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Amok in Amsterdam - 1

 

»Sie haben Ihre Hand unter meinen BH-Träger geschoben.«

Kriminalkommissarin Bea Ahlers fand, dass ihre eigene Stimme blechern klang.

Kein Wunder, wenn man gefesselt im Kofferraum eines alten Ford Fiesta liegt, dachte sie.

»Ich bedaure unendlich«, gab Inspektor Luc Morel zurück. »Leider macht die Enge es mir unmöglich, Ihnen unangenehme Berührungen zu ersparen.«

»Schon gut, ich werde darüber hinwegkommen«, sagte sie. Und verkniff sich die Frage, ob Morel einen Plan verfolgte.

Das war vermutlich nicht der Fall, obwohl er es im Gegensatz zu ihr geschafft hatte, seine Handfesseln loszuwerden. Den Trick musste er Bea unbedingt verraten, falls die beiden Ermittler die nächsten Minuten überlebten.

Und danach sah es momentan überhaupt nicht aus.

Bea presste die Lippen aufeinander und atmete flach, denn in dem Kofferraum stank es nach Benzin, Motoröl und einer alten Gummimatte. Morel und sie selbst waren wie zwei Anfänger in die Falle gelaufen. Sie hatten sich entwaffnen und fesseln lassen, da ein Kampf gegen die Übermacht von Maskierten Selbstmord gewesen wäre.

Trotz der Sturmhauben über den Visagen ihrer Gegner wusste die Kommissarin genau, mit wem sie es zu tun hatte.

Niederländer verständigen sich nämlich nicht auf Lettisch.

Also waren es Lacis‘ Männer gewesen, die Morel und sie selbst in diesen Kofferraum gezwungen hatten. Und nun rumpelte das Auto durch den dichten Amsterdamer Stadtverkehr. Zumindest vermutete Bea, dass sie sich noch auf Stadtgebiet befanden. Sie hörte die Hupen anderer Autofahrer, das Klingeln der Fahrräder, laute Rufe von Radkurieren auf Kamikaze-Tour.

Sogar die Glocken einer Kirche waren zu hören.

Bea kam sich vor wie auf ihrer eigenen Beerdigung. So muss es sein, wenn man in einem Sarg liegt, dachte sie. Theoretisch hatte die Kommissarin sich mit dem Gedanken angefreundet, dass ihr Dienst bei Europol um ein Vielfaches gefährlicher sein würde als beim deutschen Bundeskriminalamt.

Aber dass sie gleich in ihrer ersten Arbeitswoche gemeinsam mit einem französischen Kollegen von der lettischen Mafia ermordet werden sollte, fand sie schon heftig. Und Bea fragte sich, warum ihre Todesangst nicht größer war.

Womöglich fand sie ihre Situation einfach zu absurd.

Konnte Lacis wirklich so wahnsinnig sein, zwei Europol-Spezialisten kidnappen und ermorden zu lassen? Was bezweckte er damit? Sie hatte den Strippenzieher des organisierten Verbrechens bisher nicht für dumm gehalten. Seine Strafakte war dicker als das Telefonbuch einer Kleinstadt. Und doch gab es kaum eine Verurteilung, weil Lacis seine Hände stets in Unschuld zu waschen verstand.

Während das Auto seine Fahrt ins Unbekannte fortsetzte, hatte ihr Kollege seine Hand wieder unter ihrem Oberteil weggezogen. Bea ging sowieso nicht davon aus, dass er sie ernsthaft anbaggern wollte.

Erstens hatte Morel sie bisher stets wie ein rohes Ei behandelt, mit distanzierter Freundlichkeit. Und zweitens würden sie beide wohl nicht mehr lange genug leben, um eine romantische Beziehung zu beginnen. Oder auch einfach nur Sex zu haben.

Bea staunte über sich selbst und ihre Gedanken. Verdrängte sie schlicht und einfach, dass ihr und ihrem Kollegen ein grässliches Ende bevorstand? Anstatt zu grübeln hätte sie lieber ihre Hände von den Fesseln befreit. Doch es war sinnlos, die Kabelbinder um ihre Gelenke saßen bombenfest.

Wie Morel es wohl geschafft hatte, seine Hand freizubekommen?

Bevor sie ihn fragen konnte, begann er selbst zu sprechen.

»Wenn der Kofferraumdeckel gleich geöffnet wird, tun wir Folgendes, Frau Ahlers: Ich werfe den Schraubenschlüssel, den ich gerade gefunden habe, einem der Maskierten ins Gesicht. Außerdem werde ich versuchen, seine Waffe zu schnappen und möglichst viele von unseren Widersachern zu neutralisieren. Selbst falls es mir nicht gelingt, dürften die Kriminellen mit mir beschäftigt sein. Die Gelegenheit nutzen Sie bitte, um wegzulaufen und Verstärkung anzufordern.«

»Woher haben Sie den Schraubenschlüssel?«

Kaum hatte Bea diese Frage gestellt, als ihr bewusst wurde, wie dumm sie war. Wo sollte der Franzose das Werkzeug wohl gefunden haben? Im Inneren eines engen Kofferraums gab es nicht allzu viele Möglichkeiten.

»Ich habe das Werkzeug in die Finger bekommen, als ich unsere Umgebung abgetastet habe«, erklärte Morel geduldig. »Form und Material legen die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um einen Schraubenschlüssel handelt.«

Der Inspektor drückte sich stets so gewählt aus, als ob er eine Vorlesung an der Polizeiakademie halten würde. Offenbar hatte er stärkere Nerven als Bea selbst. Und sie musste zugeben, dass sein spontaner Plan zumindest teilweise funktionieren konnte. Dennoch musste sie ihm in die Parade fahren.

»Wir können Ihr Vorhaben gern in die Tat umsetzen, Morel. Aber was tun wir, wenn die Dreckskerle das Auto mit uns im Kofferraum einfach in einem Gewässer versenken? Davon gibt es hier in Holland ja genug.«

»Daran habe ich auch gedacht. In dem Fall würde ich versuchen, mit Hilfe des Schraubenschlüssels den Kofferraumdeckel zu öffnen. Doch ich gehe fest davon aus, dass die Delinquenten uns nicht sofort töten werden.«

»Weshalb nicht?«

»Sie werden gewiss versuchen, uns mit allen Mitteln den aktuellen Ermittlungsstand von Europol zu entlocken.«

Bea musste ihrem Kollegen innerlich recht geben. Und sie hatte ganz gewiss nicht vor, sich von skrupellosen Mafiosi foltern zu lassen. Da war es besser, mit fliegenden Fahnen unterzugehen.

Während die Polizisten miteinander sprachen, verließ der Ford Fiesta allmählich das Amsterdamer Stadtgebiet. Das konnten sie daran erkennen, dass der Wagen sich seltener in die Kurven legte und kaum noch an Ampeln stoppte. Bea und Morel verzichteten bewusst darauf, durch laute Hilferufe die Aufmerksamkeit von Passanten zu wecken.

Die Lacis Gruppe war für ihre Skrupellosigkeit berüchtigt. Die Gangster hatten gewiss keine Hemmungen, sich an harmlosen Zivilisten zu vergreifen. Daher musste es unbedingt verhindert werden, dass Unbeteiligte mit hineingezogen wurden.

Und obwohl sie mit Morel noch nicht wirklich warm geworden war, konnte Bea sich in dieser Situation keinen besseren Kollegen an ihrer Seite wünschen. Wie hatten die Verbrecher nur so leichtsinnig sein können, den Schraubenschlüssel in dem Kofferraum zu vergessen? Womöglich hatte das Werkzeug unter der Gummimatte gelegen. Oder Lacis‘ Leute waren davon ausgegangen, dass die Ermittler mit ihren gefesselten Händen sowieso keine Gefahr mehr darstellten.

Da werdet ihr euch getäuscht haben, dachte Bea grimmig. Sie konnte sich zumindest mit Karatetritten ihrer Haut wehren. Und da die Kommissarin Jeans und Turnschuhe trug, würde sie auch entsprechend schnell laufen können. Der Gedanke, dass Morel sich für sie opfern wollte, gefiel ihr überhaupt nicht. Doch nach Lage der Dinge würde zumindest einer von ihnen überleben, um die Ermittlungen weiterzuführen.

Beas Gedankenfaden riss ab, denn der Ford Fiesta wurde nun langsamer. Das Auto fuhr auch nicht mehr auf Asphalt, sondern schien über einen Feldweg zu rumpeln.

Und dann hielt der Wagen an.

Beas Handflächen waren feucht vor Aufregung. Sie spannte ihre Muskeln an, um gleich wie ein Springteufel aus dem Kofferraum schnellen zu können.

Nach der tintenschwarzen Finsternis in dem geschlossenen Kasten blendete das Sonnenlicht. Trotzdem wunderte die Europol-Ermittlerin sich über die vier Männer, die hinter dem Ford Fiesta standen.

Sie trugen nämlich niederländische Polizeiuniformen. Und sie lachten und applaudierten, als sie Bea und Morel sahen.

2


»Kann mir jemand verraten, was dieser Affenzirkus bedeuten soll?«, fauchte Bea auf Englisch, während einer der Polizeikollegen sie von dem Kabelbinder befreite. Die Männer gehörten zu Dienst Speciale Interventies (DSI), einer Elitetruppe der niederländischen Polizei. Der Einsatzleiter stellte sich als Hoofdcommissaris Eric de Bruin vor.

»Wir wollten uns vergewissern, dass Sie einer Konfrontation mit Lacis gewachsen sind«, sagte er. De Bruin war ein großer breitschultriger Mann mit blondem Stoppelhaarschnitt. Falls er die Aktion bedauerte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Und deshalb kidnappen Sie zwei Europol-Beamte am hellichten Tag in Amsterdam?«, fragte Morel. Seine Stimme drückte nur ein leichtes Befremden aus, während Bea innerlich vor Wut kochte.

»Weiß Akkerman davon?«, schrie sie de Bruin an.

Aldus Akkerman war Beas und Morels direkter Vorgesetzter bei der Europol.

»Commissioner Akkerman wird in diesen Minuten unterrichtet«, erwiderte der Holländer. »Wir sind angenehm überrascht davon, dass Sie den Schraubenschlüssel gefunden haben. Allerdings wäre es besser gewesen, wenn Sie beide sich von dem Kabelbinder hätten befreien können.«

Für einen Moment schämte Bea sich wirklich dafür, dass sie die Fessel nicht losgeworden war. Doch dann gewann ihr Zorn wieder Überhand.

»Das haben Sie ja prima eingefädelt!«, grollte die Ermittlerin. »Sie müssen Ihren Gorillas bloß noch beibringen, Lettisch ohne holländischen Akzent zu sprechen!«

Sie deutete auf die DSI-Männer, die ihren Temperamentsausbruch grinsend über sich ergehen ließen. In Wirklichkeit hatte Bea keineswegs bemerkt, dass es sich bei den Angreifern um verkleidete Polizisten gehandelt hatte. Die Männer hatten sich offenbar in der Zwischenzeit umgezogen. Bei dem Kidnapping hatten sie Sweatshirts und Jeans getragen, außerdem Sturmhauben. Doch zumindest einer von ihnen hatte ein so aufdringliches Rasierwasser benutzt, dass Bea ihn am Geruch wiedererkannte.

Sie ärgerte sich am meisten über sich selbst. Wie eine Anfängerin war sie in die Falle getappt. Und der oberschlaue und analytische Morel hatte sich keinen Deut besser angestellt!

»Wir wollten Ihnen nur plastisch vor Augen führen, womit Sie rechnen müssen, wenn Sie es mit Lacis aufnehmen«, erklärte de Bruin geduldig. »Wir sind nämlich dankbar dafür, dass Europol sich nun in die Ermittlungen einschaltet.«

Eine seltsame Art, das zu zeigen, dachte Bea.

Lacis und seine Leute hatten seit einem halben Jahr damit begonnen, ihre Aktivitäten in Sachen Menschenhandel und Waffenschmuggel systematisch auf ganz Mittel- und Nordeuropa auszudehnen. Amsterdam diente den Kriminellen dabei als Dreh- und Angelpunkt. Viktor Lacis residierte inzwischen sogar persönlich in der niederländischen Hauptstadt.

Deshalb sind Morel und ich jetzt hier, dachte Bea grimmig. Und außerdem, um uns vor den Holländern bis auf die Knochen zu blamieren.

Der Franzose schien zu spüren, was in ihr vorging. Konnte er etwa Gedanken lesen? Oder war es so offensichtlich, was in ihr vorging. Er warf ihr einen Blick zu, als ob er sagen wollte: Gib dir bloß keine Blöße!

»Ich schlage vor, dass wir zum Polizeipräsidium zurückkehren und die nächsten Aktionen besprechen«, sagte de Bruin. Bea unterdrückte eine sarkastische Bemerkung und nickte einfach nur. Es brachte nichts, hier als Zimtzicke aufzutreten. Die niederländischen Kollegen hatten das gefakte Kidnapping womöglich in bester Absicht durchgezogen, doch die Kommissarin fühlte sich einfach nur gedemütigt. Und sie war sicher, dass es Morel genauso ging, obwohl er sein übliches Pokerface aufgesetzt hatte.

Die Holländer nahmen die beiden Europol-Ermittler einfach nicht für voll. Womöglich spielte auch gekränkte Eitelkeit eine Rolle. So etwas geschah öfter, wenn eine lokale Polizeibehörde sich von Europol übergangen oder bevormundet fühlte.

In der Nähe war ein neutraler schwarzer Van mit getönten Scheiben geparkt. Der Ford Fiesta stand auf einem Feldweg neben einem Kanal, der eine grüne flache Landschaft durchschnitt. Am Horizont waren Windmühlen zu sehen, wodurch die Postkartenidylle fast perfekt wurde.

Die DSI-Beamten verteilten sich auf den Kleinbus und den Ford, Bea und Morel nahmen hinten im Van Platz. Dann ging die Fahrt zurück nach Amsterdam.

»Sagen Sie es schon«, meinte die Kommissarin nach einigen Minuten des Schweigens.

»Was meinen Sie?«

»Sagen Sie, dass wir wie Anfänger in die Pfanne gehauen wurden.«

»Das sehe ich nicht so.«

»Wenn die Angreifer echt gewesen wären, würden wir schon nicht mehr leben!«

»Das können Sie nicht mit absoluter Sicherheit sagen, Frau Ahlers. Wir sollten den holländischen Kollegen dankbar sein, weil sie uns die Gefährlichkeit unseres Auftrags vor Augen geführt haben.«

»Ja, eine Ermittlung gegen die lettische Mafia ist zweifellos riskanter als Aktenabstauben bei der Europol!«, wütete Bea. Sie wusste nicht viel über Morels polizeiliche Laufbahn. Nach ihrem Kenntnisstand war er allerdings ein typischer Innendienstler, ein Paragrafenhengst und Stubenhocker. Darum hatte er sie mit seiner geplanten Schraubenschlüssel-Attacke ja auch so erstaunt.

»Wir werden der hiesigen Polizei demonstrieren, was in uns steckt«, gab Morel ruhig zurück.

Wie er das anstellen wollte, ließ er allerdings zunächst offen. Bea warf ihm einen misstrauischen Seitenblick zu. Womöglich hatte er einen besseren Draht zu Akkerman als sie selbst. Verfügte der Franzose über Informationen, die er ihr bisher verschwiegen hatte? Aber sie waren doch aufeinander angewiesen!

»Reden Sie vom Djakarta-Projekt, Morel?«

»Wir wissen vom Djakarta-Projekt bisher noch nicht einmal, ob es wirklich existiert.«

Das stimmte natürlich. Doch da war ein Unterton in seiner Stimme, der Bea zweifeln ließ. Sie wollte nicht auf dem Thema herumreiten, um nicht hysterisch oder paranoid zu erscheinen. Stattdessen sprach sie etwas anderes an.

»Wie konnten Sie eigentlich Ihre Fessel loswerden?«

»Ich habe da mal so einen Lehrgang mitgemacht.«

»Zeigen Sie mir den Trick bei Gelegenheit einmal?«

»Selbstverständlich, Frau Ahlers. Wir sind doch jetzt ein Team.«

Und damit hatte er recht. Bea konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Momentan war Morel nicht nur der Einzige, dem sie vertrauen konnte. Außerdem musste sie mit ihm zurechtkommen. Das Gespräch schlief ein, und schon wenig später fuhr der Kleinbus wieder auf Amsterdamer Stadtgebiet.

Das Polizeipräsidium an den Burgwallen erinnerte Bea an einen futuristischen Ozeandampfer aus Glas. De Bruin lud zu einer Besprechung in der Abteilung zur Bekämpfung organisierter Kriminalität. Im Konferenzraum erblickte Bea einige bekannte Gesichter, aber auch Polizisten, mit denen die Europol-Cops bisher noch nichts zu tun gehabt hatten.

Nachdem alle Platz nahmen und der scharf gebrannte holländische Kaffee serviert worden war, ergriff der Hoofdcommissaris das Wort:

»Die heutige Übung mit den Europol-Kollegen ist äußerst erfolgreich verlaufen ...«

Übung? Du meinst wohl: Demütigung! sagte Bea in Gedanken zu de Bruin. Dann versuchte sie, sich auf seine Ausführungen zu konzentrieren.

»Für diejenigen von euch, die noch nicht vollständig im Thema sind, will ich unsere Erkenntnisse zum Djakarta-Projekt noch einmal zusammenfassen. - Viktor Lacis hat angeblich einen neuen Weg gefunden, um osteuropäische Sexsklavinnen nach Amsterdam zu schleusen und von hier aus auf unterschiedliche Städte zu verteilen.«

Ein Ermittler, dessen Namen Bea noch nicht kannte, hob die Hand.

»Ja, bitte?«

De Bruin deutete auf ihn.

»Warum wird die Operation Djakarta-Projekt genannt?«

»Lacis hat zunächst versucht, die Frauen auf einer Yacht namens Djakarta hierher zu bringen«, begann de Bruin, doch Morel fiel ihm ins Wort.

»Man könnte diese ganze Geschichte auch als ein Ammenmärchen bezeichnen.«

Der Holländer kniff die Augen zusammen und warf dem französischen Ermittler einen harten Blick zu.

»Wie war das?«

Morel stand auf, damit ihn alle sehen konnten. Er ließ sich von der ihm entgegen schlagenden Feindseligkeit nicht aus der Ruhe bringen.

»Ich zähle nur die Fakten auf«, sagte Beas Dienstpartner. »Erstens gibt es keine Motoryacht mit dem Namen Djakarta und dem Heimathafen Portsmouth. Diese Information ist also schon mal falsch.«

»Es ist ein Kinderspiel, den Namen eines Schiffs zu ändern«, hielt de Bruin entgegen.

»Dann müsste aber eine Motoryacht mit mutmaßlichen Prostituierten an Bord in den Amsterdamer Hafen eingelaufen sein. Und ich will nicht hoffen, dass ein Wasserfahrzeug ohne eine offizielle Registrierungsnummer hier einen Liegeplatz bekommt.«

Bea ahnte, worauf ihr Kollege hinauswollte. Sie ergänzte: »Und die Information kam von einem drogenabhängigen Polizeispitzel, wenn ich alles richtig verstanden habe.«

De Bruin versuchte sichtlich, die Fassung zu wahren.

»Also behaupten Sie, dass wir einem Phantom nachjagen?«

Morel zuckte mit den Schultern.

»So weit würde ich nicht gehen. Aber es wäre gut zu wissen, ob die Djakarta überhaupt existiert. Ansonsten haben wir es nämlich mit einem Geisterschiff zu tun, so wie dem legendären Fliegenden Holländer

Daraufhin breitete sich eine unangenehme Stille aus. Nach einigen Augenblicken sagte jemand: »Willkommen in der Europäischen Union, wo Deutsche und Franzosen das Zepter schwingen.«

Die Person hatte leise gesprochen, aber laut genug für Beas Ohren. Sie wäre am liebsten aus der Haut gefahren. In diesem Moment klingelte de Bruins Smartphone. Er zog die Augenbrauen zusammen, nahm aber das Gespräch an. Der Hoofdcommissaris lauschte, sagte etwas auf Holländisch und steckte das Gerät wieder weg. Dann wandte er sich auf Englisch an die Europol-Ermittler.

»Es hat einen neuen Vorfall gegeben, bei dem Lacis der Drahtzieher sein dürfte.«


3

Viktor Lacis befand sich in einem Eetcafé unweit vom Rembrandtplein. Alle Tische waren besetzt, was in einer Touristenhochburg wie Amsterdam den Normalzustand darstellte. Die Kellnerinnen gaben ihr Bestes, um trotz der vielen Arbeit und den zahlreichen Gästen aus aller Welt freundlich und flink zu bleiben.

Doch eine Gruppe von Engländern, die unweit von Lacis in einer Ecke hockten, hatten sich auf die zuständige Bedienung eingeschossen. Je weiter der Alkoholpegel anstieg, desto unflätiger wurden sie.

Lacis zog die Augenbrauen zusammen. Es entging ihm nicht, dass die Kellnerin, die laut Namensschild Mareike hieß, mit den Tränen kämpfte. Jetzt warf auch noch einer der Briten sein Bierglas um, was die übrigen Kerle zu einem Begeisterungssturm anstachelte. Die Hälfte des Gerstensafts ergoß sich auf Mareikes Schürze.

Lacis erhob sich und strich sein Jackett glatt.

»Was haben Sie vor?«, fragte Juri. Der ehemalige russische Fallschirmjäger saß bei dem Balten, er war Lacis‘ Mann fürs Grobe.

Der Mafiaboss würdigte seinen Assistenten keiner Antwort. Er ging mit festen Schritten auf den Tisch der Engländer zu. Die Kerle glotzten ihn streitsüchtig an. Sie waren ausnahmslos jung, trugen Polohemden, die sich über ihren muskelbepackten Oberkörpern spannten.

Der magere sechzigjährige Lacis konnte sie mit seiner Statur nicht beeindrucken, daran änderte auch sein teurer Maßanzug nichts.

»Was willst du, Opa?«, sprach ihn ein Rothaariger an. »Willst du uns einen ausgeben?«

Der Lette schüttelte den Kopf.

»Ich möchte, dass Sie jetzt gehen. Und vorher werden Sie sich bei Mareike für Ihr Benehmen entschuldigen.«

Die Briten lachten ihn aus. Mit dieser ersten Reaktion hatte Lacis gerechnet. Sie warf ihn nicht aus der Bahn. Falls eine dieser Kanaillen auch nur den kleinen Finger gegen ihn hob, würde Juri Hackfleisch aus ihm machen. Doch Lacis ging davon aus, dass die Krawallbrüder ihr Verhalten schon sehr bald ändern würden. Er musste gar nichts sagen, um eine andere Reaktion zu erreichen.

Bisher hatte Lacis seine linke Hand in der Hosentasche gelassen. Nun zog er sie heraus. Sein dicker goldener Siegelring fiel sofort ins Auge.

Einer der Männer war besonders stark tätowiert. Seine verwüstete Visage wies ihn als einen erfahrenen Schläger aus. Der Lette wunderte sich nicht darüber, dass ausgerechnet dieser Kerl nun so bleich wurde wie eine Nonne, die einen schmutzigen Witz hört.

Der Tattoo-Brite hatte die Bedeutung des Rings erkannt.

Das Geschmeide verhieß nicht nur Tod, sondern auch Folter und Vernichtung der ganzen Familie.

Der Radaubruder konnte seinen Blick nicht von dem Schmuckstück abwenden.

»Verzeihen Sie, Sir«, sagte er kleinlaut.

Die anderen Kerle glotzten ihn an. Sie konnten nicht glauben, was sie gerade gehört hatten.

»Was ist los, Ken?«

»Bist du plötzlich zum Weichei geworden?«

Die Fragen drangen auf ihn ein. Ken ballte die Fäuste, wandte sich gegen seine Freunde.

»Haltet eure verdammten Mäuler! Ihr wisst nicht, was ihr tut. Wir haben uns wie die Schweine benommen. Jetzt bitten wir die Lady um Verzeihung, dann ist Rückzug angesagt. Ich erkläre euch alles später!«

Lacis fand es bemerkenswert, dass Ken trotz seines hohen Alkoholpegels noch genug Verstand hatte, nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen.

Die Angst ist doch die stärkste Antriebskraft des Menschen, philosophierte der Mafiaboss innerlich. Die anderen Säufer schienen nun kapiert zu haben, dass Ken ihnen gegenüber einen Wissensvorsprung hatte. Sie warfen dem Letten scheue Seitenblicke zu, während sie einer nach dem anderen die Kellnerin um Vergebung baten und dann wie eine geschlagene Armee aus dem Lokal trotteten. Zuvor hatten sie natürlich noch bezahlt.

Mareikes Stimme war ihre Verwirrung anzuhören, als sie sich nun an Lacis wandte.

»Ich danke Ihnen, Mijnheer. Es kommt nicht oft vor, dass jemand für mich eintritt.«

Lacis verbeugte sich und gab ihr einen altmodischen Handkuss.

»Wenn eine Dame belästigt wird, muss ich einfach handeln, Teuerste. Könnten Sie mir bitte noch einen Koffie verkeerd bringen?«

Sein Niederländisch war einwandfrei, wenn auch mit einem unüberhörbaren Baltikum-Akzent. Die Kellnerin nickte und kam wenig später mit einer Tasse Milchkaffee. Lacis bedankte sich höflich. Als Mareike gegangen war, wandte er sich an Juri.

»Du weißt, was aktuell zu tun ist?«

»Selbstverständlich, Herr. Ich besorge die slowenischen Pässe, die gefälschten Gesundheitszeugnisse und die Medikamente.«

»Du hast verlässliche Quellen aufgetan, nehme ich an.«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich. In Amsterdam kann man für Geld alles kaufen, diese Stadt ist ein Sündenpfuhl.«

Lacis zwinkerte lächelnd.

»Deinem Unterton entnehme ich, dass du damit deine Probleme hast. Es ist beeindruckend, wie tief die religiöse Erziehung in deine Seele eingedrungen ist. Und zwar trotz allem, was die Mönche mit dir angestellt haben.«

Juri erwiderte nichts, er biss lediglich die Zähne aufeinander. Die Muskelstränge seiner Wangen traten hervor, weil er dafür so viel Kraft aufwandte. Seine Augen glänzten, und der Mafiaboss fragte sich, ob sein Handlanger gleich weinen würde.

Nein, das war unmöglich, Ein Mann wie Juri hatte keine Tränen mehr. Vermutlich, weil er in seiner Kindheit so stark leiden musste.

Lacis fragte sich manchmal selbstkritisch, ob er mit einem Psycho-Wrack wie Juri nicht besser Mitleid haben sollte.

Aber wozu? Sagte der Alte zu sich selbst. Juri lebt heutzutage wie ein König. Er hat es mir zu verdanken, dass er nicht in eine Nervenklinik gesperrt wurde, sondern an meiner Seite das Leben in allen seinen Facetten genießen kann. Ich muss nur darauf achten, das Reizwort Mönch nicht zu oft fallenzulassen. Sonst brennen bei Juri am Ende doch noch die Sicherungen durch.

„Ich glaube immer noch an Gott“, sagte der Russe mit tonloser Stimme. Lacis verkniff sich eine sarkastische Antwort, sondern forderte seinen Assistenten mit einer Handbewegung zum Weitersprechen auf.

Juri berichtete: »In einer Stunde treffe in einen Belgier, der sich Valois nennt. Von ihm bekomme ich Informationen über dieses Europol-Team, das auf Sie angesetzt wurde.«

Der Lette lachte, als ob Juri einen Scherz gemacht hätte.

»Ich sollte mich angesichts des Interesses der Strafverfolgungsbehörden geschmeichelt fühlen. Was glaubst du – werde ich bereits beschattet?«

Die Stimme des Killers nahm einen verächtlichen Tonfall an.

»Ja, aber nur durch ein paar holländische Stümper. Es sind insgesamt fünf Teams, die rotierend observieren. Elektronik kommt nicht zum Einsatz, die hätte ich mit meinem Lokalisierungsgerät längst geortet. Ja, mit dem Datenschutz nimmt man es hierzulande sehr genau.«

»Wie gut, dass ich ein gesetzestreuer Bürger bin!«, rief Lacis leutselig. »Nachdem ich den Milchkaffee ausgetrunken habe, werde ich mich ein wenig im Rijksmuseum aufhalten. Wer ist übrigens das polizeiliche Observationsteam? Die beiden Turteltauben an den Tisch hinten links?«

Juri schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»Nein, ich tippe auf den angeblich Blinden mit seiner Begleitperson.«

Doch kaum hatte der Russe diesen Satz ausgesprochen, als Lacis den Irrtum seines Gehilfen erkannte. Die Niederlande waren schließlich ein demokratischer Staat, in dem die Polizei einen Verbrecher nicht einfach mit einem Kopfschuss hinrichtete.

Also war der Mann mit der Drei-Punkt-Armbinde gewiss kein Gesetzeshüter. Und der Blindenstock, den er nun auf Lacis und Juri richtete, enthielt offenbar eine Schnellfeuerwaffe.


4

Eine Stunde zuvor

Das steile Dach war eine Todesfalle. Ulyana Dripov hatte es irgendwie geschafft, ihren Peinigern zu entkommen. Sie war verletzt, konnte aber noch laufen. Ohne ihre High Heels kam sie schneller voran. Ulyana musste höllisch aufpassen, um nicht auf den Dachschrägen auszurutschen und in die schmale Gasse unter ihr zu stürzen.

Bei meinem Glück breche ich mir dann gleich den Hals, dachte sie auf Ukrainisch – ihrer Muttersprache. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wo sie sich befand. Womöglich in Amsterdam, zumindest faselten einige ihrer betrunkenen Freier immer davon, wie toll diese Stadt doch wäre.

Für Ulyana bestand Amsterdam nur aus Drogen, Schlägen, und Sex mit Widerlingen.

Immerhin war sie momentan so klar im Kopf, dass sie die Flucht gewagt hatte. Doch die junge Ukrainerin fragte sich, ob ihr Verschwinden nicht der zweitgrößte Fehler ihres Lebens war. Ihre größte Fehlentscheidung hatte darin bestanden, auf diesen Personalvermittler in Kiew hereinzufallen.

Zuhälter wäre die passendere Berufsbezeichnung gewesen.

Ulyana bewegte sich vorsichtig an der metallenen Regenrinne entlang. Das Blech fühlte sich unter ihren Füßen kalt an, die in halterlosen Strümpfen steckten. Ansonsten war sie nur noch mit Dessous und einem Negligé bekleidet. Geld hatte sie nicht bei sich, von einem Reisepass ganz zu schweigen. Wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, dann hätte sie über ihren Situation lachen können. Da hatte sie während der vergangenen Wochen in dieser Bordellhölle garantiert ein kleines Vermögen erwirtschaftet, indem sie die größten Perversionen über sich ergehen ließ. Und doch war kein Cent davon bei ihr geblieben.

Zunächst konzentrierte Ulyana sich ganz darauf, nicht vom Dachrand zu fallen. Jetzt legte sie eine kleine Pause ein und hob vorsichtig den Kopf. Sie versuchte, sich eine Orientierung zu verschaffen.

Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass die Stadt ihr gefiel. Amsterdam war ganz anders als Kiew. Bisher hatte sie ja nur die fensterlosen Verrichtungsräume zu sehen bekommen, außerdem die Bordellküche mit Blick auf einen Lichtschacht. Als Ulyana in der niederländischen Hauptstadt eintraf, war es Nacht gewesen.

Doch jetzt war es Tag, und sie hatte einen Panoramablick über eine Metropole, die auf seltsame Art gleichzeitig mittelalterlich und hochmodern wirkte.

Die schmale Gasse zu Füßen der Ukrainerin endete an einer Uferstraße, die an einem Kanal entlang verlief. Diese Kanäle wurden in Holland Grachten genannt, wie Ulyana wusste. Sie war nicht ungebildet, hatte die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen. Trotzdem war in ihrer Heimat keine Arbeit für sie zu finden gewesen.

Links erhob sich eine gewaltige Kirche, deren Namen Ulyana nicht kannte. Sie schickte trotzdem ein Stoßgebet zum Himmel, denn göttlichen Beistand konnte sie jetzt dringend gebrauchen.

Wohin sollte sie sich wenden? Ulyana konnte nicht zu dem winzigen Dachfenster zurück, durch das sie entkommen war. Also blieb nur ein Sprung über den Spalt zwischen diesem Gebäude und dem Nachbarhaus. Aber das andere Dach kam ihr noch steiler vor als das, auf dem sie sich jetzt befand. Wenn Ulyana dort drüben landete, würde sie womöglich abrutschen und fallen.

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Die Ukrainerin bekam Gesellschaft. Ein Mann hatte die Dachluke geöffnet und näherte sich ihr. Er trug Jeans, ein schwarze T-Shirt sowie eine Sturmhaube über dem Gesicht. Das fand Ulyana besonders absurd, denn hier oben über den Dächern von Amsterdam gab es sowieso keine Zeugen.

Sie machte sich über seine Absichten keine Illusionen. Denn er hielt ein Messer in seiner behandschuhten Rechten.

»Zurück mit dir!«, knurrte er auf Russisch.

Sie schüttelte heftig den Kopf, während ihr Herz sich zusammenkrampfte. Ulyana hätte springen sollen, um ihm zu entkommen. Doch ihr Körper versagte ihr den Dienst. Sie kam sich wie gelähmt vor. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie konnte sich weder vorwärts noch zurück bewegen. Stattdessen kauerte Ulyana auf der Regenrinne, an der sie sich krampfhaft festhielt.

Der Mann bewegte sich bemerkenswert schnell und sicher. Ob er öfter hier oben entflohene Frauen wieder einfangen musste? Die Ukrainerin konnte sich lebhaft vorstellen, welches Schicksal ihr nach der Rückkehr in das Freudenhaus blühen würde. Es war ja schon schlimm genug gewesen, als sie noch fügsam gewesen war. Aber nun, da sie entkommen wollte …

Während Ulyana immer noch wie angewurzelt verharrte, erreichte der Maskierte sie. Er packte ihr linkes Handgelenk.

»Los, komm mit!«

»Neeeiiinnn!!!«

Sie riss die Augen noch weiter auf, starrte ihn an. Das Messer in seiner freien Hand blitzte im Sonnenlicht.

»Hör auf zu schreien!«

Doch das konnte sie nicht. Es war, als ob ihre Stimmbänder ein Eigenleben entwickelt hätten. Ulyanas ganzer Körper blieb bewegungslos, nur den Mund hatte sie geöffnet. Und sie schrie aus Leibeskräften.

Als der Maskenmann ihre Kehle durchschnitt, verstummte der Schrei und ging in ein widerlich klingendes Gurgeln über.

Ulyana konnte spüren, wie das Leben aus ihr entwich. Und das dauerte nicht sehr lange.


5

Lacis warf sich zu Boden, als die Maschinenwaffe zu hämmern begann. Er hatte schon oft genug an der Schwelle des Todes gestanden. Nun reagierte er mit antrainierten Reflexen.

Und Juri?

Der Russe bewies, dass er trotz seiner traumatisierten Kindheit jeden Cent wert wer, den der Mafiaboss ihm bezahlte. Der ehemalige Fallschirmjäger flankte über einen der Cafétische, wobei er sich einen weiteren griff und dessen Marmorplatte als Schutzschild gegen die Kugeln benutzte. Der zur Waffe umgebaute Stock enthielt offenbar nur Munition von geringer Durchschlagskraft. Jedenfalls prallten die Kugeln von der polierten Fläche ab.

Juri hatte nun den vermeintlich Blinden und dessen Begleitperson erreicht. Der zweite Attentäter zog eine Pistole aus seiner Windjacke, richtete sie auf den Russen. Währenddessen waren die übrigen Gäste sowie in der Nähe befindliche Passanten in Panik verfallen. Sie stoben auseinander wie eine Hühnerschar, die sich vor einem Fuchs in Sicherheit bringen musste.

Nur das Liebespaar bewahrte einen kühlen Kopf. Die Frau und der Mann hielten nun ebenfalls Schusswaffen in den Händen, mit denen sie auf den falschen Blinden und dessen Komplizen zielten.

»Polizei! Waffen weg!«, rief der weibliche Teil des Paares auf Niederländisch. Lacis hatte sich also nicht geirrt, als er die beiden als Zivilpolizisten identifizierte. Die Attentäter ignorierten die Beamten. Ihr Auftrag lautete offensichtlich, den lettischen Gangsterboss zu eliminieren.

Doch für dieses Vorhaben mussten sie zunächst Juri überwinden.

Obwohl Lacis‘ Leibwächter weder Pistole noch Revolver hatte, leistete er hervorragende Arbeit. Er war nun so nah an den vermeintlichen Blinden herangekommen, dass er dessen Stockgewehr zur Seite drücken konnte. Der Russe verfügte über Bärenkräfte, sein Widersacher konnte nicht dagegen halten.

Währenddessen versuchte der zweite Mann, die Mission zu beenden. Er hob seine Glock in den Beidhandanschlag, zielte auf Lacis. Der auf dem Boden liegende Lette wollte sich schon zur Seite rollen, als ein Geschoss aus der Waffe des holländischen Polizisten den Attentäter in den linken Oberschenkel traf. Er ging mit einem Schmerzensschrei in die Knie. Doch die Pistole hielt der Angreifer weiterhin auf Lacis gerichtet. Noch war die Gefahr nicht vorbei.

Da entriss Juri dem anderen Kerl den Stock und drosch damit auf das Handgelenk des Schützen. Daraufhin ließ er die Waffe fallen. Juri hob nun seine eigenen Hände, um seine Friedfertigkeit zu demonstrieren. Lacis wusste, dass er die beiden Attentäter am liebsten kaltgemacht hätte. Aber das war in Gegenwart der Polizei nicht möglich.

Der Lette beglückwünschte sich selbst dazu, dass er seinem Bodyguard das Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit strikt verboten hatte. Die Justiz würde weder Juri nach Lacis selbst vorwerfen können, dass sie bis an die Zähne bewaffnet durch Amsterdam schlenderten. Und sich mit den eigenen Händen selbst zu verteidigen war sogar in den Niederlanden erlaubt.

Die Polizei bekam die Lage nun schnell unter Kontrolle. Die beiden Attentäter wurden nach weiteren Waffen durchsucht, außerdem forderte man einen Krankenwagen für den verletzten Angreifer an. Verstärkung traf in Form von uniformierten Polizisten innerhalb weniger Minuten ein.

Lacis erhob sich aus eigener Kraft aus seiner liegenden Position. Er klopfte sich den Schmutz von der Hose. Die Zivilpolizisten kamen auf ihn zu. Der Mafiaboss spürte deutlich, dass sie äußerst gemischte Gefühle für ihn hegten. Einerseits hätten sie Lacis gewiss am liebsten sofort verhaftet, wenn ihm nur etwas nachzuweisen gewesen wäre. Andererseits musste er vor einer feigen Attacke aus dem Hinterhalt genauso beschützt werden wie jeder andere Bürger auch.

Der Rechtsstaat ist schon eine tolle Erfindung, dachte der Alte.

»Ich danke Ihnen sehr für die Rettung«, sagte Lacis in seinem besten Sonntags-Niederländisch. Er schenkte den Beamten ein Zahnpasta-Lächeln.

»Wir haben nur unsere Pflicht getan«, gab die Polizistin schmallippig zurück. Sie war jung, blond und hatte eine Menge Sommersprossen im Gesicht.

»Ja, und was für ein Glück, dass Sie rein zufällig zur Stelle waren.«

Diese ironische Bemerkung konnte der Lette sich nicht verkneifen. Er mochte dieses Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Lacis betrachtete die Ordnungsmacht ohnehin nicht als einen ernstzunehmenden Gegner. Den Kriminalisten waren durch zahlreiche Vorschriften die Hände gebunden, wofür der Mafiaboss dem Parlament aufrichtig dankbar war. Die Bedrohung kam von Seinesgleichen, darüber machte er sich keine Illusionen. Schon bald würde Lacis herausgefunden haben, wer diesen vermeintlichen Blinden und dessen Komplizen beauftragt hatte.

Und dann konnten sich seine Widersacher auf einen gewaltigen Gegenschlag gefasst machen …

Die tiefe Stimme des Polizisten riss ihn aus seinen Überlegungen.

»Benötigen Sie einen Arzt, Mijnheer Lacis?«

Der Alte wandte sich mit gespielter Überraschung an den holländischen Gesetzeshüter.

»Sie kennen meinen Namen? Verbindlichsten Dank, aber das wird nicht nötig sein. Ich bin zwar betagt, doch mir fehlt nichts. Außerdem habe ich meinen Sekretär, der mir zur Hand gehen kann.«

Lacis deutete auf Juri, der mit den inzwischen herbeigeeilten uniformierten Polizisten redete. Dabei ließ er seinen Herrn und Meister allerdings nicht aus den Augen.

»Ihr Sekretär wird uns genau wie Sie selbst zur Dienststelle begleiten müssen, um eine Aussage zu machen«, erklärte die Polizistin. Sie warf ihrem Kollegen einen gereizten Blick zu. Vermutlich würde sie ihm später auf die Nerven gehen, weil er Lacis mit dessen Namen angeredet hatte.

Als ob das noch einen Unterschied machte.

»Es ist uns eine Freude, die Behörden bei der Aufklärung dieser Straftat unterstützen zu können«, sagte Lacis. Mit klammheimlicher Freude registrierte er, dass die Gesetzeshüterin vor Wut zu kochen schien. Vermutlich hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, wie sehr sie seine Geschäftspraktiken verabscheute.

Aufrichtige Empörung von braven Bürgern hatte Lacis immer schon amüsiert. Seit seiner frühen Jugend hatte er stets den Pfad der Untugend beschritten und es bisher noch niemals bereut. Die Befolgung von Regeln war in seinen Augen nichts anders als Schwäche und Duckmäusertum. Er kannte noch die Zeiten, als seine Heimat eine kleine Sowjetrepublik gewesen war und das Überleben von der perfekten Anpassung an die kommunistische Partei abhing. Damals war Lacis nach außen hin ein aalglatter Parteisoldat gewesen, während er mit Devisenschmuggel und Zuhälterei heimlich den Grundstock für sein späteres Verbrecherimperium legte.

Nun trat Juri auf ihn zu.

»Fehlt Ihnen nichts, Herr?«, fragte er besorgt.

Lacis schüttelte den Kopf. Er freute sich nun auf einen Besuch im Polizeipräsidium. Vielleicht würde er sogar die neuen Europol-Fahnder kennenlernen.

6

Der Schrecken stand der jungen uniformierten Polizistin ins Gesicht geschrieben. Bea konnte gut nachvollziehen, wie die niederländische Kollegin sich fühlen musste. Auch die Europol-Beamtin war vom Anblick der ausgebluteten Leiche irritiert.

Einer jungen Frau in Prostituierten-Aufmachung war die Kehle durchschnitten worden. Die Leiche lag auf dem Boden des schmalen Durchgangs, der Trompettersteeg hieß.

»Meiner Meinung nach ist das Opfer auf dem Dach ermordet worden«, sagte Morel und deutete nach oben. »Anders dürften die Blutspuren dort oben an der Wand kaum zu erklären sein.«

Im Trompettersteg herrschten schlechte Lichtverhältnisse. Der Amsterdamer Nachmittagshimmel war stark bewölkt, gelegentlich gab es ein wenig Sprühregen. Bea musste sich eingestehen, dass sie selbst die rötlichen Schlieren nicht sofort bemerkt hatte. Allerdings war sie zunächst völlig auf die Tote konzentriert gewesen. Die Augen der jungen Frau waren gebrochen, ihr Mund halb geöffnet. Ob sie versucht hatte, um Hilfe zu rufen? Falls das zutraf, hatte es nichts genutzt.

»Hoofdagent Dekker hat das Opfer gefunden, als sie und ihr Kollege während einer routinemäßigen Fußstreife hier durchgekommen sind.«

De Bruins Stimme riss Bea aus ihren Gedanken. Sie wandte sich an den holländischen Ermittler.

»Und worin besteht der Zusammenhang zwischen dieser Frau und Viktor Lacis? Ist ihre Identität überhaupt schon bekannt?«

Der Kriminalist schüttelte den Kopf, sein Gesicht zeigte einen Ausdruck des Bedauerns.

»Ich vermute, dass die Ärmste zumindest indirekt für Lacis gearbeitet hat. In dem Gebäude hier auf der linken Seite befindet sich die Honolulu Paradise Bar, die einem von Lacis‘ Strohmännern gehört. Sein Name ist Albert Kerk.«

Bea nickte grimmig.

»Lassen Sie mich raten: Dieser Kerk hat von Viktor Lacis noch nie etwas gehört, und die beiden Männer sind auch noch nicht zusammen gesehen worden.“

»Sie lernen schnell, Frau Ahlers.«

»Danke für die Blumen«, erwiderte Bea. »Also hatte die Tote nichts bei sich, wodurch sie identitifiziert werden könnte?«

Bea kam sich selbst blöd vor, weil sie diese Frage gestellt hatte. Die Leiche war halbnackt. In ihrem schwarzen Spitzenslip ließ sich gewiss kein Reisepass verstecken. Abgesehen davon, dass die Menschenhändler ihren Opfern stets die Personalpapiere abnahmen.

Morel schien sich immer noch dafür zu interessieren, wie die Frau in die Gasse gelangt war. Er hatte einen Laser-Entfernungsmesser aus der Tasche gezogen und ließ den Lichtstrahl über die Backsteinmauer gleiten. Eigentlich war die Spurensicherung dafür zuständig, solche Untersuchungen vorzunehmen. Die Kriminaltechniker waren bereits auf dem Weg, und es konnte gewiss nichts schaden, wenn die Europol-Ermittler sich selbst Datenmaterial beschafften.

Bea kniete sich neben die Tote, um sie sich genauer anzuschauen. Wegen der schlechten Lichtverhältnisse nahm sie ihre Taschenlampe zu Hilfe. Die Kommissarin hatte schon viele Messerwunden gesehen, nicht zuletzt an ihrem eigenen Körper. Ihrer Meinung nach war das Opfer von einem Profi getötet worden. Hier hatte kein rasender Psychopath gewütet, der mit mehreren Dutzend Messerstichen ein wüstes Gemetzel veranstaltete. Nein, der Schnitt war geradezu chirurgisch effizient gewesen. Die Kommissarin war sicher, dass der Täter nicht zum ersten Mal gemordet hatte.

»Die Frau ist also vom Dach gefallen oder gestoßen worden«, dachte Bea laut nach. »Ob sie an dem Sturz oder an der Halsverletzung gestorben ist, wird die Obduktion zeigen. Die Prellungen oder Brüche dürften post mortem entstanden sein. Auf diese kleine Wunde trifft das aber nicht zu.«

Die Ermittlerin hatte einen Kugelschreiber zur Hand genommen und deutete damit auf eine kleine Hautabschürfung am Hals, die wegen des vielen Blutes nur schwer zu erkennen war. De Bruin beugte sich vor.

»Worauf wollen Sie hinaus, Frau Ahlers?«

»Es scheint, als hätte der Mörder dem Opfer ein Kettchen abgerissen. Vielleicht hat sie es auch selbst getan. Sehen Sie, die rechte Faust!«

Nun bemerkte auch der Holländer, dass die eine Hand der Toten zur Faust geballt war. Es gelang Bea mit Mühe, den Griff der Leiche ein wenig zu lockern. Ein Silberkettchen mit Anhänger glitt zu Boden.

Die Kommissarin hatte bereits Latexhandschuhe übergestreift. Sie hob das Schmuckstück vorsichtig auf. Das Medaillon ließ sich öffnen, darin befand sich das Foto eines kleinen Mädchens.

Bea presste die Lippen aufeinander. Es ließ sie nicht kalt, wenn Kinder in einen Kriminalfall verwickelt waren. Die Familienähnlichkeit zwischen dem Opfer und dem Mädchen war unverkennbar. Entweder handelte es sich bei der Toten um die Mutter oder die ältere Schwester des Kindes. Diese Annahme erschien der Kommissarin zumindest plausibel.

Bea machte ein Foto vom Gesicht der toten jungen Frau. Womöglich würde die Obduktion ihre Identifizierung erleichtern. Falls das Opfer irgendwo in Europa bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, konnte auch ein Fingerabdruck- oder DNA-Abgleich Gewissheit bringen.

Die Kriminalistin wandte sich an ihren Dienstpartner.

»Wenn Sie weiter so in die Höhe schauen, werden Sie noch Genickstarre bekommen.«

Morel drehte sich zu ihr um. Seine Lippen waren zu einem schüchternen Lächeln geformt.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ermordung dieser Frau dem Täter leicht gefallen ist. Moralische Skrupel dürfte er nicht gehabt haben, aber Prostituierte sind für diese Leute doch letztlich Einnahmequellen. Und wer nicht mehr lebt, kann kein Geld mehr einbringen.«

Bea runzelte die Stirn.

»Das stimmt – vorausgesetzt, dass es sich bei dem Mörder wirklich um einen Luden handelt. Wir könnten es genauso gut mit einem durchgedrehten Freier zu tun haben.«

»Prinzipiell gebe ich Ihnen recht. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein wütender oder enttäuschter Kunde die Kehle mit einem so präzisen Schnitt durchtrennt.«

Die Kriminalistin schüttelte den Kopf.

»Es bringt nichts, im Nebel zu stochern. Ich will mit Kerk sowie sämtlichen Angestellten der Honolulu Paradise Bar sprechen. Und wenn das Opfer wirklich eine Tochter hat, müssen wir das Kind finden und retten. Die Vorstellung, dass ein kleines Mädchen in der Gewalt von Lacis‘ Schergen sein könnte, macht mich ganz verrückt.«

Sie zeigte Morel das Medaillon. Er nickte und raunte ihr zu: »Glauben Sie nicht, dass die holländischen Kollegen schon unzählige Male mit Kerk gesprochen haben?«

»Doch, das nehme ich an. Aber jetzt sind wir hier. Und wir wären nicht nach Amsterdam geschickt worden, wenn die hiesige Polizei mit Lacis allein fertig werden könnte.«

Bea hatte so laut gesprochen, dass alle Anwesenden sie hören konnten. Beliebt machte sie sich mit solchen Ansagen natürlich nicht. Doch das war ihr egal. Sie wollte in dieser Stadt keine Freunde fürs Leben finden, sondern das Netzwerk eines Schwerkriminellen zerschlagen.

De Bruin warf ihr einen gereizten Blick zu. Aber wer austeilt, muss auch einstecken können. Das war zumindest Beas Meinung.

7

Lacis bedauerte es, dass er seine neuen Widersacher im Polizeipräsidium nicht angetroffen hatte. Der Mafiaboss war wie ein ganz gewöhnlicher Zeuge einer Straftat behandelt worden. Die beiden Zivilfahnder hatten sich aus dem Staub gemacht, als wenn es sie nie gegeben hätte. Lacis‘ Aussage wurde von einer jungen Beamtin (oder Praktikantin?) aufgenommen, die das von ihm unterschriebene Papier in ihrer niedlichen Mädchenschrift gegenzeichnete.

In solchen Momenten bedauerte er es manchmal, dass er nicht mehr jung war. Doch es widersprach seinem Charakter, sich wegen unabänderlicher Dinge den Kopf zu zerbrechen. Lacis versuchte lieber, möglichst viel von seinen Plänen in die Tat umzusetzen. Und allzu viel Zeit blieb ihm nicht mehr, darüber machte er sich keine Illusionen.

Nachdem die junge Polizistin ihm einen guten Tag gewünscht hatte, kehrte der Alte gemeinsam mit Juri zu seinem Haus zurück. Sie nahmen eine Fahrrad-Rikscha, was bei dem Bodyguard offensichtlich nicht auf Begeisterung stieß. Lacis konnte seine Bedenken nachvollziehen, denn die beiden Männer saßen in dem wackligen Gefährt nebeneinander wie auf dem Präsentierteller. Ein Attentäter würde leichtes Spiel haben. Doch ein normales Amsterdamer PKW-Taxi war natürlich auch nicht gepanzert.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.08.2023
ISBN: 978-3-7554-5149-5

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