu seiner Zeit!“ Er drehte den Regler her­unter und Hansi ver­blass­te, Brigitte ver­stummte.

Um jetzt keine schlechte Laune aufkom­men zu las­sen, unternahm Demmler ein ver­bales Ablenkungs­ma­nö­ver und fragte rheto­risch gegen die Windschutz­schei­be: „Ist unser Sohn noch mit an Bord? Ist ja so still auf der Rückbank.“

 

Engelchen

 

Brigitte sprang darauf an, drehte sich nach hinten und sagte: „Unser Engelchen – so fried­lich!“

Engelchen? – Demnach war es Brigitte trotz ihres Hangs zur Verniedlichung von Namen anscheinend we­nig sinnvoll vorge­kom­men, Leon ein „i“ anzuhängen, was wie die weibliche Form des Namens, „Leonie“, klin­gen würde. Möglicherweise wollte Brigit­te ihrem Sohn das nicht antun und war des­halb von der Benennung als Löwe auf die Ver­nied­lichung eines göttlichen Boten ge­wechs­elt.

Brigitte lächelte Leon an und begann, Ihr Kin­derlein, kommet zu summen.

„Ja, nee – klar“, warf Demmler dazwischen, griff mit seiner Rechten blindlings nach hin­ten und stupste Leon am Knie an.

„Hey, tauch’ mal wieder auf, Engelchen!“, rief er in den Rückspiegel, wo er seinen Sohn im Sichtfeld hatte.

Leon hatte sich die bisherige Fahrzeit über mit Kopf­hörern abgeschirmt gehabt – viel­leicht auch der singen­den Knaben aus Öster­reich wegen. Jedenfalls hatte er eigenen Sound auf den Ohren und hörte Musik von dem Tablet, das auf seinem Schoß lag. Ver­folgte so man­cher Knirps seines Alters auf Rei­sen immer noch ger­ne Die drei ??? und ließ sich von Justus, Peter und Bob in den Bann detektivischer Abenteuer verstricken, so lauschte Leon viel lieber eigenen, mit einer Musik­software selbst zusammengebastelten Hip-Hop-Beats, die er mit schwülstigen Klang­teppichmodulen und schril­len Geräu­schen unterlegt hatte. Ob Leon deshalb schon musikalisch war, konnten seine Ma und sein Pa nicht recht einschätzen, weil sie selbst vom Musizieren nichts verstanden. Demm­lers Vermutung, dass Leon, wie es land­läufig hieß, technikaffin war, war für ihn aber immerhin schon begründbar: Leon expe­ri­mentierte nämlich gerne mit Computerpro­grammen herum – auch mit solchen, die nichts mit so genannten Sound-Loops zu tun hat­ten – und war zudem erstaunlich flink gewe­sen, als es darum gegangen war, Demm­lers neues Smart­phone zu konfigurieren.

Leons Antlitz schimmerte weißblau im Schein des Bild­schirms. Die chilirote Fliege, die auch er am weißen Hemdkragen trug, kam als fröhlicher Farbtupfer herü­ber. „Ganz wie der Papa“, hatte Brigitte gesagt – und tatsächlich steckte Leon im gleichen Anzug wie Demm­ler. „Ja, nee – klar, ein paar Num­mern kleiner natür­lich“, hatte er, Demmler, ergänzt. Leons mittellanges, leicht gelocktes schwarzes Haar – „auch hier ganz der Pa­pa“, hatte Brigitte festgestellt – war mit Pomade in glän­zende Form gebracht, das heißt, der Schopf war von Brigitte streng nach hinten gekämmt worden.

Gutes Aussehen „meiner Männer“ war ihr wichtig – erst recht, wenn es um besondere Anlässe ging. Und wenn mein Mann von Bossi zu Weihnachten an die Küs­te einge­laden wird, hatte Brigitte gedacht, dann kann das eigentlich nur noch von einer Audienz beim Papst getoppt werden. Selbstverständ­lich hatte Brigitte auch sich selbst aufge­hübscht, was jetzt nicht nur ih­ren in Haar­spray konservierten Blondbeton meint: Sie war in einen chiliroten Ikonik Maxi Trench geschlüpft, bestehend aus einem kurzärme­ligen Body aus Nylon und Elastan, über dem ein langärmeliger halbtranspa­renter Oberstoff aus Seide lag – Reverskragen und Per­l­­mutt­­knopf­verschluss inklusive –, und an ihren Füßen trug sie Stöckelschuhe gleicher Farbe. „Von K. L.“, wür­de sie, war sie sich sicher, auf Nachfrage von Bossis Frau Käthi zuerst be­richten, und dann diskret nach­schieben: „500 Euro.“ Als Gattin des zukünftigen Deich­grafen, so dachte Brigitte, konnte man sich ja nicht im Schlabberlook vor Bossi zei­gen; er würde einen womög­lich nicht ernst nehmen – aber wie auch immer …

Besonders stolz war Brigitte aber auf die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bernd Mannhardt
Bildmaterialien: Uwe Mannhardt
Cover: Bernd Mannhardt
Lektorat: Moritz Siegel
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2019
ISBN: 978-3-7487-1872-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die "Türsteher" von Eigenheimen, auch Immobilienmakler genannt

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