Cover

Eppendorf Mord - 1


Nina Cordes wachte auf. Die junge Frau spürte instinktiv, dass sie nicht mehr allein in ihrer Wohnung war. Oder litt sie an den Nachwirkungen eines Traums, aus dem sie soeben erwacht war? Hatte Nina sich noch nicht wieder in die Wirklichkeit gefunden? Ein Wunder wäre das nicht. Schließlich zeigten die rot leuchtenden Digitalziffern ihres Weckers 3.25 Uhr morgens an.

Da – wieder ein Geräusch!

Ninas Herz begann zu rasen. Der kalte Schweiß brach ihr aus. Die Töne drangen aus ihrem Wohnzimmer zu ihr ins Schlafzimmer herüber. Wer immer auch in ihre Wohnung eingedrungen war, verhielt sich sehr leise. Aber es ist eben für einen Menschen unmöglich, sich völlig lautlos zu bewegen. Jedenfalls in einer Wohnung mit spiegelglattem Parkettfußboden, wie die junge Frau sie bewohnte.

Plötzlich fiel Nina siedend heiß ein, dass sie im Wohnzimmer das Fenster nicht geschlossen hatte! In diesem sehr warmen Sommer ließ sie auch nachts ein Wohnzimmerfenster in Kippstellung. Damit es morgens in dem Raum nicht so stickig war. Doch sie wohnte im zweiten Stock. Außerdem war unter den Wohnzimmerfenstern keine Straße, sondern nur das Wasser des Isebek-Kanals. Daher glaubte Nina, nachts das Fenster in Kippstellung lassen zu können. Ein verhängnisvoller Irrtum, wie sie nun einsehen musste.

Der Eindringling machte noch einen Schritt. Er hatte vermutlich Gummisohlen unter seinen Schuhen, sonst wäre das Geräusch viel lauter gewesen. Nina hätte am liebsten laut um Hilfe geschrien. Ihre Nachbarin arbeitete schließlich bei der Polizei. Aber das war keine gute Idee, wie die junge Frau sofort erkannte. Das Haus war nämlich alt und hatte sehr dicke Wände. Heike Stein lag in der Wohnung nebenan vermutlich im Tiefschlaf. Oder sie war gar nicht da, weil sie einen Einsatz hatte.

Doch Polizei war schon das richtige Stichwort. Nina beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie nachts ihr Telefon immer mit ins Schlafzimmer nahm. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Mobilteil und tippte die Notrufnummer 110 ein.

Im nächsten Moment öffnete sich ihre Schlafzimmertür mit einem leichten Knarren. Gleichzeitig ertönte im Telefon das Freizeichen. Dann erklang eine männliche Stimme.

»Polizei.«

»Einbrecher in meiner Wohnung!«, schrie Nina. Nun war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Sie rief noch ihre Adresse mit Hausnummer in den Apparat.

Dann packte der Mann in Schwarz das Telefon und pfefferte es gegen die Wand. Das Mobilteil zerbrach. Der Eindringling musste große Kräfte besitzen. Das bekam Nina Cordes nun zu spüren, als er seine behandschuhten Hände um ihre Kehle legte. Unerbittlich drückte er zu. Die junge Frau mit den kurzen blonden Haaren wehrte sich verzweifelt. Aber sie kam gegen die unbändige Stärke des Maskierten nicht an.

Der Mörder ließ die Frau auf ihr Bett sinken, als kein Leben mehr in ihr war. Draußen gellte die Sirene eines Polizeifahrzeugs, das in Hamburg Peterwagen genannt wird. Der Verbrecher grinste zynisch. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und kletterte an der Fassade hinab. So wie er gekommen war.

Als die Streifenwagenbesatzung schließlich die Wohnungstür von Nina Cordes aufbrach, war der Killer bereits in Sicherheit.

2


Kriminalhauptkommissarin Heike Stein hatte das Gefühl, ein Drillbohrer würde direkt durch ihre Stirn getrieben. Sie brauchte einige Sekunden, um aus dem Tiefschlaf zu erwachen. Dann erkannte sie, dass der Drillbohrer in Wahrheit ihre Türschelle war.

Jemand klingelte bei ihr Sturm!

Jetzt hämmerte dieser Jemand auch noch mit der Faust gegen die Tür, und zudem ertönte eine laute Männerstimme.

»Hauptmeister Drewers hier! Sind Sie zu Hause, Frau Stein?«

Heike knipste ihre Nachttischleuchte an und schwang ihre langen Beine aus dem Bett. Bei dieser Junihitze schlief sie nur mit einem Slip und einem dünnen Nighty bekleidet. Daher streifte sie erst einmal ihren bodenlangen Morgenrock aus rotem Samt über, bevor sie zur Wohnungstür ging.

Obwohl die Kriminalistin so verschlafen war, hatte sie die Stimme sofort erkannt. Sonst hätte sie wohl auch kaum mitten in der Nacht einem Mann die Tür geöffnet. Hauptmeister Drewers war ein alter Hase bei der Schutzpolizei. Er arbeitete im Eppendorfer Polizeirevier. Heike wohnte nicht nur in diesem Stadtteil im Hamburger Norden, sie hatte auch schon oft genug dienstlich mit dem Hauptmeister zu tun gehabt.

Heike öffnete die Wohnungstür. Drewers hatte noch einen jungen Streifenbeamten bei sich, der kein Wort herausbrachte. Der zweite Polizist war ziemlich käsig um die Nase herum und schien mit einem Brechreiz zu kämpfen. Drewers wandte sich an den jungen Mann.

»Lars, geh’ doch schon mal runter und nimm’ die Kripo-Kollegen in Empfang. – Die Hauptkommissarin hier arbeitet zwar auch bei der Sonderkommission Mord, aber sie ist momentan gewiss nicht im Dienst. Wir müssen sie aber als Zeugin befragen.«

Der junge Polizist namens Lars starrte Heike an, als würde er einen Geist sehen. Dann rückte er die Mütze auf seinem Kopf gerade und ging hinunter, wie der Hauptmeister es ihm aufgetragen hatte.

»Armer Kerl«, brummte Drewers, als Lars außer Hörweite war. »Die erste Einsatznacht nach der Polizeischule – und schon gibt es eine Leiche zu sehen.«

Heike verlor spätestens in diesem Moment alle Reste ihrer Schlafmüdigkeit. Natürlich entging ihr nicht, dass die Wohnungstür ihrer Nachbarin sperrangelweit offen stand.

»Also ist jemand gleich nebenan getötet worden?!«

Drewers nickte.

»Du willst bestimmt einen Blick auf die Leiche werfen, Heike.«

»Darauf kannst du wetten!«

Unwillkürlich waren die Kriminalhauptkommissarin und ihr uniformierter Kollege zum vertrauten Du übergegangen, wie es bei der Hamburger Polizei üblich war. Heike siezte eigentlich nur ihren Vorgesetzten und andere Beamte, die in der Hierarchie über ihr standen.

Heike folgte dem Polizeikollegen in die Wohnung von Nina Cordes. Diese war gemütlich eingerichtet, genau wie Heikes eigenes Zuhause. Die Wohnungen waren ohnehin gleich zugeschnitten. Beide besaßen Küche und Bad, einen kleinen Flur mit Abstellkammer, ein großes Wohnzimmer mit Balkon sowie ein Schlafzimmer. Ein absoluter Traum in einer Stadt wie Hamburg, die unter chronischer Wohnraumnot leidet.

Aber Nina Cordes würde sich nie mehr an ihren idyllischen vier Wänden erfreuen können. Heikes Nachbarin lag tot quer über ihrem Bett. Ihre geöffneten Augen starrten zur stuckverzierten Zimmerdecke. Die Leiche war nicht nackt. Nina Cordes hatte vor ihrem Tod einen Seiden-Pyjama mit kurzen Hosen getragen. Sie war ganz offensichtlich von ihrem Mörder im Schlaf überrascht worden.

»Sexualdelikt?«, fragte Heike mit rauer Stimme.

Drewers schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht, jedenfalls nicht vollendet. – Kennst du die Tote, Heike?«

»Ja, es ist meine Nachbarin Nina Cordes. Ich bin hundertprozentig sicher. – Was meinst du mit nicht vollendet, Paul? Wurde der Täter gestört?«

»Gewissermaßen. Das Opfer hat es noch geschafft, vor der Tat die 110 anzurufen. Aber in der Alarmzentrale nannte sie nur ihre Adresse, nicht ihren Namen. Außerdem rief sie ins Telefon, dass Einbrecher in ihrer Wohnung seien. Natürlich sind wir sofort losgebraust. Aber da wir den Namen des Opfers nicht kannten, haben wir wertvolle Minuten verloren.«

»Wie seid ihr überhaupt ins Haus hineingekommen? Oder war die Haustür unten mal wieder sperrangelweit auf?«

»Nein, das nicht. Wir haben uns die Klingelschilder angesehen. An Frauennamen standen nur deiner und der von deiner Nachbarin neben den Klingelknöpfen. Wir haben einfach überall geschellt. Ein gewisser Herr Ulmer hat dann auf den Summer gedrückt.«

»Ja, Matthias Ulmer. Der wohnt unter mir. Arbeitet als Computerprogrammierer und hängt oft nächtelang vor seiner Kiste. Glück für euch, dass er wohl wach war. – Aber leider kamt ihr trotzdem zu spät.«

Drewers seufzte.

»Ja, Heike. Der Mörder muss fünf bis acht Minuten Zeit für den Mord gehabt haben. Als wir endlich die Tür aufgebrochen hatten, war der Vogel schon ausgeflogen. Er ist ganz offensichtlich durch das Wohnzimmerfenster getürmt. Jedenfalls war die Wohnungstür von innen abgeschlossen.«

»Dazu kommen wir später«, sagte Heike. Sie war gedanklich bereits mit der Aufklärung des Falls beschäftigt, obwohl sie bisher ja nur die Zeugin spielen durfte.

»Woher wusstet ihr denn, dass der Hilferuf von Nina kam? Ich hätte doch genauso gut dem Kerl zum Opfer fallen können.«

»Wir haben es nicht gewusst, sondern vermutet«, gab der uniformierte Polizist zurück. »Ich dachte mir, dass eine Polizeibeamtin sich bei einem Hilferuf zumindest mit Namen und Dienstgrad melden würde.«

»Da könntest du Recht haben«, murmelte Heike geistesabwesend. Sie konnte ihren Blick nicht von der Toten abwenden. Ob der Mord wohl lautlos über die Bühne gegangen war? Oder ob Nina verzweifelt um Hilfe gerufen hatte, während sie, Heike, nur wenige Meter entfernt von der Tat an der Matratze gehorcht hatte?

Drewers hielt ihr seine Zigarettenschachtel hin. Heike schüttelte den Kopf. Sie rauchte nicht. Aber sie konnte verstehen, wenn ein Raucher in diesem Moment Lust auf einen Glimmstängel bekam.

Heike fühlte sich jedenfalls hundsmiserabel. Jeder Mord war in ihren Augen ein Mord zu viel. Aber diese Tat ging ihr besonders an die Nieren. Und zwar deshalb, weil sie zu verhindern gewesen wäre. Wenn Heike nicht so fest geschlafen hätte …

»Mein Schlafzimmer ist direkt nebenan«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich habe selig gepennt, während Nina erwürgt wurde – sie wurde doch erwürgt, oder?«

»Die Würgemale an ihrem Hals sind jedenfalls nicht zu übersehen«, meinte der Streifenbeamte. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und nahm einen tiefen Lungenzug. »Alles Weitere werden die Schlaumeier von der Gerichtsmedizin schon rauskriegen. – Aber Heike, mach’ dich bloß nicht selbst verrückt. Falls du glaubst, du hättest eine Mitverantwortung – vergiss’ es!«

»Ich bin Kung-Fu-Kämpferin«, murmelte die Hauptkommissarin. »Ich brauche noch nicht mal eine Waffe, um meinen Gegner innerhalb von dreißig Sekunden auszuschalten.«

»Wie war das?«, hakte Drewers nach, der ihre Bemerkung akustisch nicht verstanden hatte.

»Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht. Wahrscheinlich hast du Recht, Paul. Aber es ist trotzdem … alles so seltsam diesmal.«

Heike konnte sich nicht erinnern, jemals als Zeugin bei einer Morduntersuchung gewesen zu sein. Als Ermittler erschien zunächst ihr Kollege Kriminaloberkommissar Bernd Engel auf der Bildfläche, der in dieser Nacht Tatortdienst hatte. Er staunte nicht schlecht, als er die Hauptkommissarin erblickte.

»Heike! Was machst du denn hier?«

»Ich wohne hier, Bernd. Also, in der Wohnung direkt neben dem Mordopfer.«

»Das ist ja ein Ding.« Der Mann von der Sonderkommission Mord zückte sein Notizbuch. »Ich wusste bisher nur, dass du in Eppendorf wohnst. Aber nun ausgerechnet in diesem Haus … wann hast du denn das Opfer zuletzt lebend gesehen?«

»Hm, das ist schon einige Tage her. Nina ist … war ja berufstätig, genau wie ich. Sie arbeitete bei einer Bank. Wir haben uns höchstens mal morgens oder abends kurz im Treppenhaus getroffen und gegrüßt. Einen näheren Kontakt hatte ich nicht zu ihr. Jede von uns lebte ihr eigenes Leben.«

Heike fühlte sich etwas merkwürdig in der Zeugenrolle. Aber momentan führte nun einmal ihr Kollege Bernd Engel die Untersuchung.

»Dann weißt du auch nicht, ob Frau Cordes vielleicht bedroht wurde?«

»Nein, sie hat nichts dergleichen jemals gesagt. Immerhin wusste sie, dass ich bei der Polizei arbeite. Also würde sie sich mir wohl anvertraut haben.«

Wieso eigentlich?, hakte Heike in Gedanken nach. Sie wusste so wenig über ihre ermordete Nachbarin. Wie konnte sie da sagen, wie Nina Cordes bei einer Bedrohung reagiert hätte? Heike ärgerte sich über sich selbst.

Der Kriminaloberkommissar machte sich einige Notizen. Dann sagte er: »Ich habe eine Großfahndung nach dem flüchtigen Mörder veranlasst. Allerdings haben wir überhaupt keine Täterbeschreibung. Wir können nur schlussfolgern, dass der Verbrecher irgendwie sportlich gekleidet sein muss. Sonst hätte er es nicht geschafft, in den zweiten Stock hochzuklettern und durch das Fenster einzusteigen.«

Bernd Engel deutete auf das geöffnete Fenster, das selbstverständlich bisher niemand geschlossen hatte. Möglicherweise gab es Spuren, die man nicht verwischen durfte.

»Sie hatte das Fenster wohl in Kippstellung«, dachte Heike laut nach. »Dann war es natürlich kein Problem für den Einbrecher, durch den Spalt zu greifen und sich Einlass zu verschaffen. Er benötigte noch nicht einmal Werkzeug. Ich habe mein Schlafzimmerfenster übrigens bei dieser Hitze auch immer gekippt.«

»Das solltest du besser geschlossen halten, Heike.«

»Bei dieser Hitze? Ich habe auf der Polizeischule gelernt, dass Einbrecher normalerweise höchstens bis zum ersten Stockwerk durch Fenster in Wohnungen eindringen. Aber dieser Fall ist wohl nicht normal. Allein schon, weil ich diesmal Zeugin bin. Und keine brauchbare Aussage machen kann!«

Ihr Kollege grinste.

»Es ist ja nicht deine Schuld, dass du so wenig Kontakt zu deiner Nachbarin hattest. – Ah, jetzt wird es allmählich voll hier!«

Der letzte Satz des Oberkommissars bezog sich auf die Männer, die nun eintraten. Es war Paul Sommer mit seinem Spurensicherungsteam von der Technischen Abteilung. Außerdem Dr. Lehmann, der Dienst habende Gerichtsmediziner. Er warf Heike einen überraschten Blick zu.

»Guten Morgen, Frau Stein. Das ist aber ein originelles Kleid, was sie da anhaben.«

»Das ist kein Kleid, sondern ein Morgenrock«, gab Heike zurück. »Ich wohne nämlich direkt nebenan und hatte noch keine Gelegenheit, mich anzuziehen.«

»Aha, ich verstehe.« Der Gerichtsmediziner schnitt ein Gesicht, als ob er sich soeben Heike im Nachthemd vorstellen würde. Dr. Lehmann war bekannt dafür, eine Vorliebe für gut aussehende junge Frauen zu haben. Aber dann wandte er sich sogleich der Toten zu. Er öffnete seine Arzttasche.

»Ich spendiere eine Runde frischgekochten Kaffee«, kündigte Heike an. Ihr Vorschlag stieß allerseits auf Begeisterung.

Die Kriminalistin kehrte in ihre eigene Wohnung zurück und schloss die Tür hinter sich. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume, während sie schnell in frische Unterwäsche, eine orangefarbene Caprihose und ein weißes T-Shirt schlüpfte. Heike füllte ihre Kaffeemaschine bis zum Anschlag mit Wasser und Kaffeepulver. Es kam selten genug vor, dass die alleinlebende Heike solche Mengen von der heißen aromatischen Flüssigkeit brauen wollte.

Heike hielt sich innerlich noch einmal die Tatsachen vor Augen. Ihre Nachbarin war ermordet worden, während sie selbst im Tiefschlaf gelegen hatte. Der Täter war durch ein Fenster in die Wohnung gekommen und auf demselben Weg auch wieder getürmt. Er hatte keine Zeit gehabt, sich an seinem Opfer sexuell zu vergehen. Oder eine solche Tat war von vornherein nicht geplant gewesen.

Lag vielleicht ein Raubmord vor? Das würden die Kollegen von der Spurensicherung schon herausfinden. Als der Kaffee fertig war, lud Heike die Kanne nebst Zucker und Milch sowie jede Menge Tassen auf ein Tablett. Sie ging damit zum Tatort hinüber. Einen Moment lang dachte sie, ob es nicht pietätlos wäre, direkt neben der Leiche ein fröhliches Kaffeetrinken zu veranstalten.

Aber ihre Kollegen machten dort nur ihren Job. Und den nahmen sie verflixt ernst. Heike hatte schließlich selbst bei der Sonderkommission Mord ständig mit dem Tod zu tun. Man musste sich als Polizistin einfach so viel Normalität bewahren wie möglich. Sonst konnte man diesen Beruf vergessen.

Heike wusste, wie ein Polizistenleben aussah. Sie selbst war zwar noch jung, aber sie hatte von Kindesbeinen an miterlebt, wie ihr Vater von seinem Beruf vereinnahmt wurde. Sönke Stein war bis zu seiner Pensionierung Revierleiter der legendären Davidwache auf St. Pauli gewesen. Nun lebten Heikes Papa und Mama als Pensionäre auf Mallorca, wo sie sich von den Ersparnissen eine Eigentumswohnung gekauft hatten.

Heike betrat die Nachbarwohnung. An der geöffneten Tür stand der junge Streifenbeamte namens Lars herum. Seine Gesichtsfarbe erinnerte immer noch an einen Kuchenteig.

»Du scheinst mir auch einen Kaffee vertragen zu können«, sagte Heike und streckte ihm lächelnd das Tablett entgegen.

»Danke.« Der Polizeikollege goss sich mit zitternden Händen eine Tasse halb voll und trank gierig von der belebenden Flüssigkeit. »Ich komme mir so dumm vor, weil mir schlecht geworden ist. Gewöhnt man sich mit der Zeit daran?«

Heike schüttelte den Kopf.

»Ich bin nun schon ein paar Jahre bei der Sonderkommission Mord. Aber ich werde mich nie daran gewöhnen, dass Menschen einfach so getötet werden, aus was für Gründen auch immer. Ich will es auch nicht.«

Die anderen Beamten nahmen den Kaffee ebenfalls begeistert entgegen. Dr. Lehmann hatte die erste grobe Untersuchung des Leichnams beendet. Er telefonierte gerade per Handy nach einem Metallsarg, um die Tote in die Pathologie schaffen zu lassen.

Heike hätte ihn gerne nach den Ergebnissen befragt. Aber sie musste sich auf die Zunge beißen. Schließlich führte Bernd Engel die Untersuchung. Und die Kriminalistin hätte es auch nicht gerne gesehen, wenn ihr selbst ein Kollege ins Handwerk pfuschen würde.

Aber der Gerichtsmediziner wandte sich nun gleichermaßen an den Oberkommissar und an Heike. Dagegen konnte sie natürlich nichts machen.

»Also, Frau Stein und Herr Engel. Ich kann Ihnen den Todeszeitpunkt ziemlich genau sagen. Die Leiche war ja noch warm, als ich hier eintraf. Exitus zwischen 3.35 und 3.40 Uhr. Todesursache ist eindeutig Sauerstoffmangel im Gehirn, verursacht durch Erwürgen. – Hier, sehen Sie selbst.«

Dr. Lehmann deutete mit seiner Hand, die von einem Untersuchungshandschuh bedeckt war, auf Nina Cordes’ Hals. Selbst für einen Laien waren die Würgemale deutlich zu bemerken, wie Heike fand.

»Es hat auch einen Kampf gegeben«, fuhr der Gerichtsmediziner fort. »Ich hoffe, unter den Fingernägeln der Toten Hautpartikel des Mörders zu finden. Dann wird es kein Problem sein, einem Verdächtigen mit Hilfe des DNA-Tests die Schuld eindeutig nachzuweisen.«

»Da müssten wir zunächst einen Beschuldigten zur Verfügung haben«, seufzte Bernd Engel. »Aber wir ermitteln ja auch erst seit noch nicht mal einer Stunde.«

»Wenn unsere Kollegen bei der Großfahndung Verdächtige festnehmen, könnten wir DNA-Tests durchführen lassen«, schlug Heike vor, bevor sie sich selbst stoppen konnte. Nun hatte sie sich doch eingemischt!

Aber der Oberkommissar nahm es ihr nicht krumm.

»Nicht schlecht, allerdings geht das ja nur auf freiwilliger Basis.«

»Ein Geschlechtsverkehr hat jedenfalls in den vergangenen zwölf Stunden nicht stattgefunden, auch kein erzwungener.«

Mit diesen Worten schaltete sich der Gerichtsmediziner wieder in das Gespräch ein. »Insofern kann ich Ihnen nicht mit Spermaspuren dienen.«

»Also ganz eindeutig kein Sexualdelikt«, vergewisserte sich Bernd Engel.

Dr. Lehmann wiegte den Kopf.

»Wir wissen natürlich nicht, was im Gehirn des Täters vor sich gegangen ist. Aber ich persönlich habe den Eindruck, dass er sofort und zielstrebig das Opfer erwürgt hat. Sehen Sie sich den Pyjama an. Die Kleidung ist nicht eingerissen oder gar zerfetzt. Der Mörder hat gar nicht erst versucht, sich an der Frau zu vergehen.«

»Vielleicht nur deshalb nicht, weil er ihren Anruf bei der Polizei mitbekommen hat«, sagte Bernd Engel. »Er konnte sich denken, dass innerhalb von wenigen Minuten eine Peterwagen-Besatzung anrücken würde.«

»Diese Schlussfolgerungen sind Ihr Bier«, meinte Dr. Lehmann und trank noch einen Schluck Kaffee. »Ich werde jedenfalls so bald wie möglich die Obduktion vornehmen. Dann kann ich Ihnen auch mit Sicherheit sagen, ob verwertbare Hinweise auf den Täter vorliegen.«

Wie Heike nebenbei erfuhr, war für das Spurensicherungsteam der Tatort nicht gerade ergiebig.

»Wir können davon ausgehen, dass der Täter durch ein offenes oder halb geöffnetes Fenster in die Wohnung geklettert ist«, sagte Paul Sommer von der Technischen Abteilung zu Heike und ihrem Kollegen. Sommer lehnte sich aus dem offenen Fenster und leuchtete mit seiner Taschenlampe die Fassade ab.

Zwei Stockwerke unter ihm gluckste das Wasser des Isebek-Kanals.

»Hier sind Kratzer im Verputz zu erkennen, etwas Farbe ist auch abgeblättert«, berichtete der Spurensicherer. »Das lässt allerdings keine Rückschlüsse auf Alter oder Aussehen des Mörders zu. Abgesehen davon, dass er wohl nicht allzu gebrechlich sein kann. Und auch nicht allzu schwer.«

»Sag’ das nicht«, warf Heike ein. »Es gab mal in Frankreich einen fassadenkletternden Hoteldieb, der über hundert Kilo auf die Waage gebracht hat. Stand in einer kriminalistischen Fachzeitschrift.«

»Wahrscheinlich auf der Witzseite«, bemerkte Bernd Engel trocken. »Das Gewicht von dem Mistkerl ist mir eigentlich egal. Ich gehe davon aus, dass wir es mit einem Sexverbrecher zu tun haben. Er wollte deine Nachbarin vergewaltigen, Heike. Und als er nicht zum Zuge kam, weil sie schon in unserer Alarmzentrale angerufen hatte, da sind bei ihm die Sicherungen durchgebrannt. Er hat sie aus Frustration und Wut erwürgt.«

Da war Heike völlig anderer Meinung. Aber sie hielt ihren Schnabel. Die Kriminalistin fand, dass sie sich schon genug in die Untersuchung eingemischt hatte. Aber Heike konnte nun einmal nicht aus ihrer Haut. Wenn unmittelbar vor ihrer Nase ein Verbrechen begangen wurde, dann wollte sie natürlich den Täter erwischen und vor Gericht stellen!

»Gibt es überhaupt einen Hinweis darauf, dass der Mörder ein Mann war?«

Diese Bemerkung konnte sich Heike nun allerdings doch nicht verkneifen. Paul Sommer zuckte mit den Schultern.

»Aus meiner Sicht nicht. Selbstverständlich können auch Frauen an einer Hausfassade hochklettern, wenn sie gut trainiert sind.«

»Für mich ist das die Tat eines Sexgangsters«, beharrte Bernd Engel. »Ich wette, dass die Tote auch nicht bestohlen wurde. Ein normaler Einbrecher sucht nach Bargeld und Kreditkarten. Aber dieser Kerl war auf etwas anderes aus.«

Heike riss sich beinahe gewaltsam vom Tatort los. Da sie in wenigen Stunden im Präsidium erscheinen musste, sollte sie besser nicht in Nina Cordes’ Wohnung herumstehen und mehr oder weniger schlaue Kommentare von sich geben.

Ich bin diesmal schließlich nur Zeugin, verflixt noch mal!, führte die Kriminalistin sich erneut vor Augen. Sie sammelte die inzwischen leeren Kaffeetassen ein und verabschiedete sich von den Anwesenden.

An Schlaf war jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Dazu war Heike viel zu aufgedreht. Sie stellte sich unter die Dusche und ließ abwechselnd heißes und kaltes Wasser über ihren Körper laufen.

Wie oft hatte Heike ihre Nachbarin in den vergangenen Jahren gesehen? Hundert Mal? Oder öfter? Aber die beiden jungen Frauen hatten jeweils immer nur ein paar Worte miteinander gewechselt. Jede von ihnen lebte eben ihr eigenes Leben.

Und nun war Nina plötzlich tot.

Heike fühlte, wie sie von einer völlig unprofessionellen Wut auf den Täter erfasst wurde. Das sollte einer Polizistin zwar nicht passieren, aber sie war eben auch nur ein Mensch. Außer von ihrem Zorn wurde sie von einem starken Schuldgefühl geplagt. Zwar hatte bereits ihr Kollege versucht, Heike eine Mitverantwortung an dem Verbrechen auszureden. Aber die Hauptkommissarin kam trotzdem nicht darüber hinweg, dass unmittelbar neben ihrem Schlafzimmer eine junge Frau brutal ermordet worden war.

Die Sonne ging auf und tauchte den Isebek-Kanal sowie die eiserne Hochbahntrasse am Eppendorfer Baum in rötlich-goldenes Licht. Das sah sehr schön aus. Aber an diesem Morgen fehlte Heike der Sinn für Naturschauspiele. Sie zog einen Hosenanzug aus leichtem Baumwollstoff an, dazu eine grüne ärmellose Bluse. Es würde wieder ein heißer Tag werden, wie das Küchenradio soeben verkündet hatte.

Doch selbst die glühendsten Sommertage waren in der Hansestadt immer noch recht erträglich. Hamburg war eine Stadt am Wasser, besaß mehr Brücken als Venedig. Durch das viele Wasser von Elbe, Alster und Bille sowie der zahlreichen Fleete erschien die Hitze immer noch viel erträglicher als in einer Stadt im Binnenland.

Heike zwang sich, etwas zu essen. Eigentlich war ihr der Appetit gründlich vergangen. Aber sie wusste genau: Wenn sie auf nüchternen Magen ins Präsidium fuhr, würde ihr der bohrende Hunger schon in wenigen Stunden jede Konzentration rauben.

Heike fuhr mit ihrem Mountainbike zur Arbeit. Ein eigenes Auto besaß sie nicht, denn im Dienst konnte sie ohnehin auf ein ziviles Einsatzfahrzeug mit Polizeifunkgerät zurückgreifen. Und in ihrer knappen Freizeit wollte sich die Kriminalistin nicht auch noch hinter das Lenkrad klemmen.

Zu dieser Morgenstunde war es noch angenehm kühl. Ein leichter Wind wehte von der Elbe her. Möwen kreischten, schienen dabei in der Luft zu verharren. Heike konnte die Tiere nicht ansehen, ohne sofort wieder an den Mörder denken zu müssen. Frei wie ein Vogel, so war dieser Kerl wohl leider ebenfalls. Es gab keine brauchbare Beschreibung von ihm. Er konnte problemlos im Dunkel der Millionenstadt untertauchen, nachdem er seine feige Tat begangen hatte.

Und das wurmte Heike ungemein.

Als die Kriminalistin wenig später die Räume der Sonderkommission Mord im Polizeipräsidium betrat, musste sie aber doch lächeln. Heike freute sich einfach, dass Ben Wilken bereits an seinem Platz saß.

Ben blickte von seiner Akte auf, als Heike an ihren Schreibtisch trat. Die Büromöbel der beiden Ermittler standen einander gegenüber.

»Guten Morgen, Heike. Ehrlich gesagt siehst du heute aus wie ein Grottenolm.«

Heike lächelte, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte. Aber sie nahm ihrem Kollegen seinen Spruch nicht krumm. Höchstwahrscheinlich hatte er damit nämlich Recht.

»Ich bin auch nicht besonders gut drauf, Ben. Du rätst nie, was heute Nacht bei uns im Haus passiert ist.«

Die Hauptkommissarin schilderte mit ein paar knappen Sätzen, was seit dem Sturmläuten an ihrer Wohnungstür geschehen war. Ben stieß langsam die Luft aus den Lungen.

»Das ist ja wirklich hart, Heike. Hoffentlich kommt bei der Großfahndung etwas heraus.«

Heike nickte.

»Wir werden wohl gleich mehr darüber erfahren.«

Damit meinte sie die Morgenbesprechung, die wenige Minuten später im Konferenzraum der Abteilung begann. Die Ermittler versammelten sich an dem langen Tisch. Gerade noch pünktlich kam Dr. Clemens Magnussen hereingeschossen. Als Leiter der 7. Mordbereitschaft nahm er am Kopfende des Tisches Platz und blickte in die Runde. Wie fast immer hatte er seine Tabakspfeife in den Mundwinkel geklemmt. Nun fand sich auch Bernd Engel ein, für den mit der Morgenbesprechung sein Nachtdienst zu Ende ging. Dr. Magnussens Blick wanderte von Bernd Engel zu Heike und wieder zurück.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Da gibt es ja wohl einen etwas ungewöhnlichen Fall, von dem Herr Engel mir soeben berichtet hat. Frau Stein tritt diesmal als Zeugin auf, wie ich höre.«

Bernd Engel gab für alle Anwesenden noch einmal eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse in Heikes Wohnhaus an der Isestraße.

»Gibt es schon Ergebnisse von der Großfahndung?«, fragte Oberkommissarin Melanie Russ.

»Drei Festnahmen«, bestätigte der Kriminaloberrat nickend. »Dunkel gekleidete Kerle, die sich verdächtig benahmen und keine Personalpapiere bei sich trugen. Ich hoffe nur, dass wir den DNA-Test bald machen können und sich die Festgenommenen freiwillig zur Teilnahme bereit erklären.«

Heike nickte. Sie persönlich glaubte nicht, dass der Mörder unter diesen drei Verdächtigen war. Aber sie hielt sich lieber zurück. Denn wenn sie eine entsprechende Bemerkung machte, kannte sie die Reaktion ihres Vorgesetzten schon jetzt: ›Glauben können Sie in der Kirche, Frau Stein. Bei einer kriminalistischen Untersuchung zählen nur die Fakten.‹

Erschrocken fragte Heike sich selbst, ob sie vielleicht laut gesprochen hatte. Denn Dr. Magnussen bedachte sie nun mit einem seltsamen Blick. Er sagte:

»Am besten übernehmen Sie den Fall, Frau Stein. Es ist zwar etwas ungewöhnlich, da Sie gleichzeitig auch Zeugin sind. Aber es verstößt nicht gegen die Vorschriften. Herr Engel war ja heute Nacht nur vor Ort, weil er Tatortdienst hatte. Ich brauche ihn ansonsten dringend für eine Beschattung im Colonnaden-Fall. Da hat er sich schon sehr stark eingearbeitet.«

Heike nickte abermals.

»Ja, ich übernehme den Fall gerne, Herr Kriminaloberrat.«

»Gut. Sie haben es ja auch nicht so weit zum Tatort, Frau Stein!«

Dr. Magnussen lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hätte. Aber gleich darauf wurde er wieder ernst.

»Ich gehe davon aus, dass wir es hier mit einem geplanten Sittlichkeitsdelikt zu tun haben. Am besten schließen Sie sich mit den Kollegen von der Abteilung für Sexualstraftaten kurz.«

Davon war Heike zwar nicht so überzeugt, aber ausschließen konnte man es wirklich nicht. Außerdem musste sie sich noch die drei Kerle vorknöpfen, die während der Großfahndung den uniformierten Kollegen ins Netz gegangen waren.

Es wartete also viel Arbeit auf die junge Hauptkommissarin. Aber das nahm sie gerne in Kauf, wenn am Ende die Verhaftung von Nina Cordes’ Mörder erfolgte.

3


Die drei verdächtigen Männer waren an unterschiedlichen Orten im Hamburger Stadtgebiet aufgegriffen worden. Einer in Farmsen, ein anderer in Wandsbek, der dritte in Billstedt. Zwei von den Dunkelgekleideten hatten die Beamten wieder auf freien Fuß gesetzt, da sie einen festen Wohnsitz nachweisen konnten. Nur der dritte Mann saß noch in einer Arrestzelle.

Heike fuhr zu dem Polizeirevier in Wandsbek. Sie benötigte allerdings keine zehn Minuten, um diesen Gefangenen von ihrer Verdächtigenliste zu streichen. Er war obdachlos, stark heruntergekommen und körperlich ziemlich geschwächt. Man musste topfit sein, um an einer Hausfassade hochklettern zu können.

»Wissen Sie, warum man Sie festgenommen hat?«, fragte Heike, nachdem sie sich mit Namen und Dienstgrad vorgestellt hatte. Außerdem belehrte sie den Beschuldigten über seine Rechte.

»Äh, die anderen Bull… äh … Beamten haben was von Mord gefaselt. Aber ich hab’ keinen umgelegt«, nuschelte der Kerl.

»Wären Sie bereit, sich einem DNA-Test zu unterziehen?«, erkundigte sich die Hauptkommissarin.

»Tut das weh?«

»Nein. Der DNA-Test ist auch als genetischer Fingerabdruck bekannt. Blut, Sperma, Haare und Hautpartikel eines jeden Menschen sind unverwechselbar. Falls Sie einverstanden sind, entnehme ich bei Ihnen eine Speichelprobe. Dann können wir Ihren Gen-Code mit dem des Mörders vergleichen. Wenn Sie die Tat nicht begangen haben, müssen Sie nichts befürchten.«

»Na, wenn das so ist …«

Der Dunkelgekleidete riss seinen Rachen auf. Der Mundgeruch war betäubend. Heike ging mit einem langen Holzspachtel zu Werke. Sie verstaute die Probe sorgfältig in einem dafür vorgesehenen Gefäß.

»Da Sie keinen festen Wohnsitz haben, müssen wir Sie einstweilen noch in Untersuchungshaft halten«, sagte Heike zum Abschied. »Aber ich gehe davon aus, dass noch vor dem Haftprüfungstermin die Analyse Ihrer DNA-Werte vorliegt. Falls Sie unschuldig sind, können Sie dann natürlich sofort gehen.«

Die Kriminalistin war nicht sicher, ob der dunkelgekleidete Mann sie richtig verstanden hatte. Der arme Teufel war doch ziemlich jenseits von Gut und Böse.

»Ist der Gefangene eigentlich ärztlich untersucht worden?«, erkundigte Heike sich bei den Dienst habenden Polizeikollegen.

»Selbstverständlich«, lautete die Antwort. »Schlechter Allgemeinzustand, so lautete die Diagnose des Amtsarztes. Aber es geht ihm nicht so dreckig, dass Haftverschonung zu rechtfertigen wäre.«

Heike ging ohnehin davon aus, dass der Obdachlose nicht der Mörder ihrer Nachbarin war. Und sie behielt Recht. Im gerichtsmedizinischen Institut hatte Dr. Lehmann Hautpartikel des Täters unter den Fingernägeln des Opfers festgestellt. Sie stimmten nicht mit den Werten des dunkelgekleideten Untersuchungsgefangenen überein. Auch die beiden anderen Männer, die von der Polizei nachts aufgegriffen worden waren, ließen den DNA-Test freiwillig über sich ergehen. Sie wussten offenbar genau, dass sie nichts zu verbergen hatten.

Auch von diesen beiden Beschuldigten wies keiner den passenden genetischen Fingerabdruck auf. Im Handumdrehen stand Heike wieder ohne einen Verdächtigen da. Aber dieser Frust gehörte nun einmal zur täglichen Polizeiarbeit.

Es wurde von Stunde zu Stunde heißer. Heike war in einem zivilen Dienst-Golf durch die ganze Stadt gekurvt, um die DNA-Proben zu nehmen, die Verdächtigen zu befragen und das Analysematerial zur Gerichtsmedizin zu bringen. Die Hitze hatte ihr den Appetit geraubt. Heike kehrte ins Präsidium zurück und löffelte nur schnell einen Jogurt in der Kantine.

Danach ging sie ins Dezernat für Sexualverbrechen hinüber. Sie wurde bereits von Hauptkommissarin Heidrun Weger erwartet. Die beiden Kriminalistinnen hatten schon im Lauf des Vormittags miteinander telefoniert. Daher war Heidrun Weger über die Morduntersuchung im Bilde. Sie bot Heike ihren Besucherstuhl an und tippte etwas auf der Tastatur ihres Computers. Heidrun war eine zierliche Brünette, die ihr langes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trug. Das gab ihr ein junges, mädchenhaftes Aussehen. Aber Heike wusste, dass ihre Kollegin über genauso viel Diensterfahrung verfügte wie sie selbst. Außerdem war die Arbeit im Dezernat für Sexualverbrechen gewiss ebenso hart wie bei der Mordbereitschaft. Dadurch gewann man zweifellos in kurzer Zeit viel Lebenserfahrung.

Heidrun ergriff das Wort.

»Du vermutest also, dass der Mörder im Isestraßen-Fall einer unserer ›Kunden‹ sein könnte, Heike?«

»Es ist zumindest eine von mehreren Möglichkeiten«, schränkte die blonde Kriminalistin ein. »Obwohl ja, wie ich dir schon erzählt habe, gar kein Sexualdelikt stattgefunden hat. Laut Gerichtsmedizin hat der Täter sein Opfer sehr zielstrebig erwürgt.«

»Auf jeden Fall kann ich dir einige Sexualstraftäter nennen, die in der Vergangenheit gewalttätig waren und die sich zurzeit auf freiem Fuß befinden.«

»Werden denn nicht alle Sittlichkeitsverbrecher gewalttätig?«, hakte Heike nach. Ihre Kollegin schüttelte den Kopf.

»Exhibitionisten, Schamverletzer also, haben meist ihr Ziel erreicht, wenn du einen Blick auf ihr Lieblingsspielzeug geworfen hast. Die wollen ihr Opfer gar nicht anfassen oder so. Das ist natürlich nur eine allgemeine Regel, von der es auch Ausnahmen geben kann. – Ich denke, bei deiner Morduntersuchung sollten wir uns ausschließlich auf Vergewaltiger konzentrieren. Zumal es einen Täter gibt, bei dem dieser Isestraßen-Mord durchaus ins Schema passen würde.«

»Wieso?«, fragte Heike. Sie spürte, wie ihr Jagdfieber erwachte.

»Weil seit einigen Wochen ein brutaler Serienvergewaltiger sein Unwesen treibt«, erklärte Heidrun mit harter Stimme. »Uns liegen bisher vier Anzeigen vor. Aus Eimsbüttel, Eppendorf, Hoheluft, dem Generalsviertel – also im Grunde ein sehr kleiner Aktionsradius. Nicht nur das spricht für denselben Täter, in allen vier Fällen. Der Mistkerl war stets dunkel gekleidet und maskiert. Er ist in die Wohnungen der Frauen eingedrungen und hat sich brutal an ihnen vergangen. Die Taten fanden übrigens immer nachts statt. Bisher gab es allerdings kein Todesopfer.«

Heike atmete tief durch.

»Jedenfalls hat dieser Täter offenbar keine Hemmungen, was Gewalttätigkeit angeht. Außerdem ist er immer noch auf freiem Fuß, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

»Leider.« Die Hauptkommissarin aus dem Dezernat für Sexualverbrechen seufzte. »Er hat durch das Wetter leichtes Spiel, Heike. Du glaubst nicht, wie viele Menschen in diesen Tagen bei offenem Fenster schlafen.«

Ich zum Beispiel, dachte Heike. Sie nahm sich vor, ab sofort ihre Fenster geschlossen zu halten. Die Sicherheit, im zweiten Stockwerk zu wohnen, hatte sich doch als trügerisch erwiesen. Wenn

Heike biss die Zähne zusammen.

»Hat dieser … Notzüchtiger irgendwo verwertbare Spuren hinterlassen? Ich denke da an unsere DNA-Analyse. Sperma, Blut oder …«

Heidrun schüttelte den Kopf.

»Negativ, Heike. Eines seiner Opfer hat nach der Tat zunächst eine Stunde lang geduscht, bevor es uns alarmiert hat. Eine andere Frau konnte sich erst eine Woche nach dem Verbrechen dazu durchringen, eine Anzeige zu erstatten. Wir haben also nichts in Händen, was für einen DNA-Test ausreichen würde.«

Heike nickte. Die Vergewaltigungsopfer hatten das Falscheste getan, was nur möglich war. Aber konnte sie es ihnen übelnehmen? Natürlich nicht. Es war zu viel von den Frauen verlangt, in einer solchen Lage an polizeiliche Spurensicherung und Beweisführung zu denken.

»Bei dem Mord an Nina Cordes hat der Täter noch nicht einmal versucht, ihr den Pyjama vom Leib zu reißen«, betonte Heike. »Allerdings hatte sie bereits den Notruf 110 angerufen. Und das muss er wohl auch mitbekommen haben.«

»Dann hat der Vergewaltiger sie wahrscheinlich aus Wut und Frustration erwürgt«, schlug Heidrun vor. »Weil er eben nicht mehr zum Zuge kommen konnte.«

Heike machte eine zustimmende Handbewegung. Sicher, das war natürlich ein einleuchtendes Motiv. Jetzt mussten sie den Mörder nur noch hinter Schloss und Riegel bringen.

Heike und Heidrun versprachen einander, ihre jeweiligen Ermittlungsergebnisse abzustimmen. So wusste die eine immer genau, was die andere bereits herausgefunden hatte.

Die blonde Kriminalistin kehrte nicht an ihren Arbeitsplatz zurück, sondern fuhr gleich noch einmal zum Tatort. Sie hätte sich gerne mit Ben ausgetauscht. Aber der dunkelhaarige Hauptkommissar arbeitete zurzeit an einem anderen Fall. Und Dr. Magnussen hatte auch nichts davon gesagt, dass Heike mit Bens Unterstützung rechnen konnte. Schließlich war gerade Urlaubszeit. Auch die Mordbereitschaft arbeitete nur mit unvollständiger Besetzung.


Heike betrat das Treppenhaus des Gebäudes an der Isestraße. Das Haus war noch vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erbaut worden, wie sie wusste. Solche alten Gebäude machten es einem Fassadenkletterer besonders leicht. Es gab zahlreiche Erker und Simse und Vorsprünge. Bei einem modernen Wohngebäude mit glatt verputzten Wänden hingegen bekam auch der geschickteste Einbrecher Probleme.

Trotzdem liebte Heike ihre Wohnung und hätte nicht woanders leben mögen. Allerdings ließ es sie natürlich nicht kalt, dass direkt nebenan ein Mord begangen worden war.

Heike stieg hoch in den zweiten Stock. Bernd Engel hatte ihr die Schlüssel der Toten übergeben. Der Oberkommissar hatte es auch übernommen, die Eltern des Opfers zu benachrichtigen, bevor er seinen Dienst beendete. Dafür war Heike ihm besonders dankbar. Diese Aufgabe gehörte ihrer Meinung nach zu den unangenehmsten Arbeiten, die eine Kripo-Beamtin ausführen musste.

In Ninas Wohnung war es angenehm kühl. Allerdings roch es muffig, weil alle Fenster geschlossen waren. Heike schwitzte trotzdem. Es herrschte einfach eine tolle Hitze. Die Hauptkommissarin ermahnte sich innerlich, die Wohnung nach ihrem Weggang wieder offiziell zu versiegeln.

Das Zuhause des Mordopfers war modern, aber gemütlich eingerichtet. Die meisten Möbel stammten offenbar von einem großen schwedischen Einrichtungshaus. Heike kannte diesen typischen Designstil. Sie hatte sich Einweg-Handschuhe aus Kunststoff übergezogen. Das tat die Kriminalistin stets an Tatorten, um nicht versehentlich Spuren zu vernichten.

Die Spezialisten von der Spurensicherung waren ja schon kurz nach der Bluttat vor Ort gewesen. Aber die Kollegen von der Technischen Abteilung suchten natürlich hauptsächlich nach Hinweisen auf den Täter selbst: Fingerabdrücke, Fußspuren, Haare, Speichel. Heike hingegen streifte nun durch die Nachbarswohnung, weil sie sich einen Hinweis oder Aufhänger für ein mögliches Motiv erhoffte. Wenn Nina Cordes ihren Mörder nämlich gekannt hatte, dann stand sie vor ihrem Tod in irgendeiner Beziehung zu ihm.

Auf dem Schreibtisch ihrer Nachbarin fand Heike ein Adressbuch. Sie blätterte darin. Nina Cordes hatte anscheinend einen großen Bekanntenkreis gehabt. Das Verzeichnis umfasste mehr als sechzig Namen, von Frauen wie von Männern. Unter dem Buchstaben E war allerdings ein Name mit Kugelschreiber dick durchgestrichen. Heike hielt sich das Büchlein näher vor die Augen. Aber es war unmöglich, noch etwas zu erkennen. Jedenfalls für sie.

Die Hauptkommissarin steckte das Adressverzeichnis in eine Plastiktüte für Beweisstücke. Die Technische Abteilung würde herausfinden, welcher Name und welche Telefonnummer dort zuvor gestanden hatten. Da war Heike sich sicher.

Sie war plötzlich sehr gespannt darauf, wen Nina Cordes vor ihrem Tod mit so viel Sorgfalt aus ihrem Adressbuch – und damit aus ihrem Leben – getilgt hatte.

In der Küche der Ermordeten hing ein Pinnbrett aus Kork. Dort hatte Heikes Nachbarin die typischen Notizen befestigt, die man an solchen Merktafeln findet: Sperrmülltermine, die Speisekarte eines Pizza-Bringdienstes, ein Hinweis auf die Wochenmärkte am Eppendorfer Baum. Nichts Besonderes also, abgesehen von einer Visitenkarte. Heike löste die Stecknadel und schaute sich das Kärtchen näher an.

ANDREA KERN – Zukunftsdeutung.

Diese Worte waren gedruckt, direkt darunter eine Mobilfunknummer und eine Adresse an der Wexstraße. Aber auf der Visitenkarte stand auch noch eine handschriftliche Notiz:

»Die Herzdame beschert dir großen Reichtum.«

Heike zog die Stirn kraus. Was sollte dieser Unsinn bedeuten? Aber dann fiel ihr wieder ein, dass die Herzdame eine Spielkarte aus dem französischen Blatt war. Deutete diese Andrea Kern die Zukunft aus Spielkarten? Das wäre der Kriminalistin normalerweise ziemlich egal gewesen. Aber der Hinweis auf den Reichtum … Heike hatte schon oft genug in ihrem Beruf erleben müssen, wie Menschen durch Geld oder durch die Aussicht auf Geld in dunkle Machenschaften verstrickt wurden. Traf das auch auf ihre Nachbarin zu?

Jedenfalls beschloss Heike auf der Stelle, sich diese Kartenlegerin einmal vorzuknöpfen.

Die Kriminalistin schaute sich noch weiter in der Wohnung um, fand aber zunächst keine augenfälligen Hinweise mehr. Als Heike aus dem Haus trat, wurde sie von brüllender Junihitze empfangen. Ihrer Ansicht nach passte das momentane Wetter eher zu afrikanischen Gefilden. Eine nördliche Metropole wie Hamburg war schlecht auf solche Temperaturen eingestellt. Aber zum Glück wehte dann und wann eine frische Brise, wenn die Temperatur vollends unerträglich zu werden drohte.

Heike flitzte zurück ins Präsidium und gab das Adressbuch in der Technischen Abteilung ab. Sie bat darum, den unleserlich gemachten Namen nebst Telefonnummer herauszufinden. Dann fuhr die Kriminalistin zu der Bank, bei der die Ermordete vor ihrem Tod gearbeitet hatte. Die Filiale befand sich am Wandsbeker Markt. Heike wusste, dass Bernd Engel die Bank bereits von Nina Cordes’ Tod verständigt hatte.

»Wir sind alle ganz bestürzt, Frau Kommissarin«, sagte der Filialleiter zu Heike, nachdem diese ihm ihren fälschungssicheren Kripo-Ausweis gezeigt hatte. »Frau Cordes war eine so sympathische Mitarbeiterin, beliebt im Kollegenkreis und bei den Kunden.«

»Ich bin damit beauftragt, den Mörder von Frau Cordes zu ermitteln«, erklärte Heike. »Daher interessiert mich, ob sie vielleicht einmal bedroht wurde. Fühlte sie sich eventuell verfolgt?«

Der Filialleiter zögerte für Heikes Geschmack einen Moment zu lange mit seiner Antwort.

»Äh, nein. Mir ist nichts dergleichen bekannt.«

»Warum lügen Sie?«, fragte Heike scharf. Sie saß dem Banker in seinem Büro gegenüber. Ihre Frage war ein Schuss ins Blaue gewesen. Aber die Kriminalistin hatte in ihrem Berufsleben einen sechsten Sinn für die Unwahrheit entwickelt. Auf diesen konnte sie sich meistens verlassen.

Der Filialleiter riss die Augen auf. Er knetete seine Hände, spielte mit seinem Ehering. Vermutlich überlegte er, ob er den Empörten spielen sollte. Aber dann gab er doch klein bei.

»Es tut mir leid, Frau Kommissarin«, sagte der Zeuge. »Ich hätte wissen müssen, dass man die Kripo nicht so leicht hinter das Licht führen kann. Aber ich wollte nicht indiskret sein.«

»Diskretion ist bei einer Morduntersuchung fehl am Platz«, sagte Heike trocken. »Also, was wissen Sie?«

Es gab noch eine Pause, weil der Banker offenbar nach den richtigen Worten suchte. Aber dann öffnete er wieder den Mund.

»Vor zwei oder drei Wochen gab es einen … Vorfall. Hier in der Bank, am helllichten Tag. Ein junger Mann kam hereingestürmt. Er ging sofort auf Frau Cordes los und machte ihr eine fürchterliche Szene.«

»Was genau tat er?«, hakte Heike nach. Sie schrieb fleißig mit.

»Er schüttelte unsere junge Kollegin und brüllte, sie würde zu ihm gehören. Und wenn sie das nicht einsehen würde, geschähe bald ein Unglück. Dieser Mensch benahm sich unmöglich, Frau Kommissarin. Ich griff schließlich ein und forderte ihn auf, unsere Bank auf der Stelle zu verlassen. Nun, ich bin kein Held, ehrlich gesagt. Und dieses Subjekt machte einen sehr gewalttätigen Eindruck auf mich. Einen Moment lang sah es wirklich so aus, als wollte er sich auf mich stürzen. Ich drohte mit der Polizei. Dann verschwand er und stieß widerwärtige Flüche aus.«

»Können Sie den Mann beschreiben? Kennen Sie seinen Namen?«

»Dieser Kerl ist dunkelhaarig, drahtig und circa 1,70 m groß. Und er heißt Wolfgang Evers. Das weiß ich, weil Frau Cordes es mir selbst gesagt hat. Dieser Auftritt war ihr schrecklich peinlich, was ich sehr gut verstehen kann. Dieser Wolfgang Evers ist wohl ihr Ex-Freund. Er konnte es nicht verwinden, dass sie sich von ihm getrennt hat. Das war jedenfalls die Erklärung, die Frau Cordes für sein Erscheinen hatte.«

Heike rückte im Geist den Ex-Freund ihrer Nachbarin ganz nach oben auf ihrer Verdächtigenliste. Aber natürlich musste sie auch andere Möglichkeiten berücksichtigen.

»Womit genau war Nina Cordes bei Ihnen beschäftigt?«, wollte die Kriminalistin von dem Filialleiter wissen.

»Frau Cordes arbeitete in der Kreditabteilung. Dabei hatte sie vor allem die Bonität, also die Kreditwürdigkeit, von Privat- und Geschäftskunden zu prüfen.«

»Wäre es denkbar, dass sich Ihre Mitarbeiterin durch diese Tätigkeit einen Feind gemacht hat?«

Der Banker hob die Augenbrauen.

»Natürlich sind Kreditnehmer nicht gerade begeistert, wenn wir ihnen ein Darlehen verweigern müssen. Aber dass jemand deswegen Frau Cordes tötet … wenn überhaupt, dann hätte dieser Kunde mich ermorden müssen. Denn ich entscheide letztlich über die Kreditvergabe. Frau Cordes und ihre Kollegen leisten dabei allerdings die Vorarbeit.«

Heike nahm sich trotzdem vor, diese Spur weiterzuverfolgen. Es war ja auch möglich, dass Nina Cordes in dunkle Geschäfte verwickelt gewesen war. Aber diese Überlegungen wollte die Hauptkommissarin dem Banker nicht auf die Nase binden. Stattdessen bat sie darum, noch mit den Kollegen der Toten sprechen zu dürfen.

Der Nachmittag verging mit zähflüssigen Befragungen. Lag es an der immer noch zunehmenden Hitze, dass es nicht voranging? Jedenfalls kam es Heike so vor, als ob sie auf der Stelle treten würde.

Die Banker schienen sich abgesprochen zu haben. Jeder von ihnen sagte mehr oder weniger das Gleiche über die ermordete Kollegin. Nina sei tüchtig, freundlich und allseits beliebt gewesen. Allerdings schien keiner der Zeugen näheren Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Immerhin gab es offenbar eine Mitarbeiterin, die auch privat enger mit Nina Cordes befreundet war, eine gewisse Anja Keppler. Ausgerechnet diese Kollegin hatte aber zurzeit noch Urlaub.

»Anja ist nach Portugal geflogen«, erklärte eine andere Bankerin. »Sie kommt aber morgen zurück.«

Heike nickte. Sie notierte sich den Namen der Freundin. Gleich am nächsten Tag wollte sie sich Anja Keppler zur Brust nehmen. Es war keine Zeit zu verlieren. Doch einstweilen konnte die Hauptkommissarin nichts weiter erreichen. Sie machte relativ pünktlich Feierabend, damit Dr. Magnussen nicht wieder wegen ihres Überstundenkontos meckerte.

Aber es fiel der blonden Hamburgerin schwer, sich von dem Fall zu lösen. Das war auch kein Wunder. Denn sobald sie ihre Wohnung betreten wollte, erblickte sie das polizeiliche Siegel an der nachbarlichen Wohnungstür. Sie hatte es schließlich selbst dort angebracht.

Heike fühlte sich ruhelos. Sie aß nur einen Jogurt im Stehen. Dann verließ sie ihre Wohnung wieder, um zum Kung-Fu-Training zu fahren.

»Heike, meine Tochter. Deine Gedanken sind wie die Bewohner eines Ameisenhaufens.«

Mit diesen Worten wurde die Kriminalistin von Meister Li empfangen, ihrem Kung-Fu-Lehrer. Sie musste innerlich schmunzeln. Der chinesische Kampfsportler erkannte meist nur mit einem Blick oder wenigen Worten, was mit ihr los war.

An diesem Abend wurde Heike von Meister Li jedenfalls dazu verdonnert, einem neuen Schüler die Schläge und Tritte seines Kung-Fu-Stils vorzuführen. Es waren insgesamt 108. Diese Zahl galt im Buddhismus als heilig, wie Heike wusste. Und sie strengte sich sehr an, um nichts durcheinander zu bringen. Jedenfalls ließ der Trainer sie die Bewegungen immer und immer erneut wiederholen. Plötzlich merkte Heike, dass sie völlig entspannt war. Li hatte es geschafft, durch das Trainingsprogramm ihre Nervosität zu beseitigen.

Sie empfand große Dankbarkeit für ihren Meister, als sie später zu Hause in ihrem Bett lag. Nach dem anstrengenden Training und dem Schlafmangel der vorherigen Nacht schlummerte Heike schnell ein. Am nächsten Morgen fühlte sie sich allerdings keineswegs erholt. Die Luft in ihrem Schlafzimmer war stickig und verbraucht. Sie hatte bei geschlossenem Fenster geschlafen, was bei der momentanen Hitzewelle für eine Backofen-Atmosphäre in ihrer Wohnung sorgte.

Undamenhaft fluchend stellte sich Heike unter die Dusche. Sie würde eine andere Lösung finden müssen. Das kalte Wasser auf ihrer Haut war herrlich erfrischend. Als sie sich gerade abgebraust hatte, klingelte das Telefon.

Heike griff sich ein Handtuch. Sie hoffte inständig, dass der Anruf wenigstens wichtig war. Die Hauptkommissarin hob den Hörer ab.

»Stein!«

»Hier spricht Heidrun Weger«, meldete sich die Polizeikollegin vom Dezernat für Sexualverbrechen. »Es ist noch sehr früh, aber …«

»Kein Problem, ich wollte sowieso gerade ins Präsidium fahren«, schwindelte Heike.

»Ich rufe jedenfalls an, weil wir möglicherweise den Mörder festnehmen konnten. Also den Mann, der diese Nina Cordes getötet hat.«

»Ist er bei dir im Präsidium?«, fragte Heike aufgeregt. Ihr Adrenalinspiegel schoss in die Höhe.

»Der Beschuldigte wird gleich hierher überstellt. Er ist leicht verletzt worden, aber durchaus vernehmungsfähig, wie der Arzt sagt. Der Täter muss noch ambulant behandelt werden. Und ich dachte, du willst gewiss am Verhör teilnehmen …«

»Darauf kannst du wetten!«, rief Heike. »In fünf Minuten bin ich da!«

Das war zwar leicht übertrieben. Aber nachdem Heike sich abgetrocknet, gestylt und in eine Caprihose sowie eine Seidenbluse mit kurzen Ärmeln geschlüpft war, radelte sie mit einem Irrsinnstempo zum Präsidium. Innerhalb einer Viertelstunde war sie wirklich dort. Mit hängender Zunge traf sie bei Heidrun ein.

»Du siehst so aus, als ob du einen Kaffee vertragen könntest!«, lachte die Kollegin. Heike warf ihr einen dankbaren Blick zu. Während die beiden Kriminalistinnen die heiße aromatische Flüssigkeit tranken und auf den Verhafteten warteten, brachte Heidrun Heike auf den neuesten Stand.

»Heute Morgen gegen 4.30 Uhr gab es eine versuchte Vergewaltigung. Ein dunkel gekleideter und maskierter Täter drang in die Wohnung einer jungen Frau am Leinpfad ein. Er versuchte, sich an ihr zu vergehen. Allerdings hatte er wohl nicht damit gerechnet, dass der Freund des Opfers genau um diese Zeit von der Nachtschicht kam.«

Die dunkelhaarige Kripobeamtin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Der Zeuge arbeitet bei einem privaten Wachdienst. Er hat den Täter überwältigt, wobei dieser einige Blessuren davongetragen hat. Die junge Frau hat einen Schock erlitten, ist ansonsten aber unverletzt geblieben.«

»Jedenfalls passt diese Tat vom Muster her bestens zu dem Mord an meiner Nachbarin«, dachte Heike laut nach. »Nächtliches Eindringen in eine Wohnung, dunkle Kleidung … Hast du schon etwas über den Täter in Erfahrung bringen können?«

Heidrun verzog das Gesicht, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte.

»Es handelt sich um einen gewissen Norbert Hanner. Er ist in unserer Abteilung kein Unbekannter, Heike. Bereits vor acht Jahren hat er zwei Notzuchtverbrechen begangen. Oder besser gesagt hat man ihm diese beiden Taten nachweisen können. Ich möchte nicht wissen, wie viele ähnliche Verbrechen er begangen hat und damit ungeschoren davongekommen ist.«

»Wieso befand sich dieser Vogel überhaupt auf freiem Fuß?«, wunderte sich Heike. Aber gleich darauf beantwortete sie ihre Frage selbst. »Nein, sag’ nichts, Heidrun. Ich tippe mal auf die Psychologen, richtig?«

Die Kollegin aus dem Dezernat für Sexualverbrechen nickte.

»Hanner wurde nach diesen beiden Taten vor acht Jahren in die Nervenheilanstalt eingewiesen. Die Gehirnklempner meinten, ihn erfolgreich therapiert zu haben.«

Heike konnte die Frustration verstehen, die aus den Worten ihrer Kollegin sprach. Polizeiliche Arbeit von Monaten wurde auf einen Schlag zunichte gemacht, wenn durch ein psychologisches Gutachten ein gefährlicher Gewalttäter wieder auf die Öffentlichkeit losgelassen wurde.

Doch bevor Heike solchen trübsinnigen Gedanken weiterhin nachhängen konnte, wurde die Ankunft des Beschuldigten im Präsidium gemeldet. Zwei Justizwachtmeister brachten Norbert Hanner direkt in einen Verhörraum. Heike bemerkte mit einer gewissen Schadenfreude, dass die Nase des Sexstrolchs von einem Wundverband bedeckt war.

Hanner war ein mittelgroßer Mann von nichts sagendem Äußeren. Nur sein stechender, heimtückischer Blick wies auf die Gefährlichkeit dieses Täters hin.

Heidrun forderte den Beschuldigten auf, Platz zu nehmen. Hanner setzte sich an den einzigen freien Stuhl, der sich in dem kleinen Verhörraum befand. Die beiden anderen Sitze wurden von den Kriminalbeamtinnen eingenommen. Heidrun klärte den Täter über seine Rechte auf und wollte sein Einverständnis, das Verhör mit Tonband aufzunehmen.

»Was soll der Schmus?«

Hanner hatte eine raue, unangenehme Stimme.

»Ich habe Mist gebaut, na und?! Ich wollte der Tante nur ihre Brieftasche klauen. Oder ihre Sparbücher, Scheckheft, was weiß ich. Da müsst ihr Bulletten doch nicht gleich so einen Zwergenaufstand machen.«

»Was erlauben Sie sich?«, blaffte Heike zurück, bevor Heidrun etwas entgegnen konnte. »Wollen Sie uns für dumm verkaufen? Wie ich erfahren habe, sind Sie direkt auf Ihr Opfer losgegangen und haben ihr das Nachthemd zerrissen. Sie wird ihre Brieftasche oder ihre Sparbücher ja wohl kaum im Bett gelagert haben!«

»Wissen Sie’s?!« Hanner grinste frech. »Was meinen Sie, wo manche Leute ihre Spargroschen bunkern. – Ich habe einen Bruch gemacht, okay. Das gebe ich zu. Etwas anderes können Sie mir nicht beweisen.«

»Sie wollten die Frau missbrauchen«, sagte Heidrun dem Täter auf den Kopf zu. »Und das werden wir Ihnen beweisen.«

»Na dann – viel Vergnügen! Kann man hier eigentlich rauchen?«

»Wenn es sein muss …«

Heike fischte eine Zigarettenschachtel aus ihrer Jacke. Sie war zwar überzeugte Nichtraucherin, kaufte aber alle Jubeljahre eine Packung, um daraus kettenrauchenden Ganoven anbieten zu können. Sie ging zu Hanner hinüber, steckte ihm einen Glimmstängel in den Mund und gab ihm Feuer. Die Hände des Gefangenen waren immer noch mit Handschellen gefesselt.

Die Hauptkommissarin bemerkte, wie der Kerl intensiv ihre Figur taxierte. Ihr drehte sich beinahe der Magen um.

Heike hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Das vereitelte Verbrechen, bei dem Hanner überwältigt wurde, interessierte sie nur am Rande. Ihr ging es darum, einen Mord aufzuklären.

»Wo waren Sie in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni, Herr Hanner?«

»Häh? Das war doch die Nacht vor der Nacht, als ich den Bruch gemacht habe.«

»Erraten. Und was haben Sie in dieser Nacht getan?«

»Gepennt.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Nee, Frau Kommissarin. Ich bin nur ein einsamer Junggeselle …«

Ein einsamer Junggeselle, der Frauen vergewaltigt, dachte Heike erbost. Aber sie sagte: »Demnach könnte es durchaus sein, dass Sie gegen 3 Uhr morgens in ein Haus in der Isestraße eingedrungen sind und dort eine junge Frau erwürgt haben.«

»Was?!« Hanners ironische Fassade bröckelte. Er starrte Heike mit einer Mischung aus Furcht und Hass an. »Ihr blöden Hühner wollt mir was anhängen! Aber nicht mit mir! Ich will meinen Anwalt sprechen!«

»Das ist Ihr gutes Recht«, entgegnete Heike zuckersüß. »Übrigens können Sie sich leicht von jedem Verdacht rein waschen, indem Sie einem DNA-Test zustimmen. Wir besitzen nämlich Gewebeproben des Mörders. Wenn Sie es nicht waren, lässt sich Ihre Unschuld sehr leicht beweisen.«

Diese Bemerkung brachte Hanner aus dem Konzept. Er nahm die Zigarette mit seinen gefesselten Händen aus dem Mund und paffte eine Weile vor sich hin. Der Täter schien nachzudenken. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Mörder? Wie bitte? Ich … ich sage nichts mehr aus. Erst will ich mit einem Anwalt reden.«

Heidrun ließ den Beschuldigten von uniformierten Kollegen fortschaffen, damit er seinen Anruf tätigen konnte. Inzwischen gönnten sich die beiden Kriminalistinnen eine Pause. Heike kochte vor Wut.

»Dieser gemeine Schänder! Wie hältst du es bloß mit solchen Typen aus, Heidrun? Der ist doch völlig verstockt! Manchmal wünsche ich mir, bei der indischen Polizei zu arbeiten …«

Die Kollegin vom Dezernat für Sexualverbrechen hob eine Augenbraue.

»Das war kein guter Spruch, Heike.«

Heidrun wusste natürlich genau, was Heike mit ihrer Anspielung auf die indische Polizei meinte. Die Ordnungskräfte des großen asiatischen Landes waren weltweit berüchtigt für ihre Brutalität. Dort geschah es immer wieder, dass ein Geständnis aus dem Angeklagten herausgeprügelt wurde.

Heike schlug die Augen nieder.

»Ja, das war ein dummer Spruch. Ich hab’s nicht so gemeint, Heidrun. Ich fühle mich bloß so hilflos.«

Die dunkelhaarige Kollegin legte Heike freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.

»Das geht mir manchmal auch so. Aber wenn Hanner der Mörder ist, dann kann er uns nicht mehr entwischen. Wegen der versuchten Vergewaltigung in der vorigen Nacht haben wir ihn auf jeden Fall am Schlafittchen. Du kannst also in aller Ruhe deine Ermittlungen fortsetzen. Selbst wenn der Vogel heute nicht mehr singt – es wird ihm nichts nützen.«

4


Der Vogel sang wirklich nicht, weder an diesem Tag noch am Tag darauf.

Schließlich aber erklärte sich Dr. Helmut Laubach, der frisch ernannte Prozessbevollmächtigte des Vergewaltigers, großzügig zu einem DNA-Test seines Mandanten bereit.

Norbert Hanner war laut Testergebnis nicht der Mörder von Nina Cordes. Die genetischen Fingerabdrücke stimmten absolut nicht miteinander überein.

Heikes Laune sank auf den Nullpunkt, während die Außentemperaturen kletterten. Inzwischen war wenigstens Anja Keppler aus dem Urlaub zurück, die Kollegin und Freundin von Nina Cordes. Die Kriminalistin fuhr noch einmal zum Wandsbeker Markt. Anja Keppler wirkte blass trotz ihrer Urlaubsbräune.

»Ich war eigentlich gut erholt, aber Ninas Tod hat mich getroffen wie ein Keulenschlag«, bekannte die Bankerin, als sie Heike im Pausenraum des Kreditinstituts gegenübersaß. »Nina war so lebenslustig, immer vergnügt … Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie tot sein soll.«

Anja Keppler tupfte sich einige Tränen von den Wangen. Sie war eine zierliche sommersprossige Frau. Ihr Blondhaar war um einige Töne dunkler als das von Heike. Die Hauptkommissarin nippte an dem Mineralwasser, das die Bankerin ihr angeboten hatte.

»Wir verfolgen verschiedene Spuren, um den Täter zu ermitteln, Frau Keppler. Für mich ist es wichtig, ob Nina Cordes irgendwelche Feinde hatte. Menschen, die ihr ans Leben wollten. Aus was für Gründen auch immer.«

»So gut kannten wir uns auch wieder nicht«, wich die Bankerin aus. Aber damit biss sie bei Heike auf Granit. Die Hauptkommissarin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Wollen Sie mich veräppeln?«, fragte sie scharf. »Erst weinen Sie sich die Augen aus dem Kopf um Ihre Freundin – und dann behaupten Sie, Nina Cordes gar nicht so gut gekannt zu haben! Könnten Sie sich vielleicht einmal entscheiden?«

Heike machte es keinen Spaß, die wildgewordene Furie zu spielen. Vor allem deshalb nicht, weil sie Anja Keppler im Grunde gut leiden konnte. Aber sie musste ein Kapitalverbrechen aufklären. Mit ihrem beruflichen Instinkt hatte die Kriminalistin schnell erkannt, dass ihr Gegenüber sich vor etwas fürchtete. Und es gab nur ein Mittel, diese Angst zu überwinden: Nämlich die Zeugin so unter Druck zu setzen, dass sie trotzdem aussagte.

»Es … es ist privat«, stammelte Anja, die schon ziemlich eingeschüchtert wirkte.

»Wenn Sie nicht alles sagen, was Sie wissen, machen Sie sich möglicherweise der Mittäterschaft schuldig«, drohte Heike. Und dann startete sie einen Versuchsballon: »Außerdem wissen wir schon einiges über Herrn Wolfgang Evers.«

Heike war auf dem richtigen Dampfer, wie sie nun sofort bemerkte. Bei der Erwähnung von Nina Cordes’ Exfreund loderte die Angst nur noch höher in Anjas Augen auf.

»Wenn Sie schon so viel erfahren haben …«, stammelte die Bankerin.

Heike machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich will das hören, was Sie wissen, Frau Keppler. Und zwar lückenlos und ohne Umschweife.« Sie fügte freundlicher hinzu: »Außerdem müssen Sie keine Angst haben, weil Sie eine Aussage machen. Die Polizei wird Sie schützen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Anja Keppler brachte ein kleines Lächeln zu Stande. Dann überlegte sie offenbar, wo sie mit ihrer Geschichte beginnen sollte. Und schließlich fasste sie sich ein Herz und öffnete den Mund.

»Nina lernte Wolf Evers vor einem halben Jahr kennen. Er hat ja diese private Ballettschule, wie Sie zweifellos wissen, Frau Kommissarin. Nina wollte damals etwas für ihre Fitness tun und meldete sich zu einem Ballettkursus an. Sie konnte ja nicht ahnen, dass sie sich gleich in ihren Lehrer verlieben würde.«

»Nina Cordes kam also durch den Ballettkursus mit Wolfgang oder Wolf Evers zusammen«, vergewisserte sich die blonde Hauptkommissarin.

Die Bankerin nickte.

»Ja, genau. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick, wie man so schön sagt. Und zwar von beiden Seiten. Auch Wolf war sofort für meine Freundin Nina entflammt. Allerdings hatten seine Gefühle von Anfang an etwas Besitzergreifendes an sich.«

»Wie meinen Sie das, Frau Keppler?«

»Wolf war unglaublich eifersüchtig. Er ist ja ein sehr attraktiver Mann. Das fand nicht nur Nina, auch ich bin dieser Meinung. Aber obwohl er so gut aussieht, betrachtet Wolf Evers jeden anderen Mann als Rivalen. Er hätte Nina am liebsten eingesperrt, glaube ich. Der Gedanke, dass sie hier in der Bank täglich mit männlichen Kollegen und Kunden zu tun hatte, machte ihn fast wahnsinnig.«

»Das klingt ja nach einem richtigen Pascha«, warf Heike trocken ein.

»Ja, das kann man wohl sagen, Frau Kommissarin. Aber denken Sie bitte nicht, dass Nina nur gelitten hätte in ihrer Beziehung mit Wolf. Er muss ein fantastischer Liebhaber sein. Jedenfalls hat sie mir das öfter anvertraut, von Frau zu Frau eben. Wolf hat Nina wohl im Bett wirklich glücklich machen können. Nur in anderer Hinsicht wurde meine Freundin unglücklich durch ihn.«

»Wie meinen Sie das?«

»Weil Wolf Nina seelisch fast erdrückte mit seinem Kontrollwahn, Frau Kommissarin! Wenn Nina sich mit mir verabredete, dann ging es ja noch. Weil ich eben auch eine Frau bin. Trotzdem haben wir es öfter erleben müssen, dass Wolf uns nachspionierte. Er wollte abchecken, ob sich seine Freundin nicht vielleicht doch heimlich mit einem anderen Mann traf.«

Ist das krank, dachte Heike für sich. Aber sie sagte: »Hat Wolf Evers Ihre Freundin Nina Cordes jemals in Ihrer Gegenwart bedroht?«

Die Bankerin zögerte einen Moment. Dann nickte sie entschlossen.

»Ja, mehrmals. Einmal ist er ja sogar hier in der Bankfiliale erschienen und hat einen peinlichen Auftritt über die Bühne gebracht. Das war zu der Zeit, als Nina gerade eben mit ihm Schluss gemacht hatte. Ihr wurde seine erdrückende, Besitz ergreifende Art einfach zu viel. Aber Wolf konnte nicht hinnehmen, dass es aus war. Er hat Nina gepackt und gesagt, sie würde zu ihm gehören. Und er … er …«

»Ja?«, hakte Heike nach.

»Er würde Nina eher umbringen, als dass er sie gehen ließe«, flüsterte Anja Keppler.

Heike schrieb die Worte sorgfältig mit. Das hatte der Filialleiter nicht erwähnt beziehungsweise abgeschwächt.

»Gab es noch weitere Bedrohungen von Nina Cordes durch Wolf Evers, Frau Keppler?«

Die Bankangestellte nickte.

»Ja, jedenfalls beklagte sich Nina bei mir öfter darüber. Ihr Ex-Freund hat sie wohl öfter angerufen und ihr auch aufgelauert. Sie war ziemlich mit den Nerven herunter.«

»Warum hat sie sich nicht an die Polizei gewandt?«, fragte Heike.

»Das wollte sie tun, Frau Kommissarin. Jedenfalls sagte sie etwas in der Art zu mir, bevor ich in Urlaub fuhr. ›Wenn Wolf mich nicht in Ruhe lässt, zeige ich ihn an.‹ Das hat Nina vor zwei Wochen zu mir gesagt.«

Und nun ist sie tot, dachte Heike. Die Bankerin schaute die Kriminalistin erschrocken an.

»Glauben Sie, dass Wolf Evers meine Freundin getötet hat?«

»Ich glaube gar nichts, Frau Keppler. Mein Job besteht darin, Fakten zu sammeln. Aber Herr Evers wird sich für sein bisheriges Verhalten verantworten müssen. Und ich werde sehr genau prüfen, was für ein Alibi er für die Tatzeit vorzuweisen hat.«

»Arme Nina«, seufzte Anja Keppler. »Da hat sie nun das große Glück erwartet – und stattdessen fand sie den Tod.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nina war vor einem Monat bei so einer … Hokuspokustante, die ihr die Zukunft aus dem Kaffeesatz gelesen hat. Und von der hat meine Freundin ihr weiteres Leben in den rosarotesten Farben ausgemalt bekommen. Ich halte absolut nichts von solchen Esoteriksachen, Frau Kommissarin. Für mich ist das nur Beutelschneiderei. Aber Nina – sie war durch Wolfs Psychoterror doch ziemlich aus der Bahn geworfen. Das hat sie vielleicht empfänglich gemacht für diesen Blödsinn, den die Wahrsagerin ihr aufgetischt hat.«

Heike hob die Augenbrauen.

»Man hört, dass Sie von dieser Zukunftsdeutung gar nichts halten, Frau Keppler. Hat Ihre Freundin Nina sich vielleicht von einer gewissen Andrea Kern wahrsagen lassen?«

»Ja, so lautete wohl der Name. Wieso kennen Sie diese Person, Frau Kommissarin? Ist sie der Polizei schon wegen ihrer Machenschaften aufgefallen?«

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, erwiderte Heike unbestimmt. Die Hauptkommissarin wurde immer gespannter auf diese Esoterikerin. Aber zunächst wollte sie die Befragung von Anja Keppler über die Bühne bringen.

»Fällt Ihnen sonst noch etwas anderes ein, das Ihre Freundin belastete, Frau Keppler? Der Ärger mit diesem Wolf Evers war gewiss schlimm genug. Aber ich möchte vermeiden, dass etwas Wichtiges übersehen wird.«

Die Bankerin starrte nachdenklich auf die imitierte Marmorplatte des Tisches, an dem die beiden Frauen saßen. Heike spürte, dass ihr Gegenüber nicht so richtig mit der Sprache herauswollte.

Aber bevor Heike die Bankerin erneut unter Druck setzen musste, gab diese ihrem Herzen einen Stoß. Jedenfalls antwortete sie nun.

»Ich weiß nicht, ob das etwas mit Ninas Tod zu tun haben kann, Frau Kommissarin. Auf jeden Fall war meine Freundin immer wieder geknickt wegen dem schlechten Verhältnis zu ihrer Schwester Ute. Es ging dabei um einen Mann, soweit ich weiß. Aber noch nicht einmal mir als ihrer besten Freundin hat Nina besonders viel von dieser Geschichte anvertraut. Es war ihr einfach peinlich, glaube ich.«

Heike schrieb mit. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ihre Nachbarin überhaupt eine Schwester hatte. Hingegen war ihr durch ihren Polizeikollegen Bernd Engel bekannt, dass Ninas Eltern gebrechlich und pflegebedürftig waren. Beide lebten in einem Norderstedter Pflegeheim.

Wolf Evers, Andrea Kern, Ute Cordes. Heikes Verdächtigenliste füllte sich allmählich mit Namen. Die Kriminalistin verabschiedete sich von Ninas Freundin. Selbstverständlich ließ sie ihre dienstliche Visitenkarte mit allen Telefonnummern zurück.

Die Hitze traf Heike wie ein Schlag, als sie das klimatisierte Bankgebäude verließ. In ihrem zivilen Dienstfahrzeug war es noch schlimmer. Das Autoinnere erinnerte die Kriminalistin an einen Backofen. Schicksalsergeben startete sie den Motor und kurbelte beide Seitenfenster herunter. Hamburg war zwar eine wohlhabende Stadt, aber von Klimaanlagen in den Einsatzfahrzeugen konnten die hanseatischen Ordnungshüter einstweilen nur träumen. Heike wäre lieber mit ihrem Mountainbike gefahren. Aber im Dienst benötigte sie einfach ein Polizei-Funkgerät, wenn sie unterwegs war.

Heike fuhr Richtung Westen. Die Ballettschule von Wolf Evers befand sich an der Straße, die Große Bleichen heißt. Eine exklusive Adresse unweit der Binnenalster, nur einen Steinwurf vom Hamburger Rathaus entfernt. Wenn Evers dort residierte, musste er sehr erfolgreich in seinem Fach sein.

Allerdings ließ sich Heike von solchen Dingen nicht beeindrucken.

Natürlich war es unmöglich, direkt vor der Ballettschule zu parken. Heike fuhr einfach weiter zur nahe gelegenen Polizeistation, stellte ihren Wagen dort ab und ging zu Fuß zurück.

Evers’ Unterrichtsräume befanden sich in einem weiß getünchten Kontorhaus aus dem 19. Jahrhundert. Mosaike in der großzügigen Eingangshalle stellten Bilder aus der Segelschifffahrt dar. Die Hauptkommissarin verweilte einige Minuten in der angenehmen Kühle des Treppenhauses. Dann stieg sie in den ersten Stock empor.

Die Eingangstür zur Ballettschule Evers war nicht verschlossen. Heike trat ein und wurde sogleich von einer brüllenden Männerstimme empfangen.

»Das soll eine Pirouette sein, du flügellahmes Huhn? Ich lache mich tot! Du marschierst über den Tanzboden wie über einen Kasernenhof! Du bist ungefähr so grazil und gelenkig wie eine Elefantenkuh!«

Der Wüterich, der diese Sätze von sich gab, war nirgends zu sehen. Offenbar befand er sich in einem der hinteren Räume, deren Türen wahrscheinlich wegen der Hitze offen standen. Oder er schrie so laut, dass man ihn sogar durch die geschlossene Tür hören konnte. Im Eingangsbereich befand sich ein Empfangstresen aus Ebenholz. Dahinter thronte eine Dame, Typ Chefsekretärin. Sie brüllte und schrie nicht, sondern schaute Heike nur erwartungsvoll an.

»Wer ist denn der wohlerzogene Herr, der bei Ihnen so mit Komplimenten um sich wirft?«, fragte Heike sarkastisch.

»Herr Evers trainiert höchstpersönlich mit einer Anfängergruppe«, gab die Angestellte am Empfang kühl zurück. »Was kann ich für Sie tun? – Alle Kurse sind zurzeit belegt, aber …«

Heike schüttelte den Kopf. Sie präsentierte ihren Kripoausweis.

»Ich bin Hauptkommissarin Heike Stein. Ich ermittle in einem Mordfall und muss Herrn Evers einige Fragen stellen.«

Das Anbrüllen der Ballettschülerinnen ging inzwischen weiter. Die Empfangsdame schaute erst zu Heike, dann auf ihre Armbanduhr, dann wieder zu der Kriminalistin zurück.

»In fünf Minuten ist die Unterrichtseinheit vorbei, Frau Kommissarin. Wenn Sie …«

»Ich finde den Weg schon, danke«, sagte Heike und trabte los. »Man kann ja nicht überhören, wo sich Herr Evers aufhält.«

Die Kriminalistin glaubte, die giftigen Blicke der Empfangsdame förmlich in ihrem Rücken spüren zu können. Aber das war natürlich nur Einbildung. Die Szene, die sich ihr in dem Ballettsaal am hinteren Ende eines langen Korridors bot, war hingegen absolut wirklich.

Eingeschüchtert wie eine Mäuseschar beim Anblick des Katers stand ein halbes Dutzend junger Mädchen an einem Ende des völlig verspiegelten Raumes. Die Ballettschülerinnen trugen Gymnastikhosen und ärmellose Tops.

Ganz ähnlich war auch Wolf Evers gekleidet. Er musste es einfach sein, denn er war der einzige Mann in dem Raum, aus dem die männliche Befehlsstimme gedrungen war.

Der Tänzer in schwarzer Hose und T-Shirt von gleicher Farbe führte einige Bewegungen vor, die schließlich in einer Pirouette endeten. Gleich darauf wiederholte er dieselbe Abfolge. Und dann noch einmal.

»So macht man das, ihr blöden Hühner!«, schnauzte er die Ballettschülerinnen an.

Heike musste widerwillig zugeben, dass Wolf Evers nicht schlecht aussah. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich Frauen von seinem perfekten Körperbau und seiner Ausstrahlung beeindrucken ließen. Jedenfalls, solange er nicht den Mund aufmachte.

Evers war nicht besonders hoch gewachsen, jedenfalls nicht größer als die 1,72 m messende Heike. Sein dunkles Haar und sein schmaler, kantiger Schädel verliehen ihm wirklich etwas Raubtierhaftes. Daher passte sein Vorname in der verkürzten Form Wolf erstklassig zu ihm. Dank der eng anliegenden Kleidung des Ballettlehrers konnte die Kriminalistin sehen, dass er kein Gramm überflüssiges Fett am Körper hatte. Seine Extremitäten waren allerdings eher sehnig als muskulös. Aber viele Frauen mochten bei Männern ja ohnehin keine übertriebenen Muskelpakete.

Heike hatte sich an den Rahmen der offen stehenden Tür gelehnt. Sie hörte sich noch an, wie Evers seine Schülerinnen zu härterem Training in ihrer Freizeit verdonnerte. Dann war die Unterrichtsstunde zu Ende. Der Meister machte gegenüber den Mädchen eine Handbewegung, als ob er einen Schwarm Fliegen verscheuchen wollte.

Die Hauptkommissarin konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie spendete dem Grobian einen ironischen Applaus. Erst jetzt nahm Evers die blonde Kriminalistin überhaupt wahr.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, blaffte er sie an, während die Ballettmädchen mit gesenkten Köpfen an Heike vorbei hinauseilten, vermutlich Richtung Umkleide. Im Handumdrehen war Heike allein mit Evers in dem Übungsraum. Sie kam direkt auf ihn zu und hielt seinem zornigen Blick stand.

»Hauptkommissarin Heike Stein, Sonderkommission Mord, Kripo Hamburg. Ich habe einige Fragen an Sie im Zusammenhang mit dem Tod von Nina Cordes, Herr Evers. Und ich rate Ihnen dringend, sich nicht im Tonfall zu vergreifen. Mit mir können Sie nämlich nicht so umspringen wie mit den Mädchen aus Ihrem Kursus.«

Mit diesen Worten hielt Heike dem Ballettmeister ihre Legitimation unter die Nase.

Evers schien zunächst wieder aufbrausen zu wollen. Aber der Polizeiausweis in Kombination mit Heikes offensichtlicher Furchtlosigkeit übten eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Jedenfalls antwortete er in einem halbwegs normalen Umgangston.

»Was wissen Sie schon vom Ballettunterricht, Frau Kommissarin? Tanztheater ist Knochenarbeit. Diese Mädchen haben es ohnehin schwer, weil sie von ihren Eltern erst mit vierzehn oder fünfzehn Jahren zu mir geschickt wurden. Also eigentlich viel zu spät. Um diesen Nachteil ausgleichen zu können, hilft nur eiserner Fleiß und Disziplin. Wenn ich diese Hühner nicht anschreie, tanzen sie mir auf der Nase herum.«

»Mag sein«, entgegnete Heike kühl. »Aber ich wollte mit Ihnen nicht über die Ballettmädchen, sondern über Nina Cordes reden. Was ist mit ihr? Hat sie Ihnen auch auf der Nase herumgetanzt?«

»Nina Cordes.« Evers blickte auf eine der Spiegelwände und sah sein eigenes bleiches Gesicht. »Ich habe sie geliebt. Und jetzt ist sie tot.«

»Wann haben Sie vom Tod Ihrer Ex-Freundin erfahren?«

»Heute Morgen. Aus der Zeitung.«

Heike rechnete kurz nach. Natürlich, der Mord war am 5. Juni geschehen – zu spät für die Zeitungen dieses Tages. Inzwischen war ein weiterer Tag vergangen. Heike hatte noch keine Gelegenheit gehabt, an diesem Morgen in die Zeitung zu schauen.

Die Kriminalistin öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Da klingelte ihr Handy. Heike fischte es aus der Tasche und führte ein kurzes Gespräch. Als sie das Mobiltelefon deaktivierte, grinste sie Wolf Evers frech an.

»Das war ein Kollege aus der Technischen Abteilung, Herr Evers. Ich habe dort Nina Cordes’ Adressbuch untersuchen lassen. Ein Name da drin war nämlich so stark mit Kugelschreiber durchgestrichen, dass man ihn überhaupt nicht mehr entziffern konnte. Außer mit Mitteln der Kriminaltechnik. Sie werden nie erraten, wie dieser Name lautet.«

»Wieso sollte mich das interessieren?«, knurrte der Ballettlehrer.

»Es ist Ihr Name, den Nina Cordes offenbar mit sehr viel Sorgfalt aus ihrem Adressenverzeichnis getilgt hat.«

»Na und? Was kombinieren Sie jetzt, Frau Kommissarin?«, höhnte Wolf Evers. Falls er nervös geworden war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Es ist ein Puzzlesteinchen, das ins Bild passt. Tatsache ist: Nina Cordes hat sich von Ihnen getrennt, Herr Evers. Diese Trennung war ihr so wichtig, dass sie sogar Ihren Namen aus dem Telefonregister gestrichen hat. Sie hingegen haben auch nach Beendigung der Beziehung nicht aufgehört, Ihrer Ex-Freundin nachzustellen. Dafür gibt es Zeugen. Dasselbe gilt für Drohungen, die Sie ausgestoßen haben. Zum Teil Todesdrohungen, wenn mich nicht alles täuscht. Und nun wurde Nina Cordes nachts in ihrer Wohnung erwürgt. Das sieht nicht gut aus für Sie, Herr Evers.«

Der Mann in der Tänzerkleidung hatte Heike mit wachsender Wut zugehört. Jeder ihrer Sätze schien ihn zu treffen wie ein Stromschlag. Als die Hauptkommissarin geendet hatte, erwiderte Evers nichts. Sein Gesicht war hassverzerrt. Und er antwortete auf seine Weise.

Der Verdächtige griff Heike an!

Allerdings kam Evers überhaupt nicht dazu, die Kriminalistin auch nur zu berühren. Ehe er es sich versah, knallte er bäuchlings auf den Boden des Ballettraums. Heike rammte ihm ihr Knie ins Kreuz und drehte ihm den rechten Arm im Polizeigriff auf den Rücken. Der Ballettlehrer keuchte.

»Verflucht, was war das?!«

»Eine traditionelle Kung-Fu-Technik, die sich Goldener Fächer nennt«, gab Heike ruhig zurück. »Ist Ihnen klar, dass Sie soeben eine Polizeibeamtin im Dienst angegriffen haben?«

»Das … das wollte ich nicht«, röchelte Evers. »Könnten Sie meinen Arm loslassen?«

»Ich vermisse das Zauberwort.«

»Also gut. Könnten Sie bitte meinen Arm loslassen? Bitte!«

»Ich hätte nie gedacht, dass Sie das Zauberwort kennen«, höhnte Heike. Aber sie federte hoch und brachte ein paar Schritte Distanz zwischen sich und den Ballettlehrer.

»Ansonsten rate ich Ihnen, sich zusammenzureißen, Herr Evers. Sie haben jetzt gemerkt, dass mit mir nicht gut Kirschen essen ist.«

»Wie … wie haben Sie das gemacht?«, fragte der Ballettlehrer, während er sich vom Boden aufrappelte. »Ich habe noch nicht einmal gesehen, dass Sie überhaupt aktiv geworden sind.«

»Eine Kung-Fu-Technik, wie ich schon sagte. Sehr empfehlenswert für alle Frauen, die von aufdringlichen Kerlen belästigt werden.«

Evers verzog das Gesicht.

»Ich weiß, worauf Sie anspielen. Aber ich wollte Nina nicht belästigen, wirklich. Was Sie über mich gehört haben – das waren nur verzweifelte Versuche, die einzige Frau zurückzugewinnen, die mir jemals etwas bedeutet hat.«

»Am liebsten hätten Sie Frau Cordes wahrscheinlich in einen goldenen Käfig gesperrt. Damit kein anderer Mann sie auch nur mit der Fingerspitze berühren kann.«

Wolf Evers kniff die Augen zusammen.

»Ihre Ironie können Sie sich sparen, Frau Kommissarin. Sie verstehen das eben nicht. Vielleicht waren Sie noch niemals richtig verliebt. Aber ich bin eben ein kreativer Mensch. Ich empfinde tiefer als irgendwelche Durchschnittstypen.«

»Kommen Sie mir nicht auf die Tour!«, konterte Heike ärgerlich. »Ihre sensible Künstlerseele in allen Ehren, aber die Liebe hört da auf, wo die Paragrafen des Strafgesetzbuches anfangen! Ich spreche von Stalking, Nötigung, Bedrohung, Belästigung – und von Mord.«

Für einen Moment herrschte Totenstille in dem Ballettsaal. Man hörte nur ganz leise durch die geschlossenen Fensterscheiben den Durchgangsverkehr auf der Großen Bleichen. Außerdem das Geklapper der Computertastatur im Empfangsbereich.

»Mord?«, grollte Evers schließlich. »Sie sind wohl …«

Er unterbrach sich selbst, weil er offenbar eine Beleidigung auf der Zunge hatte. Evers war clever genug, den Bogen nicht zu überspannen.

»Sie sind wohl völlig auf der falschen Spur, Frau Kommissarin«, sagte der Verdächtige schließlich.

»Wieso? Ich habe Ihnen doch bereits in Erinnerung gerufen, wie Sie Nina Cordes in den letzten Monaten terrorisiert haben. Wundert es Sie da, dass Sie unter Mordverdacht geraten?«

Der Ballettlehrer erwiderte nichts. Stattdessen glotzte er Heike an, als würde er die Kriminalistin erst jetzt bewusst wahrnehmen.

»Hatten Sie eigentlich irgendetwas mit Nina zu tun, Frau Kommissarin? Sie kommen mir irgendwie bekannt vor … in meinem Beruf lernt man im Lauf der Jahre Hunderte und Tausende von Menschen kennen. Aber ich verbinde Sie mit Nina, ich weiß nicht, warum.«

»Ich wohne zufällig im selben Haus wie Ihre Ex-Freundin«, entgegnete Heike ärgerlich. »Aber das hat mit dieser Morduntersuchung überhaupt nichts zu tun. Es ist uns gelungen, einige Gewebeproben des Täters sicherzustellen. Wenn Sie, Herr Evers, sich einem DNA-Test unterziehen würden, könnten Sie leicht jeden Verdacht von sich abwälzen. – Vorausgesetzt, Sie haben Ihre Ex-Freundin wirklich nicht erwürgt.«

Diesen letzten Satz konnte Heike sich nicht verkneifen. Evers schüttelte nur den Kopf. Er gewann jetzt allmählich seine Arroganz und Überheblichkeit zurück, die ihm nach Heikes Kung-Fu-Einlage abhanden gekommen war.

»DNA-Test, ich?! Das ist unter meiner Würde! Sie haben es hier nicht mit einem primitiven Sittenstrolch zu tun, meine Teure. Ich habe in New York getanzt, in St. Petersburg und in Paris. Ich bin ein Gewinn für die Freie und Hansestadt Hamburg. Die Absolventinnen meiner Schule tragen den Ruhm des Hamburger Tanztheaters in alle Welt!«

Wer angibt, hat es nötig, dachte Heike. Aber sie sagte: »Ein DNA-Test ist nach geltendem Recht stets freiwillig, Herr Evers. Aber Sie werden verstehen, dass ich Sie unter diesen Umständen nicht von der Verdächtigenliste streichen kann.«

Der Ballettlehrer hob die Schultern.

»Ich habe einflussreiche Freunde in dieser Stadt«, sagte er drohend.

»Wie auch immer«, entgegnete Heike unbeeindruckt.

»Mich würde interessieren, wo Sie am frühen Morgen des 5. Juni, genauer gesagt gegen 3.40 Uhr, gewesen sind.«

»In meinem Bett, nehme ich an.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

Wolf Evers lachte höhnisch.

»Meine liebe Frau Kommissarin, Sie wissen wirklich nicht, was Liebe ist. Ich sagte doch, dass ich Nina Cordes aufrichtig geliebt habe. Glauben Sie, ich würde mich so kurze Zeit nach dieser unnötigen Trennung mit irgendwelchen anderen Weibern einlassen?«

»Ich glaube gar nichts, Herr Evers. Ich stelle also fest, dass Sie für die fragliche Zeit kein Alibi haben.«

»Das wird wohl den meisten Hamburgern so gehen!«

»Gewiss, Herr Evers. Aber die meisten Hamburger haben nicht das Mordopfer kurze Zeit vor der Tat massiv bedroht, so wie Sie es getan haben. – Ich muss Sie bitten, einstweilen nicht die Stadt zu verlassen. Wir werden Sie gewiss noch weiter befragen müssen.«

»Scheren Sie sich zum Teufel«, murmelte der Ballettlehrer.

»Wie war das?!«

»Nichts. Ich habe nur laut gedacht. Und jetzt werde ich mich erst einmal mit meinem Rechtsanwalt beraten.«

»Tun Sie das, Herr Evers, tun Sie das. Ich bin sicher, dass Sie schon bald einen juristischen Beistand nötig haben werden.«

5


Der Großneumarkt ist einer der ältesten Plätze Hamburgs. In früheren Zeiten diente er als Exerzierplatz für das Bürgermilitär, und auch Budenbesitzer lockten dort ihre Kunden an.

Heutzutage ist der Großneumarkt Zentrum eines kleinen Kneipenviertels mit mehr oder weniger originellen und schicken Bistros und Bars.

Heike stand mitten auf dem Platz und schaute auf den »Michel«, das Hamburger Wahrzeichen. Die Hauptkirche St. Michaelis war von hier aus zum Greifen nahe. Doch nicht der Glauben, sondern der Aberglauben hatte die Kriminalistin in diese Gegend unweit des Hafens geführt. In der kleinen Wexstraße, die vom Neumarkt abzweigte, ging die Zukunftsdeuterin Andrea Kern ihrem Gewerbe nach.

Heike betrat die Wexstraße. Diese war so eng, dass sie sich für den modernen Straßenverkehr kaum eignete. Die Hauptkommissarin hatte wohlweislich ihren Dienstwagen am Herrengraben stehen gelassen.

Heike schaute an den Fassaden hoch. Heutzutage waren die Häuser und Wohnungen liebevoll restauriert. Doch im 19. Jahrhundert herrschte in diesen Gassen ein Elend, das es jetzt in Hamburg zum Glück nicht mehr gab. Die Wexstraße und Brüderstraße waren letzte Überbleibsel des so genannten Gängeviertels, in dem Armut, Krankheit und Kriminalität geherrscht hatten.

Zumindest die Kriminalität ist geblieben, dachte Heike, als sie in das Wohnhaus von Andrea Kern ging.

Natürlich wusste die Kriminalistin nicht, ob die Wahrsagerin in den Mord an Nina Cordes verwickelt war. Momentan stand Wolf Evers ganz oben auf Heikes persönlicher Verdächtigenliste. Aber nach Meinung der blonden Hamburgerin war die ganze Zukunftsdeuterei der selbst ernannten Wahrsagerin nichts anderes als – legaler – Betrug.

Heike glaubte einfach nicht an Astrologie & Co.

Die Hauptkommissarin stieg hinauf in den ersten Stock, wo sich die Wohnung von Andrea Kern befand. Als sie bei der Wahrsagerin läuten wollte, öffnete sich die Wohnungstür. Ein junges Mädchen kam heraus. Selbst im schummerigen Licht des Treppenhauses konnte Heike das verzückte Lächeln auf ihrem Gesicht erkennen. Sie konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein. Das Mädchen ging die Treppe hinunter. Bevor sich die Wohnungstür hinter ihr wieder schließen konnte, war Heike zur Stelle. Sie präsentierte ihren Dienstausweis.

»Frau Kern? Ich bin Hauptkommissarin Heike Stein, Sonderkommission Mord der Kripo Hamburg. Ich habe einige Fragen an Sie.«

Eine dunkelhaarige, sportlich wirkende Frau stand an der Wohnungstür. Sie trug ein bodenlanges schwarzes Kleid aus Waschseide. Die Überraschung auf ihrem Gesicht schien echt zu sein. Aber vielleicht war sie auch nur eine erstklassige Schauspielerin. Die Vermutung lag nahe, wenn sie den Menschen mit frei erfundenen Zukunftsprognosen das Geld aus der Tasche zog.

Das war zumindest Heikes Meinung.

»Sonderkommission Mord? Ja, kommen Sie nur rein, Frau Kommissarin. Ich habe jetzt eine Stunde Zeit vor der nächsten Konsultation.«

Die Wahrsagerin führte Heike in ein kleines, fast quadratisches Zimmer. Die ganze Wohnung schien ziemlich eng zu sein. Auch die Fenster waren nicht gerade groß. Aber schwere Vorhänge verhinderten sowieso, dass allzu viel Sonnenlicht eindringen konnte.

Heike war überrascht. Sie hatte eigentlich jede Menge Hokuspokus-Klimbim erwartet. Stattdessen machte die Behausung von Andrea Kern einen ziemlich normalen Eindruck.

»Wo ist denn Ihre Kristallkugel?«, fragte Heike spöttisch.

Andrea Kern lächelte.

»So etwas besitze ich nicht. Ich merke schon, dass Sie eine schlechte Meinung von meiner Tätigkeit haben, Frau Kommissarin. Nun, das geht vielen Menschen so. Ich werde nicht versuchen, Sie von meinen Fähigkeiten zu überzeugen. – Aber ich frage mich schon, was die Polizei von mir will.«

Wieso weiß sie das nicht, wenn sie Wahrsagerin ist?, dachte Heike ironisch. Aber sie konnte sich gerade noch beherrschen, diesen Satz auszusprechen. Stattdessen sagte sie: »Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie eine gewisse Nina Cordes kennen. Frau Cordes wurde in den frühen Morgenstunden des 5. Juni in ihrer Wohnung ermordet. Ich bin damit beauftragt, diesen Fall aufzuklären.«

Heike ließ ihr Gegenüber nicht aus den Augen, während sie sprach. Die beiden Frauen hatten sich in zwei gemütlichen nostalgischen Klubsesseln niedergelassen, nachdem die Wahrsagerin ihre Besucherin dazu aufgefordert hatte.

Andrea Kern erbleichte. Sie fasste sich an die Stirn, senkte den Blick, schüttelte den Kopf. Ihre Augen wurden feucht.

»Nina … ermordet? Oh, wie konnte das nur geschehen? Wie furchtbar! Und Sie wissen nicht, wer es getan haben könnte, Frau Kommissarin?«

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, entgegnete Heike bewusst unbestimmt. »Daher befragen wir natürlich alle Personen, die mit Nina Cordes zu tun hatten. – Es ist seltsam, dass Sie vom Tod der jungen Frau überrascht scheinen. Alle Hamburger Zeitungen haben darüber berichtet, außerdem das lokale Radio und Fernsehen.«

Andrea Kern schüttelte den Kopf.

»Ich halte mich von den Medien fern. Durch meine Tätigkeit bewege ich mich auf geistigen Ebenen, die für normale Sterbliche nicht zugänglich sind. Da wäre jede Ablenkung schädlich für mich.«

Heike musste sich zusammenreißen. Sie hielt wirklich nichts von Zukunftsdeutung welcher Art auch immer. Andererseits gab sich diese Andrea Kern völlig normal. Sie wirkte keineswegs überkandidelt. In Heikes Vorstellungswelt gaben sich Wahrsagerinnen Fantasienamen wie Madame Luna, hängten ihre Behausung mit magischen Symbolen voll und hatten einen zahmen schwarzen Raben auf der Schulter sitzen. Die Kriminalistin musste selbstkritisch zugeben, dass sie wohl auf ein Vorurteil hereingefallen war. Sie nahm sich vor, mit Andrea Kern möglichst neutral umzugehen.

»In Ordnung, Frau Kern. Ihre Medienabstinenz ist für mich zwar nicht nachvollziehbar. Aber das ist immerhin eine Erklärung dafür, dass Nina Cordes’ Tod für Sie eine Neuigkeit war. Mich interessiert, in welcher Beziehung Sie zu Frau Cordes standen. Woher kannten Sie sich?«

»Nina hat sich von mir die Zukunft deuten lassen, Frau Kommissarin.«

»Wie muss ich mir das vorstellen?«

»Ich habe Nina Cordes die Karten gelegt.« Plötzlich wurde der traurige Blick der Wahrsagerin wieder etwas lebendiger. »Ich kann es Ihnen vorführen, wenn Sie wollen. Indem ich Ihnen die Karten lege.«

Heike war drauf und dran, der Zeugin eine scharfe Antwort zu geben. Aber dann gab sie sich selbst einen Stoß. Die Hauptkommissarin war immer schon mehr für praktische Erfahrungen als für graue Theorie gewesen. Es konnte in ihrem Beruf sicher nichts schaden, diese Wahrsagerei einmal am eigenen Leib erfahren zu haben.

»Ich zahle Ihnen aber nichts dafür«, sagte Heike.

Andrea Kern lächelte.

»Ich hätte es sowieso gratis gemacht. Es ist ja nur zu Vorführzwecken, wie gesagt.«

Zwischen den beiden Frauen stand ein mit Intarsien verzierter Holztisch. Andrea Kern fragte Heike nach ihrem Geburtsdatum sowie nach der Tageszeit, zu der sie auf die Welt gekommen war. Dann begann sie, Spielkarten nach einem für Heike nicht nachvollziehbaren Muster auszulegen.

»Wie kommen Sie eigentlich zu Ihren Kunden?«, fragte die Kriminalistin.

»Nur durch Mundpropaganda. Ich inseriere nicht in der Zeitung oder so etwas. Ich habe vor Jahren einmal für drei oder vier Freundinnen die Karten gelegt. Damals entdeckte ich meine Berufung. Und jede Frau, für die ich in die Zukunft geschaut habe, war bisher zufrieden. Daher haben sie alle mich weiterempfohlen. So eine Art Schneeballsystem, wenn Sie so wollen.«

Heike hatte genau zugehört.

»Sie sprechen von Frauen, Frau Kern. Männern legen Sie also nicht die Karten?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil es nicht funktioniert. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich habe einmal versucht, einem Mann die Zukunft zu deuten. Es kam nur Unsinn dabei heraus. Meine inneren Kräfte haben sich dagegen gewehrt. Seitdem lasse ich es bleiben.«

Die Hauptkommissarin ging nicht näher darauf ein. Das interessierte sie auch nur am Rande.

»In der Wohnung von Nina Cordes haben wir eine Visitenkarte von Ihnen sichergestellt, Frau Kern. Darauf standen die Worte: ›Die Herzdame beschert dir großen Reichtum.‹ Können Sie mir erklären, was das zu bedeuten hat?«

»Selbstverständlich, Frau Kommissarin. Die Herzdame ist eine Spielkarte, wie Sie vielleicht wissen. Als ich Nina Cordes die Karten gelegt habe, befand sich die Herzdame bei ihr in einer sehr günstigen Konstellation. Das bedeutet, dass Nina viel Geld zu erwarten hatte. – Das trifft bei Ihnen übrigens nicht zu, Frau Kommissarin. Schon jetzt ist klar, dass Sie es niemals zu nennenswertem Reichtum bringen werden.«

»Dafür muss ich nicht hellsehen können. Ich kenne die Besoldungsstufen der Hamburger Polizei«, erwiderte Heike trocken.

»Aber klammern wir mich einmal für den Moment aus, wenn es Ihnen recht ist. Dieser Satz mit der Herzdame war also sozusagen die Haupterkenntnis Ihres Kartenlegens mit Nina Cordes?«

»Ja, die Haupterkenntnis. Sehr gut ausgedrückt, Frau Kommissarin.«

»Danke für die Blumen. – Wie steht es denn mit Ihren eigenen Finanzen, wenn ich fragen darf?«

Die Kartenlegerin machte eine unbestimmte Handbewegung.

»Ich komme über die Runden. Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Frau Kommissarin.«

»Ganz einfach.« Mit jedem Satz, den Heike sprach, bekam ihre Stimme einen härteren Klang. »Ich rede davon, ob Sie vielleicht einen Anteil an dem zukünftigen märchenhaften Reichtum Ihrer … Kundin haben wollten. Es wäre ja vorstellbar, dass Nina Cordes Ihnen aus Dankbarkeit etwas schenkt. Sagen wir: 10.000 Euro. Oder meinetwegen auch 50.000, da bin ich großzügig.«

Andrea Kern schien Heikes Theorie nicht ganz folgen zu können.

»Ich nehme bedeutend weniger Honorar, Frau Kommissarin. Ansonsten: warum sollte mir Nina Cordes so viel Geld schenken?«

»Ich verstehe nichts von Wahrsagerei«, bekannte Heike. »Aber ich verstehe eine ganze Menge von geistiger Beeinflussung. Denken Sie nur an die Psychosekten, beispielsweise. Die können ihre Mitglieder dazu bringen, unglaubliche Dinge zu tun. Warum sollte das bei Einzelpersonen nicht auch möglich sein?«

Andrea Kern lachte, aber es klang gekünstelt.

»Glauben Sie, ich könnte einen Menschen beeinflussen, mir 50.000 Euro zu schenken?«

Heike hob die Schultern.

»Bei mir würde das nicht funktionieren, Frau Kern. Allein schon, weil ich nicht so viel Geld habe. Nina Cordes hatte auch kein größeres Vermögen, wie unsere Ermittlungen bisher gezeigt haben. Doch Frau Cordes konnte in ihrer beruflichen Position Geld veruntreuen.«

In Wirklichkeit war Heike sich keineswegs sicher, ob ihre Nachbarin wirklich an ihrem Arbeitsplatz in die Kasse greifen konnte. Es kam ihr nur darauf an, diese Wahrsagerin aus der Reserve zu locken und unter Druck zu setzen. Und das gelang ihr auch.

»Ihre Fantasie in allen Ehren, Frau Kommissarin«, sagte Andrea Kern ärgerlich, »aber ich bin keine Betrügerin und Hochstaplerin, die ihre Kunden in aller Seelenruhe ausnimmt. Sonst hätte ich schon Damen das Geld aus der Tasche ziehen können, die von Haus aus viel vermögender sind als Nina Cordes.«

Wer weiß, ob du es nicht wirklich getan hast?, sagte Heike in Gedanken zu ihrem Gegenüber. Sie nahm sich jedenfalls vor, das Leben und die Vergangenheit dieser Kartenlegerin gründlich zu durchleuchten.

»Wo waren Sie am 5. Juni zwischen drei und vier Uhr morgens?«, fragte die Kriminalistin.

»Am Fünften … um diese Zeit habe ich gewiss in meinem Bett gelegen und geschlafen.«

»Gibt es jemanden, der das bezeugen kann?«

»Nein. Ich habe zurzeit keinen Freund, Liebhaber oder was auch immer. Warum wollen Sie das wissen, Frau Kommissarin?«

»Weil in diesem Zeitraum Nina Cordes getötet wurde«, entgegnete Heike ruhig.

Auf Andrea Kerns Stirn erschien eine steile Zornesfalte.

»Darf ich fragen, warum ich unter Mordverdacht geraten bin?«

»Ich gehe davon aus, dass der Täter oder die Täterin in irgendeiner Beziehung zu Nina Cordes gestanden hat. Daher schaue ich mir die Menschen in ihrer Umgebung natürlich genau an. Vor allem, wenn sie körperlich fit sind. Der Täter oder die Täterin ist nämlich an der Hausfassade hochgeklettert und durch ein Fenster in die Wohnung des Opfers eingedrungen.«

»Und so etwas trauen Sie mir zu, Frau Kommissarin?«

»Momentan sammle ich nur die Fakten, Frau Kern. Aber ich habe in meinem Beruf gelernt, dass nichts, aber auch gar nichts unmöglich ist.«

Während des Wortwechsels der beiden Frauen hatte die Wahrsagerin nicht aufgehört, Karten zu legen und nach einem bestimmten Schema aufzudecken.

»Ich habe jedenfalls Nina Cordes nicht getötet. – Wollen Sie wissen, was die Karten über Ihre Zukunft aussagen, Frau Kommissarin?«

Heike zuckte mit den Schultern.

»Meinetwegen.«

»Sie sind in großer Gefahr, Frau Kommissarin. Ein Vater stirbt, aber Sie werden Ihre große Liebe finden.«

»Was soll das heißen?«

»So lautet die Prophezeiung, Frau Kommissarin. Wie die Worte im Einzelnen zu verstehen sind, kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

»Na dann – besten Dank! Ich lege jetzt auch mal eine Karte, nämlich meine Visitenkarte. Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas zu Nina Cordes einfällt. Sie können mich Tag und Nacht erreichen.«

Der Abschied fiel kurz aus. Andrea Kern knallte die Tür hinter Heike zu. Auch die Kriminalistin hatte nun schlechte Laune.

Was für ein Gewäsch!, dachte Heike. Sie fand es unglaublich, dass Menschen für so einen Humbug überhaupt Geld ausgaben. Ein Vater stirbt – jeden Tag waren die Hamburger Tageszeitungen voll mit Todesanzeigen von Männern. Und ein ziemlich großer Prozentsatz dieser Toten war zu Lebzeiten gewiss auch Vater gewesen.

Und die große Liebe – das prophezeite diese falsche Schlange gewisse jeder ihrer Kundinnen!

Heike quälte sich in die Gluthitze ihres Dienstwagens, der am Herrengraben in der prallen Sonne gestanden hatte. Sie schwor sich selbst hoch und heilig, per U-Bahn zu ihrem nächsten Termin zu fahren. Auf den Bahnsteigen des Transportmittels herrschte ein eiskalter Wind, den Heike im Sommer besonders zu schätzen wusste.

Als die Kriminalistin im Präsidium eintrudelte, saß Ben an seinem Schreibtisch und telefonierte. Heike lächelte ihm zu. Ihr fehlte die Zusammenarbeit mit dem dunkelhaarigen gut aussehenden Hauptkommissar. Aber manche Fälle musste sie eben allein lösen, besonders bei der urlaubsbedingten Personalknappheit. Heike holte sich ein Mineralwasser. Als sie zurückkehrte, hatte Ben soeben sein Gespräch beendet.

»Du siehst ja aus wie sieben Tage Regenwetter, Heike«, sagte er.

»So fühle ich mich auch, mein Lieber. Bisher sind mir im Isestraßen-Fall nur ätzende Typen untergekommen.«

Heike berichtete im Telegrammstil von dem Ballettlehrer und der Wahrsagerin.

»Na ja, Mordverdächtige sind selten sympathisch«, gab Ben zu bedenken. »Aber mir leuchtet nicht ein, warum diese Esoteriktante deine Nachbarin auf dem Gewissen haben soll.«

»Es ist auch nur ein vager Verdacht. Ich stelle mir vor, dass sie Nina zu einem großen Betrug oder einer Unterschlagung verleiten wollte. Als ihre Komplizin dann kalte Füße bekam, musste sie sterben.«

»Das wäre eine Möglichkeit«, räumte Ben ein. »Dann müsstest du allerdings diese versuchte Unterschlagung oder Veruntreuung beweisen.«

»Stimmt. Aber ich wollte mir erst noch meine dritte Hauptverdächtige vorknöpfen, Ninas Schwester. – Und wie läuft es bei euch?«

»Es läuft nicht, es kriecht«, meinte Ben. »Der Colonnaden-Fall erweist sich als sehr arbeitsaufwändig. – Ich muss jetzt auch wieder los, Heike. Bis bald!«

»Bis bald, Ben.«

6


Heike rief beim Einwohnermeldeamt an. Sie erfuhr, dass Ninas Schwester Ute in Winterhude wohnte. Die Hauptkommissarin fuhr zu der Adresse. Wie sie es erwartet hatte, war niemand zu Hause. Die Hausmeisterin konnte Heike aber sagen, wo Ute Cordes arbeitete.

»Die ist doch Filialleiterin in so einer schicken Parfümerie im Passagenviertel!«, zischte die ältere Frau. Heike bedankte sich für die Auskunft und eilte weiter. In einer Bäckerei kaufte sie sich ein Hörnchen, das sie im Gehen futterte. Das Gebäck diente ihr als Mittagessen-Ersatz. Die Hitze hatte der Hauptkommissarin den Appetit geraubt.

Heike stieg am Lattenkamp in die U-Bahn und fuhr bis zum Gänsemarkt. Sie befand sich nun direkt im Zentrum der Ladenpassagen mit teuren und exklusiven Artikeln aus aller Welt. Insbesondere die Mode zeigte hier internationales Flair. Da Heike in ihrer knappen Freizeit ebenfalls gerne shoppen ging, kannte sie sich in der Jungfernstiegpassage, der Galleria, dem Hanseviertel, der Passage Kleiner Gänsemarkt und der Gänsemarktpassage bestens aus.

Mit traumwandlerischer Sicherheit steuerte Heike die Parfümerie an, die von der Schwester der Ermordeten geleitet wurde. Die Hauptkommissarin hatte den Laden vor längerer Zeit schon einmal als Kundin betreten. Schwarzer und weißer Marmor sowie spiegelnde Designer-Glasfassaden betonten den exklusiven Charakter des Geschäfts. Die Verkäuferinnen sahen alle so aus, als ob sie in einer Warteschleife für ihre Entdeckung als Fotomodell wären. Vielleicht traf das ja auch wirklich zu.

Eine von ihnen kam mit geschäftsmäßigem Lächeln auf Heike zu. Sie fragte nicht nach den Wünschen der Kundin, weil das in solchen Läden als schlechtes Benehmen galt. Also konnte die blonde Kriminalistin sofort zur Sache kommen.

»Kripo Hamburg.« Heike hielt dem Model im Parfümerie-Kittel ihren Dienstausweis unter die Nase. »Ich möchte mit Frau Cordes sprechen, bitte.«

Die perfekt gestylte junge Frau hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen nur um einen Zentimeter.

»Selbstverständlich. Folgen Sie mir bitte.«

Hüftenschwingend ging die Verkäuferin voran. Sie führte Heike zu einem winzigen Büro ohne Fenster. Es war nicht größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Hier war von der Exklusivität des Passagenviertels nichts mehr zu bemerken.

Außen hui, innen pfui, dachte Heike ironisch. Aber sie wollte sich nicht beklagen. Das Zwergenbüro hatte nämlich einen entscheidenden Vorteil. Es verfügte über eine Klimaanlage, die leise summend arktische Temperaturen produzierte.

Die Einrichtung bestand aus einem Schreibtisch, zwei Regalen, einem Computer mit Zubehör sowie zwei Bürostühlen. Auf einem davon thronte eine Dame, die nun ungnädig aufblickte.

»Was gibt es denn, Alice?«, fragte die Frau und schob ihre Lesebrille mit den halben Gläsern höher.

Heike schaute sich die Frau genauer an. Sie trug dieselbe Kitteluniform wie ihre Angestellten, hatte allerdings einen winzigen Trauerflor an ihrem Dress befestigt. Nach Heikes Schätzung war Ute Cordes ungefähr zehn Jahre älter als ihre ermordete Schwester. Sie hatte einiges an »Hüftgold« vorzuweisen, wie Heike mit routiniertem Blick feststellte. Als Fassadenklettererin konnte die Kriminalistin sich ihr Gegenüber jedenfalls nicht vorstellen.

Heike präsentierte noch einmal ihren Ausweis und stellte sich mit Namen und Dienstgrad vor. Ute Cordes nickte gnädig.

»Ah ja, Polizei. Ich dachte mir schon, dass Sie mich früher oder später wegen der Ermordung meiner Schwester befragen würden. – Das wäre es für den Moment, Alice. Du kannst zurück an die Arbeit gehen!«

Der letzte Satz galt der Parfümerie-Angestellten. Diese nickte, eilte hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Die Filialleiterin bot Heike einen Platz an.

»Zunächst möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen, Frau Cordes. Ich habe Ihre Schwester Nina gekannt.«

Das schien die Frau hinter dem Schreibtisch zu erstaunen.

»Wirklich?«

»Ja. Wir waren Nachbarinnen in dem Wohnhaus an der Isestraße.«

»Aha. Nun, dort bin ich nie gewesen. Meine Schwester und ich haben uns nicht sehr nahe gestanden. Es wäre Heuchelei, etwas anderes behaupten zu wollen. Daher sage ich es Ihnen lieber gleich.«

Heike hatte ihr Notizbuch aus ihrer Umhängetasche geholt und schrieb fleißig mit.

»Wie kam es zu dieser Distanz, Frau Cordes?«

»Durch den Altersunterschied, nehme ich an. Ich war schon elf Jahre alt, als Nina geboren wurde. Sie war immer das Nesthäkchen. Die Kleine, auf die ich als große Schwester aufpassen musste. Das hat mir als Kind natürlich überhaupt nicht gefallen. Vielleicht war ich auch eifersüchtig, weil sich plötzlich alles nur noch um das Baby Nina gedreht hat. Ich war ja Einzelkind, bevor meine Schwester geboren wurde.«

Heike nickte. Sie kannte solche Geschwister-Rivalitäten nicht aus eigener Erfahrung, denn sie war ebenfalls ein Einzelkind.

»Dann wussten Sie also nicht allzu viel über das momentane Leben Ihrer Schwester, Frau Cordes?«

»So ist es, Frau Kommissarin. Mir war natürlich bekannt, dass sie bei einer Bank arbeitete und in der Isestraße wohnte. Außerdem besuchten wir ja beide unsere Eltern im Pflegeheim regelmäßig. Aber dort haben wir uns fast nie getroffen. Allerdings haben wir uns auch nicht verabredet. Es war also Zufall, wenn wir uns dort über den Weg liefen.«

»Ich verstehe. Haben Sie denn trotzdem eine Idee, wer Ihrer Schwester nach dem Leben getrachtet haben könnte?«

Ute Cordes schüttelte den Kopf.

»Ich hatte allerdings vermutet, dass so ein Sittenstrolch Nina auf dem Gewissen hat. Das stand doch auch in der Zeitung.«

Heike nickte genervt.

Die Journalisten hatten natürlich wieder einmal nicht abwarten können, bis die Ermittlungen ein brauchbares Ergebnis boten. Daher war von den Medien aus der bloßen Tatsache, dass Nina Cordes eine Frau war und im Bett erwürgt wurde, ein Sexualverbrechen gemacht worden.

»Ja, es stand in der Zeitung. Ich kann Ihnen aber versichern, dass Ihrer Schwester keine sexuelle Gewalt angetan wurde. Der Täter hat sie offenbar zielstrebig erwürgt. Ich vermute daher, dass der Mörder im persönlichen Umfeld von Nina zu finden ist.«

»Das klingt einleuchtend«, sagte Ute Cordes. »Ich wünsche Ihnen natürlich, dass Sie den Mistkerl erwischen. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«

»Sie können mir etwas über Ninas Charakter verraten. Denn wenn ich auch neben ihr gewohnt habe, war unser Kontakt doch sehr oberflächlich. – Was war Ihre Schwester für ein Mensch? War sie leichtgläubig oder misstrauisch? War es einfach, Nina hinter das Licht zu führen?«

Heike dachte bei ihren Fragen natürlich an die Wahrsagerin Andrea Kern.

Ute Cordes zögerte einen Moment mit der Antwort. Sie schien angestrengt nachzudenken.

»Das ist wirklich eine schwere Frage, Frau Kommissarin. Ich würde meine kleine Schwester allerdings wirklich eher als leichtgläubig oder naiv einstufen. Sie hat immer an das Gute im Menschen geglaubt. So gesehen ist es eigentlich seltsam, dass Nina Bankerin geworden ist. Na ja, vielleicht hat sie ja geglaubt, armen Schluckern durch großzügige Kreditvergabe helfen zu können!«

Ute Cordes lachte hart auf.

Heike hingegen wurde stutzig. Wenn die beiden Schwestern angeblich so wenig Kontakt gehabt hatten, wieso wusste Ute dann, dass Nina Kreditsachbearbeiterin war? Doch die Hauptkommissarin ließ sich ihr Misstrauen nicht anmerken. Sie wollte Ninas Schwester in Sicherheit wiegen.

»Können Sie mir die Namen von irgendwelchen engeren Freunden der Ermordeten nennen, Frau Cordes?«

»Da muss ich passen. Leider bin ich Ihnen wohl keine große Hilfe. Aber wie gesagt, zwischen meiner Schwester und mir waren elf Jahre Altersunterschied. Ich habe schon lange mein eigenes Geld verdient, als Nina noch zur Schule ging.«

»Wann haben Sie Ihre Schwester zum letzten Mal lebend gesehen?«

»Warten Sie … das muss im Januar oder Februar gewesen sein. Wir haben uns zufällig in dem Norderstedter Pflegeheim getroffen, wo unsere Eltern untergebracht sind.«

»Darf ich fragen, was Ihre Eltern gemacht haben, bevor sie pflegebedürftig geworden sind?«

»Ja, natürlich. Meine Mutter war immer Hausfrau. Vater hingegen hatte ein größeres Bauunternehmen. Er hat es an seinen schärfsten Konkurrenten verkauft, bevor er sich aus dem Arbeitsleben zurückziehen musste. Und dabei noch einen guten Preis erzielt.«

Bei diesen Worten leuchteten Utes Augen auf. Heike rechnete schnell nach. Falls die Eltern für ihre Pflegebedürftigkeit vorgesorgt hatten, musste immer noch ein ansehnliches Vermögen vorhanden sein.

»Das wäre alles für heute, Frau Cordes«, sagte Heike und klappte ihr Notizbuch zu. Sie überreichte der Filialleiterin ihre Visitenkarte. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«

»Das werde ich tun, Frau Kommissarin. Ich will ja auch, dass der Mörder meiner Schwester gefasst wird.«

Die beiden Frauen verabschiedeten sich mit einem Händedruck voneinander. Heike fand, dass sich Ute Cordes’ Finger kalt und hart anfühlten. Und somit passten sie zu dem Erscheinungsbild, das Heike von der Zeugin gewonnen hatte.

Die Hauptkommissarin verließ die Parfümerie. Sie eilte gedankenverloren auf den nächsten Ausgang der Passage zu, als sie eine leise Frauenstimme hinter sich hörte.

»Frau Kommissarin!«

Heike drehte sich um.

Die junge Verkäuferin namens Alice war ihr nachgefolgt, und Heike sah ein böses Lächeln auf ihrem schönen Gesicht.

»Ich kann Ihnen noch etwas erzählen, das die alte Schreckschraube Ihnen garantiert nicht verraten hat. Zufälligerweise habe ich nämlich gerade Frühstückspause.«

»Haben Sie auch zufälligerweise an der Tür gelauscht, als ich mit Frau Cordes geredet habe?«, fragte Heike trocken.

»Wollen Sie nun die Information oder nicht?«, zischte Alice.

Die beiden Frauen gingen in eine gestylte Espressobar mit viel Chrom und Glas sowie einem Barista, der aussah wie ein italienischer Gigolo. Einen normalen Kaffeeausschank konnte man in dieser exklusiven Ladenpassage nicht erwarten.

Heike bestellte für sich und Alice Mineralwasser. Trotz der eisigen Temperaturen in dem klimatisierten Büro von Ute Cordes hatte sie an diesem glühenden Junitag kein Bedürfnis nach einem heißen Getränk.

»Ich warte!«, stieß die Kriminalistin ungeduldig hervor, als die Parfümerieverkäuferin erst einmal genüsslich ihren Lidstrich nachzog und dabei dem Italiener hinter der Chromtheke schöne Augen machte.

»Immer mit der Ruhe, Frau Kommissarin. Ich konnte leider nicht Ihr ganzes Gespräch mit meiner lieben Chefin … wahrnehmen. Aber ich wette, dass sie Ihnen nichts von Matthias Braun erzählt hat.«

Dieser Name war in der Tat nicht gefallen. Aber Heike wollte sich nicht aus der Reserve locken lassen.

»Erzählen Sie mir von Matthias Braun, Alice.«

»Mit dem größten Vergnügen«, entgegnete die junge Frau. Der Unterton in ihrer Stimme war zuckersüß. »Matthias Braun ist der Liebhaber von Frau Ute Cordes.«

Die Hauptkommissarin zuckte mit den Schultern.

»Na und? Ihre Chefin hat einen Freund – was soll daran ungewöhnlich sein? Wahrscheinlich hat sie ihn nicht erwähnt, weil er wirklich in keinem Zusammenhang mit dem Tod ihrer Schwester steht.«

»Oder weil sie nicht wollte, dass die Polizei etwas von ihrer Beziehung zu diesem hemmungslosen Schuldenmacher erfährt.«

Schuldenmacher? Heike merkte, wie dieses Stichwort ihre Kombinationsgabe in Bewegung setzte. Alice lächelte geschmeichelt, als sie das hellwache Interesse der Kripofrau bemerkte.

»Woher wissen Sie das mit den Schulden? Ihre Chefin wird wohl kaum allen Mitarbeiterinnen gesagt haben, dass ihr Freund tief in der Kreide steht.«

»Natürlich nicht, Frau Kommissarin. Aber ich habe Augen im Kopf. Ich kann Eins und Eins zusammenzählen. Mir ist nicht entgangen, wie dieser Matthias Braun öfter bei uns in der Parfümerie aufgetaucht ist und meine Chefin ihm heimlich Geld zugesteckt hat. Einmal waren auch Kredithaie da, so richtig unheimliche St. Pauli-Typen. Denen musste Frau Cordes einen Scheck geben, damit sie wieder abzogen. Und dann habe ich immer meine Lauscher aufgestellt, wenn die Gnädigste mit ihrem Freund telefoniert hat und es wieder einmal um Kredite, Mahnungen und Zwangsvollstreckung ging.«

Heike nickte und schrieb stichwortartig mit.

»Sie haben Matthias Braun gesehen, sagen Sie. Können Sie ihn beschreiben? Und wissen Sie, was er so macht – außer Schulden?«

Alice lachte.

»Sie haben ja Humor, Frau Kommissarin. Das hätte ich niemals für möglich gehalten. Ich dachte immer, Polizistinnen wären so streng und verkniffen. – Nun schauen Sie nicht so böse, war nur ein Witz. Ich weiß nicht, was dieser Matthias Braun macht. Er ist jedenfalls mittelgroß und drahtig, dunkelblond, schätzungsweise dreißig Jahre alt. Stets mehr oder weniger geschmackvoll gekleidet. Ach, er soll früher angeblich Zirkusartist gewesen sein. Aber ob das stimmt … Ich halte ihn für eine gescheiterte Existenz.«

Zirkusartist. Heike schrieb das Wort in ihr Notizbuch und unterstrich es zwei Mal dick. In Gedanken ging die Kriminalistin noch einmal das Gespräch mit der Filialleiterin durch. Plötzlich sah sie Ute Cordes in einem anderen Licht.

Heike löcherte Alice noch eine Weile. Aber die junge Frau konnte oder wollte keine weiteren Aussagen machen.

»Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Beobachtungen«, sagte Heike zum Abschied. »Obwohl es sich nicht gehört, an anderer Leute Türen zu lauschen.«

»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte die Parfümerieverkäuferin mit einer beinahe hasserfüllten Stimme. »Die alte Hexe macht mir jeden Tag zur Hölle. Ich freue mich, wenn ich es ihr einmal heimzahlen kann!«

7


Tatendurstig kehrte Heike per U-Bahn ins Präsidium zurück. Sie warf ihren Computer an und loggte sich in die Straftäter-Dateien des Landeskriminalamtes Hamburg ein. Sie wurde schnell fündig.

Matthias Braun war kein unbeschriebenes Blatt. Er hatte zwei Vorstrafen, eine wegen Betruges, die andere wegen Unterschlagung. Der inzwischen Zweiunddreißigjährige stammte aus einer Artistenfamilie und war als Kind und Jugendlicher selbst im Zirkus aufgetreten.

Heike starrte gebannt auf den Bildschirm.

Ihr Vorgesetzter kam aus seinem Büro und ging auf sie zu.

»Nun, Frau Stein? Kommt allmählich Bewegung in den Isestraßen-Fall?«

»Das kann man wohl sagen, Herr Kriminaloberrat. Ich habe inzwischen drei Verdächtige.«

Heike berichtete Dr. Magnussen im Telegrammstil von dem eifersüchtigen Ex-Freund, der Wahrsagerin und dem hoch verschuldeten Artisten. Heikes Chef kaute nachdenklich auf dem Stiel seiner kalten Tabakspfeife herum.

»Ich verstehe, Frau Stein. Sie meinen, dass dieser Ex-Trapezkünstler bei Nina Cordes eingestiegen ist und sie umgebracht hat. Die Eltern der beiden Schwestern sind alt und krank und werden vermutlich bald von selbst sterben. Wenn das geschehen ist, liegt das ganze Familienvermögen in den Händen von Ute Cordes. Und sie kann damit den Schuldenberg ihres Freundes abtragen.«

»Genauso hatte ich es mir vorgestellt, Herr Dr. Magnussen«, bestätigte Heike. Sie war völlig überrascht. Sollte der Kriminaloberrat ausnahmsweise der gleichen Meinung sein wie sie selbst? Das kam doch nur sehr selten vor.

»Gute Arbeit, Frau Stein. Fragen Sie doch mal diesen Matthias Braun, ob er ein Alibi für die Tatzeit hat. Aber die anderen Spuren sollten sie auch nicht vernachlässigen. Dieser aufbrausende Ballettlehrer scheint mir auch ein viel versprechender Kandidat zu sein. – Reichlich künstlerisch angehaucht, dieser Fall, so scheint es mir!«

Dr. Magnussen lachte. Das Geräusch erinnerte an das Gemecker eines Ziegenbocks. Aber Heike freute sich über die gute Laune ihres Vorgesetzten und grinste ebenfalls.

Als Nächstes versuchte sie, die Adresse von Matthias Braun herauszufinden. Das war gar nicht so einfach. Außerdem bekam sie auch noch unerwarteten Besuch.

»Hier ist ein gewisser Rechtsanwalt Dr. Döring, der dich sprechen will, Heike«, meldete die Wache vom Empfang per Telefon.

Heike raste hinunter und nahm den Juristen in Empfang. Er reichte ihr seine Hand, die sich so trocken und rau wie Sandpapier anfühlte.

»Ich vertrete die Interessen von Herrn Wolfgang Evers«, sagte der Anwalt, nachdem Heike ihn in die Räume der Sonderkommission Mord mitgenommen und auf ihrem Besucherstuhl platziert hatte. »Mein Mandant hat sich auf mein Anraten hin bereiterklärt, diesen DNA-Test über sich ergehen zu lassen. Das erscheint mir der einfachste Weg, diesen absurden Mordverdacht gegen Herrn Evers aus dem Weg zu räumen. – Selbstverständlich möchte ich anwesend sein, wenn Sie die Probe entnehmen.«

»Das lässt sich machen, Herr Dr. Döring«, flötete Heike. Sie war begeistert, dass die Dinge auf einmal wie am Schnürchen liefen. Die Kriminalistin verabredete sich mit dem Juristen in der Ballettschule. Nur eine Stunde später trafen Heike und Dr. Döring getrennt voneinander dort ein. Wolf Evers behandelte die Kriminalistin wie Luft. Aber das war ihr herzlich egal. Der Ballettlehrer öffnete brav den Mund, als Heike mit einem Holzspachtel etwas Speichel abstrich und in ein Gefäß tat.

»Sobald die Probe analysiert wurde, melden wir uns bei Ihnen«, sagte die Kriminalistin zu dem Juristen. Sie fuhr zurück ins Präsidium und gab das Gefäß in der Kriminaltechnik ab. Danach versuchte Heike weiterhin, Matthias Braun ausfindig zu machen. Polizeilich gemeldet war der Vorbestrafte in der Hein-Hoyer-Straße in St. Pauli. Aber dort wohnte schon längst jemand Anderes in der Behausung. Und zwar eine Prostituierte, die in der Wohnung offenbar auch ihre Kunden empfing.

»Eine Bullette?«, krächzte die nur mit Spitzendessous bekleidete Frau, nachdem sie einen Blick auf Heikes Dienstausweis geworfen hatte. »Ich weiß nicht, wo der Braun abgeblieben ist. Der Verwalter hat ihn rausgeschmissen, als er die Miete nicht mehr berappen konnte.«

»Vielen Dank«, sagte Heike sarkastisch. »Tut mir leid, dass ich Sie bei der Arbeit gestört habe.«

Die Prostituierte knallte Heike die Tür vor der Nase zu. Die Hauptkommissarin wandte sich nun an die Hausverwaltung. Dort erfuhr sie allerdings nur, dass Matthias Braun mit unbekanntem Ziel verzogen war. Man hatte es aufgegeben, die ausstehende Miete eintreiben zu wollen. Heike vermutete allerdings, dass es einträglicher war, die Wohnung an ein Callgirl zu vermieten.

Aus dem finstersten St. Pauli begab sich die Kriminalistin noch einmal in die heile Glitzerwelt des Passagenviertels. Heike hatte einmal gelesen, dass die Grundstückspreise zwischen Jungfernstieg und Gänsemarkt die höchsten in ganz Deutschland seien. Das konnte sie sich lebhaft vorstellen.

Ute Cordes war irritiert, die Hauptkommissarin so schnell wiederzusehen. Und sie wurde richtig zornig, als Heike ihr Anliegen vorbrachte.

»Ich wüsste nicht, was die Polizei mein Verhältnis zu Matthias Braun angeht!«

»Eine ganze Menge«, entgegnete Heike ruhig. »Ihre Beziehung zu dem offenbar hoch verschuldeten Herrn Braun ist ein überzeugendes Motiv für den Mord an Ihrer Schwester.«

»Ich soll Nina ermordet haben? Sind Sie wahnsinnig geworden?«

»Hüten Sie Ihre Zunge, Frau Cordes. Verraten Sie mir lieber, wo sich Matthias Braun zurzeit aufhält.«

»Er … er ist auf Geschäftsreise, in Süddeutschland. Ansonsten wohnt er bei mir, wenn Sie es unbedingt wissen müssen.«

Angeblich besaß Braun auch kein Handy, über das man ihn erreichen konnte.

Heike fuhr noch einmal ins Präsidium und berichtete Dr. Magnussen von ihren Ermittlungen.

»Ich werde diesen Matthias Braun zur Fahndung ausschreiben«, sagte Dr. Magnussen und griff zum Telefon. »Gute Arbeit, Frau Stein! Sie können dann jetzt Feierabend machen.«

Heike konnte es immer noch nicht fassen, dass ihr Chef so nett zu ihr war. Irgendwie musste wohl ihr Glückstag sein. Inzwischen war die Kriminalistin überzeugt davon, dass Matthias Braun ihre Nachbarin Nina Cordes ermordet hatte. Die Bereitwilligkeit von Wolf Evers, den genetischen Fingerabdruck von sich nehmen zu lassen, sprach im Grunde für dessen Unschuld. Und die Wahrsagerin? Der Verdacht gegen Andrea Kern war wohl doch ein wenig an den Haaren herbeigezogen, wie Heike inzwischen selbstkritisch zugeben musste.


Als sie in ihrer Wohnung angelangt war, duschte sie erst einmal ausgiebig. Danach zog sie nur noch einen Slip, Shorts und ein Top an. Sie hatte nicht vor, an diesem Abend noch auszugehen. Heike war doch müder, als sie zunächst angenommen hatte.

Da läutete es an ihrer Tür.

Die Hauptkommissarin öffnete neugierig. Sie erwartete niemanden. Ihr Dienstpartner und Kollege Ben Wilken kam die Treppe hoch. Heike erschrak, als sie sein Gesicht erblickte. Er sah furchtbar aus. Trotz seiner Sonnenbräune war er totenbleich, die Gesichtszüge zeigten großen Schmerz oder Kummer an.

»Ben! Was ist passiert?«

»Kann ich reinkommen, Heike? Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen soll …«

»Ja, natürlich. Komm’, ich mach’ dir erst mal einen Kaffee.«

Heike lotste den dunkelhaarigen Hauptkommissar auf ihr Sofa im Wohnzimmer. Dann stellte sie die Kaffeemaschine an. Ben hockte stocksteif da. Aber als sie sich neben ihn setzte, begann er so automatisch wie ein Roboter zu erzählen.

»Ich habe heute einen Verdächtigen im Colonnaden-Fall beschattet, Heike. Stundenlang wurde ich im Dienstwagen gegrillt. Als Bernd mich dann abgelöst hat, wollte ich schnell nach Hause, um mir ein frisches Hemd anzuziehen.«

»Verständlich. Und dann?«

»Ich bin also unerwartet früh nach Hause gekommen, Heike. Maja hat mich also nicht erwartet. Sie hat auch nicht gehört, wie ich zur Tür reingekommen bin. Sie war nämlich auf der Couch im Wohnzimmer beschäftigt – mit einem anderen Mann.«

Heike war geschockt. Sie kannte Maja, Bens Frau, nur flüchtig. Nie hätte die Hauptkommissarin ihr zugetraut, dass sie fremdgehen würde.

»Bist du dir da absolut sicher?«, bohrte sie deshalb nach.

»Absolut«, würgte Ben hervor. »Die beiden waren so sehr ineinander verschlungen, dass sie mich nicht gesehen haben. Ich bin wieder rausgegangen und durch die Stadt geirrt. Dann … dann kam ich hierher. Weil du die Einzige bist, mit der ich darüber reden kann.«

Ben begann zu weinen. Das brach Heike fast das Herz. Sie hatte es noch nie ertragen können, Männer in Tränen aufgelöst zu sehen.

»Nicht, Ben«, flüsterte Heike und legte die Arme um den großen breitschultrigen Mann neben ihr. Sie zog ihn an sich, bis sie seine harten Bartstoppeln an ihrer Wange spürte.

»Sei nicht traurig. Es gibt auch noch andere Frauen«, hörte Heike sich selbst sagen. Sie küsste Ben auf den Mund, ohne darüber nachzudenken. Und dann gleich noch einmal. Beim dritten Kuss erwiderte ihr Kollege die Zärtlichkeiten.

Heike begann innerlich zu glühen, als sie Bens Hände auf ihrer Haut spürte. Sie konnte jetzt nicht mehr klar denken. Und sie wollte es auch nicht. Sie hatte nur noch den Wunsch, glücklich zu sein. Und Heike war in Bens Armen glücklicher als jemals zuvor.

Die Kriminalistin hatte ihren dreißigsten Geburtstag schon vor einigen Jahren hinter sich gebracht. Sie war nicht gerade unerfahren, was ihr Verhältnis zu Männern anging. Doch als Ben in sie eindrang, erkannte sie blitzartig, dass es noch mit keinem Anderen so gewesen war wie mit ihm.

Später lagen sie nackt und eng aneinander geschmiegt in Heikes Bett.

»Das hätte nicht passieren dürfen«, sagte Ben.

»Wieso? Hast du es nicht gewollt?«, fragte Heike.

»Oh, doch, ich habe es gewollt.«

Der dunkelhaarige Hauptkommissar zögerte, bevor er weitersprach. »Ich habe es gewollt, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«

»Na, das hast du dir aber niemals anmerken lassen!«

»Wundert dich das? Ich bin schließlich verheiratet. Und ich liebe Maja. Bis heute habe ich auch geglaubt, sie würde mich lieben. – Aber ich liebe dich ebenfalls, Heike! Das eben … das war nicht einfach nur eine Bettgeschichte für mich.«

»Ich weiß«, flüsterte Heike und küsste ihren Kollegen noch einmal auf den Mund. »Das habe ich gespürt. – Aber ich verrate dir etwas, Ben. Ich habe mich nach dir gesehnt, seit … ja, seit wir uns kennen. Aber ich wollte mich eigentlich nie mit einem verheirateten Mann einlassen. Das ist mir auch gelungen. Bis heute.«

Ben wollte etwas erwidern. Aber da klingelte das Telefon. Heike hatte das Mobilteil des Apparates auf den Nachttisch gelegt. So machte sie es immer, wenn sie im Schlafzimmer war. Daher reichte ein Griff, um sich das Telefon zu fischen.

»Stein.«

»Hier spricht Maja Wilken, Heike. – Sag’ mal, hast du eine Ahnung, wo Ben ist?«

Heikes Herz blieb beinahe stehen. Bens treulose Frau war am anderen Ende der Leitung. Und sie sprach so locker, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

»Wie… wieso fragst du, Maja?«

»Weil ich ihn über sein Handy nicht erreichen kann! Könntest du ihm bitte etwas ausrichten, Heike? Ich bin nämlich in Husum, bei meinen Eltern. Ich musste heute spontan hierher fahren. Mein Vater hat nämlich einen Kreislaufkollaps erlitten, wegen der Hitze. Es geht ihm aber schon besser. – Jedenfalls habe ich einen Babysitter engagiert, der sich um unsere Tochter kümmert. Ben kennt die junge Frau, ihre Eltern haben ein Haus in unserer Straße. Sie kann ihm heute Abend auch was zu essen machen.«

»Ja, äh, Ben hat einen Einsatz«, stammelte Heike.

»Na, jedenfalls richte ihm doch bitte aus, was ich gesagt habe. Ich hoffe, dass ich morgen wieder nach Hamburg kommen kann. Ich muss jetzt Schluss machen. – Tschüss!«

Ben schaute Heike fragend an. Die Hauptkommissarin berichtete ihm wortwörtlich, was Maja gesagt hatte. Daraufhin wurde der Kriminalist noch einmal so bleich, wie er es bei der Ankunft in Heikes Wohnung gewesen war.

»Oh, nein! Ich habe alles vermurkst.«

»Wie meinst du das, Ben?«

»Verstehst du nicht, Heike? Maja hat mich gar nicht betrogen! Jedenfalls, wenn sie wirklich aus Husum angerufen hat …«

»Das hat sie«, warf Heike ein. »Jedenfalls hatte die Rufnummer auf meinem Display eindeutig die Vorwahl von Husum.«

»Dann ist die Sache wirklich klar. Die Frau, die vorhin in meinem Haus mit einem Kerl beschäftigt war, heißt Meike. Sie ist achtzehn Jahre alt, hat schon öfter für unsere kleine Pia Babysitter gespielt.«

»Wie kann das angehen?«, wunderte sich Heike. »Erkennst du deine eigene Frau nicht?«

»Meike hat dieselbe Haarfarbe und -länge wie meine Frau Maja. Ich habe sie nur kurz gesehen, nackt und von hinten. Ich wollte mir das … nicht ausgiebig anschauen. Ich bin doch kein Spanner!«

»Und wo ist deine Tochter, Ben?«

Der Hauptkommissar rechnete kurz nach.

»Als diese verflixte Meike mit ihrem Freund auf meinem Sofa rumgemacht hat, muss Pia noch bei der Reitstunde gewesen sein. Wahrscheinlich hat Maja die Babysitterin auch gebeten, sie dort abzuholen. Und mein Handy? Das hat wohl vorhin wirklich seinen Geist aufgegeben. – Aber das ist alles nicht so wichtig. Tatsache bleibt: Maja hat mich nicht betrogen.«

»Aber du hast sie betrogen«, erwiderte Heike mit tonloser Stimme. »Und zwar mit mir.«

»Es ist alles meine Schuld«, betonte Ben. »Ich hätte mich beherrschen müssen. Maja würde uns wahrscheinlich nicht auf die Schliche kommen, aber … wir müssen es ihr gestehen.«

»Ja, du bist eine ehrliche Haut. Genau darum liebe ich dich, Ben. – Unter anderem.«

Heike nahm den Mann noch einmal in ihre Arme. Sie wollte es genießen, solange er bei ihr war.

»Ich weiß gar nicht, wie es nun weitergehen soll, Heike. Mit meiner Ehe. Und mit uns.«

»Das weiß ich auch nicht.« Heike öffnete ihre Nachttischschublade und überreichte Ben einen Schlüssel. »Hier, das sind meine Reserveschlüssel für die Wohnungstür und die Haustür unten. Du kannst jederzeit hierher kommen, wenn … ja, wenn du willst.«

Der Hauptkommissar überlegte einen Moment lang. Dann nahm er die Schlüssel entgegen.

»Danke, Heike. Ich fürchte, dass ich nun gehen muss. Irgendwann muss man der Wahrheit eben ins Gesicht blicken.«

Ben nahm Heikes Gesicht in seine Hände. »Du bist jedenfalls die tollste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe, Heike.«

Die Kriminalistin grinste freudlos.

»Außer Maja.«

»Ja, außer Maja.« Ben seufzte. »Warum muss das Leben immer so kompliziert sein?«

»Vielleicht, weil wir Menschen sind und uns gern in Widersprüchen verfangen? – Auf jeden Fall finde ich es gut, dass du deiner Frau reinen Wein einschenken willst.«

Ben verzog den Mund.

»Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich darauf freue. Aber es muss sein.«

»Ja, es muss sein«, bestätigte Heike.

Ben zog sich schweigend an und schob das kleine Schlüsselbund in seine Hosentasche. Zum Abschied gab er Heike noch einen zärtlichen Kuss.

»Ich rufe dich an, sobald es möglich ist.«

»Ich freu’ mich drauf. Tschüss«, flüsterte Heike. Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie ihre Wohnungstür zuklappen hörte.

Die Kriminalistin atmete tief durch. Sie musste sich eingestehen, dass sie so verliebt war wie noch niemals zuvor in ihrem Leben. Und das ausgerechnet in einen Mann, der nicht nur verheiratet war, sondern mit dem sie außerdem noch sehr eng zusammenarbeitete. Die meisten ihrer Kriminalfälle lösten Heike und Ben gemeinsam. Es war eine absolute Ausnahme, dass die Hauptkommissarin allein auf Mörderjagd gehen musste wie bei dem Verbrechen an ihrer Nachbarin.

Heike ging nackt wie sie war ins Badezimmer. Dort schaute sie sich kritisch im Spiegel an. Ihre blonde Kurzhaarfrisur war derangiert, was nach dem Liebesspiel allerdings auch kein Wunder war. Ansonsten machte sie einen durch und durch zufriedenen Eindruck. Die Wonne, die sie in Bens Armen erlebt hatte, wirkte noch nach.

»Toll siehst du aus, du Ehebrecherin!«, sagte Heike laut zu sich selbst und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge entgegen. Natürlich konnte die Hauptkommissarin nicht vorhersagen, wie Bens Frau reagieren würde. Aber egal wie Maja sich entschied – Heike konnte nicht mehr mit Ben zusammenarbeiten. Sie hatte es sich zu einem eisernen Prinzip gemacht, Privatleben und Beruf strikt zu trennen. Sonst konnte sie nämlich niemals abschalten. Sie traf sich in ihrer Freizeit auch nicht mit anderen Polizistinnen und Polizisten, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Nicht dass sie etwas gegen ihre Kollegen gehabt hätte. Aber wenn sie mit anderen Ordnungshütern zusammensaß, dann war es immer so, als wäre sie bei der Arbeit.


Heike nahm sich vor, die Sonderkommission Mord zu verlassen. Es fiel ihr schwer, aber es gab keine andere Möglichkeit. Dr. Magnussen würde ihr keine Träne nachweinen, denn der Kriminaloberrat hielt sowieso nichts von Frauen im Polizeidienst.

Wenn die Hauptkommissarin Pech hatte, würde sie auf irgendeiner todlangweiligen Archivdienststelle landen. Aber sollte sie vielleicht von Ben verlangen, dass er sich ihretwegen versetzen ließ? Das wäre nicht fair.

Trotzdem gingen Heike diese Zukunftsaussichten gewaltig an die Nieren. Sie kehrte zurück ins Schlafzimmer und warf sich weinend auf das Bett.

8


Am nächsten Morgen fühlte sich die blonde Kriminalistin wie zerschlagen. Trotz des strahlend schönen Sommerwetters zog sie ein schwarzes Kostüm aus Leinen an, mit knielangem Rock und schmalem Revers. Dazu passte eine dunkle violettfarbene Bluse ohne Ärmel. Ihre düstere Aufmachung passte zu Heikes Stimmung.

Bei der Morgenbesprechung im Präsidium war Ben nicht anwesend. Dr. Magnussen erwähnte allerdings, dass der dunkelhaarige Hauptkommissar bereits seit den frühen Morgenstunden mit einer Observierung im Colonnaden-Fall beschäftigt war.

Die Konferenz verlief ohne Besonderheiten, soweit Heike das beurteilen konnte. Sie hatte Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren. Nach der Dienstbesprechung bat sie den Kriminaloberrat um ein Gespräch unter vier Augen. Dr. Magnussen nahm sie mit in sein Dienstzimmer und machte die Tür zu.

»Nun, was haben Sie auf dem Herzen, Frau Stein?«

»Ich möchte Sie offiziell um meine Versetzung bitten, Herr Kriminaloberrat. Ich will weg aus der Sonderkommission Mord.«

Dr. Magnussen starrte Heike Unheil verkündend an.

»Das ist bereits mein zweites Versetzungsgesuch heute Morgen! Herrn Wilken gefällt es auch nicht mehr bei uns! Was ist passiert, Frau Stein? Haben Sie sich mit Ihrem Dienstpartner zerstritten?«

»Nein, Herr Kriminaloberrat. Ich habe mit ihm geschlafen.«

Nach Heikes Geständnis wurden Dr. Magnussens Ohren so rot wie die Backbord-Positionslaternen eines Seeschiffes.

»Aha. Hm. Äh, so ist das also. Es ist ja Ihre Privatsache, was Sie in Ihrer Freizeit, äh, tun, Frau Stein. Aber ich finde es nicht gut, wenn der Dienst darunter leidet. Ich kann mir nicht einfach neue Mordspezialisten aus den Rippen schneiden. Herr Wilken und Sie haben diverse Fortbildungen genossen, daran muss ich Sie wohl nicht erinnern! – Nein, Ihr Versetzungsgesuch muss ich einstweilen ablehnen. Wenn es Ihnen allerdings Probleme bereitet, mit Herrn Wilken zusammenzuarbeiten, dann werde ich versuchen, Sie auf unterschiedliche Fälle anzusetzen.«

Das war jedenfalls immer noch besser als gar nichts, wie Heike fand.

»Danke, Herr Kriminaloberrat«, sagte sie mit metallisch klingender Stimme.

»In Ordnung, Frau Stein. Und nun zurück an die Arbeit mit Ihnen! Ich möchte diesen Isestraßen-Fall möglichst bald abschließen.«

Dagegen hätte auch Heike nichts einzuwenden gehabt. Aber so leicht war das nicht. Die Kriminalistin hatte inzwischen den hoch verschuldeten Ex-Artisten Matthias Braun als Hauptverdächtigen auf ihrer Liste. Doch der Liebhaber von Ute Cordes war wie vom Erdboden verschluckt. Heike fuhr noch einmal zu der Parfümerie im Passagenviertel.

»Was für Geschäfte betreibt Ihr Freund eigentlich?«, fragte sie die Filialleiterin.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte Ute Cordes patzig. Sie starrte Heike mit einer Mischung aus Furcht und Hass an. Ninas Schwester war alles andere als glücklich darüber, dass Heike von ihrer Verbindung zu Matthias Braun erfahren hatte.

»Wollen Sie mich für dumm verkaufen?«, grollte Heike. »Wenn sich herausstellen sollte, dass Ihr Freund etwas mit dem Mord an Ihrer Schwester zu tun hat, dann sind Sie wegen Beihilfe dran.«

Oder wegen Anstiftung zum Mord, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber Ute Cordes schaltete ohnehin auf stur und weigerte sich, ohne juristischen Beistand weitere Aussagen zu machen.

Der Rest des Tages verging mit quälender Routinearbeit. Heike hatte das Gefühl, völlig neben der Spur zu laufen. Und das lag ganz gewiss nicht nur an der sengenden Hitze, die auch vor den Räumen der Sonderkommission Mord nicht Halt machte.

Heike war so verliebt wie ein junges Mädchen nach dem ersten Treffen mit ihrem Traumprinzen. Aber die Hauptkommissarin wusste gleichzeitig, dass es wohl keine gemeinsame Zukunft für sie und Ben geben würde. Die blonde Hamburgerin war realistisch genug, sich das einzugestehen.

Ben liebte Maja nach wie vor. Wenn er sich für Heike entschied, musste er gleichzeitig seine Frau und seine Tochter im Stich lassen. Heike wusste genau, dass sie unter solchen Umständen nicht glücklich werden konnte.

Und diese Aussicht trug natürlich nicht dazu bei, ihre Laune zu verbessern.

Am späten Nachmittag rief Ben sie im Präsidium an.

»Ich habe Maja gestern alles erzählt«, sagte er statt einer Begrüßung.

»Und? Wie hat sie reagiert?«

»Sie will heute Abend mit dir reden, Heike. Maja will dich besuchen und sich anhören, wie du die … Ereignisse siehst.«

»Das finde ich gut«, behauptete Heike, obwohl sich bei der Aussicht auf ein Treffen mit ihrer Rivalin ihr Magen umdrehte. »Wie geht es dir, Ben?«

»Ich fühlte mich schon mal besser, ehrlich gesagt. Jedenfalls kann ich nicht mehr in unserer Abteilung arbeiten.«

»Dr. Magnussen hat mir erzählt, dass du dich versetzen lassen willst. Er hält davon überhaupt nichts. Er will uns nicht verlieren, aber wir sollen nicht mehr an denselben Fällen arbeiten.«

»Und wie soll es privat mit uns weitergehen?«

»Willst du eine ehrliche Antwort?«, fragte Heike.

»Ja.«

»Ich sehne mich nach dir«, flüsterte sie. »War das ehrlich genug?«

Ben seufzte.

»Ich kann auch nicht vergessen, was gestern zwischen uns gewesen ist, Heike. – Ist das nicht eine Ironie des Schicksals? Jahrelang haben uns diese Kantinen-Lästerzungen eine Liebesaffäre angedichtet. Und jetzt haben wir wirklich eine.«

»So etwas nennt man wohl eine sich selbst erfüllende Prophezeiung«, witzelte Heike düster. »Musst du eigentlich gar nicht arbeiten?«

»Doch, ich habe nur gerade Pause. Ich bin gerade in einer völlig öden Ecke von Harburg. Keine Ahnung, was die Freundin unseres Hauptverdächtigen hier will.«

»Lass’ uns noch mal telefonieren, wenn Maja bei mir war, in Ordnung?«

»So machen wir es, Heike. Tschüss.«

»Tschüss.«

An diesem Tag war Heike froh, endlich Feierabend machen zu können. Allerdings konnte sie nicht behaupten, dass sie der Begegnung mit Maja entgegenfieberte. Aber es war sicher wichtig, reinen Tisch zu machen.

In ihrer Wohnung angekommen löffelte Heike einen Jogurt. Es war die einzige Nahrung, die sie an diesem Tag zu sich genommen hatte. Wenn man von Mineralwasser und Kaffee absah. Der kombinierte Berufs- und Beziehungsstress war ihr auf den Magen geschlagen.

Eigentlich könnte man sich keine effektivere Diät vorstellen, dachte Heike selbstironisch. Sie schrak zusammen, als es an ihrer Tür läutete.

Heike ging hin und öffnete.

Maja stand vor ihr.

»Die Haustür unten war auf«, sagte Bens Frau. »Da bin ich einfach hochgekommen.«

»Die Haustür steht im Sommer meist sperrangelweit auf«, bestätigte Heike. »Und dann wundern sich die Leute, wenn bei ihnen eingebrochen wird.«

»Ich wollte aber nicht über Einbruch mit dir reden, Heike. Sondern über Ehebruch!«

Das fängt ja gut an, dachte die Kriminalistin. Aber sie sagte: »Komm’ doch erst mal rein, Maja.«

Sie führte die Frau ihres Kollegen, Dienstpartners und Liebhabers in ihr Wohnzimmer. Maja setzte sich auf das Sofa. Dorthin, wo Heike und Ben sich am gestrigen Tag zum ersten Mal geküsst hatten.

Doch irgendwie konnte Heike dieser Situation nichts Komisches abgewinnen. Heike setzte sich in ihren Fernsehsessel, möglichst weit von ihrer Rivalin entfernt.

»Würde es dir helfen, wenn ich sage, dass mir alles schrecklich leid tut, Maja?«

»Und danach willst du wieder zur Tagesordnung übergehen, Heike? ›Tut mir leid, ich habe mit deinem Mann geschlafen, soll nicht wieder vorkommen?‹«

»So war es nicht, Maja.«

»Dann sag’ du mir, wie es war, Heike. Ben nimmt alle Schuld auf sich. Aber wir wissen doch, dass zu dem Spiel immer Zwei gehören. Es sei denn, er wäre über dich hergefallen.«

»Ben hat sich nicht an mir vergangen!«, erwiderte Heike heftig. »Es war ganz anders. Er kam zu mir, weil er glaubte, dass du ihn betrogen hättest.«

»Ja, er hat diesen pflichtvergessenen Babysitter mit mir verwechselt. Ich habe mir die kleine Meike inzwischen zur Brust genommen. Sie ist puterrot angelaufen, hat aber alles gestanden.«

»Na, siehst du! Ben dachte, du würdest ihn betrügen. Er wusste nicht, was er tun sollte.«

»Und da bist du natürlich sofort tröstend eingesprungen!«, höhnte Maja.

»Das ist gemein«, sagte Heike. Sie kämpfte mit den Tränen. »Was hätte ich tun sollen? Ben zu einem Seelenklempner schicken?«

»Das wäre vielleicht das Beste gewesen. – Diese Story mit dem Babysitter hat mir ja Meike bestätigt. Das wird sich alles wirklich so abgespielt haben. Aber ich werfe dir vor, Heike, dass du die Gelegenheit sozusagen am Schopf ergriffen hast. Du hast gewiss wirklich geglaubt, ich hätte Ben betrogen. Daraufhin hast du dir gedacht, dass er sozusagen wieder frei wäre. Und die Gelegenheit …«

»Gelegenheit, Gelegenheit!«, wiederholte Heike genervt. »Da bist du auf dem falschen Dampfer. An fast jedem Tag, den ich bisher zusammen mit Ben im Einsatz war, wäre Gelegenheit gewesen, miteinander zu schlafen.«

»Dann muss ich euch wohl noch dankbar sein, dass ihr so lange gewartet habt?«, ätzte Maja.

»Nein, du musst uns nicht dankbar sein«, erwiderte Heike. Nun kamen ihr wirklich die Tränen. »Ich rede jetzt Klartext mir dir, Maja. Ja, ich habe mit deinem Mann geschlafen. Ja, ich liebe deinen Mann. Und nein, ich werde ihn dir nicht wegnehmen. Ich will eure kleine Familie nicht zerreißen. Ben hat mir gesagt, dass er dich liebt.«

Der dunkelhaarige Hauptkommissar hatte zwar ebenfalls gestanden, dass er Heike liebte. Aber das sagte die Kriminalistin nicht. Sie hatte momentan nur noch einen Wunsch: dass nämlich diese Unterredung vorbei sein würde.

Immerhin hörte Maja nach Heikes tränenreichem Ausbruch auf, die Hauptkommissarin mit Hohn und Spott zu übergießen. Und das war immerhin ein Anfang, wie Heike fand.

Fast zehn Minuten lang schwiegen beide Frauen.

Dann sagte Maja: »Es ist für dich wahrscheinlich auch nicht leicht, Heike.«

»Darauf kannst du wetten!«, erwiderte die Hauptkommissarin und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ich habe mir irgendwann einmal vorgenommen, nie etwas mit einem verheirateten Mann anzufangen. Nun, da habe ich versagt. Aber nun weiß ich, dass dieses Prinzip wirklich Gold wert ist.«

»Und wenn wir uns scheiden lassen, Ben und ich?«

Nachdem Maja diese Frage gestellt hatte, blitzte für einen Moment ein Fantasiebild in Heikes Seele auf. Sie sah sich selbst im Brautkleid neben Ben vor dem Traualtar stehen. Aber sie schüttelte den Kopf. Es dauerte nur einen Moment, dann war die Vision wieder verschwunden.

»Das glaube ich nicht, Maja. Ich bin überzeugt, dass du Ben liebst. Verflixt noch mal, das war ein einmaliger Fehltritt! Jedenfalls, wenn es nach mir geht.«

Heike verschwieg allerdings, dass dieser einmalige Fehltritt das schönste Erlebnis ihres bisherigen Lebens war. Sie wollte die Dinge nicht unnötig kompliziert machen.

»Meinst du das ehrlich?«, fragte Maja.

»Ja«, bestätigte Heike und sprach damit für den vernünftigen, verantwortungsvollen Teil ihres Charakters.

»Es war wohl wirklich ein idiotischer Zufall«, seufzte Maja. »Die Krankheit meines Vaters, außerdem dieser verflixte hemmungslose Babysitter – vielleicht hat das Schicksal ja alles vorherbestimmt.«

»Vielleicht«, murmelte Heike. Bei der Erwähnung des Wortes Schicksal musste sie an diese unglückselige Wahrsagerin Andrea Kern denken. Diese hatte Heike prophezeit, dass sie die Liebe ihres Lebens finden würde. Nun, darüber wollte die Kriminalistin jetzt erst recht nicht nachdenken.

»Ich will mich nicht wirklich scheiden lassen«, sagte Bens Frau und stand auf. »Ich glaube nun, dass Ben und ich es auf jeden Fall noch einmal miteinander versuchen sollten. – Aber eines muss ich meinem Mann lassen, Heike. Er hat selbst bei seinem Ehebruch Geschmack bewiesen.«

Der letzte Satz sollte zweifellos ein Kompliment für die Hauptkommissarin sein, aber Heike fühlte sich trotzdem hundsmiserabel.

Die beiden Frauen verabschiedeten sich mit einem Händedruck voneinander.

Als Maja endlich gegangen war, konnte Heike nicht einmal mehr weinen. Sie fühlte sich körperlich und seelisch völlig taub. Geistesabwesend begann sie damit, ihr Badezimmer zu putzen, obwohl es eigentlich blitzsauber war.

Dann setzte die Kriminalistin sich vor den Fernseher und schaltete das Gerät ein. Heike schaute sich einen Western an. Sie war froh, sich halbwegs auf die vorhersehbare Handlung konzentrieren zu können. Und nicht so sehr an ihre eigenen Probleme und ihren aktuellen Fall denken zu müssen. Die blonde Hamburgerin trank eine halbe Flasche Wein, bis schließlich in dem Film der Held mit dem weißen Hut den Schurken mit dem schwarzen Hut erschoss.

Heike machte den Fernseher aus, wusch sich, putzte ihre Zähne und ging ins Bett. Sie konnte lange nicht einschlafen. Es war eine warme Nacht. Die Enten im Isebek-Kanal vor ihrem Fenster wollten scheinbar überhaupt nicht mit dem Quaken aufhören. Aber schließlich wurde Heike doch von der Müdigkeit überwältigt.

Mitten in der Nacht wachte die Kriminalistin auf. Sie hörte, wie ihre Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Schritte näherten sich ihrem Schlafzimmer. Dann knarrte die angelehnte Schlafzimmertür.

Heike lächelte im Halbschlaf. Sie hatte sich unvernünftigerweise so sehr gewünscht, dass Ben zu ihr kommen würde. Und nun schien dieser Traum in Erfüllung zu gehen.

»Mach’ dir doch Licht an, bevor du dich an irgendwelchen Möbeln stößt«, murmelte sie.

Da ertönte ein hartes, gemeines Männerlachen.

Heike wurde schlagartig hellwach. Das war nicht Bens Stimme!

Ein fremder Mann war in ihre Wohnung eingedrungen. Doch bevor Heike etwas unternehmen konnte, hatte der Unbekannte ihr Bett erreicht. Zwei Hände in Lederhandschuhen packten Heikes Kehle und drückten zu!

Die Hauptkommissarin war nur mit einem Slip und einem Nighty bekleidet. So wie in der Nacht, als ihre Nachbarin erwürgt wurde. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass Heike nun denselben Täter vor sich hatte. Den Mörder von Nina Cordes.

Der Mann drückte offenbar mit voller Kraft zu. Er verstand sein Handwerk. In diesem Moment war Heike überzeugt, es mit einem Profi zu tun zu haben. Doch während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, blieb sie natürlich nicht untätig. Sie musste dringend etwas unternehmen, wenn sie die nächsten paar Minuten überstehen wollte.

Heike hatte bereits ihr Kinn auf die Brust gesenkt. Dadurch wanderte ihr Kehlkopf nach innen und konnte nicht so leicht zerquetscht werden. Das war eine jahrtausendealte Kung-Fu-Technik. Genau wie die nächsten Gegenangriffe von Heike.

Der Würger kniete auf der Hauptkommissarin, die auf dem Bauch lag. Aber Heike hatte zum Glück immer noch die Hände frei. Sie tastete sich schnell vor und bekam die beiden kleinen Finger in den Lederhandschuhen zu fassen. Dann bog sie diese mit aller Kraft nach außen.

Dadurch entstand ein Schmerz, den auch der abgebrühteste Profi nicht aushielt.

Der Mörder schrie auf. Unwillkürlich lockerte er seinen Würgegriff.

Heike rollte sich seitwärts weg. Ihr war klar, dass sie den Angreifer schnell ausschalten musste. Er würde ihr wohl kaum Zeit lassen, an ihre Dienstwaffe zu gelangen. Die Pistole lag vorschriftsmäßig eingeschlossen in einer Schublade.

Aber Heike brauchte keine Schusswaffe, um sich ihrer Haut zu wehren. Der schwarz gekleidete Täter fluchte wie ein Bierkutscher. Trotz der Dunkelheit in ihrem Schlafzimmer konnte die Hauptkommissarin erkennen, dass der Mann maskiert war.

Heike wollte nicht warten, bis die Schmerzen in den Fingern des Mörders erträglich geworden waren. Sie schlug zu, ohne nachzudenken. Durch das jahrelange Kung-Fu-Training hatte sie blitzartige Reflexe entwickelt.

Heikes Faust krachte gegen den Schädel des Maskierten. Dessen Körper erschlaffte. Aber die Kriminalistin war vorsichtig. Sie riss seine Handgelenke auf den Rücken, tastete in der Finsternis nach dem Handschellenpaar, das sie an ihrem Rockbund befestigt hatte. Erst als sich die Stahlfessel um die Handgelenke des Täters schloss, atmete Heike auf.

Sie wurde sogar von einem richtigen Hochgefühl erfasst, als sie das Licht anknipste. Der Mörder war bewusstlos. Die Hauptkommissarin rief im Präsidium an, alarmierte ihre Kollegen und bestellte auch gleich einen Rettungswagen für den Ohnmächtigen.

Heike drehte den leblosen Körper in eine stabile Seitenlage. Dann war es vorbei mit ihrer Beherrschung. Neugierig riss sie dem Würger die Maske vom Kopf. Es war eine handelsübliche Motorradkappe, die man in jedem Zweiradgeschäft bekommt.

Aber das Gesicht des Killers hatte Heike noch niemals zuvor gesehen.

9


Natürlich schlug Heikes spektakuläre Verhaftung des Mörders wie eine Bombe bei der Sonderkommission Mord ein. Mindestens ein halbes Dutzend Mal musste die Kriminalistin noch vor Beginn der Morgenbesprechung berichten, wie sie den ungebetenen Besucher überwältigt hatte.

»Aber ist es nicht etwas leichtsinnig, keine Sperrkette oder einen Riegel an der Wohnungstür zu haben?«, fragte Melanie Russ.

»Klar, das ist leichtsinnig«, räumte Heike scheinbar zerknirscht ein. »Ich habe beides an meiner Tür, aber ausgerechnet an dem Abend hatte ich vergessen, Kette und Riegel vorzulegen.«

In Wirklichkeit hatte Heike es bewusst nicht getan, weil sie auf einen Besuch von Ben hoffte. Aber das ging Melanie Russ nun wirklich nichts an, wie Heike fand.

»Ist denn schon gesichert, dass dieser Maskierte derselbe Mann ist, der auch deine Nachbarin überfallen hat?«, wollte Robert Wagner wissen.

Die Hauptkommissarin schüttelte den Kopf.

»Gesichert ist es noch nicht. Der Knabe wird ja momentan in der Krankenabteilung von Santa Fu durchgecheckt, nachdem ich meine Kung-Fu-Kenntnisse an ihm ausprobieren durfte. Aber beide Taten tragen dieselbe Handschrift – abgesehen davon, dass der Täter einmal durch das Fenster kam, das andere Mal durch die Tür.«

Die Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel wird im Hamburger Volksmund Santa Fu genannt.

»Und abgesehen davon, dass du noch lebst, Heike«, bemerkte Melanie Russ trocken. Aber aus ihrer Stimme sprach große Erleichterung darüber, dass der blonden Kollegin nichts geschehen war.

Heike lächelte. Sie war innerlich völlig aufgedreht, fühlte sich wie berauscht. Ihr Liebeskummer war einstweilen völlig vergessen. Die Kriminalistin wusste, dass sie dem Tod um ein Haar von der Schippe gesprungen war. Umso intensiver erlebte sie jetzt jeden Atemzug, jeden Sonnenstrahl auf ihrer Haut, alle Geräusche und Gerüche um sie herum. Und hinzu kam natürlich der Stolz, sich aus einer scheinbar ausweglosen Lage befreit und den Verbrecher besiegt zu haben. Als drittes Gefühl empfand Heike tiefe Dankbarkeit gegenüber Meister Li, ihrem chinesischen Kung-Fu-Lehrer. Die Hauptkommissarin wusste genau, dass nur das jahrelange knallharte Training mit den oftmals zermürbenden Reflex- und Abhärtungsübungen ihr zu ihrem Erfolg verholfen hatte.

Nun betrat auch Ben den Konferenzraum. Er machte einen gehetzten, atemlosen Eindruck.

»Ich habe gehört, was geschehen ist«, sagte er. »Bist du in Ordnung, Heike?«

»Ja, ich bin unverletzt. Der Notarzt, der den Würger verarztet hat, wollte mich unbedingt auch untersuchen. Nun, das hat er getan.«

Heike freute sich über Bens offensichtliche Besorgnis. Aber bevor sie noch mehr sagen konnte, erschien auch Dr. Clemens Magnussen auf der Bildfläche. Der Kriminaloberrat warf sich in die Brust. Als er seine Mannschaft begrüßte, klang er so zufrieden, als ob er selbst den Mörder überwältigt hätte.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren! Sie haben ja wohl schon alle gehört, was Frau Stein heute in den frühen Morgenstunden widerfahren ist. – Gut gemacht, Frau Stein! Die Presseabteilung wird heute Mittag eine entsprechende Meldung an die Hamburger Medien geben. Ich rechne damit, dass ich noch heute oder spätestens morgen vor die Fernsehkameras treten muss. Die allgemeine Gefahr durch gewalttätige Einbrecher ist doch ein Thema, das die Öffentlichkeit bewegt.«

Heike putzte sich die Nase, damit ihr Chef das breite Grinsen auf ihrem Gesicht nicht sehen konnte. Daher wehte also der Wind!

Dr. Magnussen hatte eine große Leidenschaft, nämlich Fernsehauftritte. Er war schon öfter als Kriminalistikexperte vom regionalen TV befragt worden. Und jedes Mal hatte sich seine Medienpräsenz sehr positiv auf seine Laune ausgewirkt.

»Wie wollen Sie nun weiter vorgehen, Frau Stein?«, fragte ihr Vorgesetzter.

»Sobald der nächtliche Attentäter von den Ärzten für vernehmungsfähig erklärt wird, soll er hierher ins Präsidium gebracht werden«, sagte Heike.

»Dann wird sich der ED (Erkennungsdienst) den Beschuldigten zur Brust nehmen, und danach werden Frau Russ und ich ihn verhören.«

Heike hatte Melanie schon vor der Sitzung gebeten, mit ihr gemeinsam die Befragung durchzuführen. Die blonde Hauptkommissarin hatte sich wirklich fest vorgenommen, Ben am Arbeitsplatz möglichst aus dem Weg zu gehen. Wenn es ihr auch schwer fiel.

»Ausgezeichnet, Frau Stein! Ich gehe davon aus, dass wir den Fall innerhalb kürzester Zeit abschließen können.«

Das hoffte Heike natürlich auch. Während der Sitzung begann ihr Magen laut zu knurren, worauf sie knallrot im Gesicht wurde. Andererseits war es ein gutes Zeichen, dass offenbar ihr Appetit zurückkehrte.

Nach der Morgenbesprechung schlang Heike schnell zwei belegte Brötchen in der Kantine herunter. Als sie in die Räumlichkeiten der Sonderkommission Mord zurückkehrte, wartete Melanie schon auf sie.

»Dein nächtlicher Besucher ist kein unbeschriebenes Blatt, Heike«, sagte die Oberkommissarin. »Er heißt Alexander Scholz, genannt Alex. Ein gewalttätiger Gewohnheitsverbrecher. Er hat ein Vorstrafenregister, so dick wie der erste Band des Hamburger Telefonbuchs.«

Das war zwar leicht übertrieben, aber für Heikes Geschmack reichte es trotzdem. Die letzten ED-Aufnahmen dieses Schurken waren drei Jahre alt. Er hatte mehrere Haftstrafen verbüßt, unter anderem wegen Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und versuchtem Totschlag. Man konnte sich gut vorstellen, dass ein solcher Täter auch ohne Hemmungen einen Mord beging.

Nachdem der ED mit Scholz fertig war, wurde der Täter in einen Verhörraum gebracht. Heike und Melanie betraten ebenfalls das fensterlose Zimmer. Die blonde Hauptkommissarin betrachtete noch einmal das Gesicht des Mannes, der sie in der vergangenen Nacht erwürgen wollte.

Scholz hatte einen schmalen Kopf. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Die Stirn war breit, der Mund schmal, mit blutleeren Lippen. Ein riesiges Pflaster an seinem Schädel sowie seine ruhig gestellten und verbundenen kleinen Finger zeugten davon, dass er Bekanntschaft mit Heikes Kung-Fu-Künsten gemacht hatte.

Heike belehrte den Beschuldigten über seine Rechte.

»Ich werde auspacken«, verkündete der Gewalttäter. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Ich bin sowieso im Eimer, nachdem ihr mich diesmal geschnappt habt.«

»Was meinen Sie mit ›im Eimer‹, Herr Scholz?«

»Ist doch klar, Frau Kommissarin. Nachdem ich Ihre Nachbarin abgemurkst habe und es bei Ihnen versuchte, ist für mich nur noch lebenslänglich drin.«

Mindestens, dachte Heike voller Genugtuung. Im Normalfall hatten nämlich selbst zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene irgendwann eine Chance auf Entlassung. Aber bei einem Gewaltverbrecher wie Alex Scholz würde das Gericht wegen der besonderen Schwere der Tat vermutlich eine anschließende Sicherungsverwahrung anordnen. Mit anderen Worten: Der Mörder würde bis zu seinem letzten Atemzug gesiebte Luft atmen.

»Zum Strafmaß kann ich natürlich nichts sagen, Herr Scholz. Aber Sie gestehen also den Mord an Nina Cordes?«

»So hieß die Tante, stimmt’s? Ja, ich habe die Frau erwürgt, die neben Ihnen wohnt, Frau Kommissarin. – Wie wär’s mit einem Kaffee, weil ich so brav bin?«

Heike fand Scholz’ zynische Art zum Speien. Aber andererseits war er ja wirklich geständig. Warum sollte sie ihm dann ein Getränk vorenthalten? Melanie Russ telefonierte nach drei Bechern Kaffee. Als sie gebracht wurden, nahm Scholz genießerisch einige Schlucke. Seine Hände waren immer noch mit stählernen Handschellen gefesselt, diesmal allerdings vor dem Körper. Weder Heike noch Melanie wären auf die Idee gekommen, ihm die Fesselung abzunehmen. Dafür war Scholz einfach zu gefährlich.

»Bitte schildern Sie die Ereignisse vom 5. Juni frühmorgens aus Ihrer Sicht, Herr Scholz.«

»Hm, mal überlegen … ich dachte mir, von der Wasserseite komme ich am einfachsten an Ihr Haus ran. Mit den dunklen Klamotten und in meinem schwarzen Schlauchboot war ich nachts so gut wie unsichtbar.«

»Sie sind also mit einem Schlauchboot zum Tatort gerudert?«

»Genau, Frau Kommissarin. Ich habe es an der Klosteralleebrücke zu Wasser gelassen. Dann bin ich bis zu Ihrem Haus gepaddelt. Praktischerweise sind da so Ringe an der Wand, wo man eine Bootsleine festmachen kann.«

»Und dann sind Sie an der Fassade hochgeklettert?«

»Richtig. Ich bin ja gut in Form, da ist das kein Problem. Diese Nina Cordes hatte ja ihr Fenster in Kippstellung. Da konnte ich leicht in ihre Wohnung eindringen. Leider hat sie mich gehört und die Bullen gerufen. Na ja, ich konnte sie trotzdem noch erledigen, bevor Ihre Kollegen aufgekreuzt sind.«

Heike runzelte die Stirn angesichts der Kaltblütigkeit, mit der Scholz über die Bluttat redete. Aber er hatte schon viel zu oft Gewalt gegen andere Menschen angewendet. Es wäre naiv gewesen, von jemandem wie ihm Mitgefühl oder Reue zu erwarten.

»Sie konnten also die Wohnung von Frau Cordes betreten und Ihr Opfer töten. Wie ging Ihre Flucht vonstatten?«

»Auf demselben Weg, den ich gekommen bin, Frau Kommissarin. Ich hab’ mich an der Fassade runtergehangelt. Runter geht immer schneller als rauf. Man muss bloß aufpassen, dass man nicht abstürzt. Jedenfalls bin ich in mein Schlauchboot gesprungen und Richtung Isebrücke gepaddelt. Später habe ich ein paar Peterwagen gesehen, die durch die Straßen geprescht sind. Aber mich hat keiner bemerkt.«

Der Mörder grinste selbstgefällig.

»Aber nun haben wir Sie doch noch verhaftet.«

Diese Bemerkung konnte Heike einfach nicht herunterschlucken.

»Mich interessieren jetzt Ihre Motive, Herr Scholz. Warum wollten Sie sowohl Nina Cordes als auch mich erwürgen?«

Das Grinsen saß wie festgefroren auf Scholz’ bleichem Gesicht.

»Ganz einfach, Frau Kommissarin. Das mit der Cordes war nur ein Betriebsunfall. Ich hatte gar nicht vor, sie zu töten. Von Anfang an waren Sie es, die ich erwürgen wollte.«

Scholz weidete sich einen Moment lang an Heikes Fassungslosigkeit.

Aber die Hauptkommissarin hatte sich schnell wieder in der Gewalt. Obwohl ihr ein solcher Fall noch nie untergekommen war.

»Wollen … wollen Sie damit sagen, dass Sie Nina Cordes sozusagen aus Versehen getötet haben? Weil Sie ins falsche Fenster eingestiegen sind?«

»Jaaaaa – so muss man das wohl sehen, Frau Kommissarin. Dumm gelaufen, wie man so sagt. Woher hätte ich ahnen sollen, dass gleich zwei junge blonde schlanke Frauen nebeneinander wohnen? Wenn in der Nachbarwohnung ein fetter alter Knacker gepennt hätte – dem würde ich kein Haar gekrümmt haben.«

»Wie großmütig von Ihnen!«, höhnte Heike. Sie war jetzt stinksauer. »Verraten Sie mir auch noch, warum Sie mich so sehr hassen, dass Sie mich tot sehen wollen?«

Der Mörder schüttelte den Kopf.

»Irrtum, Frau Kommissarin. Ich hasse Sie keineswegs. Na ja, ich finde es natürlich nicht gut, dass Sie mich gekrallt haben. Aber das ist Berufsrisiko. – Ich wollte Sie töten, weil ich dafür bezahlt wurde. Ich bin nämlich ein Auftragskiller.«

Heike konnte nicht glauben, was sie da hörte. Der Stolz, der aus Scholz’ Worten sprach, machte sie wütender, als sie es ohnehin schon war. Die Hauptkommissarin musste erst einmal tief durchatmen, bevor sie wieder das Wort ergriff.

»Also ein Auftragsmord. Und wer hat Sie bezahlt, damit Sie mich umbringen?«

»Das verrate ich nicht.«

»Sie schaden sich nur selbst, wenn Sie nicht aussagen, Herr Scholz.«

»Ich habe doch schon alles gestanden, Frau Kommissarin. Was wollen Sie denn noch?«

»Ich will den Namen der Person, die Sie beauftragt hat!«

»Nichts zu machen«, sagte der Mörder und lehnte sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln in seinem Stuhl zurück.

Das Verhör wurde unterbrochen. Heike ließ aus der Kantine belegte Brote bringen, die Alex Scholz unter Aufsicht eines uniformierten Polizeikollegen verzehren durfte. Die Hauptkommissarin beriet sich unterdessen mit ihrer Kollegin Melanie Russ.

»Glaubst du die Story von dem Auftragsmord?«, fragte Heike.

»Als Scholz damit rüberkam, dachte ich, er hat zu viele Mafiafilme gesehen. Aber andererseits: Was für einen Grund sollte er sonst für die beiden Taten in der Isestraße haben?«

»Es bleibt immer noch die Möglichkeit eines versuchten Sexualverbrechens«, meinte Heike. »Vielleicht ist ihm das peinlich, und er hat sich stattdessen die Story mit dem Auftragsmord ausgedacht.«

Melanie lachte rau auf. »So einem Typen wie Scholz ist nichts peinlich! Ich finde das etwas unwahrscheinlich. Der Täter hat sehr viele Vorstrafen, alles Gewaltdelikte. Aber es ist kein einziges Sittlichkeitsverbrechen darunter. Das passt nicht ins Muster.«

Heike rief sich noch einmal den nächtlichen Überfall ins Gedächtnis zurück. Sie musste zugeben, dass Scholz sie keineswegs lüstern befummelt hatte. Stattdessen war er zielgerichtet darauf aus gewesen, sie zu erwürgen.

»Scholz hat ja das Recht auf juristischen Beistand«, dachte die Hauptkommissarin laut nach. »Wenn er mit einem Anwalt redet, dann kann der ihm vielleicht verklickern, dass sein Schweigen ihm nur Scherereien bringt.«

»Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Melanie zu.

Die Kriminalistinnen schlugen dem Mörder vor, zunächst mit seinem Verteidiger zu sprechen. Scholz ließ sich darauf ein. Er gab an, von Dr. Burkhard Timm vertreten werden zu wollen. Dieser bekannte Strafverteidiger war sehr beliebt bei den Unterweltgestalten von St. Pauli.

Scholz rief den Juristen an. Eine weitere Stunde verging, bevor Dr. Timm im Präsidium aufkreuzen konnte. Heike zermarterte sich inzwischen den Kopf darüber, wer sie ermorden lassen wollte. Aber sie kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Natürlich, als Kriminalbeamtin machte man sich viele Feinde. Aber so weit war bisher noch kein Ganove gegangen.

Dr. Timm erschien auf der Bildfläche. Er war ein dicker Mann mit einem knallroten Gesicht. In seinem dunklen Geschäftsanzug schwitzte er ganz furchtbar. Heike hätte ihn bemitleidet, wäre er ihr nicht so unsympathisch gewesen. Sie kannte ihn bereits von früheren Fällen. Dr. Timm machte keinen Hehl aus seiner Verachtung gegenüber der Polizei.

Aber dieses eine Mal schätzte Heike den Besuch des beleibten Anwalts. Denn er überredete seinen Mandanten dazu, ein vollständiges Geständnis abzulegen.

»Ich will die Protokolle der bisherigen Verhöre sehen, Frau Stein«, knurrte Dr. Timm. »Und keine Tricks, kapiert?«

»Selbstverständlich, Herr Dr. Timm«, flötete Heike. Sie konnte es kaum erwarten, das Verhör mit Scholz fortzusetzen.

Bevor Heike oder Melanie etwas sagen konnten, ergriff der Verbrecher von sich aus das Wort.

»Sie wollen also wissen, wer mir den Mordauftrag erteilt hat?«

»Genau, Herr Scholz.«

»Es war Konny Zander. Also, er heißt richtig Konrad.«

»Konny Zander«, wiederholte Heike stirnrunzelnd. »Ist das nicht so ein alter Kiez-König aus St. Pauli? Ein König des Organisierten Verbrechens?«

»König? Das würde ihm gefallen, hehehe. Ja, Frau Kommissarin, genau den meine ich.«

»Aber warum wollte Zander mich ermorden lassen?«

»Keine Ahnung«, erwiderte der Mörder schulterzuckend. »Das hat er mir nicht gesagt, und ich habe auch nicht gefragt. Deswegen müssen Sie ihm schon selbst auf den Pelz rücken, Frau Kommissarin.«

»Das werde ich, Herr Scholz. Das werde ich …«

Heike fragte noch ein paar Kleinigkeiten, beispielsweise zum Verbleib des Schlauchbootes. Aber einstweilen war sie fertig mit dem Mann, der ihr Leben auslöschen wollte. Die Hauptkommissarin ließ den Verbrecher wieder in die Untersuchungshaft schaffen. Scholz zeigte keine sichtbare Gefühlsreaktion.

»Ein widerlicher Kerl«, sagte Melanie Russ, als die beiden Kriminalbeamtinnen allein waren. »Ich bin froh, dass der nicht mehr frei herumläuft.«

»Ganz meine Meinung. Scholz ist brutal genug, um den Auftragskiller zu spielen. Aber andererseits ist er zu dämlich. Stell’ dir vor, er erwürgt einfach die falsche Person. Einem richtigen Profi der Mafia oder der Yakuza passiert so etwas garantiert nicht.«

Melanie Russ zuckte die Schultern.

»Wollen wir diesem Konny Zander mal auf den Zahn fühlen, Heike?«

»Sicher, Melanie. Ich will nur noch kurz etwas im Internet recherchieren. Ich habe da so einen vagen Erinnerungsfetzen an den Namen Zander. Da könnte des Rätsels Lösung verborgen liegen.«

»Gut, wir treffen uns dann in einer halben Stunde in der Fahrbereitschaft, Heike.«

Die blonde Kriminalistin konnte ihre Aufregung kaum zähmen, als sie mit ihren Nachforschungen begann. Sie benötigte nicht lange, um sich Gewissheit zu verschaffen. Die Fakten reihten sich aneinander wie die Perlen auf einer Kette.

»Weißt du jetzt, warum dieser Zander dich töten lassen wollte?«, fragte Melanie Russ am verabredeten Treffpunkt neugierig.

Die beiden Ermittlerinnen stiegen in einen roten Opel Corsa mit Polizeifunkgerät.

»Ich ahne es zumindest. Aber ich will vorerst meinen Schnabel halten. Vielleicht war ja alles nur heiße Luft«, meinte Heike.

»Geheimniskrämerin!«, sagte Melanie schmunzelnd. Aber gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Ich kann dich schon verstehen, Heike. Es kommt eben auf die Beweislage an. Oder auf das Geständnis.«

»Beweisen kann ich gar nichts«, seufzte Heike. »Es sei denn, Zander hätte diesem Unglücksvogel Scholz einen schriftlichen Auftrag für den Mord erteilt. Oder den Killer in Gegenwart von Zeugen angeheuert.«

»Zeugen, die auch noch aussagen wollen«, bekräftigte Melanie. Sie saß am Lenkrad und fuhr den Dienstwagen Richtung St. Pauli.

»Eben«, nickte Heike. Die blonde Hauptkommissarin fügte innerlich immer wieder die Puzzlesteine dieses Falls zusammen. Es gab ihrer Meinung nach nur eine Auflösung des Rätsels.

Das Vergnügungsviertel rund um die Reeperbahn wirkte wieder einmal unendlich trist, wie stets bei hellem Tageslicht. An diesem heißen Sommertag war dieser Effekt besonders stark, weil die hellen Strahlen des Himmelsgestirns unbarmherzig den billigen Glamour und die Metallskelette der Neonreklamen zur Schau stellten.

Das Hauptquartier von Zanders Verbrecherorganisation war ein Nachtklub in der Nähe der Großen Freiheit. Die Polizei vermutete schon seit langem, dass dieses Etablissement als Waschanlage für Mafiageld diente. Aber dem alten Zander war bisher nie etwas nachzuweisen gewesen.

Der Nachtklub war am helllichten Tag natürlich geschlossen. Aber nachdem Heike lange genug an die Tür gehämmert hatte, bequemte sich ein zigarrenrauchender Graukopf, die Tür zu öffnen.

»Wir haben schon genug Stripperinnen«, sagte er statt einer Begrüßung, während er Heike und Melanie mit jeweils einem langen Blick taxierte.

»Vielen Dank für das zweifelhafte Kompliment«, entgegnete die blonde Kriminalistin und präsentierte ihren Dienstausweis.

»Ach du Schande! Bulletten!«

»So ist es, mein Lieber. Ist denn der Chef auch zu sprechen?«

»Herrn Zander geht es ziemlich dreckig. Er ist krank. Hat sich in sein Haus auf Mallorca zurückgezogen. Meint, dass ihm der Mittelmeer-Sommer besser bekommen würde als unser Hamburger Klima.«

»Mallorca«, wiederholte Heike gedankenverloren. »Ja, es passt alles zusammen. Der Kreis schließt sich.«

»Häh?«

Der Graukopf kaute verständnislos auf seiner Zigarre.

Und auch Melanie wusste nicht, worauf Heike hinauswollte.

Die beiden Kriminalistinnen verließen den Nachtklub. Dort konnten sie nichts weiter erreichen. Als sie wieder in ihrem Dienstwagen saßen, breitete Heike endlich ihre Theorie vor ihrer Kollegin aus.

Melanie schwieg und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.

»Das klingt sehr abenteuerlich, Heike. Glaubst du, dass dieser Konny Zander ein Geständnis ablegt?«

»Das wird sich zeigen, wenn ich ihm Auge in Auge gegenüberstehe.«

Zunächst blieb Heike nichts anderes übrig, als zu Dr. Magnussen zu gehen. Er musste schließlich ihre geplante Dienstreise genehmigen. Doch Heikes Vorgesetzter reagierte besser als erwartet. Er hörte sich ihre Erklärungen ruhig an.

»Wenn das wirklich so sein sollte, wie Sie glauben, dann rufe ich gleich mal bei den spanischen Kollegen an. Es wäre doch wirklich schade, wenn uns der Drahtzieher dieser Verbrechen entkommen würde.«

Während der Kriminaloberrat telefonierte, ging Heike zurück an ihren Schreibtisch. Das Großraumbüro der Sonderkommission Mord war völlig verwaist. Einige Kollegen hatten Urlaub, andere befanden sich im Einsatz. Daher erschrak Heike richtig, als ihr plötzlich Ben gegenüberstand. Es war, als wäre er aus dem Boden gewachsen. Aber das war natürlich Unsinn.

»Hallo, Heike«, sagte der dunkelhaarige Hauptkommissar.

»Hallo, Ben«, entgegnete die Angesprochene. Es entstand eine peinliche Stille. Heike bemerkte, dass ihr Kollege offenbar genauso verlegen war wie sie selbst. Man hörte nur ein undeutliches Gemurmel aus dem Büro von Dr. Magnussen. Der Kriminaloberrat telefonierte mit Spanien. Nach ein paar Minuten hielt Heike das Schweigen nicht mehr aus.

»Maja war bei mir, Ben.«

»Ja, ich weiß.«

»Du hast eine tolle Frau, Ben.«

»Danke. Aber du bist auch eine tolle Frau, Heike.«

Die blonde Hauptkommissarin seufzte genervt.

»Mach’ es mir doch nicht so schwer! Das mit uns – das hat keine Zukunft!«

»Nein, hat es nicht, Heike. Ich hätte an dem Abend nicht zu dir kommen dürfen.«

»Aber es ist nun einmal geschehen! Wir können nicht rückgängig machen, was passiert ist. Aber du gehörst zu deiner Frau und deinem Kind. Trotzdem – du fehlst mir. Nicht als Liebhaber … doch, das auch. Zugegeben. Aber dieses Kapitel sollten wir lieber beendet lassen. Verflixt, ich will wieder mit dir zusammenarbeiten. Es ist ein Horror für mich, dass wir uns im Dienst praktisch nicht mehr sehen!«

»Für mich auch, Heike. Wollen wir es noch einmal miteinander versuchen? Nicht als Liebespaar, sondern bei der Arbeit?«

Die Kriminalistin lächelte.

»Das wäre sehr schön, Ben. Mein aktueller Fall ist so gut wie abgeschlossen. Die nächste Aufgabe können wir dann hoffentlich wieder gemeinsam angehen.«

»Dieser Scholz hat also zugegeben, deine Nachbarin getötet zu haben?«

»So ist es.«

»Wie konnte er überhaupt in deine Wohnung eindringen?«

»Er hat die Wohnungstür mit einem Dietrich oder einem anderen Einbruchwerkzeug geöffnet. Ich hatte die Sperrkette nicht vorgelegt, weil … äh …«

»Weil du gehofft hast, dass ich komme?«

Heike nickte. Sie merkte, dass sie errötete. Ben zog Heikes Reserveschlüssel aus der Tasche und legte ihn auf ihren Schreibtisch.

»Es ist wohl besser, wenn ich dir den zurückgebe. Wir haben einmal mit dem Feuer gespielt und uns gehörig die Finger verbrannt.«

»Du klingst ja richtig poetisch«, erwiderte Heike mit einem süßsauren Lächeln. »Aber du hast natürlich Recht, Ben.«

Die Hauptkommissarin war unheimlich erleichtert darüber, dass sie und Ben nun wieder ganz normal zusammen ihren Dienst versehen würden. Die romantischen Gefühle, die Heike für ihren Kollegen empfand, waren natürlich ein Problem. Da musste Heike auf ihre Selbstdisziplin vertrauen.

In dem Moment öffnete sich Dr. Magnussens Bürotür. Die Stimme ihres Chefs riss sie aus ihren Gedanken.

»Alles klar mit Ihrer Dienstreise, Frau Stein! Wenn dieser Zander geständig ist, können die spanischen Kollegen sofort die Verhaftung vornehmen!«

10


»Heike! Mein Deern, was machst du denn hier?«

Sigrid Stein fiel aus allen Wolken, als plötzlich ihre Tochter vor der Tür stand. Doch dann nahm Heikes Mutter die Hauptkommissarin in die Arme und begrüßte sie ausgiebig. Die Hamburgerin hatte ihre Eltern seit einem halben Jahr nicht gesehen.

»Warum hast du denn nicht vorher angerufen?«, fragte die Mutter. Erst jetzt bemerkte sie den Mann an Heikes Seite. »Aber kommt doch rein! – Willst du mir deinen Freund nicht vorstellen?«

Die Kriminalistin errötete wieder einmal. Das war ihr bei diesem Fall entschieden zu oft passiert, wie sie inzwischen fand. Aber es kam andererseits selten vor, dass ein Verbrechen so direkt in ihr eigenes Leben eingriff wie der Mord an ihrer Nachbarin in der Isestraße.

»Mama, das ist nicht mein Freund, sondern ein spanischer Polizeikollege. Leutnant Alfonso Rodriguez arbeitet bei der Guardia Civil in Barcelona. Er wird hier auf der Insel einen deutschen Verbrecher festnehmen, wenn alles klappt. – Leutnant, darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen?«

Wie ein Kavalier alter Schule gab der Spanier Heikes Mutter einen Handkuss. Er war ein noch junger Mann in einem hellen Baumwollanzug.

Sigrid Stein bedankte sich auf Spanisch.

Heike verstand nur ein paar Brocken dieser Sprache. Aber sie lebte ja im Gegensatz zu ihren Eltern ja auch nicht auf Mallorca.

»Ist Papa nicht zu Hause?«, fragte Heike und schaute sich in der gemütlich eingerichteten Wohnung um.

»Nein, Papa ist zum Dienst gegangen.«

»Zum Dienst?« Heike runzelte die Stirn. Ihr Vater war schließlich seit einigen Jahren pensioniert. Seitdem lebten ihre Eltern in diesem Apartment auf Mallorca, das sie von den Ersparnissen gekauft hatten.

»Ja, es gibt hier eine Art freiwillige Hilfspolizei«, sagte Sigrid Stein. »Da wollte Papa natürlich unbedingt mitmachen.«

»Und dann lässt er dich immer allein?«

Heikes Mutter schüttelte den Kopf.

»Es ist ja nur ein paar Stunden, und auch nicht jeden Tag. Außerdem habe ich hier schon jede Menge Freundinnen, deutsche und spanische. Man bleibt nicht lange allein auf Mallorca.«

Das konnte Heike sich lebhaft vorstellen. Ihre Mutter machte auch keineswegs einen unglücklichen Eindruck. Und ihr Vater? Die Polizeiarbeit war sein Leben. Insofern wunderte sich Heike über sein Engagement bei der Freiwilligentruppe überhaupt nicht.

»Ich komme später wieder zu dir, Mama. Wir müssen uns jetzt um diesen deutschen Verbrecher kümmern. Und deswegen muss ich vorher noch mit Papa sprechen.«

»Klar, verstehe ich«, meinte Sigrid Stein augenzwinkernd. »Schließlich bin ich seit über vierzig Jahren Polizistengattin, vergiss das nicht. – Ihr findet Papa im Comissariato de policia.«

Heike und ihr spanischer Kollege verabschiedeten sich einstweilen. Die Hamburgerin kam sich vor wie in einem Traum. Natürlich hatte sie schon bei früheren Gelegenheiten ihre Eltern auf Mallorca besucht. Aber nicht, um einen Mordfall abzuschließen.

Rodriguez öffnete galant die Beifahrertür des Dienstwagens für Heike. Der Mann von der Guardia Civil kam aus Barcelona, kannte sich aber auf Mallorca gut aus. Heike hatte sich am Flughafen mit ihm verabredet. Dann waren sie direkt zu Heikes Eltern gefahren.

»Viele Ihrer Landsleute leben ständig auf der Insel«, sagte der Spanier in fließendem Deutsch zu Heike, während er den Seat durch den dichten Straßenverkehr von Palma lenkte. »Mehr als sechzigtausend, so wird geschätzt.«

»Mir reicht schon ein Einziger«, entgegnete Heike trocken. »Dieser Verdächtige namens Zander nämlich. Und es ist mir egal, ob er in einem deutschen oder einem spanischen Gefängnis landet. Da bin ich flexibel.«

Rodriguez lachte, als ob Heike einen besonders guten Witz gemacht hätte.

Im Comissariato de policia brauchten sie nicht lange, bis sie Heikes Vater fanden. Sönke Stein hatte gerade einen deutschen Hoteldieb verhört, der von einer Fußstreife geschnappt worden war.

Natürlich freute sich auch Heikes Vater, seine Tochter so überraschend wiederzusehen. Er drückte sie an seine breite Uniformbrust und begrüßte dann den Mann von der Guardia Civil mit einem kräftigen Händedruck. Anschließend wollte Sönke Stein natürlich wissen, was Heike nach Palma de Mallorca führte.

»Mord«, erwiderte Heike knapp. »Oder Anstiftung zum Mord, besser gesagt.«

Sie erzählte mit einigen knappen Sätzen von dem Auftragskiller Scholz, vom Mord an ihrer Nachbarin und vom Mordversuch an ihr selbst. Sönke Stein stieß langsam die Luft aus seinen Lungen.

»Mann inne Tünn«, sagte Heikes Vater – eine traditionelle Floskel, mit der Hamburger ihre Verblüffung, ihr Bestürzen oder ihren Ärger zum Ausdruck bringen. Mit dem »Mann in der Tonne« war übrigens ein Pastor in seiner tonnenförmigen Kirchenkanzel gemeint.

»Konrad Zander hat jedenfalls diesen Scholz zu den Taten angestiftet«, ergänzte Heike. »Noch kann ich es ihm allerdings nicht beweisen. Bisher haben wir nur die Aussage des Mörders.«

»Zander«, wiederholte Heikes Vater. »Zu meiner Zeit war er einer der Drahtzieher des Verbrechens auf St. Pauli.«

»Das ist er auch immer noch«, bestätigte die Hauptkommissarin. »Kannst du dich auch an seinen Sohn erinnern?«

»Sicher, Harry Zander. Den habe ich höchstpersönlich verhaftet, kurz vor meiner Pensionierung.«

»Und damit kommen wir zu dem möglichen Mordmotiv, Papa. Harry Zander ist nämlich tot. Er wurde in der Haft von einem anderen Knastbruder ins Jenseits befördert, mit einem selbst gebastelten Messer. Ich vermute, dass der alte Zander dir die Schuld für den Tod seines Sohnes gibt, Papa. Er wollte sich rächen, indem er deine Tochter – mich – töten ließ.«

Sönke Stein fuhr sich mit seiner mächtigen Pranke über seinen grauen Bürstenhaarschnitt. Er sagte einige Minuten lang nichts. Dann nickte er bedächtig.

»Ja, da könnte was dran sein, mein Deern. Das ist eine kranke Logik, aber so denken manche Ganoven eben. Und dieser Zander ist auf Mallorca!«

»Woher weißt du das?«, fragte Heike.

»Ich weiß es nicht, ich habe es mir zusammengereimt. Warum kommst du sonst in Begleitung eines spanischen Kollegen? Wahrscheinlich, um Zander verhaften zu lassen.«

»Jedenfalls wollen wir ihn uns vorknöpfen«, sagte Heike tatendurstig. »Und ich kann mir vorstellen, dass du dabei sein möchtest, Papa.«

»Darauf kannst du wetten!«

Heikes Vater drückte sein Barett auf seinen mächtigen Schädel und meldete sich beim Dienst habenden Beamten ab. Die Hauptkommissarin bemerkte, dass ihr Vater inzwischen fließend Spanisch sprach – allerdings mit breitestem Hamburger Akzent.

Die Adresse von Konny Zander hatte Heike schon von Deutschland aus ermittelt. Das Feriendomizil des Verbrecherkönigs war eine Finca wenige Kilometer außerhalb von Palma.

Rodriguez’ Dienstmarke verschaffte ihnen dort Zutritt.

»Señor Zander ist sehr krank«, sagte eine vertrocknet aussehende einheimische Hausangestellte, nachdem sie die Haupttür des Landsitzes geöffnet hatte. »Er musste vorgestern ins Krankenhaus gebracht werden.«

Zander lag im zentralen Hospital Son Dureta, wie sie außerdem noch erfuhren.

Also ging es zurück nach Palma. Heike war so aufgeregt, dass sie die Hitze und ihre eigene Erschöpfung überhaupt nicht mehr spürte.

Der Verbrecher lag auf der Krebsstation.

Rodriguez musste längere Zeit mit dem Dienst habenden Arzt palavern, bevor die drei Ordnungshüter zu dem kranken Verbrecher gelassen wurden.

»Der Doktor hat uns gebeten, es kurz zu machen«, sagte der Mann von der Guardia Civil zu Heike und ihrem Vater. »Es geht diesem Zander wohl ziemlich schlecht.«

Das konnte Heike nur bestätigen, nachdem sie das Krankenzimmer betreten hatte. Sie musste keine Ärztin sein, um seinen Zustand beurteilen zu können.

Der Mann, der Heike den Tod gewünscht hatte, lag selbst im Sterben.

»Sönke!«, rief der Verbrecher im Krankenbett, als er den ehemaligen Revierleiter der Davidwache erkannte. »Du hast meinen Jungen auf dem Gewissen! Und nun kommst du her, um mir beim Krepieren zuzusehen? Deine Tochter lebt noch, wie ich sehe! Verflucht sollt ihr sein, alle beide!«

»Nun halt’ mal die Luft an«, brummte Heikes Vater auf seine übliche ruhige Art. »Ich habe Harry nicht getötet, und das weißt du genau. Aber was ist mit dir? Hast du wirklich jemanden angeheuert, um meine Heike umzubringen?«

»Ja, aber leider den Falschen! Dieser Scholz ist ein Versager, aber er hatte beste Referenzen. Nun wirst du nicht am eigenen Leibe spüren, wie es ist, ein Kind zu verlieren, du verdammter …«

Zander konnte den Satz nicht beenden, weil er vorher schlappmachte. Sein Gefühlsausbruch schien ihn zu sehr mitgenommen zu haben.

Rodriguez verständigte das Pflegepersonal. Eine resolute Krankenschwester scheuchte die drei Polizisten hinaus.

»Er hat vor Zeugen gestanden«, sagte der einheimische Leutnant, als sie draußen auf dem kühlen Klinikflur standen. »Ich kann jetzt beim Staatsanwalt einen Haftbefehl beantragen, aber …«

Es war nicht nötig, diesen Satz zu beenden. Heike und ihr Vater wussten genau, was Rodriguez sagen wollte. Trotzdem musste dem Gesetz Genüge getan werden. Doch Konny Zander starb, noch während der spanische Beamte den Justizpalast von Palma de Mallorca betrat.

»Jetzt hast du deinen Fall gelöst, mein Deern«, sagte Sönke Stein, als sie sich später auf dem Comissariato de policia zur Lagebesprechung zusammenfanden. Heike nickte nur. Sie konnte keinen Triumph empfinden. Zander hatte einen teuflischen Plan ausgeheckt, um ihrem Vater eine tödliche seelische Wunde zu schlagen. Damit war er zum Glück gründlich gescheitert.

Doch wegen diesem irrsinnigen Vorhaben hatte Nina Cordes ihr Leben lassen müssen. Heikes Nachbarin, die mit der ganzen Angelegenheit überhaupt nichts zu tun hatte.

Die Hauptkommissarin musste an die Weissagungen der Kartenlegerin denken. Ein Vater stirbt – diese Prophezeiung war eingetreten. Konny Zander lebte nicht mehr. Und die große Liebe in Heikes Leben? Gewiss, Ben bedeutete ihr mehr als jeder andere Mann in ihrem bisherigen Dasein. Aber Heike fand, dass sie noch zu jung war für solche endgültigen Aussagen. Die Erschöpfung machte es ihr schwer, klar zu denken.

Ihr Vater legte seinen Arm um ihre Schultern.

»Ich wette, du hast noch nichts Richtiges gegessen. Ich lade dich und Mama in eine gemütliche Bodega ein, ganz in unserer Nähe. Und außerdem kenne ich eine familiäre Pension, wo du dich später richtig ausschlafen kannst.«

Heike lächelte ihrem Vater dankbar zu. Das war ein ausgezeichneter Vorschlag.


ENDE





Satansmaske - 1


Christine Becker ahnte nichts von der Todesgefahr, als sie die Gartenparty verließ.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«, rief der achtzehnjährige Dirk Bahl ihr zu.

»Nicht nötig«, entgegnete die gleichaltrige Christine. »Ich kann das Haus meiner Eltern ja fast von hier aus sehen. Mich wird schon keiner klauen. – Tschühüss!«

Erleichtert bemerkte das blonde Mädchen, wie Dirk sich wieder seinen Kumpels Olli Menkhoff und Carsten Broder zuwandte.

Christine wusste, dass Dirk ein heimlicher Verehrer von ihr war. Wenn er sie zu ihrem Elternhaus begleiten durfte, würde er sich noch irgendwelche Schwachheiten einbilden.

Die Achtzehnjährige fand Dirk ja ganz nett, aber ihr Klassenkamerad war überhaupt nicht ihr Typ. Christine war nämlich heimlich in Nils Rade verliebt. Er war einfach der umwerfendste Typ auf dem Gymnasium Blankenese. Das war jedenfalls Christines Meinung. Aber auch die vieler anderer Mädchen.

Christine verließ das Grundstück von Mareikes Eltern. In deren Garten war die Party immer noch in vollem Gang. Doch die blonde Achtzehnjährige hatte die Nase voll von der Musik, den schrillen Cocktails und den ewig gleichen Gesichtern. Sie war müde und wollte nach Hause. Außerdem fühlte sich Christine etwas enttäuscht. Sie hatte gehofft, Nils Rade auf der Party zu treffen. Aber er war nicht erschienen. Christine wusste gar nicht so recht, was ihr Traumtyp außerhalb der Schule eigentlich so machte. Aber gerade dieses Geheimnisvolle faszinierte sie so sehr an ihm.

Das Mädchen konnte sein Elternhaus wirklich fast sehen. Es waren nur ungefähr 500 m Luftlinie zwischen der schmalen weißen Villa von Mareikes Eltern und dem Anwesen von Christines Papa und Mama.

Das Mädchen und alle ihre Klassenkameradinnen und Klassenkameraden waren mehr oder weniger reich. Sie lebten eben in Blankenese, einem der exklusivsten Stadtteile der ohnehin wohlhabenden Stadt Hamburg.

Christine fühlte sich etwas unsicher auf den Beinen. Diese Cocktails waren tückisch. Oft bemerkte man erst, wenn es zu spät war, dass sie es alkoholmäßig ganz schön in sich hatten.

Dem Mädchen wurde schwindlig. Sie blieb mitten auf der Strandtreppe stehen.

Das Treppenviertel von Blankenese weist zahlreiche Straßen auf, die in Wirklichkeit mehr oder weniger lange Treppen sind. Christine lehnte sich gegen einen Zaun. Sie hatte einen Panoramablick auf die Elbe. Obwohl sie ihr ganzes bisheriges Leben in Blankenese verbracht hatte, war das Mädchen immer wieder fasziniert vom Anblick des großen Stroms. Bei Nacht konnte man das Wasser nur als eine große dunkle Fläche erahnen, auf der die farbigen Positionslaternen von Schiffen einsame Lichtflecke setzten.

Christine befand sich in einer seltsam wehmütigen Stimmung. Sie dachte an Nils und daran, wie sie seine Liebe erwecken konnte.

Da hörte sie plötzlich ein unterdrücktes Keuchen hinter sich!

Das war gewiss nur Einbildung, sagte sich das junge Mädchen. Und wirklich: Als sie sich umdrehte, konnte sie keine Menschenseele erblicken. Abgesehen natürlich von den schemenhaften Umrissen der Partygäste, die illuminiert vom Schein bunter Glühbirnen weitertanzten. Aber die befanden sich in weiterer Entfernung. Die Gymnasiastin hatte sich wohl geirrt. Da war niemand in ihrer Nähe.

Christine atmete tief durch. Sie war nun etwas sicherer auf den Beinen und ging die Strandtreppe hinab. Ob wohl Nils Rade ebenfalls auf einer Party war? Auch sein Elternhaus befand sich nur einen Steinwurf weit entfernt. In gewisser Weise war Blankenese ein Dorf innerhalb der Millionenstadt Hamburg. Ein reiches, sehr grünes und exklusives Dorf.

Abermals vernahm die Achtzehnjährige ein Geräusch hinter sich. Nun erst kroch die Angst in ihr hoch. Zeitungsberichte fielen ihr ein, über schreckliche Verbrechen auf den nächtlichen Straßen der Elbvororte. Instinktiv begann Christine zu laufen.

Der Täter kam scheinbar aus dem Nichts. Er sprang das junge Mädchen an und warf sie zu Boden. Christine wollte schreien, aber die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Sie drehte den Kopf und erblickte eine riesige dunkle Gestalt mit Teufelshörnern. Ein Messer blinkte im Schein der spärlichen Straßenbeleuchtung. Die Strandtreppe war nachts nicht gerade ein belebter Ort.

Ein furchtbarer Schmerz in ihrem Oberkörper raubte Christine den Atem. Als der Täter zum zweiten Mal zustach, wurde sein Opfer durch eine gnädige Ohnmacht erlöst. Christines letzter wacher Gedanke galt Nils Rade, ihrem heimlichen Schwarm.

2


Melanie Hartwig wollte die Party eigentlich gar nicht verlassen. Sie hatte nur mitbekommen, dass ihre Freundin Christine sich vor ein paar Minuten von der Gastgeberin verabschiedet hatte. Melanie wollte Christine fragen, ob sie am nächsten Tag zu einer Segeltour mitkäme. Natürlich hätte sie ihrer Freundin auch eine SMS schicken oder ihr auf WhatsApp schreiben können. Aber in der Hinsicht war das junge Mädchen etwas altmodisch. Sie redete lieber Auge in Auge mit den Leuten.

Melanie eilte Christine nach. Weit konnte sie noch nicht gekommen sein. Allerdings musste sich die Gymnasiastin zwischen den vielen Partygästen durchdrängen. Es war sehr voll. Halb Blankenese schien gekommen zu sein. Aber schließlich schaffte Melanie es doch, das Grundstück zu verlassen. Sie eilte die Strandtreppe hinab.

Da wurde sie von einem Grobian einfach umgerannt!

Der Kerl schien sie gar nicht zu bemerken. Er gab nur ein heiseres Keuchen von sich. Melanie schrie auf. Sie hatte sich im Fallen das linke Knie zerschrammt. Sie wollte dem Flegel ein paar Beleidigungen nachrufen. Aber der Schuft war schon verschwunden.

Die dunkelhaarige Gymnasiastin kam wieder auf die Beine. Ihr Knie tat weh, aber es war auszuhalten. Was für ein Dummkopf!, ärgerte sich Melanie innerlich. Sie setzte ihren Weg fort.

Da erblickte sie Christine. Doch ihre Freundin lag auf dem Boden! Schnell kam Melanie näher. Sie erschrak. Das war auch kein Wunder, denn Christines zitronengelbes Minikleid war rot von Blut.

»Christine! Oh, Gott, Christine …«

Melanie war geschockt. Aber dann bewies sie zum Glück genügend Geistesgegenwart, Hilfe zu rufen. Sie lief nicht zur Party zurück, sondern alarmierte sofort einen Notarzt.

Es war genau 23.04 Uhr, als ihr Anruf per Handy in der Hamburger Notrufzentrale einging. Eine Viertelstunde später erreichte ein Notarzt mit zwei Sanitätern die schwer Verletzte. Christine Becker wurde ins nächstgelegene Hospital geschafft, und zwar ins Krankenhaus Tabea an der Kösterbergstraße in Blankenese. Durch eine sofortige Operation versuchten die Mediziner, das Leben des Mädchens zu retten. Doch Christine starb um 1.03 Uhr, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.

Um 3.22 Uhr klingelte das Telefon in der Sonderkommission Mord des Hamburger Polizeipräsidiums. Kriminalhauptkommissarin Heike Stein nahm den Hörer ab. Die blonde Kriminalistin hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst.

»Stein, Sonderkommission Mord.«

»Hier spricht Lutz Brehe vom Dezernat für Gewaltverbrechen, Heike. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand hat heute Nacht wieder dieser Maskenteufel zugeschlagen …«

»Ach du Schande!« Der Hauptkommissarin schwante Übles. Besonders, da der Polizeikollege sie anrief. Schließlich war Heike Mordspezialistin. »Gab es diesmal eine Leiche?«

»Exakt, Heike. Wie du wahrscheinlich auch weißt, hat dieser Mistkerl bisher keines seiner Opfer lebensgefährlich verletzt. Aber heute Nacht schon. Eine achtzehnjährige Schülerin, sie war auf dem Weg von einer Party nach Hause. Fünf Einstiche in Brust und Rücken. Die Ärzte haben noch operiert, aber … na ja.«

»Das sieht wirklich danach aus, dass wir diesen Fall nun übernehmen werden«, erwiderte die Kriminalistin. »Wo bist du gerade?«

»Im Krankenhaus Tabea. Es gibt anscheinend eine Zeugin. Sie ist ebenfalls hier eingeliefert worden, mit Schocksymptomen. Von ihr weiß ich auch das mit der Party, jedenfalls indirekt. Ich will damit sagen, dass ich noch nicht mit ihr sprechen durfte. Das Krankenhauspersonal hat mir mitgeteilt, dass sie ständig von einer Party reden würde, auf der sie und das Opfer gewesen seien.«

Heike hatte bereits in Gedanken angefangen, zu ermitteln.

»In Ordnung, ich komme dann gleich zu dir raus, Lutz.«

Heike beendete das Gespräch. Dann gab sie in der Telefonzentrale bekannt, dass sie einstweilen über ihr Handy zu erreichen war. Oder per Funk in dem neutralen Dienstwagen, den sie sich aus der Fahrbereitschaft nahm.

Die Hauptkommissarin stieg in den roten VW Golf mit Polizeifunkgerät. Sie trug in dieser Spätsommernacht Jeans, Sneakers, einen beigen Baumwoll-Rolli und ein weit geschnittenes Leinen-Jackett. Dieses verdeckte gleichzeitig ihre Dienstwaffe, die sie in einem Clipholster hinten am Gürtel trug.

Während Heike den Wagen vom Präsidium im Hamburger Norden Richtung Südwesten lenkte, ging sie in Gedanken ihre Informationen über den so genannten Maskenteufel durch. Die Fakten waren höchst spärlich. In Wahrheit wusste die Kriminalistin nicht mehr über diesen Täter als der durchschnittliche Hamburger Zeitungsleser. Das verwunderte allerdings nicht, denn bisher hatte sie beruflich noch nicht mit diesem Verbrecher zu tun gehabt.

Jedenfalls machte seit einigen Wochen ein unheimlicher Gewalttäter den reichen Elbvorort Blankenese unsicher. Er fiel scheinbar wahllos über Frauen her und verletzte sie mit verschiedenen Stichwaffen. Bisher hatten alle seine Opfer die nächtliche Attacke überlebt. Aber diesmal war der Maskenteufel offenbar zu weit gegangen.

Dunkle Kleidung und eine Maske mit Teufelshörnern. Das waren alle Informationen, die bisher über den Verbrecher vorlagen. Oder die zumindest der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurden.

Außerdem war Heike aufgefallen, dass der Maskenteufel einen sehr kleinen Aktionsradius hatte. Soweit sie wusste, hatte er alle seine Untaten im Umkreis von nur drei Kilometern begangen. Und zwar im so genannten Treppenviertel von Blankenese. Daran musste Heike denken, als sie über die Blankeneser Landstraße auf das Krankenhaus Tabea zusteuerte.

Die blonde Hauptkommissarin befestigte ihren blauen Kripo-Ausweis an ihrem Revers. Es war noch angenehm kühl, als sie vom Parkplatz zum Haupteingang der Klinik eilte. Von der Elbe her wehte eine steife Brise, die Meeresgeruch mitbrachte.

Heike hatte durch ihre Tätigkeit bei der Sonderkommission Mord schon alle Hamburger Krankenhäuser kennen gelernt. Daher fand sie sich auch in diesem Hospital schnell zurecht. Ihr Kollege vom Dezernat für Gewaltverbrechen wartete im Eingangsbereich der Intensivstation auf sie.

Kriminaloberkommissar Lutz Brehe war ein Mann um die vierzig mit schütterem Haar und einem bleichen Gesicht, das auch bei dem momentan vorherrschenden Sonnenwetter keine Brauntönung annahm. Er gab Heike die Hand.

»Ich bin nicht gerade unglücklich darüber, wenn ihr Mordermittler jetzt den Fall übernehmt. Ich würde diesen Maskenteufel zwar gerne selbst erwischen, aber wir können uns über Mangel an anderen Fällen nicht gerade beklagen.«

»Kann ich mir vorstellen, Lutz. Dann bring’ mich doch bitte mal kurz auf den neuesten Stand. Ich weiß nicht mehr als das, was in der Zeitung steht.«

Der Oberkommissar lächelte, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte.

»Ich fürchte, viel mehr findet sich auch nicht in der bisherigen Ermittlungsakte. Es gab bisher vier Opfer dieses Verbrechers. Iris Brander, Natalie Schmölder, Vera Grune und Christine Becker. Das ist die junge Deern, die heute Nacht dort hinten auf dem OP-Tisch ihren Verletzungen erlegen ist.«

Lutz Brehe drehte den Kopf und deutete mit dem Kinn auf die Intensivstation hinter sich.

»Woran genau ist sie gestorben?«, wollte Heike wissen.

»Todesursache war ein Lungenriss, sagen die Ärzte. Eine genaue Obduktion wird natürlich durch die Gerichtsmedizin durchgeführt.«

Heike nickte.

»Was glaubst du, Lutz? Ist es Zufall, dass der Maskenteufel diesmal getötet hat?«

Der Beamte aus dem Dezernat für Gewaltverbrechen hob die Schultern.

»Wenn ich nur wüsste, was in seinem verflixten Schädel vor sich geht, Heike. Aber ich persönlich glaube, dass es bisher nur durch glückliche Umstände noch kein weiteres Todesopfer gegeben hat. Der Maskenteufel sticht offenbar wahllos zu. Wir haben jedenfalls noch kein System hinter seinen Untaten erkennen können. Man kann auch nicht behaupten, dass er seine Opfer besonders auswählt. Es sind Frauen, die im Dunkeln allein im Treppenviertel unterwegs sind. Das ist die einzige Gemeinsamkeit, die ich unter den bisherigen Opfern entdecken konnte.«

Heike zog eine Augenbraue hoch.

»Das hat mir gerade noch gefehlt! Ein geisteskranker Gewalttäter, der wahllos Frauen niedersticht.«

Die Kriminalhauptkommissarin hätte am liebsten gefragt, warum das Dezernat für Gewaltverbrechen noch keinen Erfolg vorzuweisen hatte. Das Treppenviertel von Blankenese war ein vergleichsweise winziger Teil der Metropolregion Hamburg.

Aber es wäre ungerecht gewesen, den Kollegen mangelnden Einsatz zu unterstellen. Sie hatten gewiss ihr Möglichstes getan. Heike beschloss, sich zunächst selbst ein Bild vom Tatort zu machen.

»Wo ist der Maskenteufel über das Mädchen hergefallen, Lutz?«

»Auf der Strandtreppe, ungefähr auf der Höhe vom Osterweg. Die Spurensicherer müssten jetzt vor Ort sein. Und dann wäre da auch noch die Zeugin …«

Heike schaute ihren Polizeikollegen fragend an. Lutz Brehe blätterte in seinen Aufzeichnungen.

»Sie heißt Melanie Hartwig. Anscheinend ist sie eine Freundin des Opfers, wenn ich das richtig mitgekriegt habe. Jedenfalls wurde sie hier im Krankenhaus auf der neurologischen Abteilung aufgenommen. Weil sie eben einen seelischen Schock erlitten hat.«

Das konnte Heike sich lebhaft vorstellen. Eine enge Freundin als Opfer eines Messerangriffs in einer Blutlache liegen zu sehen, musste jedem normal empfindenden Menschen an die Nieren gehen.

»Ich werde die Ärzte fragen, ob ich sie vernehmen darf«, kündigte die Kriminalistin an.

»Ja, tu das.« Lutz Brehe schaute auf seine Armbanduhr. »Als ich vorhin mit den Medizinern sprach, wurde sie noch untersucht. – Heike, ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich muss weiter. Wir haben noch einen umfangreichen Fall in St. Pauli am Hals. Ich schicke dir die Ermittlungsakte Maskenteufel dann rüber.«

Wenn das auf dem Dienstweg passiert, kann es dauern, dachte Heike. Aber andererseits – wozu brauchte sie einstweilen die Akte, wenn da auch nicht viel mehr drinstand als in den Hamburger Boulevardblättern? Die Namen der Opfer hatte sich Heike jedenfalls einstweilen notiert. Die Kriminalistin bedankte sich bei dem Mann vom Dezernat für Gewaltverbrechen.

Lutz Brehe hastete davon.

Heike hingegen versuchte, in der neurologischen Abteilung den Dienst habenden Arzt zu finden. Nach einigem Hin und Her wurde sie von einer Krankenschwester in ein winziges Arztbüro geführt.

Der Dienst habende Neurologe war eine Medizinerin und hieß Dr. Kerstin Dreher. Sie war eine Frau in Heikes Alter mit hennarot gefärbter Kurzhaarfrisur. Heike stellte sich kurz vor. Ihre dienstliche Legitimation baumelte ja immer noch an ihrem Revers.

»Kripo Hamburg?« Die Neurologin nickte. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass Sie die Patientin sprechen wollen. Aber daraus wird nichts, fürchte ich. Frau Melanie Hartwig hat einen schweren Nervenschock erlitten. Ich musste sie sedieren – das bedeutet, mit Medikamenten ruhig stellen.«

Heike kannte den Fachausdruck zur Genüge. Durch ihre ständige Beschäftigung mit toten oder schwer verletzten Menschen kam sie sich manchmal schon selbst vor wie eine halbe Ärztin. Obwohl sie leider keine Schmerzen lindern konnte. Sie war einzig und allein dazu fähig, die Täter zu fangen. Wenn das für die Opfer oder deren Angehörige eine Erleichterung war, konnte auch Heike mit sich zufrieden sein.

Jedenfalls verzichtete sie darauf, gegenüber der Nervenärztin die Neunmalkluge zu spielen. Sie nickte nur und sagte: »Aha, so ist das. – Ich verstehe Sie ja, Frau Dr. Dreher. Aber bedenken Sie bitte, dass Melanie Hartwig zurzeit wahrscheinlich meine einzige Tatzeugin ist. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie den Überfall mitansehen musste oder ob sie kurze Zeit später dazugekommen ist. Die Spur ist jetzt noch frisch. Wenn ich die Zeugin kurz vernehmen könnte …«

Die Medizinerin schüttelte resolut den Kopf.

»Nein, das ist völlig unmöglich, Frau Kommissarin. Nicht in ihrem momentanen Zustand. Wir sind froh, dass Melanie Hartwig endlich schläft. Wir haben ihre Eltern benachrichtigt, damit sie sich keine Sorgen machen. In einigen Tagen können Sie vielleicht kurz mit ihr reden. Aber garantieren kann ich für nichts. Da müssen wir den Heilungsverlauf abwarten.«

Heike ärgerte sich, konnte aber die Position der Ärztin verstehen. Ihr blieben also momentan nur zwei weitere Ermittlungsmöglichkeiten.

Einerseits die Indizien, die hoffentlich von der Spurensicherung zusammengetragen wurden. Und andererseits die übrigen Partygäste. Lutz Brehe hatte von einer Feier gesprochen. Möglicherweise hatten noch andere Personen vor, nach oder während der Tat Beobachtungen machen können.

Heike überreichte Frau Dr. Dreher ihre Visitenkarte und bat darum, sofort angerufen zu werden, wenn die Zeugin vernehmungsfähig war. Insgeheim glaubte die Kriminalistin allerdings nicht, dass die Leute vom Krankenhaus sich von sich aus melden würden. Da würde sie wohl noch einige Male nachfassen müssen.

Tatendurstig verließ die Hauptkommissarin das Krankenhaus. Sie fuhr nur ein Stück Richtung Innenstadt, stellte ihren Wagen dann am Kiekeberg ab. Es gab viele Parks hier in Blankenese, teilweise hervorgegangen aus den privaten Gärten reicher Hanseaten aus früheren Jahrhunderten. Das so genannte Treppenviertel wurde vom Hessepark, Baurs Park und Schinkels Park begrenzt. Über die steilen grün bewachsenen Hänge gelangte man über gewundene Treppengassen hinunter zum Elbufer.

Heike ging die Strandtreppe hinab. Im ersten Licht der aufgehenden Sonne konnte sie sehen, wie auf der Elbe ein riesiges Containerschiff aus China von Schleppern in den Hafen bugsiert wurde. Die Kriminalistin wandte ihren Blick vom Horizont ab und senkte ihn lieber auf die Treppenstufen unter ihren Sneakers. Irgendwo hier in der Nähe hatte der Maskenteufel vor wenigen Stunden seinem ahnungslosen Opfer aufgelauert.

Es gab unzählige Verstecke in den üppig bewachsenen Gärten, von denen die Strandtreppe gesäumt wurde. Besonders jetzt im Sommer spross die Vegetation natürlich besonders üppig. Aber auch in den Häusern und Schuppen gab es genügend Möglichkeiten, sich vor den Augen des Gesetzes zu verbergen.

Verflixt!

Heike eilte weiter die Strandtreppe hinab. Da erblickte sie eine seltsame Szene: Paul Sommer und seine Leute vom Spurensicherungsteam verrichteten im Schein von Flutlichtlampen ihre Arbeit. Dabei wurden sie beobachtet von einer Schar modisch gekleideter Teenager. Zwei uniformierte Polizisten hielten die Neugierigen zurück. Heike wettete mit sich selbst, dass sie es hier mit den Partygästen zu tun hatte.

Sie drängte sich zwischen den jungen Leuten hindurch. Die uniformierten Polizeikollegen nickten ihr zu, als sie den Dienstausweis an ihrem Revers erblickten. Heike wandte sich an den Leiter des Spurensicherungsteams.

»Guten Morgen, Paul. Gibt es schon verwertbare Erkenntnisse?«

»Guten Morgen, Heike.« Paul Sommer sprach nur halblaut, genau wie die Kriminalistin selbst. Was sie einander mitzuteilen hatten, ging keinen Schaulustigen etwas an.

»Ja, hier sind Fußspuren, die höchstwahrscheinlich vom Täter stammen. Er hatte feuchte Gartenerde unter den Sohlen. Die Abdrücke sind nicht ganz vollständig. Aber man kann schon sagen, dass er Turnschuhe Größe 44 getragen hat. Er kam aus der Richtung, aus der auch du gekommen bist. Also vom oberen Ende der Strandtreppe.«

»Er hat also nicht in einem der angrenzenden Gärten gelauert und ist dann über den Zaun gesprungen, als sich das Opfer näherte?«

Der Leiter des Spurensicherungsteams schüttelte den Kopf.

»Nein, Heike. Jedenfalls nicht auf den letzten Metern vor dem Tatort. Es kann natürlich sein, dass er sich weiter oben in einem Garten verborgen gehalten hat.«

»Habt ihr sonst noch etwas Wissenswertes zu bieten, Paul?«

»Bisher nicht. Ich vermute allerdings, dass der Täter mit ziemlicher Wucht zugestoßen hat. Das Blut ist jedenfalls weit gespritzt.«

Er deutete auf einige dunkle Flecken, die soeben von einem Fotografen abgelichtet wurden.«

»Sobald mein Abschlussbericht vorliegt, lasse ich ihn dir zukommen, Heike«, fügte Paul Sommer noch hinzu. Die Kriminalistin lächelte ihm dankbar zu. Dann ging sie hinüber zu den jugendlichen Gaffern. Diese hatten es plötzlich sehr eilig, wegzukommen. Aber bevor sie verschwinden konnten, hielt Heike sie zurück.

»Augenblick mal! Ich bin Kriminalhauptkommissarin Heike Stein, Kripo Hamburg. Wie ich höre, soll die Ermordete kurz vor ihrem Tod auf einer Party gewesen sein. Wisst ihr etwas darüber?«

Die Halbwüchsigen drucksten herum. Ein Mädchen sagte schließlich: »Ja, wir waren auch bei der Party. – Aber wir wissen nichts über den Maskenteufel!«, fügte sie hastig hinzu.

Heike runzelte die Stirn.

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Ich, äh …«

Das Mädchen verhaspelte sich, wurde rot und verstummte schließlich.

Die Kriminalistin nahm von allen Partygästen, die sie noch in die Finger bekommen konnte, die Personalien auf. Sie wollte jeden einzelnen von ihnen aufs Präsidium vorladen und dort verhören.

»Ich bin die Gastgeberin der Party«, sagte ein anderes Mädchen zu Heike. Sie stellte sich als Mareike Lübbers vor. »Und ich mache mir große Vorwürfe, dass ich Christine einfach so allein habe nach Hause gehen lassen.«

»Aber sie wollte es ja so!«, rief ein Junge namens Dirk Bahl. Heike kannte seinen Namen, weil sie bereits seinen Personalausweis gecheckt hatte. »Ich hätte sie nach Hause gebracht. Aber sie hat abgelehnt.«

»Christine wohnt … wohnte dort hinten«, sagte Mareike Lübbers. »Man kann das Dach ihres Elternhauses von unserem Garten aus sehen. Ich hätte nie gedacht, dass ihr auf der kurzen Strecke etwas passieren würde. Dieser verflixte …«

Das Mädchen kämpfte mit den Tränen und beendete den Satz nicht.

»Was wolltest du sagen?«, fragte Heike scharf. Ihr war nicht entgangen, dass mehrere Partygäste Mareike warnende Blicke zugeworfen hatten.

»N… nichts«, erwiderte Mareike schniefend. »Dieser verflixte Maskenteufel, meinte ich nur.«

Aber Heike spürte, dass sie log. Mareike wusste – oder ahnte – mehr über das Verbrechen, als sie zugeben wollte. Heike sprach mit erhobener Stimme zu allen Partygästen.

»Ich führe hier eine Morduntersuchung. Wer mir wissentlich Informationen vorenthält, muss mit einer Anklage wegen Beihilfe rechnen. Das solltet ihr alle bei euren Aussagen bedenken.«

Die Kids murrten. Aber keiner von ihnen konnte Heikes Blick standhalten. Die Kriminalistin spürte, dass sie momentan nicht weiterkam. Sie musste sich die Zeugen im Präsidium einzeln vorknöpfen. An diesem Morgen, in der Gruppe, würde keiner von ihnen frei von der Leber weg reden. Da war sich Heike sicher.

Immerhin erfuhr sie noch, dass Christine nur ungefähr eine Stunde auf der Party gewesen war. Sie hatte einen oder zwei Cocktails getrunken, war aber nicht betrunken gewesen. Das behauptete zumindest die Gastgeberin. Mareike und Christine kannten sich, weil sie auf das Gymnasium Blankenese gingen. Das traf übrigens auch auf alle anderen Partygäste zu.

Heike seufzte. Ihr stand nun der unangenehmste Teil ihrer Arbeit bevor. Sie musste den Eltern die Nachricht von Christines Ermordung überbringen. Die Adresse des Opfers hatte sie natürlich ebenfalls notiert.

Die Kriminalistin ging zu Fuß zu Christines Elternhaus. Es hätte sich nicht gelohnt, erst den Wagen zu holen. Hier im Treppenviertel war man zu Fuß ohnehin am besten unterwegs.

Selbst mit einem Mountainbike waren die endlos erscheinenden Treppengassen zur Elbe herunter schlecht zu bewältigen.

Die Villa der Familie Becker war durch ein hohes Eisengitter gesichert. Heike betätigte die Gegensprechanlage an der Pforte. Eine Überwachungskamera richtete sich auf sie. Die Hauptkommissarin hielt ihre Legitimierung vor die Linse und meldete sich mit Namen und Dienstrang an. Daraufhin wurde ein Summer betätigt. Die Tür ging auf.

Heike durchquerte den gepflegten Garten. Ein Dienstmädchen in ihrer typischen Aufmachung erwartete sie an der Eingangstür. Die Kriminalistin deutete auf ihren Ausweis.

»Ich bin Hauptkommissarin Heike Stein von der Kripo Hamburg. Ich möchte mit Herrn oder Frau Becker sprechen, bitte.«

»Kripo? Das ging aber schnell«, sagte die Hausangestellte zu Heikes Verwunderung. »Folgen Sie mir, bitte.«

Die blonde Hamburgerin betrat die Villa. Die Einrichtungsgegenstände zeugten von Geschmack und Reichtum. Ölgemälde in der Eingangshalle stellten offenbar eine Art Ahnengalerie der Beckers dar. Die Familie gehörte zweifellos zu den alteingesessenen Großbürgern der Stadt Hamburg.

Heike wurde zu einer Dame in einem leichten Baumwollkostüm geführt. Diese machte einen nervösen Eindruck. Es handelte sich gewiss um die Mutter des toten Mädchens. Die Kriminalistin schätzte sie auf Mitte vierzig. In ihren Augen glomm so etwas wie Hoffnung auf, als sie Heike erblickte. Die Hauptkommissarin biss sich auf die Unterlippe.

»Sie sind von der Kripo? Das ging ja schnell! Es ist keine zehn Minuten her, seit ich bei der Polizei angerufen und unsere Christine als vermisst gemeldet habe. – Gibt es schon eine Spur?«

Heike atmete tief durch.

»Frau Becker, es tut mir furchtbar leid, Ihnen sagen zu müssen …«

»Nein!«

Der Aufschrei der Mutter unterbrach die Kriminalistin. Er klang wie der Schmerzenslaut eines gequälten Tieres.

»Ihre Tochter ist leider tot, ermordet. Ich spreche Ihnen mein aufrichtiges Beileid aus.« Heike zwang sich dazu, mit möglichst neutraler Stimme weiterzusprechen. »Wir werden alles tun, um den Mörder von Christine zu finden.«

Heikes Sätze trafen die Mutter des toten Mädchens wie Peitschenhiebe. Die Hausangestellte half ihr, sich auf ein Sofa niederzulassen. Heike bat das Dienstmädchen, einen Arzt zu verständigen. Die Kriminalistin ging erst, als der Mediziner eintraf. Eine Befragung der unter Schock stehenden Mutter war zurzeit ohnehin nicht möglich.

Wie zum Hohn zwitscherten die Vögel in der Blütenpracht des Gartens. Die Morgensonne stand an einem wolkenlosen Himmel. Es würde wieder ein herrlicher Sommertag werden in diesem paradiesischen Stadtteil Blankenese.

Doch irgendwo in dem Idyll lauerte ein brutaler Verbrecher, der sich wahllos seine Opfer holte. Heike nahm sich vor, ihn so bald wie möglich hinter Schloss und Riegel zu bringen.

3


Vor der Morgenbesprechung im Präsidium hatte sich Heike mit einem Salamibrötchen plus Kaffee gestärkt. Pünktlich um acht Uhr versammelten sich die Beamtinnen und Beamten der Sonderkommission Mord im Besprechungsraum. Heikes Nachtdienst ging mit dieser Konferenz zu Ende. Aber sie hatte nicht vor, sofort den ihr zustehenden Freizeitausgleich in Anspruch zu nehmen. Denn der Maskenteufel konnte jederzeit neue Untaten begehen, wenn ihn niemand stoppte.

Nun betrat auch Kriminaloberrat Dr. Clemens Magnussen den Raum. Der mit Akten schwer beladene Abteilungsleiter hatte seine unvermeidliche Tabakspfeife zwischen den Zähnen.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren! – Nun, Frau Stein, gab es während des Bereitschaftsdienstes neue Entwicklungen?«

»Jawohl, Herr Kriminaloberrat.«

Heike berichtete von dem Tötungsdelikt in Blankenese sowie von ihren ersten Ermittlungen.

Dr. Magnussen sog schweigend verbrauchte Büroluft durch seine Pfeife, die ohnehin keinen Tabak enthielt.

Als die Kriminalistin alles erzählt hatte, ergriff ihr Vorgesetzter das Wort.

»Ich denke, Sie sollten diesen Fall weiterbearbeiten, Frau Stein. Ich hoffe nur, dass Sie sich der besonderen Brisanz bewusst sind.«

»Weil der Täter jederzeit wieder zuschlagen kann, Herr Kriminaloberrat?«

»Auch. Aber ich spreche von den Zeugen und Tatverdächtigen, denen sie dort draußen in Blankenese begegnen werden. Dort leben größtenteils Menschen mit großem Vermögen und erheblichem Einfluss in der Gesellschaft.«

»Ich verstehe nicht ganz, Herr Dr. Magnussen«, sagte Heike unschuldig, obwohl sie genau wusste, worauf der Kriminaloberrat hinauswollte.

Dr. Magnussen wurde sichtlich nervöser. Er transportierte seine Pfeife mit den Zähnen von einem Mundwinkel in den anderen, während er antwortete.

»Äh, ich spreche von Takt und Diskretion, Frau Stein. Sie dürfen nicht vergessen, dass hoch stehende Persönlichkeiten es gewohnt sind, mit Feingefühl behandelt zu werden. Denken Sie bitte daran, wenn Sie in Blankenese ermitteln. Wir wollen doch nicht diese Menschen gegen die Hamburger Polizei aufbringen.«

Keinesfalls, denn das könnte ja deiner Karriere schaden!, erwiderte Heike. Aber natürlich nur in Gedanken. Laut sagte sie brav: »Jawohl, Herr Kriminaloberrat.«

Dabei machte sie ein Gesicht, das in seiner Unschuld perfekt zu jeder Klosternovizin gepasst hätte. Doch in Wirklichkeit hatte Heike nicht vor, sich von dem Geld oder der gesellschaftlichen Position der Blankeneser Großbürger einschüchtern zu lassen. Sonst konnte sie diesen Fall nämlich gleich zu den Akten legen.

»Gut, Frau Stein.« Der Kriminaloberrat ergriff erneut das Wort. »Ich gebe Ihnen Herrn Wilken als Unterstützung. Zu zweit sollten sie eigentlich in der Lage sein, diesen Fall baldmöglichst zu lösen. Denken Sie daran: Die Öffentlichkeit will Erfolge sehen!«

Das war noch untertrieben, wie Heike fand. Seit Wochen hatten die Hamburger Medien kein anderes Thema als die angebliche Unfähigkeit der Polizei, die Bürgerinnen vor nächtlichen Überfällen zu schützen. Jetzt, nachdem der Maskenteufel ein erstes Todesopfer gefordert hatte, würden sich die Pressegeier mit noch größerer Gnadenlosigkeit auf die Ermittler stürzen. Eine Aussicht, die Heikes Laune nicht gerade verbesserte.

Aber andererseits durfte sie gemeinsam mit Ben auf Mörderjagd gehen. Und das war Heike sehr viel wert. Ben war ihr Dienstpartner, sie lösten seit einigen Jahren die meisten ihrer Fälle gemeinsam. Im Lauf der Zeit hatte sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die allerdings vor kurzer Zeit in eine heiße Liebesaffäre umgeschlagen war.

Heike hatte in Bens Armen ihren Grundsatz vergessen, sich niemals mit einem verheirateten Mann einzulassen. Doch die beiden Kriminalisten hatten gemeinsam mit Bens Frau reinen Tisch gemacht und sahen sich inzwischen nur noch beruflich. Die blonde Hamburgerin hatte genügend Abstand gewonnen, jene Sommernacht als einen einmaligen Fehltritt anzusehen. Ansonsten gestattete sie es sich einfach nicht, über ihre Gefühle für Ben nachzudenken.


Die restliche Morgenbesprechung verlief ohne nennenswerte Ereignisse. Nach der Konferenz kehrten Heike und Ben einstweilen an ihre Schreibtische zurück. Diese standen einander in dem Großraumbüro der Sonderkommission Mord gegenüber.

»Wie wollen wir vorgehen, Heike?«, fragte der Hauptkommissar. »Du hast ja frühmorgens schon mit den Ermittlungen begonnen, wenn ich das richtig sehe.«

»Ja, aber nur kurz. Das Mordopfer kam von einer Party, wie du schon mitgekriegt hast. Ich habe die Namen einiger Gäste und der Gastgeberin notiert. Wir sollten sie alle aufs Präsidium vorladen und uns einzeln zur Brust nehmen. Ich glaube nämlich, dass zumindest ein paar dieser Früchtchen mehr über die Tat wissen oder ahnen, als sie zugeben wollen.«

Ben warf einen viel sagenden Blick auf die geschlossene Bürotür von Dr. Magnussen. Er grinste kurz.

»Du weißt doch, was der Chef dazu sagen würde?«

»Ja. ›Frau Stein, glauben können Sie in der Hauptkirche St. Michaelis. Bei der Kripo zählen nur Beweise.‹ – Aber wenn wir einem oder mehreren dieser Jugendlichen eine brauchbare Aussage entlocken können, dann kann das sehr wohl ein Beweis vor Gericht sein.«

»Schon klar. Ich wollte dich nur etwas hochnehmen«, meinte Ben und lächelte Heike zu. »Wenn du mir ein paar Namen rüberschiebst, kann ich auch einige jungen Herrschaften abtelefonieren.«

Es gelang den beiden Kriminalisten wirklich, acht von den Partygästen noch für denselben Nachmittag telefonisch vorzuladen. Das war natürlich eine sehr kurze Frist. Aber Heike wollte ihnen keine Chance geben, ihre Aussagen allzu sehr untereinander abzustimmen. Außerdem brannte ihr selbst die Zeit auf den Nägeln. Sie brauchte wirklich einen schnellen Erfolg. Nicht, um ihr Ego zu befriedigen. Sondern, damit der grausame Maskenteufel sich nicht noch auf eine weitere Frau stürzen konnte.

Die Verhöre der Partygäste wollten Heike und Ben gemeinsam führen, wie es Vorschrift war. Die größte Hoffnung der blonden Kriminalistin ruhte ansonsten auf Melanie Hartwig, die möglicherweise sogar die Tat selbst als Augenzeugin miterlebt hatte.

Warum hatte der Maskenmörder ihr kein Haar gekrümmt? Das war nur eine von vielen Fragen, die Heike auf der Zunge hatte. Bevor der erste Partygast im Präsidium auflief, war noch genügend Zeit. Daher fuhren die beiden Ermittler ins Krankenhaus Tabea, um sich nach dem Zustand der Augenzeugin zu erkundigen.

Es war früher Vormittag. Die Sonne stand an einem fast wolkenlosen Himmel. Nur die kühlen Brisen von der Elbe her waren bereits erste Vorboten des herannahenden Herbstes.

»Ich bin froh, dass wir mal wieder einen Fall zusammen lösen können, Heike«, sagte Ben, der am Lenkrad des Dienstwagens saß. Sie fuhren nach Blankenese.

»Ich auch, Ben. Wie läuft es jetzt eigentlich mit Maja?«

Maja war Bens Frau.

»Wir versuchen, nicht ständig über das zu reden, was geschehen ist. Ändern kann man sowieso nichts. Ich konzentriere mich ganz auf die Wirklichkeit. Und ich merke, dass Maja es ebenfalls versucht.«

»Aber sie kriegt es nicht so gut hin, meinst du?«

»Was glaubst du, Heike? Sie ist die Betrogene. Man kann nicht erwarten, dass sie großmütig über alles hinwegsieht und zur Tagesordnung übergeht.«

»Nein«, murmelte die blonde Kriminalistin. »Das kann man wohl nicht.«

Bevor das Gespräch noch unangenehmer wurde, erreichten sie das kleine Krankenhaus. Heike und Ben suchten die neurologische Station auf.

Die junge Ärztin von der Nachtschicht hatte inzwischen ihren Dienst beendet. Der jetzige Stationsarzt hieß Dr. Beyer.

»Frau Melanie Hartwig wollen Sie sprechen?« Der Mediziner hob seine buschigen Augenbrauen, nachdem sich die beiden Kriminalisten legitimiert und ihm ihren Wunsch vorgetragen hatten. »Das geht nicht, ich bedaure.«

»Schläft sie noch?«, fragte Heike.

»Nein, das nicht. Wir haben Frau Hartwig bereits nach Hause entlassen.«

»Wie bitte?!« Heike fiel aus allen Wolken. »Es ist noch keine sechs Stunden her, da verweigerte mir Ihre Kollegin Frau Dr. Dreher ein Verhör mit der Zeugin. Und zwar mit dem Argument, Melanie Hartwigs seelischer Zustand wäre zu schlecht. Und jetzt ist er auf einmal so gut, dass die Patientin die Klinik verlassen darf?«

Dr. Beyer schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht für Frau Dr. Dreher sprechen, Frau Kommissarin. Aber ich bin ebenfalls der Meinung, dass Frau Hartwig noch nicht in der Verfassung ist, ohne eine Behandlung ihres Nervenschocks auszukommen.«

Heike lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Aber sie hielt sich zurück.

»Und trotzdem haben Sie die Patientin entlassen?«, vergewisserte sich Heike mit erzwungener Ruhe.

»Ich habe mich wohl nicht klar ausgedrückt, Frau Kommissarin.«

Der Arzt trat an ein Fenster und schaute auf die herrlichen Grünanlagen hinaus. »Wir mussten Melanie Hartwig entlassen. Sie ist ausdrücklich gegen ärztlichen Rat aus dem Krankenhaus … ja, ich würde es wirklich geflohen nennen.«

»Geflohen …« Heike wiederholte das Wort. Es klang wie ein Echo in ihrem Bewusstsein nach. Geflohen … geflohen … vor was oder vor wem?

»Kommen Sie!«

Dr. Beyer führte die beiden Kriminalisten ins Stationszimmer. Dort nahm er einen Vordruck aus einem Ordner und überreichte ihn Heike. Die Hauptkommissarin überflog das Dokument, während Ben ihr über die Schulter linste.

Die Erklärung auf dem offiziellen Krankenhaus-Briefpapier besagte, dass Frau Melanie Hartwig entgegen ausdrücklichen ärztlichen Rat sofort aus der Behandlung entlassen zu werden wünschte. Das Blatt war mit dem Tagesdatum versehen. Außerdem trug es eine Unterschrift mit typischen Buchstaben, wie sie von jungen Mädchen geschrieben werden.

Heike nickte. Das Klinikpersonal hatte sich nichts vorzuwerfen. Melanie Hartwig war weder minderjährig noch entmündigt oder ähnliches. Wenn sie nicht behandelt werden wollte, stand es ihr frei zu gehen.

Aber warum diese Eile?

War jemand hinter ihr her? Der Maskenteufel? Aber wenn das so war, warum hatte er sie nicht bereits in der Nacht angegriffen?

Diese Fragen stellte Heike sich selbst, was natürlich sinnlos war.

Ben bat den Arzt um eine Kopie des Entlassungsbriefes für die Dienstakte. Als er diese bekommen hatte, bedankten sich die Kriminalisten.

Wieder draußen, machte Heike ihrem Herzen Luft.

»Denkst du, was ich denke, Ben?«

Der Hauptkommissar nickte.

»Diese Melanie Hartwig weiß viel, vielleicht alles über den Mord. Und dieses Wissen macht ihr so viel Angst, dass sie türmen will.«

»Ich habe die Adresse ihrer Eltern. Schauen wir doch mal nach, ob sie zu Hause ist.«

Natürlich wohnten die Hartwigs ebenfalls in Blankenese.

Melanies Eltern besaßen ein kleines, aber feines Haus am Fuß des Süllbergs. Dieser ist mit seinen 74,7 Metern die höchste Erhebung in Blankenese. An seinen Hängen winden sich die Gassen des Treppenviertels, in dem der Maskenteufel nun schon seit einiger Zeit sein Unwesen trieb.

Als Heike an der Haustür läutete, glaubte sie einen kurzen, heftigen Wortwechsel drinnen zu hören. Gleich darauf trat Stille ein. Die Kriminalistin schellte noch einmal. Schließlich wurde die Haustür um einen winzigen Spalt geöffnet.

»Wir machen keine Haustürgeschäfte!«, blaffte eine Frau. Heike konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil es im Korridor dunkel war. Die Hauptkommissarin präsentierte ihren Dienstausweis. Vorsichtshalber schob sie außerdem ihre Schuhspitze in den Türspalt.

»Hauptkommissarin Stein von der Kripo Hamburg. Das ist mein Kollege Hauptkommissar Wilken. Sind Sie Frau Hartwig?«

»Ja …«

Zögernd öffnete die Hausbewohnerin die Tür. Im hereinströmenden Tageslicht erblickte Heike eine Frau mittleren Alters, die einen unglücklichen, nervösen und fahrigen Eindruck machte. Frau Hartwig sah aus, als ob sie dringend ein Beruhigungsmittel gebrauchen könnte.

»Haben Sie überhaupt einen Hausdurchsuchungsbefehl?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Gleich darauf bekam sie Verstärkung. Herr Hartwig war ebenfalls zu Hause. Er kam mit federnden Schritten die Treppe vom ersten Stockwerk herunter. Der Ehemann wirkte etwas gefestigter als seine Frau, doch seine Selbstsicherheit war nur vorgetäuscht. Heike besaß genügend Menschenkenntnis, um das beurteilen zu können.

»Wir wollen nichts durchsuchen«, erklärte Heike. »Mein Kollege und ich sind gekommen, um mit Ihrer Tochter Melanie zu sprechen. Sie wurde in der vergangenen Nacht Zeugin eines Verbrechens. Wir benötigen ihre Aussage.«

»Melanie ist nicht hier«, erklärte der Vater des Mädchens. Er hatte den rechten Arm um die Schultern seiner Frau gelegt. Es war offensichtlich, dass Herr Hartwig nun das Reden übernehmen wollte. »Sie verschwenden nur Ihre Zeit, Frau Kommissarin.«

»Aber Melanie wohnt doch hier, nicht wahr?« Heike ließ nicht locker.

»Das ist richtig.«

»Dann werden wir nach Ihrer Tochter fahnden müssen. Sie hat sich vor wenigen Stunden sozusagen selbst aus dem Krankenhaus entlassen, wo sie mit einem Nervenschock eingeliefert worden war.«

»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete Melanies Vater schnell. »Wir wissen schließlich, wo unsere Tochter ist. Sie kam vorhin nach diesem kurzen Hospitalaufenthalt nach Hause. Auf mich machte sie keinen kranken Eindruck. Sonst hätten wir sie ja wohl kaum in den Urlaub fahren lassen.«

»In den Urlaub?« Heike glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

»Gewiss«, entgegnete Melanies Vater ruhig. »Es sind ja noch Schulferien, wissen Sie. Sonst wäre ich wohl um diese Uhrzeit kaum zu Hause. Ich bin nämlich Oberstudienrat am Gymnasium Blankenese.«

Heike und Ben tauschten einen viel sagenden Blick aus. Die Kriminalisten fühlten sich von Melanies Eltern gründlich verschaukelt. Heike atmete erst einmal tief durch, bevor sie antwortete.

»Ich fasse noch einmal zusammen, Herr Hartwig. Ihre Tochter ruft gestern Abend gegen 23 Uhr den Notruf an, weil sie ihre schwer verletzte Freundin Christine Becker an der Strandtreppe gefunden hat. Der Notarzt stellt bei Melanie einen Schockzustand fest und nimmt sie mit ins Krankenhaus Tabea. Dort wird sie medikamentös behandelt und stationär aufgenommen. Heute Morgen verlässt Melanie gegen ärztlichen Rat das Hospital, kommt hierher und fährt sofort in den Urlaub. Sagen Sie selbst: Wie muss das für uns klingen?«

»Es ist etwas ungewöhnlich«, meinte der Oberstudienrat, »aber meine Tochter hat diesen Urlaub schon lange geplant.«

»Ich habe eher den Eindruck, dass Melanie auf keinen Fall bei der Polizei aussagen will.«

»Das ist eine Unterstellung, für die es nicht den geringsten Beweis gibt!«

Herr Hartwig schaute Heike so zornig an wie eine Schülerin, die kurz vor einem Eintrag ins Klassenbuch steht. Aber die Hauptkommissarin hielt seinem Blick stand.

»Das wird sich zeigen«, entgegnete Heike ruhig. »Nennen Sie mir jetzt bitte den Urlaubsort Ihrer Tochter, damit wir sie dort erreichen können.«

»Leider ist das nicht möglich«, behauptete der Lehrer. »Melanie hat kein bestimmtes Reiseziel. Sie wollte per Anhalter nach Osteuropa reisen. Trampen, wie die jungen Leute das nennen. Polen, Weißrussland, das Baltikum, Bulgarien, Rumänien. Das war noch unklar. Sie ist mit der S-Bahn nach Horn gefahren, um von dort erst einmal auf die Autobahn nach Berlin zu gelangen.«

Heike stand kurz vor der Explosion. Ben warf ihr einen warnenden Blick zu. Aber die Hauptkommissarin beherrschte ihr Temperament. Sie appellierte an das Gewissen der Eltern.

»Hören Sie, Frau und Herr Hartwig. Ein junges Mädchen ist von einem gefährlichen Gewaltverbrecher getötet worden. Sie werden Christine Becker gewiss gekannt haben, wenn sie mit Ihrer Tochter befreundet war. Dieser Mann läuft dort draußen frei herum. Und jede Stunde, die er nicht in sicherem Gewahrsam ist, kann eine Stunde zu viel sein. Sie sind selbst Eltern. Können Sie sich vorstellen, wie sich die Mutter und der Vater von Christine jetzt fühlen müssen? Bitte helfen Sie uns, diesem tödlichen Spuk ein Ende zu machen.«

Einen Augenblick lang sah es wirklich so aus, als ob Melanies Mutter etwas sagen wollte. Aber dann atmete sie nur schwer, schloss die Augen und geriet leicht ins Taumeln. Ihr Mann hielt sie fest.

»Wir können Ihnen keine andere Auskunft geben, Frau Kommissarin«, sagte der Oberstudienrat mit harter Stimme. »Und jetzt muss ich Sie bitten, zu gehen. Bevor wir weitere Aussagen machen, möchten wir uns mit unserem Familienanwalt beraten.«

»Das ist Ihr gutes Recht«, entgegnete Heike kalt. »Vielen Dank für Ihre hilfreichen Auskünfte«, fügte sie ironisch hinzu. »Und wenn Sie demnächst in der Zeitung etwas über die Unfähigkeit der Polizei lesen, denken Sie mal darüber nach, dass wir auf die Mithilfe der Bürger angewiesen sind.«

Darauf entgegneten die Eltern der mutmaßlichen Mordzeugin nichts.

Ben nickte ihnen stumm zu.

Dann verließen die beiden Ermittler das Grundstück der Hartwigs.

»Da ist etwas oberfaul, Ben«, zischte Heike.

»Ja, Melanies Eltern sind offenbar gebildete Menschen. Sie müssen doch selbst wissen, wie stark an den Haaren herbeigezogen diese Anhalter-Story klingt. Außerdem ist Trampen meines Wissens in vielen Ländern Osteuropas verboten.«

»Ach, mein Süßer! Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Melanie nach Osten getrampt ist!«, rief Heike genervt aus. Im gleichen Moment tat es ihr leid.

Ben konnte ja nun wirklich nichts für ihre schlechte Laune. Und natürlich war der Hauptkommissar auch nicht verantwortlich für das merkwürdige Verhalten von Melanies Eltern.

Ben schaute sie an.

Aber bevor er noch etwas entgegnen konnte, ergriff Heike abermals das Wort.

»Verzeih’ mir, bitte. Ich bin eine grässliche Zimtzicke.«

Ben schüttelte den Kopf.

»Ist schon in Ordnung, Heike. Ich glaube, dass du Angst hast.«

»Ja, ich habe Angst. Jeder Mord ist schlimm, da sind wir uns einig. Aber wenn jemand aus Eifersucht oder Geldgier oder Neid mordet, gibt es wenigstens ein Motiv. Das ist bei dem Maskenteufel nicht so. Seine Opfer sind Frauen. Das ist die einzige Gemeinsamkeit, die ich bei ihnen entdecken kann.«

»Frauen, die nachts allein im Treppenviertel von Blankenese unterwegs sind«, ergänzte Ben. »Schauen wir uns doch die Gegend mal näher an, wo wir schon einmal hier sind.«

Sie ließen den Dienstwagen einstweilen stehen. Das Haus der Hartwigs befand sich in Elbnähe.

Die Kriminalisten gingen am Falkensteiner Ufer entlang. Kurz vor dem Wasserwerk stiegen sie eine steile Treppe hinauf.

»Noch ein Park?«, wunderte sich Ben. »Diesen kenne ich noch gar nicht.«

»Das ist der Römische Garten«, erklärte Heike. »Man übersieht ihn leicht. Die Pflanzen sind so zusammengestellt, dass sie ein italienisches Flair erzeugen sollen. Daher der Name, vermute ich.«

»Jedenfalls gibt es hier unzählige private und öffentliche Grünflächen«, brummte Ben. »Jede Menge Vegetation, ideale Versteckmöglichkeiten also. Besonders nachts.«

Wie zur Bestätigung seiner Worte ertönte in diesem Moment ein satanisches Gelächter. Die beiden Kriminalisten waren sofort alarmiert. Sie liefen auf eine Reihe von immergrünen Zypressen zu. Aus dieser Richtung war das verdächtige Geräusch gekommen. Heike und Ben mussten sich nicht erst absprechen. Sie nahmen denjenigen in die Zange, der die unheimlichen Töne verursacht hatte.

Der Unsichtbare verhöhnte sie erneut.

Heike näherte sich ihm von links, Ben von der rechten Seite. Die blonde Kriminalistin war nervös. Sie stellte voller Widerwillen fest, dass sie weiche Knie hatte. Am liebsten hätte Heike ihre Dienstwaffe gezogen. Aber es war wohl reichlich übertrieben, wegen eines Lachens mit der Pistole herumzufuchteln.

Ja, Ben hatte mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen. Heike hatte wirklich Angst. Und sie hasste sich selbst dafür.

Zwischen den Baumästen erblickte Heike die beige Windjacke ihres Dienstpartners. Die beiden Kriminalisten gingen aufeinander zu.

Sie konnten den sich feige verbergenden Kerl wirklich einkreisen. Aber wo war er?

Ein schwarzer Vogel flatterte hoch. Und während das Tier nach Südwesten davonflog, stieß es ein weiteres Mal grässliche Laute aus. Mit etwas Fantasie konnte man sie wirklich für das Lachen eines Dämons halten.

Heike blickte dem Piepmatz nach. Dann musste sie lachen. Und zwar über sich selbst.

»Unsere gefiederten Freunde, Ben! Das erweitert den Täterkreis natürlich enorm!«

Der Hauptkommissar grinste ebenfalls.

»Was war das für ein Flattermann? Dohle, Drossel, Krähe, Rabe?«

»Spielt das eine Rolle, Ben? Jedenfalls konnte das Vieh eine ausgewachsene Kriminalhauptkommissarin beinahe zu Tode erschrecken.«

Die beiden Kriminalisten schmunzelten, wurden aber gleich darauf wieder ernst.

»Unser kleiner Spaziergang hat jedenfalls gezeigt, dass die Straßen und Gassen um den Süllberg herum einem Labyrinth gleichen«, stellte Heikes Dienstpartner fest. »Wer sich hier auskennt, könnte auch einer ganzen Polizei-Hundertschaft entkommen.«

Heike nickte.

»Die Wahrscheinlichkeit, den Maskenteufel auf frischer Tat zu ertappen, ist verschwindend gering. Wir müssen irgendwie seine Identität ermitteln. – Was hältst du davon, wenn wir seinen früheren Opfern auf den Zahn fühlen?«

»Gute Idee. Vielleicht sind die ja auskunftsfreudiger als die Eltern von Melanie Hartwig.«

Die beiden Kriminalisten fuhren zu Iris Brander. Dieses junge Mädchen ging ebenfalls auf das Gymnasium Blankenese, wie Heike aus der Maskenteufel-Akte wusste. Sie war zehn Tage vor Christine Becker nach Einbruch der Dunkelheit von dem Unbekannten attackiert worden. Allerdings war Iris mit zwei leichten Verletzungen davongekommen. Der Gewalttäter hatte ihr Wunden an Schulter und Oberarm zugefügt.

Natürlich war Iris Brander bereits von den Polizeikollegen vom Dezernat für Gewaltverbrechen befragt worden. Das Protokoll lag Heike vor. Aber die blonde Kriminalistin wollte noch ein paar weitere Einzelheiten wissen.

Auch Iris lebte bei ihren Eltern. Sie besaßen eine schöne weiße Villa am Krähenberg, nördlich von der Blankeneser Landstraße.

Bei den Branders gab es kein Dienstmädchen. Die Frau, die nach Heikes Läuten öffnete, machte jedenfalls nicht den Eindruck einer Hausangestellten. Sie trug ein orangefarbenes Sommerkleid, das offenbar von einem exklusiven Designer stammte. Für so etwas hatte die Hauptkommissarin einen Blick.

Heike zeigte ihren Dienstausweis und stellte sich und Ben vor.

Auch die elegante Dame in der Haustür nannte ihren Namen. Es handelte sich wirklich um Brigitte Brander, die Mutter des Opfers.

»Wir würden gern mit Ihrer Tochter Iris sprechen.«

»Das ist nicht möglich, ich bedaure.«

»Wenn sie jetzt nicht da ist, könnte sie vielleicht heute Nachmittag …«

»Es tut mir leid. Iris befindet sich zurzeit überhaupt nicht in Hamburg, Frau Kommissarin. Sie ist nach Brasilien gereist.«

»Brasilien?«, wiederholt Heike verblüfft.

»So ist es. Iris’ Großtante lebt dort, also die Schwester meiner Mutter.«

»Aber Ihre Tochter wurde doch durch diesen so genannten Maskenteufel verletzt.«

»Ja, leider. Aber die Verwundung war ja nicht schwer. Unser Hausarzt hatte jedenfalls keine Bedenken, sie reisen zu lassen.«

Heike schaute der Mutter des Opfers ins Gesicht. Sie fühlte sich gewaltig verschaukelt. Instinktiv spürte Heike, dass Iris Brander nur deshalb von der Bildfläche verschwunden war, um nicht noch einmal bei der Polizei aussagen zu müssen. Aber so leicht würde die Zeugin nicht davonkommen.

»In Ordnung«, sagte Heike kühl. »Ich muss Sie trotzdem um die Adresse von Iris’ Großtante in Brasilien bitten. Wir ermitteln in einem Mordfall und sind auf die Angaben Ihrer Tochter angewiesen. Natürlich muss Iris deswegen nicht früher nach Deutschland zurückkehren. Aber ich werde veranlassen, dass die brasilianische Polizei sie verhört.«

Frau Brander stutzte. Mit dieser Möglichkeit hatte sie offenbar nicht gerechnet. Aber sie konnte Heikes Forderung schlecht verweigern. Die Mutter schrieb die Adresse auf einen Zettel und gab ihn Heike. Die Hauptkommissarin warf einen flüchtigen Blick darauf. Von dem Ort hatte sie noch niemals gehört. Aber das machte nichts. Die dortige Polizei, die Heike über Interpol um Hilfe bitten wollte, würde ihn schon kennen.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Brander«, sagte Heike zum Abschied. Es blieb offen, ob sie den Satz ironisch meinte oder nicht.

»Willst du wirklich die Brasilianer einschalten?«, fragte Ben auf dem Weg zum Auto.

»Sicher, wozu gibt es schließlich Interpol? Und Dr. Magnussen wird uns wohl kaum eine Dienstreise nach Rio de Janeiro genehmigen.«

»Wohl nicht.« Ben grinste. »Ich frage mich gerade, was wohl Maskenteufel auf Brasilianisch heißt.«

»Keine Ahnung. Ich wollte das Interpol-Ersuchen auf Englisch schreiben. Ansonsten wahrscheinlich irgendetwas mit Diabolo oder so was. Ich … verflixt!«

Heike unterbrach sich selbst.

Ben wollte nach dem Grund fragen. Aber gleich darauf bemerkte er ihn selbst.

Jemand hatte alle vier Reifen ihres Dienstwagens zerstochen.

4


»Das kann auch Zufall sein«, meinte der Hauptkommissar achselzuckend, nachdem die Kriminalisten das Auto von einem Abschleppdienst ins Präsidium hatten schaffen lassen. »Ein Dummer-Jungs-Streich …«

»Ausgerechnet in dieser ruhigen Wohnstraße? Ausgerechnet bei einem zivilen Polizeifahrzeug, das für die Jagd nach dem Maskenteufel eingesetzt wird? Nein, mein Lieber. An solche Zufälle glaube ich nicht.«

»Ich auch nicht«, räumte Ben ein. »Zum Glück brauchen wir hier in Blankenese ja kein Auto. Bei den kurzen Strecken.«

»Eines steht jedenfalls für mich fest«, sagte Heike. »Die Zeugen haben Angst davor, in diesem Fall auszusagen. Warum?«

»Weil sie die Rache des Maskenteufels fürchten.«

»Oder seiner Hintermänner, Ben.«

»Du glaubst nicht, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, Heike?«

»Das meine ich nicht. Der Maskenteufel arbeitet schon allein, wenn man das so nennen will. Aber er wird offensichtlich gedeckt. Komplizen oder Freunde sorgen dafür, dass wir nicht zu viel herausfinden. Man beobachtet jeden unserer Schritte, während wir hier ermitteln. Das ist doch nicht normal.«

»Ich verstehe.«

Ben nickte.

Auch der Hauptkommissar bemerkte instinktiv, dass er und Heike beschattet wurden. Die Kriminalisten ließen sich natürlich nichts anmerken. Dann bestand nämlich wenigstens die Möglichkeit, dass ihre Verfolger unvorsichtig wurden und ihre Deckung verließen. Aber vorerst sah es nicht danach aus.

Heike und Ben ließen sich jedenfalls nicht von ihrer Arbeit abhalten. Zu Fuß gingen sie zu Natalie Schmölders Wohnung. Die junge Frau war das erste Opfer des Maskenteufels gewesen, als er mit den Überfällen begonnen hatte. Doch Natalie Schmölder war zum Glück nur verletzt worden. Sie wohnte in der Nähe der S-Bahn-Station Blankenese. In dem Mehrfamilienhaus erfuhren die Ermittler, dass Natalie bei der Arbeit war. Sie jobbte in einem Drogeriemarkt an der Blankeneser Hauptstraße.

»Irgendwie doch beruhigend, dass in diesem Stadtteil nicht nur Millionäre leben«, schmunzelte Heike. Sie kannte Natalies Gesicht aus der Maskenteufel-Akte, die sie von der Abteilung für Gewaltverbrechen bekommen hatte.

Allerdings sah die junge Frau in dem Uniformkittel der Drogerie-Kette viel besser aus als auf dem Foto, das Heike geläufig war. Sie hatte anscheinend das damalige Erlebnis gut überwunden. Doch ihre Miene verfinsterte sich, als sie Heike und Ben erblickte.

»Polizei?!«

Die blonde Kriminalistin lächelte.

»Wahrscheinlich haben Sie als Kriminalitätsopfer inzwischen einen sechsten Sinn für die Ordnungsmacht entwickelt.«

Heike zeigte ihren Dienstausweis, stellte sich und Ben vor. »Wir ermitteln in der Mordsache Christine Becker«, fügte sie hinzu. »Können wir irgendwo in Ruhe reden?«

Die Frau, die ebenfalls vom Maskenteufel angefallen worden war, nickte. Sie führte die Kriminalisten in das kleine Büro des Drogeriemarktes. Durch eine Panoramascheibe hatte man von hier aus die gesamte Verkaufsfläche im Blick.

»Ich habe davon gehört«, sagte Natalie Schmölder. »Sie wissen ja sicher, dass Blankenese irgendwie immer noch ein Dorf ist. Wir leben hier zwar inmitten einer Millionenstadt, aber unser Viertel ist doch eine Welt für sich. Die Kunden haben mir die neueste Bluttat unter die Nase gerieben. Ich lese die Hamburger Zeitungen nicht mehr, seit … seit der Geschichte damals. Auch das hiesige Radioprogramm meide ich.«

Heike nickte verständnisvoll.

»Sie wollen nur noch vergessen, Frau Schmölder. Das verstehe ich. Aber wir müssen einen Mörder fangen. Übrigens stand noch gar nichts über die neueste Untat in den Zeitungen. Sie hat nämlich erst in der vergangenen Nacht stattgefunden.«

»So? Na, einige Kunden waren jedenfalls schon bestens informiert«, meinte die Verkäuferin bitter. »Was wollen Sie denn wissen, Frau Kommissarin? Ihre Kollegen haben mich doch damals schon alles Mögliche gefragt.«

»Mich interessiert, ob Sie nach der Tat bedroht wurden. Sie haben den Maskenteufel ja angezeigt.«

»Ja, ich habe Anzeige gegen unbekannt erstattet. Aber Drohungen habe ich keine erhalten. Weder brieflich noch per Telefon oder sonst wie.«

Heike ließ ihre Gesprächspartnerin nicht aus den Augen. Die Kriminalistin glaubte Natalie Schmölder. Die junge Frau sagte die Wahrheit. Sie war nicht der Typ, um sich gut zu verstellen. Heike besaß genügend Menschenkenntnis, um das beurteilen zu können.

»Und einen Verdacht, wer der Täter sein könnte, haben Sie schon nach der Tat nicht geäußert.«

»Dabei ist es auch geblieben, Frau Kommissarin. Der Kerl war groß, ungefähr so wie Ihr Kollege. Aber bulliger, also breiter und wohl auch dick. Aber das habe ich alles schon tausendmal ausgesagt.«

»Schon gut«, wiegelte Heike ab.

Sie hatte die Ermittlungsakte ja wirklich auf ihrem Schreibtisch im Präsidium liegen. »Ich denke, das war es einstweilen, Frau Schmölder.«

»Ich wünsche Ihnen wirklich, dass Sie den Mistkerl fangen«, rief die Drogerieangestellte ihnen nach. »Allein schon, damit endlich Ruhe einkehrt und ich alles vergessen kann.«

Heike und Ben verließen den Markt. Sie kauften sich ein Stück weiter in einer Eisdiele je ein Eishörnchen und schlenderten dann wie ein Touristenpaar zu dem Haus, wo Vera Grune wohnte. Ein weiteres Opfer, das die Messerattacken des Maskenteufels überlebt hatte.

»Natalie Schmölder macht keinen besonders traumatisierten Eindruck«, meinte Ben.

»Sie scheint auch wirklich keine Angst zu haben. Im Gegensatz zu den Eltern von Melanie Hartwig und Iris Brander.«

»Du glaubst also auch, dass die sich vor etwas fürchten? Fein, dann sind wir uns ja mal wieder einig, Ben. Auch die Partygäste waren ja alles andere als begeistert von unseren Vorladungen. Das kommt übrigens heute Nachmittag auch noch auf uns zu.«

»Schon klar, Heike. Ich habe mir überlegt, dass Natalie Schmölder etwas aus dem übrigen Schema fällt. Sie ist nämlich schon fünf oder sechs Jahre älter als die achtzehnjährigen Opfer. Und außerdem geht sie nicht aufs Gymnasium, sondern ist berufstätig.«

»Du meinst, sie gehört nicht zu der Partyclique? – Das ist wirklich ein Ansatzpunkt. Melanie Hartwig und Iris Brander entziehen sich mit mehr oder weniger haarsträubenden Ausflüchten ihrer polizeilichen Aussage. Ich bin sehr gespannt auf diese Vera Grune. Die ist nämlich laut Akte auch sehr jung und wird nächstes Jahr auf dem Gymnasium Blankenese Abitur machen.«

Ben legte nachdenklich die Stirn in Falten.

»Sollte diese Schule die gemeinsame Klammer aller Opfer des Maskenteufels sein? Nur Natalie Schmölder fällt aus diesem Raster heraus, zugegeben. Aber du hast mir erzählt, dass die überfallenen jungen Frauen sich äußerlich überhaupt nicht ähneln.«

»Jedenfalls sollten wir uns mit dem Freundeskreis und den Bekannten der Opfer beschäftigen«, schlug Heike vor. »Wenn wir die junge Frau aus dem Drogeriemarkt ausklammern, scheinen sie sich alle mehr oder weniger gekannt zu haben. – Ich bin gespannt, ob diese Vera Grune auch in die Ferien gefahren ist!«

Doch wie die Ermittler von der Mutter des Opfers erfuhren, befand sich die Schülerin in Hamburg. Sie war sogar fast in unmittelbarer Reichweite.

»Unsere Vera ist sehr sportlich«, sagte Frau Grune voller Mutterstolz. »Bei dem herrlichen Wetter findet man sie fast den ganzen Tag lang am Strand, beim Volleyball!«

Heike ließ sich noch genau beschreiben, wo Vera ihrer Sportleidenschaft frönte. Dann gingen die Kriminalisten hinunter zur Elbe, um das Opfer des Gewaltverbrechers dort aufzusuchen.

Viele Binnenländer sind erstaunt darüber, dass es an der Elbe einen richtigen Sandstrand wie an Nord- und Ostsee gibt. Und doch zieht das Elbufer bei Blankenese im Sommer Tausende von Sonnenhungrigen an. Noch nicht einmal auf Strandkörbe oder Segelboote müssen sie verzichten.

Die Aussicht ist allerdings eine andere als in den bekannten deutschen Badeorten. Gegenüber von den Blankeneser Elbstränden befindet sich auf der anderen Flussseite die Fabrikationsanlage der Deutschen Aerospace, wo das größte Passagierflugzeug der Welt in Serie gefertigt wird.

Am Ufer angekommen konnte Heike der Versuchung nicht widerstehen. Sie zog ihre Sneakers aus, schob die Schuhe in ihre Umhängetasche und stapfte barfuß durch den heißen Sand. Schnell hatten die beiden Mordspezialisten das Beach-Volleyballnetz gefunden.

Vera Grune schlug gerade auf. Heike erkannte sie anhand des Fotos aus der Maskenteufel-Akte sofort wieder. Das war allerdings auch kein Kunststück, denn es standen nur insgesamt drei Frauen am Netz. Und die beiden anderen unterschieden sich im Aussehen erheblich von der Oberschülerin.

Heike suchte den Blick von Vera, gab ihr ein Zeichen. Die junge Frau schaute unwillig zurück. Als der Ball nach einer Weile irgendwo zwischen einigen Sandburgen verschwand, rief Vera laut: »Ich brauch’ mal eine Pause. Spielt mal kurz ohne mich weiter, okay?«

Vera Grune kam auf die beiden Kriminalisten zu. Sie war sehr schlank, hoch gewachsen und langbeinig. Mit ihrem naturroten Haar und ihren Sommersprossen sah sie fast etwas irisch aus. Und sie hatte auch ein Temperament, das an die Bewohner der Grünen Insel erinnerte.

»Könnt ihr Bullen mich denn niemals in Ruhe lassen?«

»Leider nicht«, entgegnete Heike ruhig und zeigte ihre Legitimation. »Haben Sie gehört, was mit Christine Becker passiert ist?«

»Habe ich nicht, ich bin nämlich keine Tratschtante! Ich treibe lieber Sport anstatt mir über Schulkameradinnen den Mund zu zerreißen, kapiert?«

»Christine Becker wurde in der vergangenen Nacht ermordet«, sagte Ben. »Und zwar vermutlich von demselben Täter, der auch Sie angefallen hat, Frau Grune.«

»Ermordet?!« Vera Grunes Erstaunen schien ungekünstelt. Sie fiel sozusagen aus allen Wolken. »Oh, nein! So ein Mist, so ein verflixter Bockmist!«

Sie fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Dabei hob sich der Saum ihres Tanktops. Für einen Moment sah man die lange weiße Narbe zwischen Bauchnabel und dem Ansatz der Brüste. Dort hatte sie der Maskenteufel vor einigen Monaten aufgeschlitzt, zum Glück nicht sehr tief. Nur die obersten Hautschichten waren betroffen gewesen.

»Sie scheinen sich über den Tod von Christine Becker zu wundern«, sagte Heike.

Sie ging an Veras Seite mit der jungen Sportlerin zu einem Erfrischungsstand in der Nähe.

Ben folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand. Der Hauptkommissar achtete unauffällig auf mögliche Beschatter oder Lauscher.

»Hatten Sie nicht selbst Angst zu sterben, als Sie überfallen wurden?«, fragte die blonde Kriminalistin weiter.

»Ich? Äh, keine Ahnung. Doch, wahrscheinlich schon. Ja, wer hätte die nicht? Angst, meine ich. Ich kam vom Tanztraining, hatte ein bisschen die Zeit vergessen. Dann, fünfzig Meter vom Haus meiner Eltern entfernt, hat es mich erwischt. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Aber das habe ich doch alles schon x-mal ausgesagt, Frau Kommissarin.«

»Auf mich machen Sie keinen sehr furchtsamen Eindruck, Vera. – Ich darf doch Vera sagen?«

»Ja, klar. Soll das ein Kompliment sein? Jedenfalls, danke für die Blumen. Aber ich möchte leben, so wie jeder andere auch. Meine Narbe erinnert mich jeden Tag daran, was für ein Glück ich gehabt habe. Deshalb stecke ich meine Nase nicht in fremder Leute Angelegenheiten.«

Heike hob die Augenbrauen.

»Wie meinen Sie das, Vera?«

»So, wie ich es gesagt habe.« Die junge Frau verdrehte genervt die Augen Richtung Sommerhimmel. »Darf ich jetzt endlich weiter Volleyball spielen?«

»Wenn Sie etwas wissen, das Sie bisher noch nicht zu Protokoll gegeben haben, dann machen Sie sich möglicherweise der Beihilfe zum Mord schuldig«, erklärte Heike eindringlich.

»Ich weiß nur, dass Sie mir auf den Zeiger gehen!«, blaffte Vera die Hauptkommissarin an. »Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Steht in Ihren dämlichen Akten übrigens auch drin, dass mein Papa Rechtsanwalt ist? Wenn Sie mich das nächste Mal was fragen wollen, können Sie sich direkt an ihn wenden. Der wird Ihnen schon die passende Antwort geben!«

Mit diesen Worten drehte sich Vera Grune um und rauschte davon, zu ihren Volleyball-Freunden zurück.

»Was für eine wohlerzogene junge Dame«, sagte Ben.

Heike zuckte mit den Schultern.

»Was erwartest du, Ben? Hast du nicht bemerkt, dass die kleine Vera völlig stoned war?«

Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf.

»Das ist mir ehrlich gesagt nicht aufgefallen. Aber du hast ja auch direkt mit ihr gesprochen. Kokain?«

»Möglich, Ben. Ich würde allerdings eher auf eine von diesen verflixten neuen chemischen Partydrogen tippen. Das ist bei einem Mädchen in ihrem Alter einfach wahrscheinlicher. Wahrscheinlich hat sie das Zeug eingeworfen, um beim Volleyball länger durchhalten zu können. Jedenfalls erklärt sich durch das Rauschgift auch ihre offensichtliche Furchtlosigkeit.«

»Weil dieser chemische Dreck ihr Mut und Überlegenheit vorgaukelt?«

»Genau das ist es, Ben. Aber trotz ihrer schroffen Art hat uns die kleine Vera noch etwas sehr Interessantes verraten, wenn auch wahrscheinlich ungewollt. – Sie hat Glück gehabt und steckt deshalb ihre Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. So waren ihre Worte.«

»Und was schließt du daraus, Heike?«

»Es wäre zumindest möglich, dass die liebe Vera den Maskenteufel kennt oder zu kennen glaubt. Dazu musst du wissen, dass sie als einziges von den bisherigen Opfern des Gewalttäters keine Anzeige gegen unbekannt erstattet hat. Ihre offizielle Begründung dafür war, dass das ja doch nichts bringen würde. Man könnte es aber auch als Signal an den Verbrecher interpretieren: Ich tue dir nichts, dann tu du mir nicht noch einmal etwas.«

»Das ist aber sehr fantasievoll gedacht«, bemerkte Ben, der mehr für die harten Fakten zu begeistern war.

»Sicher, aber das ist zumindest eine Annahme, mit der wir erst einmal arbeiten können. – Ich bin mir immer sicherer, dass wir es hier nicht mit dem Großen Unbekannten zu tun haben. Die Opfer und ihre Freunde kennen den Maskenteufel – oder glauben, ihn zu kennen. Sie trauen sich nur nicht, gegenüber der Polizei Angaben zu machen.«

»Dabei fällt mir ein: Wir sollten möglichst bald ins Präsidium zurück und die Befragungen vorbereiten, Heike. Etwas Zeit haben wir zwar noch, aber trotzdem.«

Die Hauptkommissarin klopfte ihrem Kollegen freundschaftlich auf die Schulter. Seite an Seite stapften sie zurück zur Uferpromenade.

Menschen ließen sich am Strand in der Sonne braten, andere spielten mit Frisbee-Scheiben oder Plastikbällen. Ein Mann hatte sogar eine Staffelei aufgebaut und bemalte eine Leinwand, mit dem Pinsel in der rechten und der Palette in der linken Hand. Heike warf ihm einen flüchtigen Blick zu.

Und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen!

Das entstehende Ölgemälde zeigte keine Elblandschaft und kein Schiff. Auch die Sonnenanbeter und Freizeitsportler wurden nicht portraitiert. Vielmehr war auf der Leinwand eine Teufelsfratze zu sehen.

Die Hauptkommissarin konnte sich von diesem Anblick nicht losreißen. Der Strandkünstler pinselte den Leibhaftigen so, wie ihn auch viele mittelalterliche Maler dargestellt hatten. Das blutrote Gesicht wies eine dreieckige Form auf. Aus der Stirn wuchsen Bockshörner. Das Maul war zu einem dämonischen Grinsen verzerrt. Und die gelben Augen blickten heimtückisch in die Welt.

Ben stoppte und drehte sich um. Er hatte bemerkt, dass seine Kollegin nicht weitergegangen war. Heike bat ihn mit einem Blick um etwas Geduld. Die beiden Kriminalisten waren so aufeinander eingespielt, dass sie sich oft wortlos verständigen konnten. Die Hauptkommissarin stellte sich neben den Maler, der in seiner Tätigkeit nicht innehielt.

»Interessantes Motiv, Meister. Darf ich fragen, wo Sie den Teufel hier sehen?«

Mit diesen Worten sprach Heike den Pinselquäler an. Dieser wandte ihr langsam seinen Kopf zu. So, als würde er aus einer tiefen Trance erwachen. Vielleicht war das ja auch wirklich so.

Der Maler hatte ein schwer einzuschätzendes Alter. Er konnte Mitte vierzig, aber ebenso gut auch schon sechzig Jahre alt sein. Sein Gesicht war schmal und bleich, mit Stirnglatze. Ansonsten hingen seine grauen Haare lang und unordentlich bis auf die Schultern hinab. Sie waren ebenso wenig in Fasson wie sein struppiger Bart. Der Maler war mager und ungefähr so groß wie die 1,72 m messende Heike. Seine Beine steckten in zerschlissenen Cordhosen, der Oberkörper in einem T-Shirt, das irgendwann einmal weiß gewesen sein musste. Der Künstler gab offenbar nicht allzu viel auf sein Äußeres.

»Der Satan ist überall«, sagte er mit einer Stimme, die an das Klirren von rostigem Metall erinnerte. »Und zwar seit Anbeginn aller Zeiten. ›Deine Pracht, Satan, ist herunter zu den Toten gefahren samt dem Klang deiner Harfen. Gewürm wird dein Bett sein und Würmer deine Decke.‹ So spricht schon der Prophet Jesaja in der Heiligen Schrift.«

»Zu Ihnen spricht jetzt jedenfalls Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Kripo Hamburg«, erwiderte die Kriminalistin trocken und hielt dem Maler ihren Dienstausweis vor die Nase. »Und wer sind Sie?«

»In dieser Welt nennt man mich Wilfried Scheffler.« Der Graukopf zog einen gültigen Bundespersonalausweis aus der Gesäßtasche seiner fadenscheinigen Hose. Heike nahm ihn entgegen und übertrug die Angaben in ihr Notizbuch. Dann gab sie ihm das Dokument zurück.

»In dieser Welt, Herr Scheffler? Gibt es denn noch andere Welten?«

Scheffler grinste verschmitzt.

»Das wissen Sie nicht, Frau Kommissarin? Ich dachte immer, die Polizei weiß alles.«

»Schluss mit dem Katz- und Maus-Spiel!«, blaffte Heike. »Mein Kollege und ich ermitteln in einem Mordfall. Begangen wurde die Tat von einem Verbrecher, der eine Teufelsmaske trägt. Wenn Sie etwas darüber wissen, will ich es erfahren.«

»Wissen kann sehr gefährlich sein«, behauptete der Pinsler. »Einem gewissen Dr. Faust wurde sein Wissensdurst zum Verhängnis, als er sich mit Mephistopheles eingelassen hat. Das ist übrigens einer der zahlreichen Namen des Leibhaftigen.«

Seine Augen glitzerten, als er diesen Satz aussprach. Heike schaute ihn unbeeindruckt an.

»Goethes Faust, schon klar. Ich habe nämlich in der Schule auch aufgepasst, stellen Sie sich vor. Aber ich kenne keinen Dr. Faust, sondern Dr. Magnussen. Der ist ein Kriminaloberrat und mein direkter Vorgesetzter. Und er wird mit dem größten Vergnügen einen Haftbefehl für Sie, Herr Scheffler, beantragen, wenn Sie mir weiter Müll erzählen statt unsere Ermittlungen zu unterstützen.«

Scheffler tunkte seinen Pinsel in den Rotklecks auf seiner Palette. Falls Heike ihn aus der Ruhe gebracht hatte, ließ er es sich nicht anmerken.

»Aber nicht doch, Frau Kommissarin. Den Bütteln des Gesetzes muss man gehorchen, das war schon seit ewigen Zeiten so. Ich werde alles sagen, was ich weiß. Auch über diesen Maskenteufel. Aber nicht hier. Am Strand hören zu viele Leute mit. Kommen Sie heute Abend in meine Wohnung, Frau Kommissarin. Aber lassen Sie diesen finster dreinblickenden jungen Mann zu Hause. Er macht mich nervös.«

Der Maler deutete mit seinem Pinsel auf Ben.

Der Hauptkommissar machte wirklich keinen Hehl daraus, dass ihm weder die Situation noch dieser Typ gefiel. Zum Glück verfügte Ben aber über eine bessere Selbstbeherrschung als Heike. Sonst hätte er diesem Scheffler garantiert schon einige harte Worte an den Kopf geworfen.

Heike zuckte mit den Schultern.

»Wie Sie meinen, Herr Scheffler.«

Sie notierte sich die Anschrift des Malers. Er wohnte in einer kleinen Straße unweit der S-Bahn-Station Blankenese. Eigentlich passte es der Kriminalistin ganz gut, ihn abends zu besuchen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Bald würden die ersten vorgeladenen Partygäste im Präsidium aufkreuzen. Ben und sie mussten sich beinahe schon etwas beeilen. Also war jetzt ohnehin keine Zeit mehr, um den Maler ins Gebet zu nehmen.

Heike wandte sich an Ben.

»Rufst du uns bitte ein Taxi? Sonst schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig ins Präsidium.«

Der Hauptkommissar nickte und telefonierte mit seinem Handy die Taxizentrale an.

»Ich komme dann also heute Abend zu Ihnen, Herr Scheffler«, sagte Heike zum Abschied.

»Sie werden es nicht bereuen, Frau Kommissarin«, behauptete der Maler.

Die beiden Kriminalisten gingen schweigend hoch zum Strandweg. Erst als sie im Taxi saßen, ergriff Ben das Wort.

»Willst du da wirklich hingehen, Heike?«

»Sicher, warum nicht? Größeren Mist als vorhin kann Scheffler auch nicht erzählen. Wir sind auf jede noch so kleine Information angewiesen.«

»Für mich riecht diese Einladung meilenweit nach einer Falle. Ich würde lieber mitkommen.«

»Dann wird er nicht auspacken, Ben. Er ist nun einmal kauzig, das hast du bestimmt auch gemerkt. Wahrscheinlich kann Scheffler dich nicht ausstehen.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit!«

»Schön, aber sollen wir uns deshalb mögliche Informationen entgehen lassen? Außerdem bin ich keine kleine Polizeischülerin mehr. Vergiss nicht, dass außerdem mein liebstes Hobby Kung-Fu ist.«

»Stimmt schon«, seufzte Ben. »Wenn ich daran denke, wie du diesen fassadenkletternden Frauenwürger k.o. geschlagen hast – aber ich bin eben um dich besorgt.«

»Klar, du bist lieb.«

Heike lächelte und strich ihrem Dienstpartner mit dem Handrücken über die Wange. Sie übertrieb es aber nicht mit der Zärtlichkeit. Schließlich wollte sie bei Ben nicht erneut Gefühle wecken, die er momentan genauso erfolgreich unterdrückte wie sie, Heike, es ebenfalls tat.

Sie hatten sich nun einmal dafür entschieden, dass aus ihnen kein Liebespaar werden durfte.

Halb Hamburg schien noch im Urlaub zu sein. Das Taxi kam gut durch von Blankenese nach Alsterdorf, wo sich das Polizeipräsidium befindet. Es blieb sogar noch Zeit für einen schnellen Kaffee, bevor die erste vorgeladene Gymnasiastin in den Räumen der Sonderkommission Mord erschien.

Die Aktion mit den Partygästen war ein einziger Reinfall. Von den acht auf das Präsidium vorgeladenen Schülerinnen und Schülern erschienen überhaupt nur drei auf der Bildfläche.

Die übrigen fünf Zeugen waren durch einen seltsamen Zufall alle gleichzeitig schwer erkrankt. Ihre ärztlichen Atteste wurden durch Geschwister oder ein Elternteil, in einem Fall sogar durch einen Butler persönlich ins Präsidium gebracht. Eine medizinische Bescheinigung wurde gleich vom Familienanwalt höchstpersönlich überreicht. Heike wunderte sich inzwischen über gar nichts mehr. Zähneknirschend stapelte sie die Atteste auf ihrem Schreibtisch.

Die Befragungen der drei Partygäste, die der Vorladung Folge geleistet hatten, waren ebenfalls unergiebig. Ein Mädchen und zwei junge Männer sagten aus, dass sie Christine Becker kennen würden. Das war auch kein Wunder, denn sie gehörten alle zum selben Abiturjahrgang.

»Christine war total nett.«

»Sie hatte keine Feinde.«

»Bedroht? Nee, Frau Kommissarin. Sie hat sich niemals bedroht gefühlt. Nicht, dass ich wüsste.«

So und ähnlich waren die Aussagen, die zu Protokoll gegeben wurden. Und natürlich hatte auch keiner der drei Jugendlichen einen blassen Schimmer, wer sich hinter der Teufelsmaske des brutalen Verbrechers verbergen könnte.

Als das letzte Verhör beendet war, stieß der Schüler in der Tür des Befragungsraums beinahe mit Dr. Magnussen zusammen. Der Kriminaloberrat wippte erwartungsvoll mit seiner Tabakspfeife. Er ergriff das Wort, nachdem Ben den Jungen zum Ausgang geleitet hatte.

»Nun, Frau Stein, gibt es schon erste Erkenntnisse?«

»Unsere Ermittlungen werden in Blankenese nicht gerade unterstützt, Herr Kriminaloberrat. Ich vermute, dass viele Menschen dort wissen oder ahnen, wer der Maskenteufel ist. Aber sie wollen nicht mit der Polizei zusammenarbeiten.«

Heikes Vorgesetzter griff sich den kleinen Stapel mit den ärztlichen Attesten und blätterte ihn durch. Sein Gesicht wurde bei jedem Namen länger. Es waren die Söhne und Töchter bekannter und einflussreicher Hamburger Familien, die sich durch fadenscheinige Ausflüchte von ihren Zeugenaussagen entbinden ließen. Das war jedenfalls Heikes Meinung.

Dr. Magnussen hingegen fürchtete wieder einmal um seine zukünftige Karriere. Das konnte sie ihm an der Nasenspitze ansehen.

»Ich hoffe wirklich, dass Sie uns dort draußen in Blankenese keine Schande machen, Frau Stein.«

Heike rollte ungeduldig mit den Augen. Manchmal ging ihr Dr. Magnussens Respekt vor mächtigen Persönlichkeiten wirklich auf die Nerven.

»Ich treffe mich gleich noch mit einem merkwürdigen Maler, Herr Kriminaloberrat. Er heißt Wilfried Scheffler und will angeblich zum Thema Maskenteufel aussagen.«

»Scheffler? Hm, der Name sagt mir nichts«, entgegnete Dr. Magnussen mit unverkennbarer Erleichterung in der Stimme.

»Vielleicht ist er ja ein verschollener unehelicher Bruder unseres Ersten Bürgermeisters!«, sagte Heike hämisch.

Zum Glück kam in diesem Moment Ben zurück.

Bevor Dr. Magnussen explodieren konnte, packte Heike den Hauptkommissar am Ärmel und zog ihn mit sich hinaus. Sie warf dem Chef über die Schulter nur einen kurzen Gruß zu.

»Wohin so eilig?«, fragte Ben schmunzelnd.

»Was du vorhast, weiß ich nicht. Aber ich fahre nach Blankenese, zu Wilfried Scheffler.«

»Ich habe noch ein paar Recherchen zu machen«, sagte Ben. »Wir sehen uns dann morgen früh, Heike.«

»In Ordnung. Schönen Feierabend.«

Die Kriminalistin lauschte auf den Klang ihrer eigenen Worte. Sie selbst würde erst wieder einen schönen Feierabend haben, wenn der Maskenteufel hinter Schloss und Riegel saß. Da war sich die Kriminalhauptkommissarin sicher.

5


Da Heike es nicht eilig hatte, fuhr sie mit Öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrer Verabredung mit Wilfried Scheffler. Zunächst nahm sie die U 1 bis Jungfernstieg. Dort stieg sie in die S-Bahn Richtung Wedel um, mit der sie bis Blankenese gelangte.

An diesem schönen Sommerabend waren viele Menschen unterwegs. Beim Verlassen der S-Bahn-Station fiel Heike auf, wie viele junge Mädchen offenbar allein nach Hause, zu Freunden oder sonst wo hin gingen. Gewiss, noch war es hell. Aber der Maskenteufel trieb nun einmal hier in Blankenese sein Unwesen. Heike war selbst gegen unnötige Panikmache. Aber andererseits ärgerte sie sich über die Sorglosigkeit, mit der mögliche zukünftige Opfer des Gewalttäters hier abends unterwegs waren.

Die Kriminalistin fand die Behausung von Wilfried Scheffler auf Anhieb. Auch in diesem Villenviertel gab es einige bescheidenere Adressen. Der Künstler jedenfalls lebte in einer kleinen Mansarde mit Blick auf die S-Bahn-Gleise.

»Guten Abend, Frau Kommissarin. Willkommen im Reich des Schönen!«

Diese Begrüßung durch Wilfried Scheffler passte in ihrer Verschrobenheit zu dem Mann, der sie aussprach.

Heikes persönlicher Schönheitssinn wurde jedenfalls durch die Künstler-Klause nicht gerade angesprochen. Scheffler malte offenbar nicht nur, er stellte auch Skulpturen her. Und zwar vorzugsweise aus Sperrmüllgegenständen. So hatte er Fahrradspeichen, einen morschen Gartenschlauch, die stählerne Trommel einer Waschmaschine sowie Fetzen von Plastikfolie mit Hilfe von Paketband miteinander verbunden.

Die Mansardenwände waren bedeckt mit Gemaltem. Einige der Bilder bedeckten die halbe Wand, andere waren nicht größer als eine Postkarte. Auf jeden Fall schien Scheffler eine Vorliebe für Dämonen zu haben. Die von ihm zu Papier gebrachten Gestalten wirkten bösartig und waren von abgrundtiefer Hässlichkeit.

»Wenn Sie hier im Reich des Schönen leben, warum malen Sie solche abstoßenden Fratzen?«, fragte Heike mit ihrer direkten Art.

»Weil Schönheit und Hässlichkeit oft sehr nahe beieinander liegen, Frau Kommissarin«, erwiderte der Maler. Er schien nicht beleidigt zu sein. »Möchten Sie eine Buttermilch?«

»Buttermilch?«

»Etwas anderes habe ich nicht. Der Filialleiter vom Supermarkt schenkt mir immer die Waren, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum gerade eben abgelaufen ist. Dadurch habe ich den ganzen Kühlschrank voll mit Buttermilch.«

Heike ließ sich das sommerliche Erfrischungsgetränk geben. Sie trank es direkt aus der Packung. Das war gewiss hygienischer als ein Glas aus Wilfried Schefflers Beständen zu benutzen. Die Hauptkommissarin hatte in einem der Sperrmüllsessel Platz genommen. Sie schlug ihre langen Beine übereinander und sagte: »Nun einmal Klartext, Herr Scheffler. Ich bin nämlich nicht nur zum Buttermilchtrinken hergekommen. Sie haben hier sehr viele Spukgestalten gemalt. Aber mich interessiert vor allem, wer sich hinter der Teufelsmaske des Verbrechers verbirgt, der hier im Treppenviertel Frauen überfällt.«

Scheffler warf Heike einen undefinierbaren Blick zu.

»Wer sagt Ihnen denn, dass dieses Wesen eine Maske trägt? Vielleicht ist es ja der Leibhaftige selbst!«

»Unsinn«, knurrte die Kriminalistin. »Straftaten werden von Menschen aus Fleisch und Blut begangen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Ich habe schon viele Verbrecher verhaftet, aber noch keiner von ihnen war ein Geist oder ein Dämon. – Ich warne Sie, Herr Scheffler. Die Kripo Hamburg lässt sich nicht verschaukeln. Ich bin auf Ihren Wunsch eingegangen und habe Sie in Ihrer Wohnung besucht. Aber wir können auch anders. Wenn ich Sie auf das Präsidium vorladen lasse …«

Der Maler unterbrach seinen Gast mit einer abwehrenden Geste. Man konnte unmöglich sagen, ob Schefflers Gesichtsausdruck amüsiert oder eingeschüchtert wirkte. Jedenfalls war Heike mit dieser Einschätzung überfordert. Sie hatte sich bisher immer für eine gute Menschenkennerin gehalten. Aber bei einem Mann wie Wilfried Scheffler konnte man offenbar keine normalen Maßstäbe anlegen.

»Werden Sie doch nicht sauer, Frau Kommissarin! Trinken Sie lieber noch etwas mehr Buttermilch, das beruhigt. – Ich weiß ja auch gar nicht, ob der Maskenteufel ein Mensch oder ein anderes Wesen ist. Ich habe ihn nämlich nicht angesprochen. Dafür hatte ich viel zu viel Angst vor ihm.«

Heike horchte auf.

»Sie haben den so genannten Maskenteufel also gesehen?«

»Davon sprach ich schon heute früh am Strand. Es tut mir leid, wenn Sie mich nicht richtig verstanden haben. Ich weiß, dass ich manchmal etwas weitschweifig und undeutlich rede.«

Das ist noch untertrieben, dachte die Kriminalistin ungeduldig. Aber sie sagte: »Bitte versuchen Sie sich genau zu erinnern, Herr Scheffler. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«

Der Künstler trank etwas Buttermilch, die ihm teilweise in den Bart lief. Aber er bemerkte es gar nicht, so konzentriert dachte er nach.

»Das war zum Vollmond im Juni, Frau Kommissarin. Genauer kriege ich es nicht hin.«

Heike nickte. Sie konnte auf ihrem Taschenkalender sehen, dass der Vollmond im Juni am 7. stattgefunden hatte. Das war exakt die Nacht, in der Iris Brander von dem Maskenteufel verletzt wurde. Sollte Scheffler etwa ein Augenzeuge sein, der sich bisher noch nicht gemeldet hatte? Die Hauptkommissarin forderte den Künstler mit einer Geste auf, fortzufahren.

»Ich gehe manchmal nachts spazieren, Frau Kommissarin. Das Mondlicht auf der Elbe inspiriert mich zu neuen Gemälden. Jedenfalls wollte ich hoch zum Süllberg, weil man von dort einfach die beste Aussicht hat. Da kam er mir auf der Süllbergstreppe entgegen.«

»Wer?«, fragte Heike, obwohl sie die Antwort schon zu kennen glaubte. So stand es nämlich in der Ermittlungsakte. Iris Brander war in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni niedergestochen worden, und zwar nirgendwo anders als auf der Süllbergstreppe!

»Der Maskenteufel natürlich!« Wilfried Scheffler wurde bei seiner Erzählung so aufgeregt, dass die Buttermilch aus seinem Becher schwappte. Bei dem Zustand des Teppichs machte das allerdings auch nichts mehr aus. »Frau Kommissarin, er war riesig! Wie ein schwarzer Berg ragte er vor mir auf. Und er hielt ein bluttriefendes Messer in der rechten Hand. Ich dachte schon, das sei mein Ende. Ich hielt die Hände vor mein Gesicht, denn ich bin kein Held. Ich wüsste gar nicht, wie ich kämpfen sollte. Aber der Maskenteufel verschonte mein Leben. Er ahnte wahrscheinlich instinktiv, dass ich ein Maler-Genie bin und die Welt meine Werke braucht.«

Das bezweifelte Heike, aber sie ließ den wirren Künstler reden. Es war unmöglich einzuschätzen, wann Wilfried Scheffler wieder so auskunftsfreudig sein würde wie in diesem Moment.

»Der Maskenteufel stieß ein heiseres Schnaufen aus«, fuhr der Maler fort. »Er lief an mir vorbei, bog unten in die Elbterrasse ein. Dann war er verschwunden.«

»Was meinen Sie mit verschwunden?«, hakte Heike nach.

»Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Es war ja dunkel. Und das Treppenviertel ist sehr unübersichtlich, Frau Kommissarin. Vielleicht ist der Unheimliche ja in einen der Gärten gesprungen. Oder hinunter zur Elbe gelaufen. Oder die Erde hat sich aufgetan und ihn verschluckt!«

Die letztgenannte Möglichkeit schloss Heike aus. Aber das war jetzt nicht so wichtig.

»Was haben Sie nach der Begegnung mit dem Maskenteufel getan, Herr Scheffler?«

»Ich bin fortgerannt, aber in die andere Richtung. Also bergauf, zur Blankeneser Hauptstraße. Und von dort aus direkt nach Hause.«

Heike nickte. Wenn der Maler über die Süllbergstreppe gegangen wäre, hätte er unweigerlich das verletzte Opfer des Verbrechers finden müssen.

Wie die Kriminalistin aus der Ermittlungsakte wusste, hatte sich die leicht verletzte Iris Brander nach dem ersten Schock bis zu ihrem Elternhaus geschleppt. Später war sie dann im Krankenhaus Rissen ambulant behandelt worden. Durch das Hospital erfuhr auch die Polizei von dem Überfall. Iris Brander hatte darauf verzichtet, selbst Anzeige zu erstatten.

Nach dieser kurzen gedanklichen Abschweifung konzentrierte sich Heike wieder auf ihren Zeugen.

»Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt, Herr Scheffler?«

Der Künstler grinste, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte.

»Ich hatte Angst vor diesem Satan, wie gesagt. Und außerdem … ich bin hier in Blankenese bekannt. In diesem Stadtteil bin ich geboren und aufgewachsen. Ich habe immer hier gelebt. Die Leute kennen mich. Ihre Kollegen vom örtlichen Revier natürlich auch. Aber sie nehmen mich nicht ernst. Für sie bin ich so eine Art komischer Heiliger. Deshalb dachte ich mir, dass eine Meldung sinnlos sein würde.«

Heike musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Auch sie selbst hatte Probleme damit, in dem verschrobenen Künstler einen glaubwürdigen Zeugen zu sehen. Aber seine Angaben stimmten mit den bisherigen Erkenntnissen aus der Polizeiakte überein. Daher würde Scheffler sich seine Begegnung mit dem Maskenteufel wohl kaum aus den Fingern gesogen haben.

Eines musste die Kriminalistin dem Maler jedenfalls lassen. Er war bedeutend auskunftsfreudiger als alle anderen Zeugen, die sie bisher zu diesem Fall befragt hatte.

»Bitte beschreiben Sie mir ganz genau, wie die maskierte Person ausgesehen hat. Sie sind schließlich Künstler. Da wird es Ihnen gewiss nicht schwer fallen, genau zu beobachten.«

Wilfried Scheffler reagierte geschmeichelt. Genau wie Heike es erhofft hatte.

»Der Maskenteufel muss mindesten 1,85 m groß gewesen sein. Außerdem stämmig, vielleicht sogar dick. Er trug eine schwarze Jogginghose und einen Rollkragenpullover mit langen Ärmeln in der gleichen Farbe. Dieses Kleidungsstück war vermutlich aus Baumwolle. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass er bei der Hitze einen Wollpullover anhatte. Die Füße steckten in ebenfalls schwarzen Sportschuhen einer Designer-Marke. Und das blutige Messer in seiner Hand war mindestens 30 Zentimeter lang.«

Dämonen tragen keine Jogginghosen, dachte Heike amüsiert, während sie die Aussage wortgetreu mitschrieb. Ihrer Meinung nach war Wilfried Scheffler zwar etwas wunderlich, aber keineswegs geistesgestört. Man musste ihn nur richtig anfassen, um eine brauchbare Information von ihm zu bekommen.

»Außerdem verströmte der Maskenteufel einen starken Schweißgeruch«, fügte der Kunstmaler noch hinzu.

Heike stellte noch mehrere Fragen. Sie wollte auch herausfinden, ob sich der Zeuge in Widersprüche verwickelte. Aber das geschah nicht.

Wilfried Scheffler hatte auf seinem Mondscheinspaziergang offenbar alles ganz genau beobachtet.

Schließlich erhob sich die Hauptkommissarin von dem Sperrmüllsessel.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Scheffler. Es kann sein, dass wir Sie nochmals befragen müssen.«

»Sie sind mir stets willkommen, holde Kommissarin«, erwiderte das verkannte Genie und verfiel nun wieder in seine seltsame Redeweise.

»Wer könnte Ihnen widerstehen, dem Sinnbild von hehrer Schönheit einerseits und erbarmungslosem Gesetz andererseits.«

Heike, die sich inzwischen an Schefflers Art gewöhnt hatte, nahm ihm seinen Spruch nicht krumm. Sie stieg die ausgetretenen Treppenstufen hinab. Die Kriminalistin wollte schon die Richtung des nahe gelegenen S-Bahnhofs einschlagen. Da entschied sie sich, noch einmal durch das Treppenviertel zu gehen. Heike hatte sich die passende Tageszeit dafür ausgesucht. Es war inzwischen schon dunkel.

Selbstverständlich spendeten auch in den Treppengassen um den Süllberg herum Straßenlaternen ihr Licht. Aber es gab trotzdem unzählige finstere Winkel, nicht zuletzt durch die üppige Pflanzenwelt in den Gärten. Dorthin reichten die städtischen Beleuchtungskörper natürlich nicht.

Es war ein Leichtes für einen Straftäter, sich dort zu verbergen. Das hatte Heike schon bei ihrer ersten Besichtigung der Tatort-Umgebung feststellen müssen.

Die Hauptkommissarin gestand sich ein, dass sie sich nicht gerade wohl in ihrer Haut fühlte.

Beim Verlassen von Wilfried Schefflers Wohnhaus war sie sicher gewesen, beobachtet zu werden. Aber bisher war es ihr nicht gelungen, ihren möglichen Verfolger oder Beschatter zu orten.

Wer immer sie im Blickfeld behielt, ging verflixt profihaft vor.

Andererseits – wenn der Maskenteufel sich ausgerechnet auf sie, Heike Stein, stürzen wollte, war das eine einmalige Gelegenheit, um ihn dingfest zu machen. Die junge Kriminalistin fühlte sich dank ihrer Kung-Fu-Kenntnisse auch einem Gegner gewachsen, der vermutlich größer und stärker war als sie selbst.

Außerdem trug sie als Polizeibeamtin im Dienst natürlich ihre Pistole. Es war ein beruhigendes Gefühl für Heike, die Waffe griffbereit im Gürtelholster zu haben.

Heike lauschte, während sie die Lange Straße Richtung Elbstrand hinunterschlenderte. In einer so schönen Sommernacht gab es natürlich unzählige Geräusche. Und sie war auch nicht allein zu Fuß unterwegs. Vor wenigen Minuten war die Hauptkommissarin von einer Gruppe junger Leute überholt worden, die etwas von einer Grillparty am Strand erzählten.

Aber als deren Schritte verklungen waren, hörte Heike immer noch andere Schuhe auf den Steinstufen. Schwere Tritte. Doch als sie sich umschaute, war hinter ihr niemand zu sehen. Unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Dabei war Heike in ihrem Innersten fest davon überzeugt, es nicht mit einem übersinnlichen Wesen zu tun zu haben.

Und doch schrak sie zusammen, als von der Elbe her eine Schiffssirene ihren durchdringenden Klang in die Nacht hinausschickte.

Die Schritte waren immer noch zu hören. Und dann erkannte Heike des Rätsels Lösung. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie sich unmittelbar vor der Einmündung der Bornholmer Treppe in die Lange Straße befand. Im nächsten Moment erschien bereits eine finstere Gestalt, deren Umrisse nur schemenhaft zu orten waren.

Heike glaubte schon, nun dem brutalen Verbrecher gleich Auge in Auge gegenüberzustehen. Doch diese Annahme ließ sie sofort wieder fallen, als die Gestalt ins Licht der nächstgelegenen Laterne trat.

Es war Ben!

»Was machst du denn hier?«, raunte Heike schlecht gelaunt. Dabei ärgerte sie sich hauptsächlich über ihre eigenen Beklemmungen.

»Wieso schleichst du mir nach? Soll das etwa lustig sein?«

»Ich bin dir nicht nachgeschlichen«, verteidigte sich Ben. »Sonst wäre ich ja hinter dir gewesen. Wir sind aus verschiedenen Gassen gekommen, Heike.«

»Ja, stimmt schon.« Die Kriminalistin grinste. Sie konnte Ben sowieso nie länger als drei Minuten böse sein. »Aber trotzdem. Was machst du hier nachts in Blankenese?«

»Recherchieren natürlich. Das hatte ich dir vorhin gesagt. Ich habe nur verschwiegen, dass ich in Blankenese zu tun hatte. Eben gerade, damit du nicht denkst, ich würde dich bevormunden wollen.«

»Sehr fürsorglich«, erwiderte Heike mit liebevollem Spott. »Und was hast du nun recherchiert, wenn man fragen darf?«

»Natürlich darf man das. Du bist ja schließlich meine Dienstpartnerin. Also, ich habe die Leute über diesen Wilfried Scheffler ausgehorcht.«

»Welche Leute meinst du denn?«

»Nun, die Bäckersfrau beispielsweise. Und das Personal aus dem Supermarkt. Den Besitzer von dem kleinen Café unweit von Schefflers Behausung. Es ging mir darum, wie glaubwürdig er als Zeuge ist. Denn dieser Maler ist ja wirklich ein seltsamer Vogel.«

»Das kann man wohl sagen!«, stöhnte Heike. Sie fragte sich selbst, ob sie sauer auf Ben war, weil er sich in Schefflers Umgebung umgehört hatte. Aber dann musste sie sich eingestehen, dass sie dasselbe am folgenden Tag wohl ebenfalls gemacht hätte.

»Was ist denn bei deinen Recherchen herausgekommen?«, wollte Heike wissen.

»Nun, auf jeden Fall ist Wilfried Scheffler ein alteingesessener Blankeneser. Er hat das hiesige Gymnasium besucht, wenn auch ohne Abschluss. Sein Vater hatte eine kleine Import-Firma für Gewürze. Kurz nach Schefflers siebzehntem Geburtstag kamen beide Elternteile bei einem Bootsunfall ums Leben.«

Heike dachte im Stillen, dass Ben wirklich einige sehr gut informierte Tratschtanten angezapft haben musste. Jedenfalls hoffte sie, dass die Bäckereiverkäuferinnen an der Eppendorfer Landstraße nicht so gut über ihr, Heike Steins, Leben Bescheid wussten.

»Nach diesem Unfalltod seiner Eltern wurde Scheffler etwas wunderlich«, fuhr Ben fort. »Da es keine näheren Verwandten gab, setzte das Jugendamt zunächst einen Vormund ein, um die Firma zu leiten und das Vermögen zu verwalten. Aber das Thema hatte sich bald von selbst erledigt.«

»Weil Scheffler volljährig wurde!«

»Genau, Heike. Er war ja nicht richtig geisteskrank, nur etwas seltsam. Dass er sich für ein Genie hält – nun, das passiert wohl noch anderen Künstlern. Jedenfalls wollte er nur noch für seine Karriere als Maler leben. Scheffler hat das elterliche Unternehmen und die Villa verkauft. Immerhin hatte er Verstand genug, sein Vermögen in konservativen Unternehmensanleihen anzulegen. Seitdem lebt er von den bescheidenen Zinsen. Der Supermarktleiter steckt ihm gelegentlich Lebensmittel zu, die nicht mehr verkauft werden dürfen, aber noch genießbar sind.«

Heike nickte. Sie hatte den Maler bewusst nicht nach seinem Lebensunterhalt gefragt, um seine Aussagen zum Thema Maskenteufel nicht zu unterbrechen. Während Ben erzählte, waren die beiden Kriminalisten nicht untätig stehen geblieben. Sie gingen weiter hügelabwärts Richtung Elbufer.

»Was hältst du von einem Bier in der Strandperle?«, fragte Heike spontan. »Das haben wir uns nach diesem langen Arbeitstag verdient.«

»Da sage ich nicht nein.«

Die Strandperle war ein Treff für Hamburger und Touristen, die sich ihren Gerstensaft auf Holzstühlen unter freiem Himmel oder gleich direkt im Sand schmecken ließen.

Heike und Ben ergatterten wirklich noch einen Sitzplatz im Freiluft-Bereich. Ihnen bot sich ein Panoramablick auf die glitzernden Wellen der Elbe, die vom Mond und vom Flutlicht der Flugzeugfabrik am anderen Elbufer der Finsternis entrissen wurden. Und immer wieder schob sich der riesige Stahlleib eines Containerschiffs durch das Blickfeld.

Hier konnten sie natürlich nicht offen über ihren Kriminalfall reden. Links und rechts neben ihnen saßen junge Menschen, die sie überhaupt nicht kannten. Das wäre kein guter Umgang mit Dienstgeheimnissen gewesen.

Aber Heike wollte sich jetzt ohnehin nicht mehr den Kopf über den Maskenteufel zerbrechen. Am nächsten Morgen würde die Mörderjagd weitergehen. Aber an diesem Abend gab es zunächst nichts, das noch getan werden konnte. Sie genoss es einfach nur, ein kaltes Bier zu trinken und neben Ben zu sitzen. Gerne hätte sie ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Aber das wäre keine gute Idee gewesen. Ben hatte ihr vor nicht allzu langer Zeit gestanden, dass er sie liebte.

Heike wollte nicht bei Ben und auch nicht bei sich selbst Gefühle zum Leben erwecken, die doch keine Zukunft hatten. Das war jedenfalls die Ansicht der Hauptkommissarin. Aber die Sehnsucht nach dem Mann neben ihr blieb doch bestehen. Immerhin konnte sich Heike damit trösten, dass Ben in diesem Augenblick bei ihr war und nicht bei seiner Frau in dem Haus draußen in Ahrensburg.

Es war, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.

»Manchmal mag ich gar nicht nach Hause gehen, Heike. Dann würde ich am liebsten mit zu dir kommen.«

»Ach, Ben.« Heike seufzte. »Das freut mich natürlich. Aber wir müssen vernünftig sein.«

Der Hauptkommissar trank einen Schluck Bier.

»Es ist eben schwer, weil ich dich jeden Tag sehe. Aber andererseits graut es mir davor, ohne dich den Dienst tun zu müssen.«

»Das geht mir genauso, Ben. Ich fürchte, wir haben uns eine Falle gestellt, aus der es kein Entrinnen gibt.«

»Entschuldigen Sie die Störung …«

Dieser Satz wurde von einer jungen Männerstimme ausgesprochen. Die beiden Kriminalisten blickten auf.

Heike wurde die Absurdität der Situation bewusst. Sie und Ben schwiegen aus Geheimhaltungsgründen über ihren aktuellen Fall. Aber sie hatten keine Hemmungen, vor den Ohren wildfremder Leute über ihre intimsten Gefühle zu reden. Vielleicht war das so, weil außer ihnen selbst viele Liebespaare in der Strandperle saßen. Aber – waren Heike und Ben überhaupt ein Liebespaar? Jedenfalls hatten sie sich vorgenommen, es nicht mehr sein zu wollen. Ob sie das schaffen würden, stand allerdings auf einem anderen Blatt.

Der junge Mann, der sie angesprochen hatte, war jedenfalls ohne weibliche Begleitung in der Strandbar. Das lag gewiss nicht an seinem Äußeren. Heike fand ihn sehr attraktiv, obwohl er nicht ihr Typ war. Ganz abgesehen von seinem Alter, denn er konnte nicht mehr als achtzehn oder neunzehn Lenze zählen.

Der Fremde war ein drahtiger, sportlicher Typ. Sein rotblondes Haar hatte ein Starfriseur zu einer modischen Gelfrisur geschnitten. Die Haut war ebenmäßig gebräunt. Heike konnte sich sehr gut vorstellen, dass dieser Teenager sich ebenso für Beach-Volleyball begeistert wie Vera Grune es tat.

»Sie sind doch von der Polizei, nicht wahr?«, fuhr der Junge fort, während er Heike und Ben forschend anschaute.

»Stimmt genau«, erwiderte die Hauptkommissarin. Ihr lag die Bemerkung auf der Zunge, dass auch Kriminalbeamte einmal Feierabend haben. Aber das wäre grundfalsch gewesen. Außer Wilfried Scheffler und dessen Nachbarn hatte sich noch kein Blankeneser bei den Ermittlungen kooperativ gezeigt. Da durfte man jemanden nicht verschrecken, der aus freien Stücken auf sie zukam.

Heike fiel auf, dass sich der Teenager im selben Alter befand wie die Partygäste sowie das Mordopfer Christine Becker. Doch bevor sie diesen Gedanken weiterführen konnte, kam der Junge von selbst darauf zu sprechen.

»Gestatten Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?«

Heike und Ben nickten wie auf Kommando.

Der Teenager nahm auf der schmalen Holzbank ihnen gegenüber Platz. Er hatte eine Bierflasche in der Hand, die er auf den Tisch stellte.

»Ich stelle mich am besten erst einmal selbst vor. Mein Name ist Nils Rade. Ich gehe auf das Gymnasium hier in Blankenese. Christine Becker und Melanie Hartwig sind … waren in meinem Abiturjahrgang. Ich finde es furchtbar, was mit ihnen geschehen ist.«

»Über den Verbleib von Melanie Hartwig gibt es keine genauen Erkenntnisse«, sagte Heike im besten Amtsdeutsch. Sie war noch nicht dazu gekommen, den Eltern des Mädchens ein weiteres Mal ins Gewissen zu reden. Aber obwohl Heike diesen Nils auf Anhieb sympathisch fand, wollte sie doch ihm gegenüber nicht ihre Karten sofort auf den Tisch legen.

Stattdessen zeigte sie ihren Dienstausweis und nannte ihren eigenen sowie den Namen von Ben. Nils nickte. Ein bitteres Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

»Ich kann es nicht beweisen, Frau Stein. Aber ich fürchte, dass Melanies Eltern Ihnen etwas vorlügen. Meine Mama und mein Papa kennen die Hartwigs ganz gut. Ich halte es für möglich, dass sie Melanie in eine Nervenheilanstalt geschafft haben. In ein Privatsanatorium.«

Heike fiel aus allen Wolken, obwohl sie innerlich ruhig blieb. Die Geschichte mit dem Spontanurlaub in Osteuropa hatte sie nicht eine Minute lang geglaubt. Aber eine Nervenklinik?

»Wie kommen Sie zu dieser Vermutung, Herr Rade?«

»Nennen Sie mich doch Nils, bitte.« Der Zeuge lächelte, wobei er noch jünger wirkte. »Herr Rade sagen die Leute immer nur zu meinem Vater. – Ich habe keinen Beweis für meine Annahme, Frau Stein. Aber ich habe es mir zusammengereimt. Melanie war gewiss sehr schockiert durch das, was sie mitansehen musste.«

»Woher weißt du, was sie mitangesehen hat?«, hakte Heike nach.

»Ich weiß es nicht direkt. Frau Hartwig hat mit meiner Mama darüber gesprochen. Wir wohnen in derselben Straße. Frau Hartwig soll auch gesagt haben, dass Melanie in Blankenese nicht mehr sicher sei. Auch nicht in einem hiesigen Krankenhaus.«

»Nicht mehr sicher wovor?«, fragte Heike, obwohl sie die Antwort ahnte.

»Vor dem Maskenteufel natürlich«, erwiderte Nils, als ob Heike etwas Selbstverständliches abstreiten würde.

»Wieso haben Sie überhaupt gewusst, dass wir von der Kripo sind?«

Mit diesen Worten schaltete sich Ben in das Gespräch ein.

Nils zeigte wieder sein jungenhaftes Lächeln, das ihm so gut stand.

»Blankenese ist im Grunde ein Dorf, Herr Wilken. Viele dieser Partygäste, mit denen Sie zu tun hatten, sind Schulkameraden von mir. Da bekommt man natürlich einiges mit. Die Leute haben darüber gesprochen, dass sie verhört werden sollten. Einige haben beschrieben, wie Frau Stein aussieht. Und Sie, Herr Wilken, habe ich vorhin in der Bäckerei gesehen.«

Der Hauptkommissar nickte. Er hatte ja schon zuvor Heike erzählt, dass er sich in der Umgebung von Wilfried Scheffler umgehört hatte.

»Ich wäre sonst morgen ins Präsidium gekommen«, fuhr Nils fort. »Aber dann habe ich Sie beide eben hier am Tisch sitzen sehen. Und da dachte ich, dass ich Ihnen sofort meine Hilfe anbieten könnte.«

»Hilfe können wir wirklich gebrauchen«, gab Heike unumwunden zu. »Nicht bei unserer Arbeit, der Verbrecherjagd. Das ist nichts für Laien. Aber Hilfe in Form von Informationen nehmen wir gerne an.«

»Keine Sorge, Frau Stein«, lachte der Gymnasiast. »Ich wollte nicht den Hilfssheriff spielen. Vor diesem Maskenteufel hätte ich selbst viel zu große Angst. Obwohl er ja anscheinend bisher ausschließlich Frauen angefallen hat.«

»So ist es«, bestätigte Heike. »Mich würde zunächst einmal interessieren, warum wir hier in Blankenese auf eine Mauer des Schweigens stoßen. – Von Ihnen einmal abgesehen, Nils.«

Und Wilfried Scheffler war auch sehr redselig, dachte Heike. Aber sie musste diesem Jungen ja nicht alles auf die Nase binden.

Nils schaute kurz nach rechts und links. Er senkte die Stimme, bevor er Heike antwortete.

»Weil der Mörder einer von uns sein muss, Frau Stein. Ich bin kein Kriminalbeamter oder Detektiv. Aber eine andere Lösung gibt es nicht. Der Kerl kennt das Treppenviertel offenbar wie seine Westentasche. Vielleicht hat er ja immer schon in Blankenese gelebt. Die Menschen haben Angst, weil sie ihn vielleicht kennen. Tagsüber verhält er sich mehr oder weniger normal. Doch nachts wird er zur Bestie. Das ist doch wirklich unheimlich, oder nicht? Darum haben die Leute Angst, etwas auszusagen. Weil der Täter Wind davon bekommen könnte. Und dann schreckliche Rache nimmt!«

»Haben Sie keine Angst?«, wollte Ben wissen.

Nils grinste schief.

»Mir schlottern die Knie, haben Sie das noch nicht bemerkt? – Aber im Ernst, ich will mithelfen, dem Spuk ein Ende zu machen. Ich habe Christine Becker gekannt, verstehen Sie? Vielleicht war ich sogar ein wenig verliebt in sie. Oder sie in mich. Das werde ich jetzt niemals mehr herausfinden können. Sie ist nicht mehr da, für immer verschwunden. Wer das getan hat, der soll dafür bezahlen!«

Heike und Ben erwiderten nichts auf diesen Gefühlsausbruch. Jedenfalls hatte Nils Rade ihnen nun einen sehr einleuchtenden Grund dafür genannt, warum er die Kripo unterstützen wollte.

»Haben Sie einen konkreten Verdacht?«, fragte Heike den Jungen direkt.

Nils schlug die Augen nieder.

»Verdacht? Nein, so würde ich das nicht … nein, das nicht.«

Heike sah keinen Grund, den Jungen härter anzufassen. Er war auskunftswillig genug. Allerdings nahm das Gespräch nun eine Wendung, die mehr Vertraulichkeit erforderte. Die Hauptkommissarin zahlte das Bier für Nils, Ben und sich selbst. Dann gab sie den beiden Männern ein Zeichen. Die drei Menschen entfernten sich von der Strandperle und gingen am dunklen Elbstrand entlang, bis garantiert kein Außenstehender in Hörweite war.

»So, Nils«, sagte Heike. »Nun noch einmal zu Ihrem Verdacht.«

Der Oberschüler wand sich wie ein Aal.

»Das habe ich nicht … ich beschuldige ihn nicht, der Maskenteufel zu sein. Darauf lege ich großen Wert. Aber es ist eine Tatsache, dass er fast jede Nacht durch das Treppenviertel schleicht. Allerdings niemals in schwarzer Kleidung, sondern in seinen normalen Alltagsklamotten.«

»Wer ist es, Nils?«

»Ein Blankeneser Kunstmaler. Er heißt Wilfried Scheffler.«

6


Bei der Dienstbesprechung am nächsten Morgen strahlte Dr. Magnussen wie ein Honigkuchenpferd. Es war dem Kriminaloberrat an der Nasenspitze anzusehen, dass sich der Maskenteufel-Fall ganz nach seinem Geschmack entwickelte.

»Ausgezeichnete Arbeit, Frau Stein und Herr Wilken! Es sieht ganz so aus, als ob sich die Schlinge um den Hals dieses Wilfried Scheffler zusammenziehen würde!«

»Ich bin nicht so überzeugt davon, dass er der Täter ist«, sagte Heike.

Im nächsten Moment bereute sie ihre Worte bereits. Aber da war es schon zu spät.

Dr. Magnussen starrte sie an, als ob er ihr am liebsten ins Gesicht springen würde.

»Ach nein, Frau Stein? Ist Ihnen diese Lösung zu einfach?«

»Durchaus nicht, Herr Kriminaloberrat. Ich frage mich nur, warum sämtliche Zeugenaussagen den Maskenteufel als groß und stämmig beschreiben. Während der beschuldigte Kunstmaler eine eher schmächtige Figur hat.«

Wilfried Scheffler ähnelte übrigens vom Körperbau her ziemlich stark Heikes Vorgesetztem. Zum Glück war die Kriminalistin wenigstens diplomatisch genug, diese Tatsache zu verschweigen. Dr. Magnussen reagierte auch so ungehalten genug.

»Ihre Hirngespinste in allen Ehren, Frau Stein. Aber ich muss Ihnen wohl nicht predigen, dass bei Dunkelheit Aussagen zu Körperproportionen äußerst fragwürdig sind. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Daher werde ich sofort einen Hausdurchsuchungsbefehl für die Wohnung von diesem Kunstmaler beantragen. Sobald das Dokument vorliegt, werden Sie seine Bude auf den Kopf stellen. Wollen wir doch mal sehen, ob wir kein Belastungsmaterial sicherstellen können. Haben wir uns verstanden?«

»Jawohl, Herr Kriminaloberrat«, erwiderte Heike. Das war die einzig mögliche Antwort, wenn sie ihre zukünftige Polizeikarriere nicht endgültig begraben wollte. Außerdem – wenn Wilfried Scheffler unschuldig war, hatte er auch eine Hausdurchsuchung nicht zu fürchten. Heike musste sogar schmunzeln, als sie an seine Wohnung dachte. Durch eine Polizeiaktion konnte das Chaos dort auf keinen Fall noch vergrößert werden. Das war schlicht und einfach unmöglich.

»Ich werde heute Abend im Regionalfernsehen eine Stellungnahme zum Maskenteufel-Fall abgeben«, verkündete Dr. Magnussen. »Und es wäre sehr gut, wenn wir bis dahin schon einen Tatverdächtigen hinter Schloss und Riegel hätten.«

Heike hielt lieber den Mund, um sich nicht noch unbeliebter zu machen. Momentan fühlte sie sich alleingelassen. Ben war nämlich völlig auf Dr. Magnussens Linie eingeschwenkt. Die Aussage von Nils sowie das seltsame Verhalten des Kunstmalers hatten Scheffler in Bens Augen verdächtig genug gemacht. Fairerweise musste Heike allerdings zugeben, dass sie selbst keinen anderen Tatverdächtigen präsentieren konnte. Das war allerdings kein Grund, die Taten Wilfried Scheffler in die Schuhe zu schieben.

Als ihre Gedanken so weit gediehen waren, rief sich Heike innerlich selbst zur Ordnung. Die Kripo Hamburg schob niemandem etwas in die Schuhe. Es musste unumstößliche Beweise oder Indizien geben, bevor jemand seine Haftstrafe antreten musste.

»Dieser Nils ist ein echter Glücksfall, findest du nicht?«, sagte Ben, als Heike und er selbst wieder an ihren Schreibtischen waren. Sie warteten auf den Hausdurchsuchungsbefehl.

»Ja, ich mag den Jungen. Es hat mir so leid getan, als er das von der aufkeimenden Liebe zwischen sich und Christine erzählte. – Aber ich finde auch Wilfried Scheffler sympathisch. Obwohl du und Dr. Magnussen ihn unbedingt hinter Gittern sehen wollt.«

»Das ist nicht fair, Heike. Wenn er unschuldig ist, wird der Maler nichts vom Gesetz zu befürchten haben. Aber du musst zugeben, dass einiges gegen ihn spricht.«

Vor allem ist er der einzige Tatverdächtige, den wir überhaupt haben, dachte Heike bitter. Sie hielt vorerst ihren Schnabel. Heike wollte nicht etwas sagen, was sie später bereute. Vor allem nicht gegenüber Ben. Wenn der Hauptkommissar auch oft andere Ansichten vertrat als sie selbst, so würde er doch niemals absichtlich einen Unschuldigen hinter Gitter bringen.

Trotzdem fühlte sich Heike nicht gerade topfit, als der Hausdurchsuchungsbefehl vorlag und sie in einem neutralen Dienstwagen nach Blankenese fuhren. Es war noch Vormittag.

»Vielleicht ist Scheffler ja wieder am Strand und malt, Ben.«

»Vielleicht. Aber Künstler schlafen gerne lange. Wir sollten es erst in seiner Wohnung versuchen.«

»Das mit dem Ausschlafen klingt für mich nach einem dicken Vorurteil.«

Ben schmunzelte.

»Es ist eher der nackte Neid, Heike. Oder hast du schon einmal gehört, dass Kripobeamte ausgiebig ausschlafen dürfen?«

»Nein, außer im Urlaub.«

Das Vorurteil erwies sich jedenfalls diesmal als zutreffend. Scheffler war zu Hause und offensichtlich erst durch Bens Klingeln aus dem Bett gescheucht worden. Gähnend öffnete er den beiden Kriminalisten. Heike präsentierte ihm den Hausdurchsuchungsbefehl.

Der Maler warf ihr einen traurigen Blick zu, der sie in ihrem Innersten traf. Scheffler hatte ihr sein Herz ausgeschüttet, trotz seiner Angst von der nächtlichen Begegnung mit dem Maskenteufel erzählt. Und Heike erschien zum Dank gleich am nächsten Tag, um seine Behausung auf den Kopf zu stellen!

Andererseits konnte Schefflers Verhalten auch ein raffiniertes Täuschungsmanöver sein, sagte die Kriminalistin sich, während sie Einweg-Untersuchungshandschuhe aus Latex anlegte. Außerdem war Heike schon mehr als einmal auf die Nase gefallen, wenn sie sich bei Ermittlungen von persönlicher Sympathie leiten ließ. Ihre freundschaftlichen Gefühle für eine junge Dresdnerin, die sich später als Killerin entpuppte, hatte Heike bereits einmal in Teufels Küche gebracht.

»Es handelt sich um eine Routinemaßnahme«, sagte Heike zu dem Künstler. Sie sprach diesen Satz nur aus, um die drückende Stille zu durchbrechen.

Ansonsten bestand das einzige Geräusch in dem Klappern und Rasseln, als Ben mit beiden Händen durch die Sperrmüll- und Flohmarktgegenstände in unzähligen Pappkartons grub.

Heikes Aufmerksamkeit wurde durch eine bunte Visitenkarte geweckt, die auf einem Regal lag. Das rechteckige Papier gehörte der Inhaberin eines Spezialladens für Zauberei- und Mystikbedarf. Ohne lange zu überlegen steckte Heike die Visitenkarte in eine der Plastiktüten für Beweismittel. Vielleicht konnte sie in dem Geschäft ja mehr über Schefflers Interesse an Teufelsfratzen erfahren.

»Heike!«

Bens halblauter Ausruf riss sie aus ihren Überlegungen. Die Hauptkommissarin drehte sich um – und erstarrte.

Ihr Dienstpartner hatte ein langes Messer aus einer der Kisten gewühlt. Die dunklen Flecken auf der Klinge stammten ganz bestimmt nicht von Rost. Heike hatte schon oft genug getrocknetes Blut gesehen, um es als solches erkennen zu können.

»Das habe ich mir gedacht«, murmelte Ben mit verhaltenem Triumph vor sich hin. Er legte das Messer vorsichtig in eine andere Tüte für Beweismaterial.

»Können Sie mir erklären, wie diese Waffe in Ihren Besitz kommt, Herr Scheffler?«, fragte Heike scharf.

Der Kunstmaler war scheinbar völlig durcheinander. Er schüttelte nur immer wieder den Kopf. Erst Minuten später brachte er ein paar Sätze hervor.

»Das ist nicht meins … noch nie gesehen … der Maskenteufel hatte so eins in dieser Nacht …«

»Noch haben wir keinen Haftbefehl«, sagte Ben. »Aber bei der momentanen Beweislage dürfte das kein Problem sein. – Ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen, Herr Scheffler.«

»Bin ich verhaftet?«

Diese Frage stellte der Künstler nicht an Ben, sondern an Heike. Hilfe suchend blickte er sie an.

»Uns bleibt keine andere Wahl, das verstehen Sie doch, Herr Scheffler. – Wenn Sie vernünftig sind, können wir auf die Handschellen verzichten.«

»Heike …«, begann Ben warnend.

»Er wird uns keine Schwierigkeiten machen«, sagte die Kriminalistin und nickte dem Mordverdächtigen zu. »Nicht wahr, Herr Scheffler?«

Der Beschuldigte nickte nur stumm. Mit hängenden Schultern schlurfte er nach draußen, von den beiden Kripobeamten eingerahmt.

Irgendwie mussten die Pressegeier herausbekommen haben, dass in Blankenese eine Verhaftung bevorstand.

Heike dachte sich, dass möglicherweise Reporter eines Revolverblattes in letzter Zeit hinter ihnen herspioniert hatten. Aber nun war es für diese Erkenntnis leider zu spät.

Als die beiden Ermittler mit Wilfried Scheffler aus dem Haus traten, klickten die Verschlüsse der Hochleistungskameras.

»Ist das die sensationelle Wendung im Maskenteufel-Fall, die Dr. Magnussen angekündigt hat?«, rief einer der Mediengeier. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fotografierte er weiter. Heike kochte vor Wut. Sie musste sich zurückhalten.

»Wenden Sie sich an die Pressestelle der Hamburger Polizei!«, sagte sie, während sie Wilfried Scheffler in das Einsatzfahrzeug schob. Mit diesem Spruch konnte man die Skandaljournalisten immer noch am besten ärgern.

»Wegen dringenden Tatverdachts haben wir Sie jetzt ohne offiziellen Haftbefehl abgeführt«, erklärte Heike auf der Fahrt ins Präsidium. »Der Haftbefehl wird aber umgehend nachgereicht. Dann gibt es einen Haftprüfungstermin durch einen Richter. Der Jurist entscheidet, ob Sie in Untersuchungshaft bleiben müssen oder gegebenenfalls auf Kaution freikommen.«

Die Kriminalistin kam sich selbst dämlich vor, als sie dem Kunstmaler die bürokratische Prozedur erklärte. Scheffler hatte den Kopf in beide Hände gestützt. Er murmelte vor sich hin: »Ich bin kein Mörder … ich bin kein Mörder …«

Immerhin erklärte sich der Beschuldigte bereit, gleich ein offizielles Verhör über sich ergehen zu lassen. Heike ließ ihm aus der Kantine Kaffee und ein paar belegte Brötchen bringen.

Dr. Magnussen verbarg seine Zufriedenheit nicht, als die beiden Ermittler mit dem Beschuldigten die Räume der Sonderkommission Mord betraten.

»Das ist also der Herr Scheffler? Sehr gut, Frau Stein und Herr Wilken. Ich werde an der Befragung höchstpersönlich teilnehmen.«

»Müssen Sie nicht bald ins Fernsehstudio?«, fragte Heike patzig.

Aber ihr Vorgesetzter hatte inzwischen so gute Laune, dass er ihren Sarkasmus überhaupt nicht bemerkte.

»Wie? Ach so. Nein, sehr umsichtig von Ihnen, Frau Stein. Aber meine Teilnahme an der Sendung ist kein Problem. Das mit dem Schminken geht inzwischen im Handumdrehen. Ich bin ja nicht mehr ganz unbedarft, was Fernsehauftritte angeht.«

Das war noch untertrieben, wie Heike fand. Der Kriminaloberrat nutzte buchstäblich jede Gelegenheit, um vor eine laufende TV-Kamera zu gelangen. Der Vorteil für seine Untergebenen bestand darin, dass seine Laune an solchen Tagen üblicherweise blendend war.

Daher blieb Dr. Magnussen auch munter, als der Kunstmaler bei dem nun folgenden Verhör kein Geständnis ablegte. Allerdings hatte Wilfried Scheffler für keine der Bluttaten des Maskenteufels ein Alibi vorzuweisen. Er war eben ein Einzelgänger, der sich selten in Gesellschaft begab. Daher konnte auch niemand bestätigen, wo er zu den fraglichen Zeiten gewesen war. Und natürlich hatte Scheffler nach wie vor keine befriedigende Erklärung für das Vorhandensein des blutbefleckten Messers in seiner Wohnung.

»Was erwarten Sie?«, meinte Dr. Magnussen, nachdem der Beschuldigte einstweilen in die Untersuchungshaft geschafft wurde. »Dieser Scheffler ist offensichtlich geistesgestört. Das ist ja bei vielen Gewalttätern der Fall, wie wir wissen. Da wird ein Nervenarzt als Gutachter eingeschaltet werden müssen. Aber ich bin sehr optimistisch, was die Indizienlage angeht.«

»Ich habe das Messer in die Kriminaltechnik bringen lassen und um eine Express-Analyse gebeten«, sagte Ben.

»Ausgezeichnet, Herr Wilken, ganz ausgezeichnet. Sie kümmern sich weiterhin um die mutmaßliche Tatwaffe und – was planen Sie, Frau Stein?«

»Ich werde noch einmal mit den Eltern einer Zeugin reden«, sagte Heike wahrheitsgemäß. »Es besteht der Verdacht auf eine Falschaussage. Außerdem wollte ich einen Zauberladen besuchen, in dem Wilfried Scheffler vermutlich Kunde war.«

»Jede Kleinigkeit kann wichtig sein«, murmelte Dr. Magnussen.

Heike hatte das Gefühl, dass er in Gedanken bereits in den NDR-Studios in Lokstedt war.

»Sie machen das schon, Frau Stein. – Nun muss ich mich aber wirklich etwas beeilen.«

Heikes und Bens Vorgesetzter winkte und verließ ebenfalls den Verhörraum, aus dem uniformierte Beamte kurz zuvor den Kunstmaler abgeholt hatten.

Der Hauptkommissar griff nach seinen Unterlagen.

»Ja … ich werde dann mal in die Kriminaltechnik gehen und die Kollegen etwas nerven. Je eher wir die Analyse der Messer-Spuren bekommen, desto besser.«

»Natürlich.«

»Bist du sauer auf mich, Heike?«

»Nein, nicht auf dich. Ich bin nur unzufrieden mit mir selbst, verstehst du? Wenn Scheffler wirklich der Mörder ist, dann werde ich ganz lieb sein und nicht mehr quer schießen. Aber solange es noch andere Möglichkeiten gibt, werde ich sie überprüfen.«

»Hauptsache, es gibt zwischen uns kein böses Wort«, sagte Ben. Dabei schaute er sie so treuherzig an, dass Heike ihm schnell mit der Hand über die Wange streichelte. Dann eilte sie grußlos hinaus und begab sich mit dem Lift hinunter in die Fahrbereitschaft.

In einem zivilen Opel Omega flitzte die Ermittlerin in den Nobel-Vorort. Sie hatte immer noch genügend Wut im Bauch, um sich sofort die Eltern von Melanie Hartwig vorzuknöpfen.

Wieder öffnete die Mutter der Zeugin, nachdem Heike geläutet hatte. Frau Hartwig trug Shorts und eine ärmellose Bluse.

»Frau Kommissarin, was können wir noch für Sie tun? Im Radio kam soeben die Meldung, dass der Maskenteufel verhaftet worden sei …«

»Wenn das so ist, dann aber bestimmt nicht dank Ihrer Mithilfe!«, zischte Heike.

»Was erlauben Sie sich!«, rief Frau Hartwig. Aber die Hauptkommissarin war schon an ihr vorbei ins Haus gestürmt.

»Wo ist Ihr Mann?«

»Es geht Sie zwar nichts an, aber wir sitzen im Garten. Können Sie mir verraten, was dieser Auftritt soll?!«

»Im Garten?« Heike durchquerte das geräumige Wohnzimmer und trat durch die Terrassentür hinaus. Herr Hartwig hatte es sich in einem hölzernen Gartensessel bequem gemacht. Er ließ die Zeitung sinken und starrte Heike genauso irritiert an, wie es seine Frau soeben getan hatte.

»Was wollen Sie denn noch hier, Frau Kommissarin?«, fragte der Oberstudienrat ungehalten. »Ihr Fall ist doch abgeschlossen.«

»Da wissen Sie mehr als ich!«, blaffte die Kriminalistin. Sie baute sich gegenüber dem Ehepaar auf. Melanies Mutter hatte sich – wahrscheinlich instinktiv – neben ihren Mann gestellt.

»Frau und Herr Hartwig, ich habe Erkenntnisse darüber, dass sich Ihre Tochter Melanie keineswegs auf einer spontanen Urlaubsreise befindet. Vielmehr wird sie von Ihnen in einem Privatsanatorium vor den Augen der Behörden versteckt.«

»Wie können Sie das wiss-…«, platzte Melanies Mutter heraus. Aber ihr Mann packte sie am Arm und brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Heike merkte, dass sie auf dem richtigen Weg war. Der Anfangserfolg gab ihr Auftrieb.

»Wenn Sie mir weiterhin den Kontakt zu einer wichtigen Zeugin vorenthalten, machen Sie sich der Irreführung der Behörden und der Behinderung der Polizeiarbeit schuldig!«

»Oh, Gott …«, stöhnte Frau Hartwig.

»Lass’ dich nicht ins Bockshorn jagen!«, bellte ihr Mann. »Die Kommissarin hat nichts gegen uns in der Hand, absolut nichts. – Ich werde jetzt erst einmal unseren Familienanwalt anrufen.«

Der Oberstudienrat marschierte entschlossen ins Haus und warf die Terrassentür hinter sich zu. Die beiden Frauen waren allein im Garten. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Vögel zwitscherten. Von der Elbe her ertönte eine Schiffssirene. Das Geräusch wirkte bei Tageslicht nicht halb so bedrohlich wie nachts.

Heike stand mit vor der Brust verschränkten Armen da und ließ Frau Hartwig nicht aus den Augen. Ihr Gegenüber wirkte nervös und fahrig. Plötzlich öffnete die Hausherrin wieder ihren Mund.

»Frau Kommissarin, haben Sie eigentlich Kinder?«

»Nein, bisher nicht.«

»Dann können Sie mich auch nicht verstehen!«, sagte Frau Hartwig leidenschaftlich. »Ich werde alles tun, um mein Kind vor diesen Satanisten zu schützen.«

»Was für Satanisten?« Heike stieg sofort auf das Stichwort ein. »Ist der Maskenteufel überhaupt kein Einzeltäter?«

Doch bevor Frau Hartwig antworten konnte, kehrte ihr Mann zurück.

»Du sagst kein Wort mehr, Schatz! Ich habe mit Dr. Möller telefoniert. Unser Anwalt kommt umgehend hierher.«

Es vergingen schweigsame zwanzig Minuten im Hartwigschen Garten. Heike nutzte die Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Satanisten also. Frau Hartwig machte diesmal nicht den Eindruck, als ob sie Heike für dumm verkaufen wollte. Ihr Gefühlsausbruch war vielmehr der einer Mutter gewesen, die ihr Kind um jeden Preis schützen will. Die Hauptkommissarin besaß genügend Menschenkenntnis, um das beurteilen zu können.

Die Hartwigs versuchten also, ihre Tochter vor einer Satanisten-Gruppe zu schützen. Warum? Darauf gab es nur eine Antwort. Weil Melanie Hartwig über diese Leute und auch über den Maskenteufel Bescheid wusste!

Aber – vielleicht existierte ja gar nicht eine einzelne Person mit diesem Täterprofil? War es nicht auch möglich, dass mehrere maskierte Straftäter auf den nächtlichen Straßen Blankeneses unterwegs waren?

Ein verwirrender Gedanke. Zum Glück erschien irgendwann Dr. Hartmut Möller auf der Bildfläche. Er trug einen sauber geschnittenen Vollbart im Gesicht und hielt sich wie viele kleine Männer sehr aufrecht. Der Jurist beriet sich zunächst mit seinen Mandanten im Haus. Heike blieb solange allein im Garten und machte es sich auf einem Liegestuhl bequem. Das Möbel war herrlich, es lud ein zum Träumen.

Leider waren die Träume nicht so angenehm. Frau Hartwig hatte mit ihrer Frage nach Heikes Mutterschaft nämlich einen wunden Punkt im Leben der Hauptkommissarin berührt. Wie viele andere Frauen auch wollte Heike früher oder später gern mindestens ein Kind bekommen.

Allerdings fehlte ihr dazu der passende Mann. Genau genommen gab es nämlich nur einen Einzigen, mit dem Heike gerne eine Familie gegründet hätte. Und das war Ben Wilken, ihr Dienstpartner. Nur war der Hauptkommissar schon seit etlichen Jahren verheiratet und hatte außerdem eine kleine Tochter.

Wenn Heike ihn heiraten wollte, musste sie seine bisherige Familie zerstören. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Und genau davor schreckte sie zurück. Sie wollte ihr eigenes Glück nicht auf dem Unglück anderer errichten.

Heike drängte diese Gedanken innerlich beiseite wie einen bösen Traum. Zum Glück musste sie sich nun erst einmal mit dem Anwalt herumärgern. Heike setzte ihm haarklein auseinander, auf Grund welcher Paragrafen die Mitwirkung von Melanies Eltern geboten war. Schließlich telefonierte Dr. Möller noch mit der Privatklinik, in der sich die Zeugin befand.

»Sie dürfen mit Melanie sprechen, Frau Stein«, erklärte der Jurist schließlich gnädig. »Aber erst in zwei Tagen, bitte. Vorher halten es die Ärzte für nicht vertretbar.«

Diese Aussicht war zumindest ein Teilerfolg, wie Heike selbst fand. Sie erfuhr nun noch die Adresse des Sanatoriums. Es befand sich mitten auf dem flachen Land im nördlichen Schleswig-Holstein. Die Ermittlerin versuchte dann auch noch, Aussagen von Melanies Eltern selbst zu erhalten.

»Meine Mandanten sind momentan nicht zu weiteren Stellungnahmen bereit«, sagte der Familienanwalt steif. »Wenn Sie eine Aussage wünschen, schicken Sie uns bitte eine offizielle Vorladung.«

»Das werde ich tun, Herr Dr. Möller«, kündigte Heike an. Allerdings wettete sie mit sich selbst, dass Melanies Eltern dann ein ärztliches Attest vorlegen würden, wie es auch viele von den Schulkameraden des Mordopfers getan hatten. Aber nun hatte die Hauptkommissarin wenigstens die Chance, demnächst mit einer vermutlich wichtigen Zeugin zu sprechen.

Heike ging davon aus, dass der Maskenteufel-Fall noch lange nicht abgeschlossen war. Und das stimmte auch, wie ihr nach ihrer Rückkehr ins Präsidium klar wurde. Dort wartete ein Brief ohne Absender auf sie. Die Kriminalistin öffnete den Umschlag ohne Zögern, denn alle eingehende Post wurde automatisch auf Briefbomben hin durchleuchtet. Und einen Sprengsatz enthielt das Schreiben wirklich nicht.

Nur eine Todesdrohung.

HEIKE STEIN – DER SATAN WIRD DICH HOLEN!

Diese Worte standen auf dem Briefpapier, mit Computer geschrieben. Unterzeichnet war das Schreiben mit einer ungelenken Zeichnung, die zwei Teufelshörner darstellen sollte.

7


Dr. Magnussen fiel fast die Pfeife aus dem Mund, als Heike ihm am nächsten Morgen bei der Dienstbesprechung den Drohbrief zeigte. Am Vorabend hatte ihr Vorgesetzter ja seinen Fernsehauftritt gehabt und war nicht mehr erreichbar gewesen.

»Frau Stein! Das ist ja …«

»Eine Todesdrohung«, bemerkte Heike achselzuckend. »Übrigens mit einem Computer geschrieben. Und einen Rechner haben wir in der Wohnung von Wilfried Scheffler nicht feststellen können.«

»Das beweist aber nicht automatisch seine Unschuld«, gab Ben zu bedenken.

Der Hauptkommissar schaute seine Dienstpartnerin besorgt an. »In fast jedem Internetcafé gibt es die Möglichkeit, Texte zu schreiben und auszudrucken. Und im Gegensatz zu Schreibmaschinen ist es bei PC-Druckern nicht möglich nachzuweisen, auf welchem Printer welcher Brief ausgedruckt wurde.«

Das wusste Heike natürlich auch.

»Ich halte diese Drohung jedenfalls für ein gutes Zeichen«, sagte die Kriminalistin. »Sie zeigt uns, dass der Täter – oder die Täter – nervös werden. Wir sind auf der richtigen Spur.«

Dr. Magnussen beugte sich interessiert vor.

»Sie glauben also, dass es außer Wilfried Scheffler noch weitere Täter gibt?«

Heike holte tief Luft. Sie hätte sich beinahe noch einmal darüber ausgelassen, dass sie den Kunstmaler für unschuldig hielt. Aber es lagen nun einmal Indizien gegen ihn vor. Außerdem konnte man noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er wirklich nicht in die Taten des Maskenteufels verwickelt war.

Deshalb berichtete die Kriminalistin lediglich, was sie von Nils Rade und dem Ehepaar Hartwig erfahren hatte.

»Satanisten?!«

Der Kriminaloberrat ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Bei solchen Leuten konnte man eines großen Medienechos sicher sein. Und das war natürlich ganz im Sinn von Dr. Magnussen, der so gern im Licht der Öffentlichkeit stand.

»Die Möglichkeit besteht zumindest«, sagte Heike. »Wenn der Maskenteufel kein Einzelgänger ist, würde das auch erklären, warum er uns bisher immer entwischen konnte. Er hatte und hat immer noch Freunde, Komplizen oder wie immer man das nennen will. – Ich erhoffe mir einige Informationen von Melanie Hartwig. Aber ich muss noch bis morgen warten, bevor ich sie in dem Sanatorium besuchen darf.«

»In Ordnung, Frau Stein. – Vielleicht gesteht ja Scheffler endlich, wenn wir auch seine Helfershelfer verhaften. Dann wird er einsehen, dass der Schuss nach hinten losgeht, wenn man Polizistinnen bedroht! Trotzdem sollte Herr Wilken während der Dienststunden nicht mehr von Ihrer Seite weichen, Frau Stein.«

Heike lag die Bemerkung auf der Zunge, dass sie kein Kindermädchen brauchte. Aber warum sollte sie jetzt Dr. Magnussen oder gar Ben gegen sich aufbringen? Für die Hauptkommissarin war nur wichtig, dass sie in dem Maskenteufel-Fall weiter ermitteln durfte. Über die Morddrohung gegen sie machte sich Heike einstweilen keine Gedanken.

Gleich nach der Morgenbesprechung wartete der erste Hammer des Tages auf Heike und Ben. Die Kollegen aus der Technischen Abteilung hatten ihr Versprechen wahrgemacht und das Messer aus Wilfried Schefflers Behausung im Eiltempo untersucht. Der Bericht lag auf Bens Schreibtisch.

»Halt’ dich fest, Heike!«, rief der dunkelhaarige Ermittler, nachdem er die Seiten überflogen hatte. »Auf der Messerklinge war wirklich Blut, wie wir es vermuteten. Und zwar stimmt es mit der Blutgruppe von Christine Becker überein. Dieses Messer ist also zumindest im Mordfall Becker die Tatwaffe.«

»Lagen auch verwertbare Fingerabdrücke vor?«, fragte Heike scheinbar beiläufig.

Ben schüttelte den Kopf.

»Negativ. Der Griff ist sorgfältig abgewischt worden, andere brauchbare Abdrücke gibt es ebenfalls nicht.«

Die Hauptkommissarin musste sich stark beherrschen, um nicht in einen Triumphschrei auszubrechen. In ihren Augen war dieses Messer der beste Beweis für die Unschuld von Wilfried Scheffler.

Jemand hatte die Waffe in die Künstlerwohnung geschmuggelt. Das war keine große Leistung, denn die Dachmansarde besaß kein Sicherheitsschloss. Jeder minderbegabte Einbrecher konnte das altertümliche Türschloss mit einem Dietrich oder gar mit einer zurechtgebogenen Haarnadel öffnen.

Der wahre Mörder oder ein Komplize von ihm hatte die Mordwaffe dem Kunstmaler untergeschoben. Jetzt musste Heike diese Annahme nur noch beweisen.

Gegenüber Ben hielt sie einstweilen den Mund. Sie kannte den Hauptkommissar lange genug. Er würde vorerst nicht von seinem Verdacht gegen Scheffler abzubringen sein.

»Wollen wir den Pinselquäler nicht gleich noch einmal verhören?«, fragte Ben tatendurstig. »Vielleicht legt er ja auf Grund der nun erdrückenden Beweislage endlich ein Geständnis ab.«

»Lass’ uns erst noch zu diesem Zauberladen Marias Magie fahren«, beschwichtigte Heike. Sie fügte schnell hinzu: »Scheffler arbeitet ja offenbar nicht allein. Es wäre gut, wenn wir die ganze Satanisten-Gruppe hochgehen lassen könnten. Wie der Chef schon sagte – wenn seine Freunde verhaftet sind, wird auch unseren Hauptverdächtigen der Mut verlassen.«

Ben schmunzelte.

»Du stimmst mit dem Kriminaloberrat überein? Diesen Tag muss ich mir wohl rot im Kalender anstreichen. – Aber du hast natürlich Recht, Heike. Scheffler kann uns ja in der Untersuchungshaft am Holstenglacis nicht entwischen.«

Die beiden Ermittler gingen hinunter in die Fahrbereitschaft und ließen sich einen zivilen VW Golf geben. Ihre Fahrt führte sie diesmal in die Hamburger Neustadt, trotz des Namens einer der älteren Stadtteile in der Elbmetropole.

In einer ruhigen Seitenstraße südlich des turbulenten Gänsemarktes befand sich der Zauberladen.

Das Geschäft namens Marias Magie war in einem so schmalen Haus gelegen, dass Ben beinahe daran vorbeigefahren wäre. Er parkte ein Stück weiter. Eine altmodische Ladenglocke ertönte, als die beiden Ermittler den Zauberladen betraten. Sie waren offenbar die einzigen Kunden.

Irgendwie erinnerte das Geschäft Heike an Wilfried Schefflers Behausung. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass der Kunstmaler scheinbar systemlos Krimskrams angehäuft hatte.

In dem Laden hingegen wurden ausschließlich Dinge angeboten, die mit Zauberei oder Esoterik zu tun hatten. An den Wänden hingen seltsame Symbole aus Holz oder Metall. Altertümliche Garderobenständer wurden verwendet, um Zylinderhüte, spitze Zaubererhüte sowie dunkle Umhänge aufzubewahren. Auf Regalen lagerten Kristallkugeln, Zauberstäbe, Tarotkarten, künstliche Totenschädel sowie allerlei andere makabre Scherzartikel. Und natürlich gab es auch jede Menge Bücher mit übersinnlichen Themen.

Heike glaubte schon, der Laden wäre vollkommen leer.

Da ertönte eine weibliche Stimme aus dem Hinterzimmer.

»Dann war das Läuten der Ladenglocke doch kein Traum! Entschuldigen Sie die Verzögerung, aber ich hätte bei diesem Prachtwetter niemals mit Kunden gerechnet.«

Eine junge Frau in einem schwarzen Gewand kam aus dem hinteren Bereich des Ladens hervor. Offenbar war sie soeben aus dem Mittagsschläfchen gerissen worden. Jedenfalls standen ihre hennarot gefärbten Haare unordentlich von ihrem Kopf ab. Jeder ihrer Finger war mit Ringen bewehrt, die zweifellos magische Bedeutungen hatten. Gleiches traf wohl auch auf das silberne Geschmeide zu, das sie um den Hals trug.

Das geschäftsmäßige Lächeln der Frau gefror, als Heike ihren Kripo-Ausweis vorzeigte.

»Also doch keine Kunden! Na ja, die Kinderbücher um diesen Zaubererlümmel in seinem komischen Internat sorgen schon dafür, dass ich mein Auskommen habe. Der Sommer ist eben eine ruhige Geschäftszeit. Erst zu Halloween … aber, Moment mal! Wieso interessiert sich die Polizei für meinen Laden?«

»Das tun wir nicht, jedenfalls nicht direkt«, beruhigte Heike die Inhaberin. »Sie sind also Maria?«

Die schwarz Gekleidete nickte und zeigte ihren gültigen Bundespersonalausweis vor. Sie hieß Maria Bender und stammte aus der Nähe von Cuxhaven.

Heike beschrieb mit einigen Sätzen, worum es bei der Ermittlung ging. Sie zog ein Foto von Wilfried Scheffler aus ihrer Umhängetasche. Es handelte sich um ein offizielles Polizeifoto, das der Erkennungsdienst routinemäßig gemacht hatte.

Maria Bender pfiff undamenhaft durch die Zähne, als sie die Aufnahme überreicht bekam.

»Das ist also der Mörder?«

»Es handelt sich nur um einen Tatverdächtigen«, betonte Heike. »Aber in seiner Wohnung wurde eine Visitenkarte Ihres Geschäftes sichergestellt. Daher interessiert uns, ob Sie ihn kennen.«

»Was heißt schon kennen«, wich die junge Frau aus. »Klar, er ist öfter hier im Laden gewesen. Wir haben auch mal ein paar Takte geredet. Ich fand ihn ja auch ganz nett. Obwohl er nie viel gekauft hat. Aber das lag wohl an seinem ständigen Geldmangel. Interesse war schon da.«

»Interesse woran?«, hakte Heike nach.

»Interesse an Teufeln«, sagte Maria Bender unumwunden. Sie zog ein schmales Buch aus dem Regal. »Sehen Sie, hier ist beispielsweise ein Nachdruck. Das Original hat ein Doktor namens Johannes Weyer geschrieben. Es wäre heutzutage unbezahlbar. Jedenfalls hat dieser Weyer – übrigens ein gläubiger Christ – es unternommen, die Anzahl der Teufel in der Hölle herauszufinden und sie zu ordnen.«

»Ordnen?«

»Er hat eine Art höllischer Hackordnung entwickelt, Frau Kommissarin. Satan ist beispielsweise der oberste Herrscher. Ihm unterstehen 68 Oberteufel, von denen jeder unterschiedlich viele Legionen hat. Schon in den Evangelien findet sich der Begriff Legion, um eine bestimmte Teufelsanzahl zu benennen.«

»Sehr interessant«, sagte Heike ungeduldig. »Aber was hat Scheffler denn nun so daran gefallen? Hat er Ihnen das gesagt?«

Die Zaubertante zuckte mit den Schultern.

»Mir hat er immer nur erzählt, er wolle die Dämonen malen. Das hat ja eine lange Tradition. Denken Sie nur an Hieronymus Bosch und die Meister des Mittelalters. Zu religiöser Kunst gehört immer auch die Darstellung des Bösen.«

»Als Satanist hat sich Scheffler nicht zufällig zu erkennen gegeben?«

Heike beobachtete Maria Bender genau, während sie diesen Satz aussprach. Die Hauptkommissarin glaubte, in den Augen ihres Gegenübers so etwas wie Angst aufglimmen zu sehen. Aber das bewies natürlich noch gar nichts.

»Satanist?« Maria Bender lachte gekünstelt. »Entschuldigen Sie meine Heiterkeit. Aber so ein Stoffel wie Wilfried Scheffler, der ständig über seine eigenen Füße stolpert, als Teufelsanbeter … Nein, wirklich nicht.«

»Ich verstehe Sie also richtig, dass sich Herr Scheffler nur für Teufelsbilder in der Malerei interessierte?«

»So ist es.« Die Ladeninhaberin atmete tief durch. Dann deutete sie mit einer umfassenden Armbewegung auf ihre Ware. »Und auch ich selbst lege Wert darauf, keine illegalen oder gewaltverherrlichenden Bücher oder sonstige Artikel zu führen. – Sehen Sie sich ruhig um. Ich verkaufe den Leuten Träume und Illusionen. Zauberei ist im Grunde ein Spiel, bei dem sich das Publikum nur allzu gerne an der Nase herumführen lässt.«

»Dann glauben Sie also nicht an Übersinnliches?«, fragte Heike nach.

Maria Bender schüttelte energisch den Kopf.

»Überhaupt nicht. Ich habe eine Vorliebe für Magisches aller Art, zugegeben. Aber ich selbst bleibe mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen.«

»Die Satanisten tun das anscheinend nicht«, bemerkte Heike trocken.

»Hören Sie mir doch auf mit diesen Teufelsanbetern! Ich habe nichts zu tun mit diesen Blankeneser Schnöseln, begreifen Sie das endlich!«, schleuderte die Ladenbesitzerin Heike entgegen.

Im nächsten Moment schien sie ihre Worte bereits zu bereuen. Die Hauptkommissarin war sicher, dass Frau Bender noch mehr wusste.

»Von was für Schnöseln sprechen Sie, Frau Bender?«

»Ich sage jetzt überhaupt nichts mehr!«, keifte die Frau mit den rot gefärbten Haaren zurück. »Sie verdrehen einem ja doch das Wort im Munde, Frau Kommissarin!«

Maria Bender schaltete auf stur. Heike konnte noch so viel auf sie einreden, aus ihr war nichts herauszuholen. Weder nannte sie Namen noch erwähnte sie sonst irgendetwas zum Thema Teufelsanbeter in Blankenese.

Heike legte ihre Visitenkarte auf den Verkaufstresen.

»Sie können mich jederzeit anrufen, Frau Bender. Tag und Nacht. Vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein, das wichtig sein könnte. – Und denken Sie daran: Wir jagen einen Mörder. Je länger der Maskenteufel auf freiem Fuß ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer neuen Bluttat kommt.«

Maria Bender murmelte nur etwas Unverständliches und beschäftigte sich scheinbar intensiv mit ihrem Kassenbuch.

»Die hat Angst«, sagte Ben, nachdem sie Marias Magie verlassen hatten. Der Hauptkommissar hatte die ganze Zeit geschwiegen. Aber mit seiner Bemerkung traf er den Nagel auf den Kopf.

»Es gibt verflixt viele Menschen, die Angst vor dem Maskenteufel haben«, überlegte Heike laut. »Vielleicht ist das ja sein Erfolgsrezept, Ben. Er verbreitet Angst und Schrecken, um … verflixt!«

Ben fragte sich, warum Heike sich selbst unterbrach. Im nächsten Moment sah er die Antwort.

Diesmal hatten die Unbekannten nicht die Reifen des Dienstwagens zerstochen. Stattdessen war von unbekannter Hand die Windschutzscheibe mit roter Sprayfarbe verunziert worden. 666 stand jetzt quer über das Glas geschrieben.

»Die Zahl des Tieres«, murmelte Heike.

»Wie bitte?!« Ben schaute verblüfft zwischen dem verschandelten Polizeifahrzeug und seiner Dienstpartnerin hin und her.

»Die 666 ist eine Zahl, die den Satan repräsentiert, Ben«, erklärte die Hauptkommissarin. »Das steht schon in der Bibel, im Neuen Testament. – Ich habe nämlich gestern Abend noch etwas recherchiert. Nachdem ich erfahren habe, dass mich der Satan holen soll.«

»Das ist nicht lustig, Heike. Diese Verbrecher sind gefährlich.«

»Nein, es ist nicht wirklich lustig. Sie wollen uns nervös machen, Ben. Das darf ihnen aber nicht gelingen. Wir sollen uns vor ihnen fürchten. Sie wollen uns zeigen, dass sie alle unsere Schritte überwachen und jederzeit wieder zuschlagen können.«

»Ich kann nicht glauben, dass jemand am helllichten Tag mitten in der Hamburger City ein Auto besprüht und damit ungeschoren davonkommt.«

»Du weißt doch, wie die Leute sind. Kaum jemand hat Lust, sich wegen eines scheinbar normalen Graffitis als Zeuge zu melden. Außer natürlich, wenn es um das eigene Auto oder Haus geht.«

»Jetzt brauche ich erst einmal was Kaltes zu trinken«, stöhnte Ben. »Komm’, ich lade dich ins Café Paris ein.«

Die beiden Ermittler gingen zu Fuß Richtung Rathaus. Unweit des Regierungsgebäudes befand sich das elegante Café mit dem echten französischen Flair. Heike schaute hinauf zum Fliesendeckengemälde.

»Hier sind jedenfalls keine Teufelsbilder zu sehen. – Ben, ich habe eine Theorie. Wir sind diesen Mistkerlen schon ziemlich nahe auf den Fersen. Auch wenn wir selbst es noch nicht so genau wissen.«

»Das ist mir zu hoch, ehrlich gesagt.«

»Es ist eigentlich ganz einfach. Wir wissen jetzt genau, dass der Maskenteufel nicht allein sein Unwesen treibt. Er hat Helfer.«

»Logisch. Scheffler kann unser Auto nicht beschmieren, wenn er in U-Haft sitzt.«

Heike verdrehte die Augen, gab aber Ben um des lieben Friedens willen Recht.

»In Ordnung, also Scheffler ist meinetwegen der Oberboss. Seine Kumpane befinden sich noch auf freiem Fuß. Das wollen wir ändern. Wir haben bisher erfolglos versucht, Zeugen auszuquetschen, die schon halb zu Tode geängstigt sind. Wir sollten uns stattdessen lieber an diejenigen Menschen halten, die uns freiwillig helfen wollen.«

»Du denkst an diesen Nils Rade?«

»Genau.« Heike holte ihr Handy aus der Tasche und tippte die Nummer des jungen Oberschülers ein. »Ich habe nämlich gestern nicht nur in der Bibel gelesen, sondern auch noch im Internet recherchiert. Interessante Familie, diese Rades. Wirklich interessant. Eine alteingesessene Hamburger Dynastie. – Hallo, Nils! Hier spricht Heike Stein von der Kripo Hamburg. Können wir uns treffen? Ja, mein Kollege Ben Wilken wird auch dabei sein. Ja, das passt uns gut. – Bis später dann!«

Heike beendete die Verbindung. Der Hauptkommissar schaute sie fragend an.

»Nils kennt Blankenese wie seine Westentasche. Außerdem geht er auf das dortige Gymnasium. Ich habe den Verdacht, dass wir die Satanisten unter den Schülern suchen müssen. Junge Menschen sind für solche negativen Kulte leider besonders empfänglich, wie du weißt.«

»Und wo treffen wir ihn?«

»An der Anlegestelle Teufelsbrück natürlich!«

»Sehr sinnig«, brummte Ben. Aber er war froh, dass seine Dienstpartnerin trotz der Todesdrohung ihren Sinn für Humor nicht verloren hatte.

Da Heike und Ben noch etwas Zeit hatten, fuhren sie mit einem kleinen Dampfer der grün-weißen Flotte nach Teufelsbrück. Von den St. Pauli Landungsbrücken ging es elbabwärts. Schon bald erhob sich der Süllberg mit den zahlreichen Villen an seinen grünen Hängen hoch über dem breiten Strom. Die Anlegestelle war nur schmal. Dort konnte man sich unmöglich verfehlen. Und wirklich erblickte Heike den jungen Zeugen schon, bevor die Mannschaft die Taue an den Eisenpollern befestigt hatte.

Heike und Ben sprangen an Land. Nils begrüßte sie mit seinem jungenhaften Lächeln und per Handschlag. Die Anlegestelle erwies sich als ein guter Platz, um ohne unerwünschte Lauscher reden zu können. Nachdem der Dampfer wieder abgelegt hatte und die Touristen sich zur Eroberung Blankeneses aufmachten, waren die beiden Kriminalisten mit dem Oberschüler allein auf der rechteckigen künstlichen Halbinsel.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Nils tatendurstig.

»Was weißt du über Satanisten?«, lautete Heikes Gegenfrage.

Der Junge fuhr sich durch sein rotblondes Haar. Aber er wich Heikes Blick nicht aus.

»Ich habe bisher nicht glauben wollen, dass es wirklich solche Spinner bei uns gibt. Aber wenn ich es jetzt aus dem Mund einer Kriminalbeamtin höre … zugegeben, ich kenne Gerüchte. Hässliche Gerüchte. Bisher habe ich nichts darauf gegeben, verstehen Sie? – Ja, es soll eine Satanisten-Gruppe an unserer Schule geben.«

»Ich brauche Namen, Nils.«

»Namen sollen Sie bekommen, Frau Stein. Vielleicht schon morgen. Ich werde mal mit einigen Freunden reden.«

»Es könnte gefährlich für dich werden«, warnte Heike. Aber Nils grinste tapfer.

»Ich kann nicht behaupten, dass ich keine Angst hätte. Aber es lohnt sich, wie ich finde. Wenn Sie es schaffen würden, dem Spuk ein Ende zu machen … das wäre toll!«

Nils versprach, Heike baldmöglichst anzurufen. Dann machte er sich mit federnden Schritten auf die Socken.

»Wackerer kleiner Kerl«, murmelte Ben. »Können wir es verantworten, ihn in die Gefahr laufen zu lassen?«

»Ich glaube, Nils Rade kann sehr gut auf sich selbst aufpassen«, sagte Heike optimistisch. »Und wir sollten für heute Feierabend machen, mein Lieber. Sonst meckert der Chef wieder wegen unserer Überstundenkonten.«

»Ich mache mir Sorgen wegen dieser Morddrohung gegen dich, Heike«, brummte Ben. »Am liebsten würde ich dich heute Nacht überhaupt nicht allein lassen.«

»Du willst ja nur mit zu mir in meine Wohnung kommen, du Strolch!«, neckte Heike ihn augenzwinkernd.

»Wäre das so schlimm?«

»Ja, das wäre schlimm. Denn wir wollten doch vernünftig sein, erinnerst du dich, Ben?«

»Wenn du in Gefahr bist, kann ich nicht mehr klar denken.«

»Ach, du bist süß!«, lachte Heike. »Aber sei unbesorgt, ich kann gut auf mich selbst aufpassen!«

Mit diesen Worten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab Ben einen Kuss auf den Mund. Aber nur einen leichten. Schließlich wollte sie ja vernünftig sein.

8


Es war kurz vor Mitternacht, als Heike nach Blankenese zurückkehrte. Sie traf mit der S-Bahn in dem Nobel-Vorort ein. In Altona hatte eine Horde betrunkener Jugendlicher den Zug betreten. Aber die Kerlchen hatten weder Heike noch sonst jemanden belästigt. Wenn man davon absah, dass sie wetteiferten, wer von ihnen am lautesten aufstoßen konnte. Doch soweit Heike wusste, gab es kein Gesetz und keine Verordnung, die Naturgeräusche in Öffentlichen Verkehrsmitteln untersagten. Ob die minderjährigen Saufnasen ahnten, dass Heike eine Polizistin in Zivil war und sie deshalb in Ruhe ließen?

Die Hauptkommissarin hoffte, dass es nicht so war. Oder dass der Maskenteufel nicht so einen guten Instinkt hatte. Denn sie zog in dieser Nacht los, um dem Gewaltverbrecher eine Falle zu stellen. Dazu warf Heike ihm einen Köder vor.

Nämlich sich selbst.

Die Betrunkenen stiegen bereits in Klein-Flottbek wieder aus. Einer von ihnen machte vor Heike eine ironische Verbeugung, wobei er ausrutschte. Seine Kumpane lachten, traten ihm in den Hintern und schleiften ihn mit hinaus, bevor die Automatiktüren des S-Bahn-Wagens zuknallten.

Die Kriminalistin betrachtete sich selbst im Spiegel der Fensterscheibe, bevor sie zwei Stationen später den Zug ebenfalls verließ. Heike trug einen hellen Hosenanzug aus Baumwolle, dazu dunkelblaue Segelschuhe und ein ärmelloses T-Shirt in Türkis. Ihre Dienstwaffe hatte sie natürlich auch bei sich. Zuerst hatte sie mit dem Gedanken gespielt, einen Minirock anzuziehen, um den Maskenteufel zusätzlich anzuheizen. Aber dann entschied sie sich doch dagegen, aus praktischen Überlegungen. Zu einem Minirock oder -kleid musste sie Schuhe mit Absatz tragen, sonst würde sie ziemlich seltsam aussehen. Solches Schuhwerk hingegen war völlig ungeeignet, wenn es zu einem Kampf kam. Und Heike hoffte sehr, dass genau dies geschehen würde. Sie hatte die Nase gründlich voll von dem Maskenteufel-Fall. Es wurde Zeit, dass die Menschen in Blankenese wieder friedlich schlafen konnten …

Heike trat aus der S-Bahn-Station. Der Bus Nr. 48 fuhr gerade ab. Ansonsten war es still auf dem Bahnhofsplatz. Langsam, aber nicht zu gemächlich marschierte die Hauptkommissarin los. Sie folgte der Blankeneser Bahnhofstraße und wandte sich dann nach rechts. Es ging bergab. Mitten hinein in das Treppenviertel.

Heike wusste natürlich, dass der Maskenteufel nicht jede Nacht unterwegs war. Jedenfalls ging sie davon aus. Bei seinen bisherigen Untaten hatte sich jedenfalls kein Zeitmuster feststellen lassen. Es gab keinen regelmäßigen Rhythmus, nach dem sich der Gewaltverbrecher auf seine weiblichen Opfer stürzte.

Heike hatte einige Überlegungen angestellt. Sie hoffte nur, sich nicht verkalkuliert zu haben. Sonst würde sie sich schlimmstenfalls eine Nacht umsonst um die Ohren schlagen. Aber wenn sie den Täter in dieser Nacht nicht erwischte, was sollte sie dann tun? Sie konnte nicht jede Nacht in den Blankeneser Straßen den Lockvogel spielen. Darüber war sie sich selbst im Klaren.

Ein leises Knacken verriet ihr, dass ihre Bedenken unberechtigt waren. Heike ging soeben die Schnudts Treppe hinunter, die in die Elbterrasse mündete. Heike machte nicht den Fehler, sich umzudrehen. Sie spürte nun, dass er da war.

Der Maskenteufel.

Es war kein Mensch weit und breit zu sehen. In den Gärten saßen selbstverständlich noch viele Bewohner der schicken Villen und genossen die laue Sommernacht. Auch unten am Strand, auf den Heike zuging, würde noch viel los sein. Aber hier oben auf den Treppen an den Süllberg-Hängen war es wie ausgestorben. Aus dem einen oder anderen Garten wehte etwas Musik herüber. Oder man hörte Geräusche vom anderen Elbufer, wo die Produktion in den Flugzeugwerken auf Hochtouren lief. Aber dadurch wurde das Gefühl von Einsamkeit hier draußen nur noch verstärkt. Jedenfalls empfand Heike es so.

Das Knacken wurde durch ein Keuchen ersetzt. Die Kriminalistin hörte schnelle Schritte. Dann plötzlich wieder nichts. Außer natürlich dem Geräusch ihrer eigenen Schuhe, von denen sie einen vor den anderen setzte.

Hatte sie sich getäuscht?

Nein. Da war etwas. Heike ging weiter, die Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Da bemerkte sie plötzlich eine Bewegung vor sich auf den Treppenstufen. Eine helle Mädchenstimme erklang.

»Jessi … bist du das?!«

Die Hauptkommissarin erschrak. Und zwar deshalb, weil sie ein Mädchen im Teenageralter erblickte. Die Kleine konnte nicht älter als siebzehn sein. Sie war ziemlich angesäuselt. Jedenfalls kicherte sie albern vor sich hin und bekam einen Schluckauf. Bekleidet war das Mädchen mit einem Superminirock und einem Tanktop. Geradezu die ideale Beute für den Maskenteufel. Wieso hatte die Hauptkommissarin eigentlich angenommen, dass sie in dieser Nacht die einzige Frau auf den Straßen von Blankenese war?

Wütend stürmte Heike auf die Kleine zu.

»Was machst du hier?«

»Ich suche meine Freundin Jessi«, sagte das Mädchen mit unsicherer Stimme. »Sie war auf einmal verschwunden. Wir waren auf einer Geburtstagsparty, und dann … aua! Sie tun mir weh!«

Heike hatte die Kleine am Oberarm gepackt und hochgerissen. Der Teenie hatte zuvor auf einer der Treppenstufen gekauert. Die Kriminalistin hielt dem Mädchen ihren Dienstausweis vor die Nase.

»P… Polizei?!«, keuchte die Kleine. »Was habe ich denn angestellt?«

Heike ging auf die Frage nicht ein.

»Wie heißt du?«

»Paula Dirksen.«

»Ich bringe dich jetzt nach Hause, Paula. Sag’ mir, wo du wohnst!«

Paula nannte eine Adresse am Möhlmannweg. Heike ließ den Arm der Kleinen nicht los, während sie Paula in Richtung ihres Elternhauses schleifte.

»Au, was soll das denn?!«

»Hast du noch nie etwas vom Maskenteufel gehört?«, zischte Heike.

»Natürlich, ich bin ja nicht von gestern! Aber den haben die Bull… äh … Ihre Kollegen doch verhaftet!«

Heike biss die Zähne zusammen. Sie hatte bisher noch gar nicht daran gedacht, was für fatale Folgen Wilfried Schefflers Verhaftung haben konnte. Diese Paula hatte darin offenbar eine Art Entwarnung gesehen. Und das junge Mädchen glaubte anscheinend, nun wieder ungefährdet nachts durch das Treppenviertel geistern zu können.

Die Hauptkommissarin war wirklich sauer. Sie schleifte die laut protestierende Paula mehr oder weniger hinter sich her.

»Hast du überhaupt einen Ausweis bei dir?«, knurrte die Kriminalistin.

»Nein, ich – ey, was soll das denn?!«

»Wenn du alt genug bist, um auf Partys zu gehen, dann bist du auch alt genug, um dein Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel zu setzen!«, warf Heike dem Teenager an den Kopf.

Natürlich wusste die Kripo-Beamtin, dass eine Moralpredigt auf taube Ohren stoßen würde. Aber sie konnte Paulas Leichtsinn einfach nicht auf die leichte Schulter nehmen.

»Ich habe doch gar nichts gemacht!«, jammerte das Mädchen.

»Es ist schlimm genug, dass du um diese Uhrzeit allein auf der Straße bist. Konnten dich deine Eltern nicht abholen? – Nun zieh’ keine Karpfenschnut, wir sind gleich da!«

Heikes Bemerkung bezog sich darauf, dass Paula wie ein kleines Kind bockig die Unterlippe vorschob. Aber das war der Kriminalistin herzlich egal. Ihretwegen konnte das Mädchen gerne eingeschnappt sein. Immer noch besser als schwer verletzt oder gar tot.

Die Hauptkommissarin klingelte Sturm bei Paulas Eltern. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Tür geöffnet wurde. Musik drang nach draußen. Offenbar wurde auch hier kräftig gefeiert. Endlich öffnete ein Mann die Tür. Seine Alkoholfahne war ebenso wenig zu ignorieren wie die Familienähnlichkeit zu Paula. Die beiden waren ganz eindeutig Vater und Tochter. Trotzdem machte Heike alles ganz offiziell.

»Was ist denn passiert? Was hast du ausgefressen, Paula?«, fragte Herr Dirksen mit schwerer Zunge.

»Nichts, Papa – die Bullette hat mich einfach über den halben Süllberg geschleppt!«, jammerte das Mädchen.

Heike präsentierte ihren Dienstausweis.

Denen werde ich die Party verderben!, dachte sie wütend. Aber sie fragte in ihrem besten Amtsdeutsch: »Sie kennen diese Jugendliche?«

Herr Dirksen zog seine Augenbrauen zusammen.

»Gewiss, das ist meine Tochter Paula. Aber was …?«

»Ich muss die Personalien feststellen«, sagte Heike mit eiskalter Stimme. »Auch die von Ihnen. Das ist Vorschrift.«

Dirksen schien schlagartig nüchtern geworden zu sein. Er hatte seinen eigenen Personalausweis in der Brieftasche, ging dann in sein Arbeitszimmer und holte Paulas Kinderausweis. Wie sich nun herausstellte, war das Mädchen erst fünfzehn Jahre alt.

»Ich habe Ihre Tochter auf der Straße aufgegriffen, Herr Dirksen«, erklärte Heike. »Sie war angetrunken und allein. Und das, obwohl allgemein bekannt ist, dass ein gefährlicher Gewaltverbrecher nachts Blankenese unsicher macht. Bitte stellen Sie sicher, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt. Sonst leite ich ein Verfahren wegen Verletzung der Aufsichtspflicht gegen Sie ein.«

»So eine Unverschämtheit!«, explodierte der Villenbesitzer. »Wissen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben?«

»Ja, einen Vater, dem das Leben seiner Tochter ziemlich gleichgültig zu sein scheint. – Schönen Abend noch.«

Heike drehte sich um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.

Dirksen würde einen Tobsuchtsanfall bekommen und garantiert Dr. Magnussen auf Heike hetzen. Die Kriminalistin kannte diese rechthaberische Sorte Mensch, die grundsätzlich keine eigenen Fehler eingestehen kann.

Aber es war ihr egal. Wenigstens hatte Heike Paula in Sicherheit bringen können. Die Kriminalistin schlug erneut den Weg zum Elbstrand ein. Sie fragte sich innerlich, wo die Freundin des Mädchens abgeblieben war. Wie hatte sie noch geheißen? Jessi?

Heike zerbiss einen Fluch auf ihren Lippen. Sie kannte sich selbst zur Genüge. Das Schicksal dieser Jessi würde ihr keine Ruhe lassen. Zu grässlich war die Vorstellung, dass dieses zweite junge Mädchen dem Maskenteufel zum Opfer gefallen sein könnte.

Die Hauptkommissarin hatte nicht übel Lust, eine Großfahndung nach Paulas Freundin auszulösen. Dadurch würde man den Maskenteufel natürlich aufscheuchen. Die Falle, die sie dem Gewaltverbrecher stellen wollte, wäre damit zerstört.

Im nächsten Moment wurde Heike klar, dass sie diese Sorge nicht zu haben brauchte.

Denn ein scheinbar tonnenschwerer Körper landete auf ihrem Rücken!

Der Maskenteufel musste sie angesprungen haben. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Er war zuvor so leise gewesen, dass er Heike kalt erwischt hatte.

Die Hauptkommissarin strauchelte und fiel auf den Bauch. Mit dem Kopf knallte sie unsanft auf das Pflaster der breiten Treppenstufen. Sie schmeckte Blut auf ihrer Zunge. Der Gewalttäter verströmte einen ekelhaften Schweißgeruch. Außerdem war er so schwer und so stark, dass Heikes Körper wie mit einem Schraubstock gegen die Treppe gedrückt wurde.

So hatte sie sich ihre raffinierte Falle allerdings nicht vorgestellt. Immerhin schaffte Heike es, ihren Kopf halb zu drehen. Der Schädel des Angreifers war unter einer schwarzen Stoffmaske mit zwei Teufelshörnern verborgen. Dennoch konnte Heike nun sehen und spüren, dass sie es mit einem Menschen aus Fleisch und Blut zu tun hatte. Sie selbst hatte ohnehin nie angenommen, gegen ein übersinnliches Wesen kämpfen zu müssen.

Aber das war jetzt nebensächlich. Die Hauptkommissarin musste sich aus ihrer misslichen Lage befreien. Und zwar schnell. Sie merkte schon, dass sie keine Luft mehr kriegte. Ihre Rippen knackten, als der Maskenteufel sich drehte. Er griff unter seinen Pullover.

Der Gewaltverbrecher zog ein Messer mit langer Klinge heraus!

Mit routiniertem Blick stellte Heike fest, dass dieses Messer genauso eins war wie jenes, das Ben in Wilfried Schefflers Behausung gefunden hatte. Allerdings würde ihr diese Erkenntnis nicht mehr viel nützen. Denn der Maskenteufel machte nun ernst.

Er holte mit der Stichwaffe aus. Heike kam nicht an ihre Pistole heran. Dafür war der Druck des massigen Körpers auf ihr einfach zu stark. Sie musste sich auf ihre Kung-Fu-Kenntnisse verlassen, wenn sie die nächsten Minuten überleben wollte.

Der Maskierte holte bereits mit seiner Messerhand aus. Er hatte die Faust um den Griff geschlossen. Er würde gewiss keine Hemmungen haben, die Klinge in Heikes Körper zu stoßen. Warum sollte er sich jetzt noch zurückhalten, nachdem er bereits Christine Becker getötet hatte?

In diesem Moment ertönte ein entsetzter Schrei.

Er war nicht von Heikes Lippen gekommen. Die Kriminalistin sparte sich ihren Atem lieber für den Kampf, den sie noch nicht verloren gegeben hatte. Und auch ihr schwarz gekleideter Gegner hatte nichts Lautes von sich gegeben. Er beschränkte sich auf ein unverständliches Grunzen und Keuchen.

Nein, es war ein junges Mädchen, das geschrien hatte. Heike sah sie aus den Augenwinkeln. Sie stand fünf oder sechs Meter von Heike und dem Maskenteufel entfernt auf der Treppengasse. Voller Entsetzen hatte sie ihre Hände vor ihren Mund geschlagen.

Da fiel es Heike wieder ein. Dieses Mädchen war gewiss Jessi! Das wäre zumindest eine einleuchtende Erklärung.

»Lauf’ weg, Jessi!«, rief die Hauptkommissarin der Kleinen zu. »Lauf’ weg und ruf’ die Polizei!«

Durch das Auftauchen der unerwarteten Zeugin war der Maskenteufel etwas durcheinander gekommen. Aber nun befasste er sich wieder mit Heike.

Und stach zu!

Heike hatte mit ihrem Gegenangriff bis zur letzten Sekunde gewartet, um möglichst große Wirkung zu erzielen. Sie war in ihren Bewegungen sehr eingeschränkt.

Es gab im Grunde nur einen verletzlichen Punkt am Körper des Gewalttäters, den sie ohne Probleme treffen konnte.

Das linke Knie.

Die Kriminalistin legte ihre ganze Kraft in einen einzigen Schlag. Und sie wusste durch ihr Kung-Fu-Training genau, wie sie den Gegner am besten treffen konnte.

Der Maskenteufel jaulte auf, als Heikes Faust gegen sein Bein krachte. Aber der Gewalttäter stach trotzdem zu! Durch den Gegenangriff der Hauptkommissarin war er allerdings nicht mehr so zielsicher. Trotzdem schnitt die Klinge in Heikes Hüfte. Sie fühlte den Schmerz aufflammen. Doch war die Wunde weder tief noch lebensbedrohlich.

Der Maskenteufel wollte unwillkürlich sein lädiertes Knie entlasten. Dadurch verlor er an Stabilität. Wie ein Aal schlängelte sich Heike unter ihm hervor. Sie lag immer noch auf der Treppengasse. Der Messerstecher holte erneut mit seiner Waffe aus.

Nun machte Heike kurzen Prozess. Sie konnte ihren ganzen Körper wieder frei bewegen. Ihre Beine wirbelten durch die Luft, als sie eine Art Rad schlug. Das war eine Kung-Fu-Attacke, die »der eiserne Pfau« genannt wurde. Ihre beiden Schuhabsätze krachten mit einem furchtbaren Doppelschlag gegen den Schädel des Maskenteufels.

Der schwere Körper erschlaffte. Das Messer fiel aus seinen kraftlos gewordenen Händen.

Heike löste die Handschellen von ihrem Gürtel und legte dem Gewalttäter die metallene Fessel an.

Da erklangen schnelle Schritte. Heike blickte auf.

Nils Rade kam auf sie zugelaufen.

»Um Himmels willen, Frau Stein! Sie bluten ja!«, rief der Oberschüler voller Besorgnis.

»Mir fehlt nichts, Nils.« Mit diesen Worten richtete die Hauptkommissarin ihre Pistole auf den Jungen. »Ich bin in Ordnung. Und Ihr Bruder, der Maskenteufel, wird auch bald wieder fit sein. – Und nun nehmen Sie die Hände hoch!«

Heike fischte mit der linken Hand ihr Handy aus der Tasche. Und sie hielt mit rechts die Pistole auf Nils gerichtet, bis eine Streifenwagenbesatzung eintraf.

9


Die Nachricht von der Verhaftung des Maskenteufels schlug ein wie eine Bombe.

Unter der schwarzen Kapuze mit den Satanshörnern verbarg sich ein gewisser Thomas Rade. Er war siebzehn Jahre alt, 1,90 groß und stark übergewichtig. Seine Figur erinnerte fast an die eines japanischen Sumo-Ringers. Trotz seiner Größe und seines Gewichts konnte er sich fast lautlos bewegen. Und er war stark wie ein Bulle.

Mit seinen geistigen Kräften war es hingegen nicht weit her. Das zeigte sich schon im AKH Altona, wo das Knie des Maskenteufels medizinisch versorgt wurde. Die Polizei behielt den Täter und dessen Bruder natürlich streng unter Bewachung.

Auch Heike musste in dem Hospital die Schnittwunde an ihrer Hüfte behandeln lassen. Aber die Verwundung bemerkte sie kaum angesichts der ungeheuren Erleichterung, die sie auf Grund ihres großen Fanges überkam.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Dr. Magnussen in der Klinik eintraf. Heikes Vorgesetzter war offensichtlich durch den Dienst Habenden im Präsidium aus dem Bett gescheucht worden. Normalerweise hätte er dadurch eine fürchterliche Laune bekommen und diese prompt an Heike ausgelassen.

Aber das geschah nicht, denn die Hauptkommissarin war bei der Verhaftung des Maskenteufels verletzt worden. Man konnte gegen den Kriminaloberrat sagen, was man wollte, dachte sich Heike. Er war gewiss oft ungerecht, selbstsüchtig und rechthaberisch. Aber wenn eine oder einer seiner Untergebenen verwundet wurde, verwandelte er sich schlagartig in einen fürsorglichen lieben Onkel.

»Frau Stein, was machen Sie denn für Sachen!«, rief Dr. Magnussen zur Begrüßung, als er das Krankenzimmer betrat. Heike hatte darauf bestanden, am nächsten Morgen aus der Klinik entlassen zu werden. Ihre Schnittwunde machte nun wirklich keinen stationären Aufenthalt nötig. Aber für den Rest der Nacht ruhte sie sich doch gerne in dem Krankenbett aus. Es lohnte sich einfach nicht, noch nach Hause zu fahren. Zumal sie schon mit dem nächtlichen Besuch ihres Vorgesetzten gerechnet hatte.

Der Kriminaloberrat beruhigte sich zusehends, als er erfuhr, wie harmlos die Wunde offenbar war.

Heike berichtete im Telegrammstil von ihrer Verhaftung des Maskenteufels sowie dessen Bruders.

Dr. Magnussen nahm seine Pfeife aus dem Mund und kratzte sich mit dem Stiel nachdenklich am Kinn.

»Dann waren Sie also heute Nacht sozusagen privat in Blankenese?«

»Richtig, Herr Kriminaloberrat. Ich hatte nicht den geringsten Beweis dafür, dass Thomas Rade wirklich der Maskenteufel war. Zumal ich das Riesenbaby zuvor niemals gesehen hatte. – Meiner Meinung nach ist er ein bedauernswerter Mensch, trotz seiner Untaten. Der eigentliche Schurke dürfte sein Bruder Nils Rade sein.«

»Wieso ist der Maskenteufel bedauernswert?«

»Ich habe Erkundigungen eingezogen«, erklärte Heike einleitend. »Thomas Rade ist … nun, nicht gerade geistig behindert, aber doch in seiner Entwicklung zurückgeblieben. Einzelheiten können die Ärzte Ihnen sicher besser erläutern als ich. Jedenfalls steht er offenbar unter dem Einfluss seines nur wenig älteren Bruders. Ich glaube nicht, dass der Maskenteufel bei klarem Verstand ist. Doch dieses Urteil überlasse ich lieber den medizinischen Gutachtern.«

»Sie meinen, Nils Rade hat Thomas Rade zu den Bluttaten angestachelt? Aber wieso? Wo ist das Motiv?«

»Das Motiv besteht in diesem Teufelskult, Herr Kriminaloberrat. Ich bin keine Sektenexpertin. Aber wenn sich Satanisten wirklich dem Bösen verschreiben, dann ist es nur konsequent, auch böse Taten zu begehen. Vielleicht verbinden diese Jugendlichen damit auch einen besonderen Nervenkitzel. Dazu müssten wir Nils Rade selbst befragen.«

»Das sollten wir tun, Frau Stein. – Sie haben also sozusagen freiwillig den Lockvogel gespielt, um diese Jugendlichen aus der Reserve zu locken?«

»Ja, ich hoffte darauf, dass die Satanisten um Nils Rade sich stark fühlen würden – zu stark. Bisher hatten sie sich ja hauptsächlich darauf beschränkt, den Maskenteufel auf ihre eigenen Schulkameradinnen zu hetzen. Aber ich dachte mir, dass sie nun wohl auch keine Hemmungen mehr hätten, sich an einer Kriminalbeamtin zu vergreifen.«

»Das hätte aber ins Auge gehen können, Frau Stein«, rügte Dr. Magnussen. »Solche Einzelaktionen sollten Sie in Zukunft mit mir absprechen, damit alles ganz offiziell wird.«

»Jawohl, Herr Kriminaloberrat«, sagte Heike mit unschuldigem Augenaufschlag. Sie wusste instinktiv, wann sie bei ihrem Vorgesetzten lieber klein beigab. Außerdem hatte sie ja ihr Ziel einstweilen erreicht.

Dr. Magnussen erhob sich von dem Besucherstuhl, auf dem er Platz genommen hatte.

»Es ist halb drei Uhr morgens, Frau Stein. Es gibt jetzt noch viel zu tun. Ich vermute sehr stark, dass die Eltern der beiden Brüder sich um eine Freilassung der Beschuldigten auf Kaution bemühen werden. Die werden uns noch Ärger machen. – Aber dank meines genialen Plans, Sie als Lockvogel loszuschicken, können die Hamburgerinnen nun wieder beruhigt sein. Lassen Sie von sich hören, wenn es Ihnen besser geht, Frau Stein. – Gute Besserung noch!«

Heikes Vorgesetzter winkte mit der rechten Hand und stürmte dann tatendurstig davon. Die Kriminalistin hatte sich die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen, damit Dr. Magnussen ihr breites Grinsen nicht sah. Er hatte wieder einmal der Versuchung nicht widerstehen können, Heikes Idee als seinen eigenen Vorschlag darzustellen. Aber das war die Hauptkommissarin inzwischen gewöhnt. Sie merkte nun, dass sie doch müder war als ursprünglich angenommen. Ihre Hüftverletzung machte keinen längeren Krankenhausaufenthalt notwendig. Aber Heike wollte zumindest ein paar Minuten lang die Augen zumachen.

Als sie aufwachte, war es acht Uhr morgens. Eine junge Lehrschwester brachte das Frühstück. Heike verdrückte ein Marmeladenbrötchen und zwei Tassen Kaffee. Dann duschte sie ausgiebig, bekam noch einen neuen Verband an ihrer Hüfte verpasst und einen Arztbrief für ihre Hausärztin in die Hand gedrückt.

Heike verließ das Allgemeine Krankenhaus Altona. Die wenigen Stunden Schlaf hatten ausgereicht, um ihre inneren Akkus wieder aufzuladen. Die junge Kriminalistin stieg am Bahnhof Altona in die S 1 Richtung Sternschanze. Dort nahm sie die U 3 bis Kellinghusenstraße, wo sie noch einmal umsteigen musste. Drei Stationen später brachte sie ein Zug der U 1 nach Alsterdorf, wo sich das Polizeipräsidium befindet.

Heike traf gerade im passenden Moment in den Räumen der Sonderkommission Mord ein. Dr. Magnussen musste sich mit einem gestylten Lackaffen auseinander setzen. Heike kannte den Typen aus dem Fernsehen. Er hieß Dr. Wolfgang Pelzer und war ein berühmt-berüchtigter Starverteidiger.

»Diese Verhaftungen werden auf jeden Fall ein Nachspiel für Sie haben, Herr Dr. Magnussen«, drohte der Jurist. »Ihre Leute stellen eine Falle auf für arglose Minderjährige. Und dann wird mit beispielloser Polizeibrutalität …«

»Wie bitte?!« Heikes Chef platzte fast der Kragen. Er deutete auf Heike. »Dieser Maskenteufel alias Thomas Rade hat mit klarer Tötungsabsicht meine Mitarbeiterin Frau Hauptkommissarin Stein verletzt.«

Der Anwalt wandte sich Heike zu.

»Frau Hauptkommissarin Stein macht aber keinen besonders mitgenommenen Eindruck. Wenn ich bedenke, dass sie dem armen Jungen die Kniescheibe zerschmettert hat …«

»Ich habe sie nicht zerschmettert«, gab Heike kühl zurück. »Obwohl ich es könnte. Man muss nur die richtige Tritttechnik anwenden. Soll ich es Ihnen einmal vorführen, Herr Rechtsanwalt?«

Der Starverteidiger trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Ihr Verhalten ist unerhört, Frau Stein. Aber Sie haben sich die Folgen Ihrer Misshandlungen selbst zuzuschreiben. – Ich wünsche, mich jetzt umgehend mit meinem Mandanten Nils Rade zu beraten.«

»Bitte sehr.«

Dr. Magnussen wies Ernst Koch an, den Anwalt zu dem Beschuldigten zu bringen.

Als der Kriminaloberkommissar mit dem Juristen verschwunden war, richtete der Kriminaloberrat seine Pfeife wie eine Waffe auf Heike.

»Sie mussten Dr. Pelzer natürlich unbedingt noch provozieren, nicht wahr?«

»Es tut mir leid, Herr Kriminaloberrat, aber …«

Heike unterbrach sich, weil Dr. Magnussen plötzlich schmunzelte.

»Ich kann Sie sehr gut verstehen, Frau Stein. Dieser – verzeihen Sie den Ausdruck – Winkeladvokat legt es ohnehin darauf an, die Polizei mit Dreck zu bewerfen. Da spielt es beinahe keine Rolle, was wir tun – oder nicht tun.«

Die Hauptkommissarin lächelte nun ebenfalls.

»Ich habe einen Hausdurchsuchungsbefehl für die Villa der Rades beantragt«, fuhr Dr. Magnussen fort. »Es sollte sich genügend Beweismaterial finden, das auf die satanistischen Aktivitäten der Gebrüder Rade hindeutet. Außerdem lasse ich das Anwesen bereits jetzt überwachen. Falls die Eltern auf die Idee kommen sollten, verdächtige Gegenstände beiseite schaffen zu wollen.«

Heike war positiv überrascht. Sie hatte angenommen, ihr Chef würde wieder einmal vor Ehrfurcht erzittern, wenn er es mit einer so mächtigen und einflussreichen Hamburger Familie wie den Rades zu tun bekam.

Aber wahrscheinlich ahnte Dr. Magnussen inzwischen, dass Thomas Rade der wahre Maskenteufel war. Da konnte er sich höchstens blamieren, wenn er sich weiter auf den unschuldigen Wilfried Scheffler einschoss.

»Wo ist eigentlich Thomas Rade?«, wollte Heike wissen.

»Der Beschuldigte befindet sich zurzeit unter nervenärztlicher Beobachtung in der Klinik Ochsenzoll«, erklärte der Kriminaloberrat in bestem Beamtendeutsch. »Schon bei der Behandlung seines Knies war den Medizinern aufgefallen, dass er … nun … geistig nicht normal war. Daher wurde er sofort in das Fachkrankenhaus verlegt. Aber ich kann Sie beruhigen, Frau Stein. Man hat Thomas Rade dort in einer geschlossenen Abteilung aufgenommen.«

»Es wäre wirklich schlimm, wenn er uns gleich wieder entkommen würde, Herr Kriminaloberrat. Ich schätze allerdings, dass wir als medizinische Laien nicht allzu viel aus ihm herausbekommen würden. Und das, obwohl er ja der Täter war. Ich würde viel lieber Nils Rade ins Gebet nehmen.«

»Da machen Sie sich mal keine großen Hoffnungen, Frau Stein. Sein Staranwalt wird den jungen Mann zum Schweigen verdonnern, Akteneinsicht fordern und …«

Dr. Magnussen unterbrach sich selbst, was äußerst selten vorkam. Aber dafür gab es diesmal einen sehr guten Grund.

Der Verteidiger Dr. Wolfgang Pelzer schickte sich an, das Präsidium zu verlassen. Er machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.

»So etwas ist mir in meiner fünfzehnjährigen Berufspraxis noch nicht passiert! Nils Rade weigert sich, meine Verteidigungsstrategie auch nur anzuhören. Er will mit Ihnen reden, Frau Stein! Nur mit Ihnen! Haben Sie das zufällig eingefädelt?«

»Ich bin nicht so gut in Handarbeiten«, witzelte Heike. Sie wurde leicht übermütig vor Freude, den arroganten Pinsel so hilflos zu erleben. »Außerdem habe ich Nils Rade nicht gesehen, seit er heute Nacht in einem Streifenwagen fortgeschafft wurde.«

Der Jurist stieß noch ein paar Drohungen aus. Aber im Grunde wusste jeder, dass Dr. Pelzer für den Moment verloren hatte. Auch ihm selbst war das offensichtlich klar. Mit hängenden Schultern schlich er davon.

»Sie wollen gewiss bei dem Verhör anwesend sein, Herr Kriminaloberrat?«, fragte Heike.

»Ganz gewiss, Frau Stein. Ich lasse den Beschuldigten gleich in einen Verhörraum schaffen.«

Heikes Vorgesetzter telefonierte kurz. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, fragte die Kriminalistin: »Wo ist eigentlich Herr Wilken? Ich habe ihn heute Morgen noch gar nicht gesehen.«

»Ach, der hilft Herrn Engel bei einer Beschattung«, sagte Dr. Magnussen unkonzentriert.

»Nachdem Sie den Maskenteufel-Fall gelöst haben, gibt es ja keinen Grund mehr, dass Herr Wilken Ihnen hilft. – Nun wollen wir uns aber diesen kleinen Satanisten zur Brust nehmen!«

Nils Rade saß bereits in dem spartanisch ausgestatteten fensterlosen Raum, der durch eine Klimaanlage belüftet wurde. Der Teenager hatte sich auf einen Stuhl geflegelt, der vor einem Tisch stand. Heike nahm ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches Platz. Dr. Magnussen setzte sich an die eine Schmalseite. Heike stellte ihren Vorgesetzten kurz vor, belehrte den Beschuldigten über seine Rechte und fragte, ob das Verhör auf Tonband aufgenommen werden dürfe.

»Nur keine Hemmungen«, meinte der Teufelsanbeter zynisch grinsend. »Hauptsache, der Pfeifenonkel hält den Mund und Sie reden mit mir, Frau Stein.«

»Ich lasse mir von Ihnen nicht den Mund verbieten!«, wetterte Dr. Magnussen. Aber man merkte ihm an, dass seine Neugier stärker war als seine Wut. Er bediente sogar höchstpersönlich das Tonband, mit dem das nun folgende Verhör dokumentiert wurde.

»Sie wissen, weshalb Sie hier sind, Herr Rade?«

»Sie werden es mir gleich flüstern, Frau Kommissarin. Und sagen Sie doch bitte Nils. Das gefällt mir besser.«

»Wie Sie wollen, Nils. – Die Anklage lautet auf Anstiftung zu Mord und schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung und Bedrohung.«

»Was soll ich denn kaputtgemacht haben?«

»Sie oder einer Ihrer Kumpane hat ein ziviles Einsatzfahrzeug mit der Zahl 666 beschmiert«, sagte Heike und machte dabei eine wegwerfende Handbewegung. »Aber dieser Anklagepunkt ist nebensächlich. Uns geht es vor allem um die Tötungsdelikte.«

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte Nils Rade und beugte voller Ironie seinen Kopf vor Heike. »Sie haben mit Ihrer messerscharfen Kombinationsgabe sicher erkannt, dass mein kleiner Bruder sich diese Aktionen nicht selbst ausdenken konnte.«

»Was Sie getan haben, ist unverzeihlich!«, sagte Heike scharf. »Es ist schon schlimm genug, jemanden zu Gewalttaten anzustacheln. Aber wenn jemand so zurückgeblieben ist wie Ihr Bruder, der eigentlich Schutz und Hilfe braucht – pfui Teufel!«

Der Beschuldigte lachte hämisch.

»Da haben Sie das richtige Stichwort fallen lassen, Frau Stein. Wahrscheinlich wissen Sie, dass ich und einige Freunde uns dem Dienst an der Dunklen Seite verschrieben haben.«

»Sie sind also ein Satanist, Nils?«

»Satanist – das ist doch nur ein Wort. Wir sind überzeugt davon, dass in unserer Welt der Herr der Fliegen regiert. Sie wissen doch, wer damit gemeint ist, Frau Stein?«

Die Hauptkommissarin zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß, dass es Tausende Beinamen des Satans geben soll. Unter anderem wird er auch Herr der Lügen genannt. Woher weiß ich, dass Sie mich nicht ebenfalls anschwindeln?«

»Was für einen Grund hätte ich dafür, Frau Kommissarin? Ich bin doch geständig oder wie das im Juristendeutsch heißt.«

»Dann sind Sie wohl auch noch stolz auf das, was Sie getan haben?«

Heike wusste, dass ihre Bemerkung unprofessionell war. Aber sie war eben auch nur ein Mensch.

»Zumindest habe ich meinem kleinen Bruder Thomas einige aufregende Erlebnisse verschafft, von denen er sonst in seinem langweiligen Alltag nur träumen konnte.«

Die Kriminalistin fand die Selbstgerechtigkeit des Täters zum Speien. Aber sie führte das Verhör schließlich nicht zu ihrem Vergnügen. Ein Blick auf Dr. Magnussens Gesicht bewies ihr, dass der Kriminaloberrat ähnlich dachte.

»Bitte schildern Sie in Ihren eigenen Worten, wie es zu den Taten des so genannten Maskenteufels kam, Nils.«

»Es war jedes Mal das Gleiche, Frau Stein. Thomas geriet während einer Satansbeschwörung in einen … seltsamen Zustand. Sie werden wahrscheinlich nicht glauben, dass ein bestimmter böser Geist in ihn eingefahren ist. Ich hingegen bin überzeugt davon. Also haben wir ihn gewähren lassen. Diese Maske habe ich ihm besorgt, damit er nicht sofort erkannt wird. Und das hat ja auch sehr gut funktioniert. – Allerdings weiß ich offen gestanden nicht, wie Sie uns dann doch entlarvt haben, Frau Stein. Denn als Sie Ihre Waffe auf mich richteten, wussten Sie ja schon, dass Thomas der Maskenteufel ist.«

»Ich habe es vermutet, Nils«, sagte Heike kalt. Sie war jetzt innerlich ganz ruhig. »Mir fiel auf, dass viele Zeugen große Angst hatten, etwas auszusagen. Für mich ist das, was Sie mit Ihren Freunden getrieben haben, Hokuspokus. Aber andere Menschen lassen sich davon leider einschüchtern.«

Der Satanist starrte Heike hasserfüllt an, hielt aber seinen Schnabel.

»Außerdem kannten sich viele Opfer untereinander«, fuhr Heike fort.

»Die Partygäste schieden als Täter aus, denn die konnten sich ja alle gegenseitig ein Alibi liefern. Aber ich habe vermutet, dass der oder die Täter auf Ihrer Schule zu suchen sind. Und Sie, Nils, haben offen zugegeben, dass Sie nicht auf der Party waren. Vermutlich haben Sie zu der Zeit eine Teufelsbeschwörung abgehalten.«

»Richtig geraten!« Der Täter applaudierte ironisch. Handschellen trug er keine. »Wäre ich denn nicht in Verdacht geraten, wenn ich zu dem Kindergeburtstag hingegangen wäre?«

Heike zuckte mit den Schultern.

»Nicht unbedingt. Dass Sie selbst nicht der Maskenteufel sein konnten, ergab sich schon aus den Zeugenaussagen. Die berichteten übereinstimmend von einem massigen Riesen. Und das sind Sie ja nun einmal nicht. – Ich habe hier im Präsidium einige Daten gecheckt, auch vom Einwohnermeldeamt und der Schulbehörde. Dabei fiel mir auf, dass Sie das Gymnasium besuchen. Ihr jüngerer Bruder hingegen eine Sonderschule.«

»Ja, zu mehr reicht es bei dem armen Thomas nicht«, sagte Nils hämisch.

Heike ließ sich von seinen Unverschämtheiten nicht mehr beeindrucken.

»Mir war nicht klar, wie ich Ihnen etwas beweisen sollte, Nils. Ich konnte nur hoffen, dass Sie dumm genug wären, Thomas auf eine Polizeibeamtin zu hetzen. Und diesen Gefallen haben Sie mir getan. – Auch Ihre kindischen Einschüchterungsversuche mit der Morddrohung gegen mich und der Schmiererei an unserem Dienstfahrzeug haben mich nur zusätzlich in meiner Meinung bestärkt, dass Sie der eigentliche Drahtzieher sind.«

Nils seufzte ironisch.

»Dann war wohl meine schauspielerische Leistung, mit der ich mich Ihnen als freiwilliger Helfer angeboten habe, auch nicht bühnenreif?«

»Am Anfang schon«, räumte Heike ein. »Aber als ich dann hinter die Kulissen blickte, erschienen Sie mir immer seltsamer. Als dann eine Zeugin noch von Blankeneser Schnöseln sprach, die als Teufelsanbeter auftraten, wurden Sie mein Verdächtiger Nummer eins.«

»Sie halten mich also für einen Schnösel, Frau Stein. Das ist aber gar nicht nett von Ihnen«, höhnte Nils.

»Nein, in meinen Augen sind Sie ein verstockter Krimineller, der endlich seine gerechte Strafe bekommen wird«, gab Heike zurück. Dann fragte sie Nils noch nach weiteren Komplizen aus dem Teufelsanbeter-Kreis. Heike und ihre Kollegen würden sich die Bande nach und nach vorknöpfen. Sie alle sollten sich für ihre Taten verantworten müssen.

Der junge Mann gab bereitwillig Auskunft. Er zeigte keine Spur von Reue. Heike beendete das Verhör. Weitere Einzelheiten konnte man später immer noch herausfinden. Am wichtigsten war das Geständnis.

Heike würdigte Nils Rade keines Blickes mehr, als er von uniformierten Polizeikollegen fortgeschafft wurde.


Als Heike müde zu ihrem Schreibtisch bei der Sonderkommission Mord zurückkehrte, wartete dort ein riesiger Strauß mit roten Rosen auf sie.

»Nanu?«, staunte die Hauptkommissarin. »Von wem sind die denn?«

»Die sind von mir«, erwiderte Ben, der inzwischen zurückgekehrt war und auf seinem Schreibtischstuhl saß. »Ich habe gehört, was geschehen ist, Heike. Ich habe dir die Blumen geschenkt, weil ich so glücklich darüber bin, dass du lebst und alles halbwegs gut überstanden hast.«

Heikes Augen wurden feucht vor Rührung und Freude. Und sie musste sich stark zurückhalten, um Ben nicht vor Dr. Magnussen und allen anderen Kollegen um den Hals zu fallen.


ENDE



Fleetenkiller - 1


Die dunkelste Zeit in Heike Steins Leben begann mit einem Blumenstrauß.

Die Kriminalhauptkommissarin war gerade erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Heike erwartete keinen Besuch. Aber da sie Geburtstag hatte, würde vermutlich ein Paketzusteller oder Bote vor der Tür stehen. Und so war es auch.

Als Heike öffnete, erblickte sie zunächst nur einen riesigen Strauß roter Rosen.

„Eine Blumensendung für Frau Stein“, sagte eine Männerstimme. Der Unbekannte hielt ihr das in Cellophan eingewickelte Bukett entgegen. Es war so voluminös, dass Heike es mit beiden Händen ergreifen musste.

Im nächsten Moment spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrem linken Unterarm. Augenblicklich spürte sie die Gefahr. Die Kommissarin taumelte einen Schritt zurück. Der Bote folgte ihr in die Wohnung. Er roch nach einem teuren Herrenparfüm, das sich kein Mindestlohnarbeiter leisten konnte. Sein Gesicht hatte sie noch niemals zuvor gesehen, obwohl er ihr auf seltsame Weise bekannt vorkam. Aber allzu viel war davon ohnehin nicht zu erkennen. Heike ließ den Blumenstrauß zu Boden fallen, um sich verteidigen zu können.

Aber dazu kam es nicht mehr. Das Bild des Unbekannten verschwamm vor ihren Augen, als ob sie ihn durch eine Milchglasscheibe sehen würde. Die Kommissarin begriff, dass ein Betäubungsmittel die Kontrolle über ihren Körper erlangte. Heike wollte einen Schrei ausstoßen, aber sie hatte weder Kontrolle über ihre Zunge noch über ihre Stimmbänder. Obwohl es draußen noch heller Tag war, schien es um sie herum immer dunkler zu werden. Heike sammelte ihre Kräfte, um sich auf den Beinen halten zu können. Es gelang ihr nicht.

Sie stürzte der Länge nach zu Boden.

„Jetzt gehören Sie mir, Frau Kriminalhauptkommissarin Stein.“

Diesen Satz hörte Heike noch, bevor sie ohnmächtig wurde. Tintenschwarze Dunkelheit umhüllte sie. Der Täter machte die Tür zu und schloss von innen ab.


2

„Wo bleibt denn das Geburtstagskind?“

Ruth Volkmann warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Heike Steins beste Freundin saß bei ihrem Stammitaliener Palazzo an der Rothenbaumchaussee. Es war ein milder schöner Abend, der die Hektik der Millionenstadt vergessen ließ. Ihr gegenüber hatten Kommissarin Melanie Russ und Vera Langer Platz genommen, die ebenfalls mit der Kriminalistin gut bekannt waren. Heike hatte Vera vor einem Jahr aus der Gewalt eines Psychopathen befreit. Damals war zwischen den Frauen eine Freundschaft entstanden.

„Heike hat heute ausnahmsweise im Präsidium pünktlich Feierabend gemacht“, berichtete Melanie. „Sie wollte nur kurz nach Hause, um sich umzuziehen. Es ist nicht ihre Art, sich zu verspäten. Wir hatten den Tisch für 19 Uhr reserviert. Zu Fuß benötigt sie keine Viertelstunde, um von der Isestraße aus hierherzukommen. Und mit dem Fahrrad ist sie innerhalb von fünf Minuten hier.“

Sobald jemand das Restaurant betrat, richteten sich die Blicke der Frauen zum Eingang. Kurz hintereinander erschienen mehrere Pärchen sowie eine größere Gruppe, offensichtlich Arbeitskollegen. Das Palazzo war gut gefüllt, ohne Reservierung konnte man an diesem Tag dort nicht landen. Nur Heike Stein war immer noch nicht erschienen.

„Ich glaube nicht, dass Heike sich heute auf ihr Mountainbike schwingt“, meinte Vera. „Wir wollten schließlich auf sie anstoßen, das war zumindest der Plan.“

„Es könnte ihr aber auch etwas dazwischengekommen sein“, sagte Ruth. „Oder jemand, besser gesagt.“

Sie warf einen vielsagenden Blick in die festlich gekleidete Frauenrunde. Inzwischen war Heike seit 41 Minuten überfällig. Der dunkelgelockte Kellner hatte schon mehrfach den rot gestrichenen Gastraum durchquert und nach den Wünschen der Damen gefragt. Der Prosecco stand schon bereit, aber eigentlich sollte ja auf Heikes Wohl getrunken werden. Aber sie glänzte durch Abwesenheit.

„Zwischen Heike und Ben ist es aus“, stellte Melanie fest. „Deine Anspielung bezieht sich doch auf ihn, oder?“

Ihre Stimme klang gereizt. Ruth hob die Schultern. Sie stellte sich gern in den Vordergrund, was Melanie auf den Wecker ging. Vor allem an diesem Abend. Ruth machte sich gern wichtig, sie spielte sich als große Durchblickerin auf. Melanie konnte nicht verstehen, was Heike an dieser Schreckschraube fand.

„Ich als Heikes beste Freundin sollte eigentlich über ihr Gefühlsleben Bescheid wissen“, sagte Ruth gönnerhaft. „Auch mir gegenüber hat sie immer wieder beteuert, dass sie ihre Kurzzeitaffäre mit ihrem Dienstpartner zutiefst bereut hat und seine Ehe nicht gefährden will.“

„Na, also“, warf Vera ein. Sie war offensichtlich ebenfalls genervt. „Du hörtest dich gerade so an, als ob du Heike nicht geglaubt hättest.“

„Ich bin überzeugt davon, dass unsere gemeinsame Freundin Ben immer noch liebt.“

Nachdem Ruth

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2023
ISBN: 978-3-7554-5137-2

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /