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Frauenmord im Freihafen - 1

 

Nichts deutete auf ein Verbrechen hin, als der stahlblau lackierte Ford Mondeo im Radfahrertempo über die Oberbaumbrücke glitt.

Diese Brücke war eine von rund dreitausend, die in der Hansestadt Hamburg über Flüsse und Kanäle, Fleete und Bassins gebaut sind. Der Mondeo steuerte auf die historische Speicherstadt zu, ein städtebauliches Denkmal aus dem 19. Jahrhundert.

Doch Markus Sturm und Hinnerk Bruns hatten für die liebevoll restaurierten Häuser aus roten Ziegeln kaum einen Blick übrig. Der Fahrer und der Beifahrer des Mondeo widmeten sich dem Thema Nummer eins. Jener Gesprächsstoff, der Männern nie ausgeht, wenn sie unter sich sind.

»Für mich ist klar, dass der HSV auch dieses Jahr nicht absteigen wird!«, sagte Markus Sturm.

»Da träumst du wohl von«, entgegnete Hinnerk Bruns. »Mit der Gurkentruppe – niemals! Aber St. Pauli wird beim nächsten Spiel zeigen, wo der Hammer hängt!«

Sturm und Bruns waren Kollegen. Sie arbeiteten als Wachmänner für den privaten Sicherheitsdienst Schutz & Sicherheit GmbH, der von albernen Leuten Schusi genannt wird. Beide trugen die graublaue Fantasieuniform ihres Arbeitgebers, zu der auch ein dunkelblaues Barett gehörte. Der Ford Mondeo war ihr Dienstwagen, was man an dem Schutz & Sicherheit-Emblem auf den Wagentüren deutlich erkennen konnte. Außerdem verfügte das Auto noch über eine Funkanlage, mit der sie Kontakt zur Firmenzentrale in Hamburg-Lokstedt halten konnten.

Die beiden Männer verstanden sich eigentlich ganz gut. Nur beim Thema Fußball waren sie wie Feuer und Wasser, unvereinbare Gegensätze. Denn Markus Sturm war HSV-Fan, während Hinnerk Bruns dem anderen Hamburger Kult-Klub, dem 1. FC St. Pauli, die Treue hielt. Und diese jeweilige Vorliebe war beinahe schon ein Glaubensbekenntnis oder eine Weltanschauung.

»Du spinnst doch«, knurrte Sturm, der am Lenkrad saß. Er steuerte direkt auf das Speicherstadt-Museum zu. »Beim letzten Spiel hat sich St. Pauli ja wohl voll blamiert! Wie kann man sich in der dreiunddreißigsten Minute ...«

»Halt’ die Klappe!«, rief Bruns, der trotz aller Fußball-Leidenschaft seinen Job etwas ernster nahm als sein Kollege. »Da, beim Museum!«

»Lenk’ nicht ab«, sagte Sturm unbeirrt. »Was ich meinte, war ...«

»Die Tür steht offen, du Dösbaddel!«, schnappte Bruns und bezeichnete mit diesem Hamburger Ausdruck seinen Kollegen als geistig eher langsamen Menschen. Aber Sturm nahm an der Beleidigung keinen Anstoß. Denn nun endlich bemerkte er auch, was los war.

Die Tür zum Speicherstadt-Museum war nur angelehnt. Und das war um halb fünf Uhr morgens mehr als verdächtig. Denn um diese Uhrzeit hatte das Museum natürlich noch lange nicht geöffnet.

Die Schutz & Sicherheit GmbH war für die Überwachung des gesamten Speicherstadt-Komplexes verantwortlich. Insofern waren die Wachmänner jetzt alarmiert. Sturm ließ den Mondeo vor dem Museum ausrollen und bremste. Kein anderes Auto war zu sehen, weder geparkt noch in voller Fahrt. Die Tür stand immer noch offen. Ein Irrtum war ausgeschlossen.

»Wir sollten uns die Sache mal näher ansehen«, meinte Bruns tatendurstig. Er stieg aus. Die Wachleute waren unbewaffnet, was Schusswaffen anging. Aber sie hatten lange klobige Taschenlampen an ihren Koppeln hängen, die man problemlos als Schlagwerkzeuge umfunktionieren konnte. Außerdem verfügten sie natürlich über Handys, mit denen sie die Polizei verständigen konnten. Die nächste Revierwache befand sich am Brooktor. Die Beamten konnten innerhalb von höchstens fünf Minuten anrücken.

Bruns jedenfalls war kein besonders ängstlicher Mensch. Er packte seine Taschenlampe fester und ging auf die angelehnte Museumstür zu. Er trug schwarze dünne Lederhandschuhe. Das sah nicht nur cool aus, sondern hielt die Hände warm auf den langen Patrouillenfahrten, wenn die Extremitäten vor lauter Bewegungsmangel einzuschlafen drohten.

Sturm war seinem Beispiel gefolgt und eilte hinter seinem Kameraden her. Bruns stieß mit der Taschenlampe die Tür vorsichtig etwas weiter auf.

Die Frau lag auf dem Boden, die Beine leicht angewinkelt. Sie trug ein pastellfarbenes Sommer-Minikleid, das den Außentemperaturen angemessen war. Seit Tagen strahlte der Hochsommer über Hamburg, die Menschen saßen an Alster und Elbe oder auf den Terrassen und genossen den Sonnenschein. Doch diese blonde Frau würde das Himmelsgestirn nie mehr sehen. Das war Bruns auf den ersten Blick klar. Sein Kollege war etwas begriffsstutziger.

»Das gibt’s doch nicht!«, meckerte Sturm. »Jetzt brechen die Leute schon ins Museum ein, um ihren Rausch ausschlafen zu können! Die sollten wir ...«

»Hast du Tomaten auf den Augen?«, knurrte Bruns. »Siehst du nicht das Messer, das in ihrer Brust steckt? Nee, Kollege – das ist nichts für uns. Da sollen mal gleich die Udels ran!«

 

 

 

2


Heike Stein war eine Udel, wie die Polizistinnen und Polizisten in Hamburg traditionell und liebevoll-spöttisch genannt werden. Genauer gesagt war sie Kriminalhauptkommissarin bei der Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes Hamburg. Außerdem hatte sie an diesem frühen Morgen Bereitschaftsdienst.

Daher traf sie bereits zwanzig Minuten nach den beiden Privat-Wachleuten am Tatort ein. Sie war mit einem zivilen Opel Vectra aus der Fahrbereitschaft direkt vom Polizeipräsidium in Alsterdorf hinunter zur Wandrahm-Insel gedüst, wo sich das Speicherstadt-Museum befand. Heike parkte direkt neben einem Streifenwagen der Brooktor-Revierwache. Die blau uniformierten Kollegen sperrten den Museumsvorplatz mit rot-weiß gestreiftem Tatortband ab.

»He, Sie können hier nicht Ihre Karre abstellen!«, rief ein junger Polizist, der anscheinend gerade erst der Ausbildung entschlüpft war.

»Klar kann die!«, klärte ihn ein älterer Kollege auf. »Das ist eine von uns, kapiert? Außerdem ist sie auch noch Sönkes Tochter!«

Heike verzog unwillig den Mund. Es würde ihr wohl immer wieder unter die Nase gerieben werden, dass ihr Vater einer der berühmtesten Polizisten der Hansestadt war. Jeder Udel, selbst der unerfahrenste Frischling, konnte mit dem Namen Sönke Stein etwas anfangen. Vor seiner Pensionierung war Heikes Vater Revierleiter der berühmt-berüchtigten Davidwache auf St. Pauli gewesen.

Das legendäre Polizeikommissariat 15 befand sich in einem roten Backsteinbau aus dem Jahre 1914. Das an der Ecke Davidstraße und Spielbudenplatz gelegene Gebäude war weltweit aus zahlreichen Filmen und Fernsehserien bekannt. Die Wirklichkeit in einem Problemstadtteil mit extrem hoher Gewaltkriminalität war allerdings weitaus weniger romantisch als jene fiktionalen Darstellungen. Sönke Stein hatte es immerhin geschafft, mehr oder weniger unversehrt das Pensionsalter zu erreichen und dank seiner Tatkraft und Entschlossenheit eine lebende Legende der Hamburger Ordnungsbehörde zu werden.

Und Heike? Sie würde wohl in alle Ewigkeit »Sönkes Tochter« bleiben. Ihre eigenen Leistungen zählten da nicht.

Die Kriminalistin fuhr sich durch ihre blonde Kurzhaarfrisur, als ob sie die trüben Gedanken wegwischen wollte. Sie hatte keinen Grund zum Jammern, sondern vielmehr einen neuen Fall. Jedenfalls sah es ganz so aus.

Heike fröstelte, als sie über das Kopfsteinpflaster des Vorplatzes auf den Museumseingang zueilte. Sie trug an diesem frühen Morgen ein hellgraues Mini-Kostüm aus Baumwollstoff, dazu eine ärmellose Bluse und keine Strümpfe. Damit war sie um diese Tageszeit zwar eindeutig zu dünn angezogen. Doch wenn sich das sommerliche Hochdruckgebiet über Norddeutschland weiter hielt, würde sie im weiteren Tagesverlauf froh über ihr Outfit sein.

Die Kostümjacke konnte sie ohnehin nicht ablegen. Schließlich verbarg sich darunter in einem Clipholster am Rockbund ihre Pistole.

Heike befestigte ihren Dienstausweis an ihrem Revers, falls noch mehr Leute in der Nähe waren, die sie nicht kannten. Doch an der Fundstelle der Leiche erblickte sie fast nur bekannte Gesichter. Abgesehen natürlich von der Toten selbst.

Da waren Dr. Lehmann, ein Gerichtsmediziner. Er kauerte neben der Leiche, hob ein Augenlid und leuchtete mit einer Stablampe in die Pupille. Im Hintergrund werkelten bereits Paul Sommer und seine Leute. Er arbeitete als Leiter des Spurensicherungsteams.

»Guten Morgen, Frau Stein«, sagte Dr. Lehmann, indem er kurz aufblickte. »Ich bin auch gerade eben erst gekommen. Tod durch Gewalteinwirkung, so viel kann ich Ihnen schon sagen.«

Um das beurteilen zu können, musste man kein Gerichtsmediziner sein, fand Heike. Jedenfalls war der Messergriff, der im Brustkorb der Toten steckte, nicht zu übersehen. Aber die Hauptkommissarin hütete ihre Zunge. Nach so einer unbedachten Bemerkung konnte Dr. Lehmann wochenlang die beleidigte Leberwurst spielen. Und das war nicht hilfreich, wenn man mit ihm zusammenarbeiten musste.

Daher sagte Heike mit bewunderndem Unterton: »Das haben Sie aber schnell herausgefunden, Herr Doktor!«

Der Gerichtsmediziner war für Schmeicheleien immer empfänglich. Besonders, wenn er sie von attraktiven jungen Frauen wie Heike bekam. Schmunzelnd richtete er sich auf.

»Ich könnte Ihnen sogar mit aller gebotenen Vorsicht noch einen weiteren Anhaltspunkt liefern, Frau Stein«, sagte er und warf sich in die Brust.

»Wirklich?« Heike hoffte, dass sie nicht allzu lange Interesse heucheln musste. Die Selbstgefälligkeit des Pathologen ging ihr nämlich schon jetzt auf den Wecker.

»Ja, ich vermute einen Profi hinter diesem Tötungsdelikt. Damit meine ich jemanden, der genau weiß, wie er eine Stichwaffe zu führen hat, um das Herz zu treffen. Sehen Sie, es gibt nur eine einzige Einstichwunde. Der Täter hat sofort die Aorta durchstoßen. Das Opfer muss auf der Stelle tot gewesen sein.«

Dann hat sie wenigstens nicht allzu sehr leiden müssen, dachte Heike. Aber sie sagte: »Wahrscheinlich kann man dann auch eine Tat im Affekt ausschließen. Wenn der Täter die Nerven verliert, fuhrwerkt er doch meist blindwütig mit der Waffe herum.«

»Für Schlussfolgerungen sind Sie zuständig, Frau Stein«, sagte der Gerichtsmediziner mit schlecht gespielter Bescheidenheit. »Einstweilen ist meine Arbeit hier abgeschlossen. Weitere Ergebnisse kann ich Ihnen erst nach der offiziellen Obduktion liefern, Frau Hauptkommissarin.«

Heike zückte ihr Notizbuch.

»Sie waren mir schon eine große Hilfe, Dr. Lehmann. – Eine Frage noch: Wann in etwa ist der Tod eingetreten?«

»Schätzungsweise zwischen Mitternacht und drei Uhr früh. Aber das kann ich wirklich erst nach einer Untersuchung in der Gerichtsmedizin sagen.«

»Liegt ein Sexualdelikt vor?«, fragte Heike.

»Darauf deutet nichts hin. Wie Sie sehen, ist das Opfer vollständig bekleidet. Aber ob sie in den Stunden vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte – ob freiwillig oder erzwungen – kann ich hier vor Ort unmöglich feststellen. Ich muss wieder einmal an Ihre Geduld appellieren, Frau Stein.«

Dr. Lehmann lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hätte. Heike rang sich ein Grinsen ab. Dann ging sie hinüber zu dem Leiter des Spurensicherungsteams.

»Habt ihr schon etwas für mich, Paul?«

»Nicht der Rede wert, Heike«, meinte Sommer. »Jedenfalls ist der Fundort der Leiche nicht der Tatort. So viel steht jetzt schon fest.«

Heike warf einen nachdenklichen Blick auf die weibliche Leiche. Es sah so aus, als würde sie nur schlafen. Wenn da nicht der Messergriff in ihrer Brust gewesen wäre. Die Waffe steckte immer noch dort, wo der Täter – oder die Täterin – sie hineingerammt hatte.

Die Tote trug ein leichtes pastellfarbenes Kleid, das den Außentemperaturen angemessen war. An ihren Füßen hatte sie Flip-Flops. Wie durch ein Wunder waren die leichten Sandalen nicht von den bloßen Füßen gerutscht.

»Man hat sie also einfach dorthin geworfen wie einen Sack Lumpen?« Heike spürte die Wut in sich aufsteigen, was natürlich nicht gerade professionell war. Aber sie war eben auch nur ein Mensch. Gewiss, die Kriminalistin hatte Leichen gesehen, die schlimmer zugerichtet waren als diese. Immerhin hatte die unbekannte junge Frau einen leichten Tod gehabt.

Aber trotzdem war sie ermordet worden. Es kam Heike so vor, als ob der unbekannte Täter sie sich buchstäblich vom Hals geschafft hätte. Umgebracht und fortgeschafft. Aber warum ausgerechnet in den Eingangsbereich eines geschlossenen Museums?

»Verwertbare Spuren sind hier extrem schwer zu finden.« Mit diesen Worten riss Paul Sommer sie aus ihren Überlegungen. »Tagsüber wird das Speicherstadt-Museum von Tausenden von Menschen besucht.«

»Ich verstehe nicht ganz, weshalb ihr dann trotzdem wissen könnt, dass sie nicht hier umgebracht wurde«, gab Heike zu bedenken.

»Wegen der Sturzbahn.« Der Kriminaltechniker demonstrierte, was er meinte. »Die Tote liegt dort hinten. Wenn sie erstochen wurde, muss sie ungefähr hier gestanden haben.« Er stellte sich an die passende Stelle. »Ein menschlicher Körper ist keine Margarinepackung, Heike. Wenn du ein Messer in einen Brustkorb rammst, brauchst du viel Kraft. Besonders, wenn das Messer bis zum Heft in der Brust stecken bleibt. Jedenfalls geht das nie ohne Blutspritzer, selbst wenn man die nur unter dem Mikroskop erkennen könnte. Aber hier sind überhaupt keine Blutspritzer auf dem Boden. Nicht ein einziger.«

»Du bist also sicher, dass die Frau irgendwo anders umgebracht wurde, Paul?«

»Hundertprozentig, Heike.«

»Danke. Dann werde ich mir mal die Zeugen vornehmen.«

Heike ging nach draußen, wo Markus Sturm und Hinnerk Bruns warteten. Sie unterhielten sich mit dem jüngeren Streifenbeamten von der Brooktor-Wache. Alle drei pafften Zigaretten und versuchten, einen abgebrühten Eindruck zu machen.

»Ich bin Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes«, stellte sie sich vor. »Und Sie beide haben also die Tote gefunden?«

Die Männer nickten. Nachdem Heike ihre Personalien aufgenommen hatte, fragte sie: »Kommt es öfter vor, dass in der Speicherstadt etwas Außergewöhnliches passiert?«

»Wie meinen Sie das?«, wollte Markus Sturm wissen.

»Nun, Sie finden gewiss nicht bei jeder Patrouillenfahrt eine Leiche. Aber ist Ihnen schon einmal etwas Verdächtiges aufgefallen?«

Wie auf Kommando schüttelten die Wachmänner den Kopf.

»Hier ist es immer ruhig«, erklärte Bruns. »Den dunklen Gestalten ist es hier zu hell. Und das meine ich wörtlich. Sie wissen ja vielleicht auch, dass die Speicherstadt nachts illuminiert wird. Das sieht toll aus, vor allem, wenn Sie drüben am Meßberg stehen. Aber es hat auch zur Folge, dass die Ganoven wegbleiben. Abgesehen davon, dass hier ja auch nichts zu holen ist. Jedenfalls nichts, was Verbrecher zu Geld machen könnten.«

Heike nickte. Als waschechte Hamburgerin kannte sie natürlich das Speicherstadt-Museum, das sie schon öfter mit auswärtigen Besuchern angeschaut hatte. Das Gebäude enthielt zahlreiche Exponate, die über längst vergessene Hafenberufe wie den Reepschläger, den Schauermann oder den Everführer Auskunft gaben. Man konnte auch typische Handelswaren besichtigen, wie sie in früheren Zeiten in der Speicherstadt eingelagert worden waren. Doch wirklich wertvolle oder gar millionenschwere Gemälde wie in anderen Museen suchte man dort vergebens. Das Speicherstadtmuseum gehörte für Einbrecher gewiss zu den unattraktivsten der Hansestadt.

»Wie oft sehen Sie pro Nacht in der Speicherstadt nach dem Rechten?«

»Elf oder zwölf Mal, Frau Kommissarin. Wir fahren langsam durch und kontrollieren die Eingänge und so weiter. Gelegentlich haben wir auch schon mal einen Volltrunkenen aufgelesen. Aber da alarmieren wir immer gleich Ihre Kollegen und einen Rettungswagen. Aber so was wie heute ...«

Bruns schüttelte den Kopf und zündete sich eine frische Zigarette an.

»Ist Ihnen sonst nichts aufgefallen?«, bohrte Heike nach. »Ich denke da an ein Fahrzeug, das vor dem Museum geparkt hatte.«

»Nichts, gar nichts«, sagten Markus Sturm und Hinnerk Bruns.

»Das wäre alles für den Moment. Bitte kommen Sie in den nächsten Tagen aufs Präsidium, um das Protokoll Ihrer Aussage zu unterschreiben.«

»Wer war denn die Tote?«, fragte Sturm neugierig. »Die sah ja fast aus wie ein Model ...«

»Das wissen wir noch nicht, bedaure«, erwiderte Heike. Die Wachmänner verschwanden in ihrem Einsatzfahrzeug. Sturms flapsiger Spruch hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, wie Heike fand.

Das Opfer war wirklich außergewöhnlich hübsch gewesen. Das konnte man selbst ihrem erstarrten Gesicht noch ansehen. Darin sah Heike eine Chance, die Identität der Toten zu ermitteln. Denn bisher gab es keinerlei Hinweise. Kein Personalausweis, kein Führerschein, keine Geldbörse, kein Schlüsselbund, keine Monatskarte für den HVV, nichts. Die Leiche hatte nichts bei sich außer den Kleidern auf dem Leib. Und das waren modische, aber billige Stücke aus Massenfertigung – sowohl das Kleid als auch Unterwäsche und Schuhe.

Heike schaute nachdenklich zu, als die Tote in den Blechsarg gelegt wurde, um in die Gerichtsmedizin geschafft zu werden. Inzwischen war die Sonne vollständig aufgegangen. Ihre Strahlen glitzerten auf dem Wasser der Elbe. Die Wandrahm-Insel, auf der sich die Speicherstadt befand, war durch Brücken mit dem nördlichen Elbufer verbunden. Ansonsten hatte man von hier aus einen Panoramablick auf die Museumsschiffe an den St. Pauli Landungsbrücken sowie auf die HafenCity.

Ein Polizeifotograf hatte Aufnahmen vom Gesicht der Toten gemacht. Die wurden an die Hamburger Presse weitergeleitet. Und natürlich würde Heike gleich die Vermisstenabteilung einschalten. Mit denen arbeitete sie immer zusammen, wenn die Identität eines Toten nicht völlig eindeutig zu klären war.

Heike gönnte sich zunächst einen Kaffee und ein Salamibrötchen in einem Stehcafé an der Kleinen Reichenstraße. Hier wimmelte es inzwischen von Angestellten der umliegenden Büros, die noch ein schnelles Frühstück einnehmen wollten. Allmählich erwachte die Hafenstadt zum morgendlichen Leben.

Die Kriminalistin dachte nach. Was für eine Beziehung gab es zwischen der unbekannten Toten und dem Museum? Sie wollte dorthin zurückkehren, sobald es geöffnet hatte. Ansonsten musste sie sich zunächst ganz auf die Kollegen von der Vermisstenabteilung verlassen.

Doch die winkten nur ab, als Heike eine halbe Stunde später im Präsidium bei ihnen erschien.

»Tut mir leid, Heike«, sagte ein vierzigjähriger vorzeitig ergrauter Oberkommissar namens Freytag. »Deine unbekannte Tote ist schätzungsweise Anfang dreißig, sagtest du doch?«

»Ja, Klaus. Ein paar Jahre plus oder minus ...«

»Schon klar. Aber aktuell vermissen wir hier bloß ein blondes vierzehnjähriges Mädchen. Das kann sie nun wirklich nicht sein.«

Oberkommissar Freytag rief auf seinem Computer den Datensatz des vermissten Teenagers auf. Heike betrachtete das pausbäckige Gesicht. Das war ganz eindeutig nicht die Leiche, zum Glück.

»Aber du kannst mir das Foto und die Personenbeschreibung selbstverständlich hier lassen«, meinte der Kollege aus der Vermissten-Abteilung aufmunternd. »Du weißt ja, manchmal werden wir auch bei unseren Altfällen noch fündig.«

»Ja, natürlich, Klaus. Vielen Dank erst mal.«

Heike war nicht so schnell zu entmutigen. Aber als sie an diesem Morgen ihre eigene Abteilung, die Sonderkommission Mord, betrat, erschien ihr der Fall mit der Toten in der Speicherstadt als eine verflixt harte Nuss.



3


»Moin, Heike! So früh schon munter?«

Die Kriminalistin lächelte, als sie die Stimme ihres Kollegen und Dienstpartners Ben Wilken vernahm. Meist arbeitete sie unmittelbar mit dem dunkelhaarigen gut aussehenden Hauptkommissar zusammen. Im Dienst waren sie fast unzertrennlich. Kein Wunder, dass böse Zungen im Polizeipräsidium Heike und Ben als »das Traumpaar vom LKA« bezeichneten. Das war umso gemeiner, weil die beiden wirklich noch niemals eine Affäre miteinander gehabt hatten.

An diesem Morgen freute sie sich jedenfalls besonders, Ben zu sehen. Wenn er auch manchmal etwas dickköpfig war, konnte sie mit ihm doch meist sehr gut ihre Fälle besprechen. Heike setzte sich an ihren Schreibtisch, der dem von Ben gegenüber stand. Sie teilten sich ein Großraumbüro mit den anderen Ermittlern der Sonderkommission Mord.

Die Kriminalistin erzählte ihrem Kollegen, was sie bisher herausgefunden hatte. Ben machte eine unbestimmte Handbewegung.

»Das sieht mir nach einem Fall aus, den man schnell zu den Akten legen muss. Es sei denn, dass jemand das Opfer vermisst.«

Heike nickte. Obwohl sie schon seit einigen Jahren bei der Kripo Hamburg arbeitete, erstaunten sie manche Dinge in ihrem Beruf immer noch. Zum Beispiel, dass manche Menschen offenbar von niemandem vermisst wurden. Würde die junge Frau aus dem Speicherstadt-Museum auch als »unbekannte Tote« oder »Jane Doe«, wie derartige Personen von amerikanischen Kollegen genannt wurden, in die Kriminalstatistik eingehen?

Bevor Heike diesen Gedanken weiterführen konnte, war es Zeit für die Morgenbesprechung der gesamten Abteilung. Alle Ermittler versammelten sich um einen langen Tisch im Konferenzraum. Schließlich kam auch noch Kriminaloberrat Dr. Magnussen hereingestürmt, der Leiter der Sonderkommission Mord.

Der Kriminaloberrat hatte wie immer seine Tabakspfeife zwischen den Zähnen. Trotz Rauchverbots nahm daran niemand Anstoß, denn Dr. Magnussen zündete die Pfeife niemals an. Sie enthielt noch nicht einmal Tabak. Keiner der Ermittler hatte den Chef jemals rauchen sehen.

Die Marotte mit der Pfeife war leicht zu erklären. Dr. Magnussen war ein unauffälliger Mann mit einem Dutzendgesicht, das man sofort wieder vergaß, wenn man es gesehen hatte. Er war der Meinung, durch seine Pfeife mehr unverwechselbares Profil zu gewinnen.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, sagte der Abteilungsleiter und setzte sich an das Kopfende des Konferenztisches, wobei er jede Menge Papiere und Schnellhefter auf der Tischfläche verteilte. »Ich hatte gerade ein Gespräch mit dem Präsidenten. Beim Fall Osdorfer Born läuft uns die Zeit davon!«

Mit dem Präsidenten war natürlich der Polizeipräsident von Hamburg gemeint. Und die Unterredung zwischen ihm und Dr. Magnussen schien für diesen nicht gerade angenehm gewesen zu sein. Jedenfalls war seine Laune miserabel.

Die Kollegen berichteten der Reihe nach von ihren Ermittlungsergebnissen. Als Heike dran war, erzählte sie von den bisherigen Erkenntnissen im Speicherstadt-Fall.

»Soso. Schön«, knurrte Dr. Magnussen. »Dann werden wir diese Angelegenheit wohl bald zu den Akten legen können. Ich brauche Sie, Frau Stein, ohnehin als weitere Unterstützung für den Osdorfer-Born-Fall. Also sehen Sie zu, dass Sie die Angelegenheit schnell über die Bühne bringen.«

Heike nickte gottergeben. Wenn ihr Chef einen Fall nicht ernst nahm, sprach er immer von einer »Angelegenheit«. Dr. Magnussen glaubte offenbar nicht daran, dass sich ein Mord mit einem unbekannten Opfer so schnell aufklären ließ. Oder hoffte er es? Nein, das war wohl doch eine zu unfaire Sichtweise.

Es herrschte einfach Personalmangel. Der Doppelmord am Osdorfer Born erwies sich als sehr arbeitsaufwändig, weil die Opfer in einer Hochhaussiedlung gelebt hatten. Als Zeugen mussten alle Nachbarn vernommen werden. Und das waren in diesem Fall sage und schreibe 250 Familien.

»Ich werde tun, was ich kann, Herr Kriminaloberrat«, versicherte Heike.

»Tun Sie das, Frau Stein!«, bellte Kriminaloberrat Dr. Clemens Magnussen. »Und wenn Sie die Angelegenheit bereinigt haben, können Sie anschließend Frau Russ und Herrn Mertens und auch Herrn Wilken bei der Arbeit unterstützen.«

Die Hauptkommissarin horchte auf. Nun war also auch schon Ben dem Osdorfer-Born-Fall zugeteilt. Das bedeutete, sie würde den Speicherstadt-Fall alleine lösen müssen.

Die Besprechung zog sich nicht allzu lange hin, denn Dr. Magnussen drängte zur Eile. Vermutlich hatte er selber mehr als genug Druck bekommen. Heike verkrümelte sich, bevor ihr Vorgesetzter ihr noch irgendwelche Sonderarbeiten aufbrummen konnte. Sie wollte und musste den Fall jetzt so schnell wie möglich lösen. Denn Heike hatte keineswegs vor, ihn zu den Akten zu legen.

Diesmal nahm sie die U-Bahn. Wenn Heike nicht selbst am Steuer saß, konnte sie besser nachdenken. Außerdem war die Verbindung zwischen Präsidium und Hafenrand erstklassig. Heike stieg an der U-Bahn-Station Alsterdorf ein und war kurze Zeit später am Meßberg. Als sie dort aus dem U-Bahn-Schacht stieg, hatte sie sofort das Panorama der Speicherstadt vor sich.

Als Hamburgerin kannte Heike natürlich die Geschichte der Speicherstadt. Sie war einst gebaut worden, um im Freihafen Waren bis zum Wiederverkauf zollfrei lagern zu können. Heutzutage, wo die meisten Schiffsgüter in Containern transportiert wurden, waren die Speicher schlicht zu klein für ihre ursprüngliche Aufgabe. Aber sie verkörperten immer noch den regen Außenhandel, der Hamburg früher zu einer reichen Stadt gemacht hatte und immer noch machte.

In Zeiten der Globalisierung galt dies mehr denn je. Ein großer Teil der Importe aus China wurde über den Hamburger Hafen abgewickelt. Und die Einfuhren aus dem prosperierenden Reich der Mitte nahmen jedes Jahr an Umfang zu. Nicht umsonst war Hamburg diejenige deutsche Stadt, in der sich inzwischen die meisten chinesischen Unternehmen angesiedelt hatten.

Heike überquerte die Brücke und ging auf das Museum zu. Trotz des unerfreulichen Anlasses freute sie sich auf den Besuch. Im Speicherstadt-Museum roch es nämlich immer gut – nach Nelken und rotem Pfeffer, nach Tee und Pfeifentabak und Currymischungen und all den anderen Waren aus fernen Ländern, die einst in Säcken und Kisten in diesen Speichern gelagert wurden.

Die Kriminalistin hatte ein Foto der Toten dabei. Natürlich hatte das Museumspersonal längst mitbekommen, was für ein schauriger Fund in der Eingangshalle gemacht worden war. Heike zeigte die Aufnahme herum. Aber keiner der anwesenden Angestellten hatte die junge Frau jemals bewusst gesehen.

»Hier läuft natürlich auch einiges an Publikum durch!«, erklärte eine Kassiererin. Und damit hatte sie zweifellos Recht. Heike blieb noch die Hoffnung, dass einer der gerade dienstfrei habenden Mitarbeiter die Tote gekannt haben konnte.

In Gedanken versunken durchstreifte die junge Hauptkommissarin die Ausstellungsräume. Der Tod des Opfers war irgendwann nach Mitternacht eingetreten. Dann hatte der Täter die Leiche hier hergeschafft, die Tür aufgebrochen, die Alarmanlage außer Betrieb gesetzt und die sterblichen Überreste der schönen Frau in den Eingangsbereich geworfen. Aber warum? Als düstere Warnung? Stand das Opfer vielleicht einem der Angestellten sehr nahe?

Heike sah eine Ermittlung von gigantischen Ausmaßen auf sich zukommen. Sie scheute die Arbeit nicht. Aber Dr. Magnussen würde im Dreieck springen. Man konnte die Sache drehen und wenden, wie man wollte. Solange die Identität des Opfers unbekannt war, konnte sich auch der Täter in Sicherheit wiegen.

Als Heike das Museum wieder verließ, schrillte ihr Handy. Der Gerichtsmediziner war am Apparat.

»Frau Stein? Ich wollte Ihnen nur kurz Bescheid geben. Also, ein Sexualverbrechen können wir definitiv ausschließen. Die Frau hatte in den letzten achtundvierzig Stunden vor ihrem Tod überhaupt keinen Geschlechtsverkehr, ob nun erzwungenen oder freiwilligen.«

»Ein sehr hilfreicher Hinweis. Vielen Dank, Herr Dr. Lehmann.«

»Keine Ursache.« Der Gerichtsmediziner beendete das Gespräch. Heike ging hinüber zum Holländischen Brook. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, ob die Tote vielleicht eine Prostituierte gewesen war. Vom Aussehen her hätte sie ein Edel-Callgirl sein können. Aber solche Damen hatten schon berufsbedingt viel öfter Sex, als das Mordopfer vor seinem Ableben.

Die Hauptkommissarin eilte an dem Klaus-Störtebeker-Denkmal vorbei. Der legendäre Pirat war einst unweit von hier geköpft worden. »Gottes Freund und aller Welt Feind« stand auf dem Sockel der Skulptur geschrieben.

Heike betrat die Revierwache am Brooktor. Vielleicht hatte ja einer der uniformierten Kollegen die Tote zu Lebzeiten gekannt?

»Seht mal, wer hier ist! Sönkes Tochter!«, rief ein älterer Udel im Wachlokal, als Heike den Raum betrat. Die Augen der Polizisten und der festgenommenen betrunkenen Jugendlichen richteten sich auf die Kriminalistin.

»Wenn Karneval ist, werde ich mich als mein eigener Vater verkleiden«, konterte Heike mit einem süßsauren Lächeln. »Aber bis dahin sagt mir mal, ob ihr die hier kennt!«

Sie hielt den Beamten das Foto unter die Nasen.

»Eine Professionelle?«, fragte ein Obermeister.

Heike zuckte mit den Schultern.

»Wenn ich das wüsste, Andreas. Die Person kommt euch also nicht bekannt vor?«

»An das Gesicht würde man sich erinnern, schätze ich«, erwiderte der Uniformierte. »Ansonsten haben wir hier nicht viel Probleme mit dem horizontalen Gewerbe. Du weißt ja wahrscheinlich, dass hier Sperrbezirk ist. Und die Illegalen haben andere Gegenden, die sie bevorzugen.«

Heike nickte. Auf dieser Schiene kam sie also auch nicht weiter. Aber einen Versuch war es wert gewesen. Sie trank noch einen Kaffee mit den dienstfreien Kollegen im Pausenraum. Wenigstens löcherte sie diesmal niemand mit Fragen nach ihrem Vater. Sonst hätte sie erwidert, dass es ihren Eltern prächtig ging, seit sie sich nach der Pensionierung von Heikes Vater eine Eigentumswohnung auf Mallorca gekauft hatten und dorthin ausgewandert waren.

Als sie den letzten Schluck von der heißen, starken Flüssigkeit ausgetrunken hatte, kehrte Heike ins Präsidium zurück. Dort ging sie zunächst in die Presseabteilung. Die dortigen Kollegen versorgte sie mit dem Foto sowie den dürftigen übrigen Angaben über die unbekannte Tote.

Am nächsten Morgen würden die Hamburger Zeitungsleser dann erfahren, dass die Polizei Zeugen suchte. Menschen, die jener Leiche einen Namen und eine Biografie zuordnen konnten. Sachdienliche Hinweise nimmt die Kripo Hamburg entgegen, würde es in den Artikeln heißen. Komplettiert wurde die Aktion durch den Abdruck von Heikes dienstlicher Telefonnummer.

Und dann konnte die Hauptkommissarin den ganzen Tag mit Spinnern und Wichtigtuern telefonieren. Immer in der stillen Hoffnung, dass sich doch ein brauchbarer Zeuge melden würde.

Aber Heike war zu jedem Einsatz bereit, um den Mörder zu stellen. Ihr Jagdfieber war erwacht. Sie konnte es einfach nicht hinnehmen, dass ein Mensch eiskalt ermordet und dann weggeworfen wurde wie ein Feudel, wie die Putzlumpen in Hamburg genannt werden.

Auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz in der Sonderkommission Mord begegnete sie Dr. Magnussen. Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, aus dem man nur eine Frage ablesen konnte: »Ist diese unglückselige Angelegenheit immer noch nicht abgeschlossen?«

Heike ignorierte ihn, so gut es ging. Sie ärgerte sich über ihren Chef, weil er sie unnötig unter Druck setzte. Sie tat doch schon, was sie konnte! Und außerdem war die Kriminalistin sauer auf sich selbst, weil sie sich über Dr. Magnussen ärgerte, anstatt sich auf den Fall zu konzentrieren.

Ihre Stimmung war also nicht die beste, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Heike nahm den Hörer ab.

»Stein, Sonderkommission Mord!«, bellte sie.

Oberkommissar Freytag aus der Vermisstenabteilung war am anderen Ende der Leitung.

»Heike, was deine unbekannte Tote angeht ... ich glaube, ich habe da etwas für dich.«

»Ja?« Heike spürte, wie ihr Adrenalinspiegel blitzschnell anstieg.

»Ich habe deine Angaben durch den Computer gejagt«, fuhr der Kollege fort. »Deutschlandweit. Und da habe ich eine Person gefunden, die vermisst wird und der Leiche ziemlich ähnelt. Auch die Angaben zu Größe und Gewicht stimmen überein. Obwohl die letzte Gewissheit erst eine Identifizierung durch Angehörige schafft, wie du weißt.«

»Ja, natürlich.« Heike musste ihre Ungeduld im Zaum halten. »Und wer ist diese vermisste Frau nun?«

»Eine gewisse Maria Annalena Gruner. Geboren vor 29 Jahren in Straubing. Vermisst gemeldet von ihren Eltern vor zehn Jahren auf einer Revierwache in München. Das Foto von ihr im Computer ist logischerweise entsprechend alt. Trotzdem könnte sie es sein. Größe und Gewicht würden auch hinkommen, wie gesagt. Außerdem ist da immer noch die Zahnkarte, mit der man sie hundertprozentig identifizieren könnte. Aber zunächst haben die Angehörigen das Wort ...«

Heike und ihr Kollege kamen überein, dass zunächst Oberkommissar Freytag mit seinen Münchener Kollegen Kontakt aufnehmen sollte. Die bayerischen Beamten würden dann die Familie verständigen.

Heike wartete auf den Rückruf. Sie ging noch einmal ihre Aufzeichnungen durch. Viel war es wirklich nicht. Aber wenn es jetzt wirklich gelang, die Leiche zu identifizieren …

Plötzlich kam Dr. Magnussen wieder aus seinem Büro geschossen. Er baute sich vor Heikes Schreibtisch auf und nahm seine kalte Pfeife aus dem Mund.

»Sie scheinen ja nicht gerade in Arbeit zu ersticken, Frau Stein. Sind Sie sicher, dass Sie nicht einfach keine Lust auf den Osdorfer-Born-Fall haben?«

»Das hat mit Lust nichts zu tun, Herr Kriminaloberrat«, erwiderte Heike so ruhig wie möglich. »Es ist der Vermisstenabteilung höchstwahrscheinlich gelungen, die unbekannte Tote aus dem Speicherstadt-Museum zu identifizieren. Ich warte gerade auf einen Rückruf.«

»Soso«, knurrte der Abteilungsleiter unwillig. »Aber da kann man lange warten, das wissen Sie ja. Würde es Ihnen etwas ausmachen, in der Zwischenzeit diese Personen zu befragen? Wenn Sie damit fertig sind, können Sie immer noch weiter Löcher in die Luft starren!«

Heike öffnete den Mund, um sich zu wehren. Gleichzeitig wusste sie aber, dass es sinnlos war. Also verschloss sie ihre Lippen wieder und nahm wortlos die Liste aus Dr. Magnussens Hand entgegen.

Es waren die Namen einiger Nachbarn aus dem dreißigstöckigen Wohnblock am Osdorfer Born, wo der Doppelmord stattgefunden hatte. Die Zeugen sollten danach befragt werden, ob sie die Opfer gekannt hatten und ob ihnen etwas Ungewöhnliches an ihnen aufgefallen war.

Heike nahm sich einen VW Golf aus der Fahrbereitschaft und steuerte die triste Hochhaussiedlung an. Die nächsten Stunden vergingen mit nerviger und anstrengender Arbeit. Aber sie wollte nicht auf sich sitzen lassen, dass sie im Präsidium ihren Schönheitsschlaf hielt!



Als sie gegen Abend wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, fand sie dort eine Nachricht von ihrem Kollegen Lutz Perchau vor.

»Bitte Vermisstenabteilung München anrufen!«

Eine Telefonnummer stand auch auf dem Zettel. Heike wählte sie, während ihr Herz laut klopfte. Wenn sie jetzt niemanden mehr antraf, weil sie zu viel Zeit mit völlig unbrauchbaren Zeugen in Osdorf verplempert hatte ... Doch Fortuna war diesmal auf Heikes Seite. Tief im Süden Deutschlands wurde der Hörer abgenommen.

»Vermisstenabteilung, Oberkommissarin Stadler, Grüß Gott!«

»Hier spricht Hauptkommissarin Stein von der Kripo Hamburg. Es geht um die Identifizierung einer bisher unbekannten Frauenleiche ...«

»Ah, Frau Stein! Ihr Kollege hat hier schon angerufen. Der Verdacht hat sich erhärtet. Offenbar ist Ihre Tote keine andere als eine gewisse Maria Gruner. Wir haben mit der Familie gesprochen. Die Eltern sind schon betagt und verständlicherweise nun sehr aufgeregt. Aber die Schwester hat sich bereiterklärt, zur Identifizierung der Leiche nach Hamburg zu kommen.«

Frau Stadler gab Heike noch verschiedene Telefonnummern, unter denen sie Vera Gruner erreichen konnte. Die Hamburgerin bedankte sich bei der Kollegin und legte auf. Gleich darauf rief sie die erste von den Nummern an.

»Hier spricht der automatische Anrufbeantworter des Ingenieurbüros Waldhoff & Schuster. Sie erreichen ...«

Heike legte auf, ohne auf das Band zu sprechen. Sie hatte offenbar den Arbeitsplatz von Vera Gruner angerufen. Bei ihrem nächsten Versuch hatte sie mehr Glück.

»Gruner.«

»Hier spricht Heike Stein, Frau Gruner. Ich arbeite bei der Kripo Hamburg. Hier wurde eine tote Frau gefunden, die möglicherweise Ihre Schwester sein könnte. Meine Münchener Kollegin sagte, dass Sie zu einer Identifizierung bereit wären ...«

»Begeistert bin ich davon nicht«, erwiderte Vera Gruner. »Aber jemand muss es ja tun, nicht wahr? Meinen Eltern möchte ich das nicht zumuten.«

»Das verstehe ich sehr gut. Wann könnten Sie denn nach Hamburg kommen?«

»Morgen früh. Ich fliege nicht gerne und würde am liebsten mit dem Nachtzug kommen. Eine Verbindung habe ich mir schon herausgesucht.«

»Ja, das passt mir sehr gut, Frau Gruner. Ich hole Sie dann vom Hauptbahnhof ab.«

Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander. Als Heike aufgelegt hatte, beschlich sie das befriedigende Gefühl, endlich weiterzukommen mit ihrem Fall.

Sie brachte noch ihre Osdorfer Zeugenaussagen in eine annehmbare Form und legte die Dokumente dann ihrem Chef hin. Dr. Magnussen war nicht mehr in seinem Büro. Im Gegensatz zu Heike hatte er pünktlich Feierabend gemacht.

An diesem schönen Sommerabend war es draußen noch gar nicht richtig dunkel. Heike fuhr mit der U-Bahn zum Eppendorfer Baum. Dort in der Nähe, in der Isestraße, hatte sie ihre Wohnung. Aber die Kriminalistin wollte noch nicht nach Hause. Sie schlenderte Richtung Eppendorfer Landstraße, vorbei an den mondänen Läden und schicken Cafés dieser wohlhabenden Gegend. Sie wunderte sich nicht, dass sie vor einer kleinen, aber feinen Butike stehen blieb. Und bevor Heike wusste, wie ihr geschah, war sie hineingegangen und hatte sich eine Seidenbluse gekauft. Das Teil war ein Traum, der Preis allerdings ein Albtraum.

Aber sie beruhigte sich damit, dass bekanntlich jeder Mensch ein Laster hat. Da zählte ihr Faible für aktuelle Mode gewiss noch zu den harmlosesten.

Erst als sie ihre Wohnungstür in dem liebevoll restaurierten Jahrhundertwende-Haus aufschloss, spürte sie ihre Müdigkeit. Heike kam gerade noch dazu, ein Abendessen zu verdrücken und ihren Haushalt auf Vordermann zu bringen. Dann fielen ihr auch schon die Augen zu.

Immerhin hatte sie es geschafft, die ganze Zeit nicht an ihren aktuellen Fall zu denken. Bei dem schönen Wetter ließ Heike nachts ihr Schlafzimmerfenster offen stehen. Die Enten auf dem Isebek-Kanal, an den die Rückfront ihres Hauses grenzte, wiegten sie mit ihrem Gequake in den Schlaf.




4


Der Nachtzug aus München war pünktlich. Er traf am nächsten Morgen fahrplanmäßig um 8.03 Uhr im Hamburger Hauptbahnhof ein. Die Kriminalistin wartete auf dem Bahnsteig. Heike hatte sich keine Gedanken gemacht, wie sie die ihr unbekannte Vera Gruner erkennen wollte. Aber diese Sorge erwies sich als unberechtigt.

Als der Zug endgültig hielt und die Türen aufgestoßen wurden, entließen die Waggons eine große Menge von zerknautscht aussehenden und übernächtigt wirkenden Reisenden.

Doch Vera Gruner hob sich von ihnen ab wie eine Königin von ihrem Hofstaat. Auf ihrem cremefarbenen Reisekostüm war nicht das geringste Stäubchen zu entdecken. Von Knitterfalten ganz zu schweigen. Ihr Make-up, ihr Styling – alles perfekt. Sie hatte ein Diplomatenköfferchen in der Hand, als sie den Zug verließ. Heike steuerte zielsicher auf sie zu. Die Familienähnlichkeit zu der Toten stand ihrer Schwester deutlich im Gesicht geschrieben.

»Guten Morgen, Frau Gruner. Ich bin Hauptkommissarin Stein von der Kripo Hamburg.«

Heike präsentierte ihren Dienstausweis. Vera Gruner reichte ihr eine kühle, schmale Hand.

»Guten Morgen, Frau Kommissarin. Mir wäre es am liebsten, wenn wir es schnell hinter uns bringen könnten. Ich würde gerne noch heute nach München zurückkehren. Mein Chef ist zwar verständnisvoll, was meine familiäre Lage angeht ... Aber ich bin Chefsekretärin, verstehen Sie? Das ist eine Vertrauensstellung, bei der man bestimmte Arbeiten nicht einfach abgeben kann.«

Heike nickte nur. Vera Gruner machte wirklich den Eindruck einer Powerfrau, die alles im Griff hat und mit beiden Beinen im Leben steht. Heike dachte plötzlich an Maria, die Tote. Vielleicht war es nicht immer leicht, eine solche Schwester wie Vera zu haben. Heike konnte da nicht mitreden. Sie war ein Einzelkind.

»Natürlich, Frau Gruner«, sagte die Kriminalistin. »Zunächst fahre ich Sie zum Leichenschauhaus, damit wir die Identifizierung vornehmen können. Dann würde ich Ihnen gerne einige Fragen zu Ihrer Schwester stellen.«

Vera Gruner hob eine Augenbraue. Sie wirkte plötzlich noch arroganter, als sie es ohnehin schon war.

»Wozu soll das gut sein, Frau Stein?«

»Ich will herausfinden, wer Ihre Schwester ermordet hat – falls die Tote wirklich Maria Gruner ist. Dafür ist es wichtig, mir ein möglichst genaues Bild vom Opfer zu machen. Je besser ich das Opfer kenne, desto leichter ist der Täter zu ermitteln.«

Die Chefsekretärin aus München zuckte mit den Achseln.

»Sie tun nur Ihre Arbeit, nehme ich an. Ich weiß bloß nicht, ob ich Ihnen eine große Hilfe bin. Vergessen Sie bitte nicht, dass Maria vor mehr als zehn Jahren spurlos verschwand. Weder meine Eltern noch ich haben in der Zeit etwas von ihr gehört. Ich persönlich hielt sie schon längst für tot. Wenn ich es auch gegenüber Mama und Papa niemals geäußert hätte.«

Aus ihren Worten sprach eine Sensibilität, die nicht zu der harten Karrierefrau-Fassade passte, die Vera Gruner sich zugelegt hatte. Heike dachte sich, dass ihr Gegenüber zweifellos eine widersprüchliche Persönlichkeit war.

Die beiden Frauen fuhren in einem Taxi zum Universitätskrankenhaus Eppendorf, wo sich auch das gerichtsmedizinische Institut befindet. Heike war so früh am Morgen noch nicht im Präsidium gewesen und hatte sich deshalb kein Auto aus der Fahrbereitschaft geholt. Einen eigenen Wagen besaß sie nicht.

»Ich frage mich, was Maria in Hamburg gemacht hat«, murmelte Vera Gruner vor sich hin, während das Taxi durch das Bahnhofsviertel St. Georg Richtung Norden rollte.

»Ja, das wüsste ich auch gern«, sagte Heike. »Aber wir werden es herausfinden.«

»Ist es denn üblich, dass vermisste Personen nach so langer Zeit noch wieder gefunden werden, Frau Kommissarin?«

»Eigentlich nicht. Die meisten Vermissten können in den ersten 48 Stunden nach ihrem Verschwinden wieder gefunden werden – lebend oder leider tot. Je länger das Verschwinden zurückliegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Person noch einmal auftaucht. Aber ich bin keine Expertin für Vermisstenangelegenheiten, Frau Gruner. Ich arbeite bei der Sonderkommission Mord.«

»Ach ja. Es klingt seltsam, Frau Stein. Aber irgendwie kann ich immer noch nicht glauben, dass meine kleine Schwester getötet wurde. Ich meine, für tot gehalten habe ich sie schon in den letzten Jahren. Weil sie sich ja nun überhaupt nicht mehr gemeldet hat. Aber ich hatte eigentlich eher an einen Unfall geglaubt ... oder vielleicht habe ich auch gar nichts geglaubt.«

»Noch wissen wir nicht, ob die Tote wirklich Ihre Schwester ist«, erinnerte Heike. Vera Gruner nickte nur. Die Chefsekretärin fühlte sich offenbar gar nicht wohl in ihrer Haut.

Bald darauf erreichte das Taxi das Universitätskrankenhaus Eppendorf. Heike bezahlte den Fahrer und ging mit Vera Gruner im Schlepptau hinüber zum Leichenschauhaus. Sie hatte den Besuch bereits telefonisch angemeldet.

Die Leichenhalle war meist ein Schock für Menschen, die nicht öfter dort zu tun hatten. Dabei wirkten die Räumlichkeiten nicht gruselig. Sie waren eher von einer völlig neutralen Sachlichkeit. Heike fühlte sich manchmal an ein altertümliches Schwimmbad erinnert, wenn sie dorthin ging. Die Wände waren gefliest, und es roch nach starken Desinfektionsmitteln.

Ein Mann in einem weißen Kittel empfing die beiden Frauen.

»Guten Morgen, Frau Stein.« Er begrüßte Heike, nickte aber auch Vera Gruner zu. »Heute ist eine Identifizierung fällig, nicht wahr?«

»So ist es, Herr Wolter.«

»Dann wollen wir mal.«

Wolter blickte auf eine Liste, die er an einem Clipboard befestigt bei sich trug. Er führte die Besucherinnen in einen Raum, in dessen Wände stählerne Schubfächer eingelassen waren. Er zog eines davon heraus.

»Nummer 10 D – bitte sehr!«

Die Stahlschublade war groß genug, dass ein menschlicher Körper darin Platz fand. Ein solcher lag auch in dem nun herausgezogenen Schubfach.

»Können wir mit der Identifizierung beginnen, Frau Gruner?«, fragte Heike. Die Frau aus München nickte nur. Sie war sehr blass geworden. Aber vielleicht lag das nur an dem kalt-brutalen Neonlicht, das auch der Haut eines lebenden Menschen einen kalkweißen Farbton verlieh.

Herr Wolter hob das Laken, mit dem die Tote bedeckt war, etwas an. Das Gesicht lag nun frei.

»Nehmen Sie sich Zeit, Frau Gruner«, sagte Heike. »Wir haben es nicht eilig. Sie müssen hundertprozentig sicher sein, verstehen Sie?«

Die Besucherin aus München nickte wieder. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Antlitz der Toten abwenden. Die Familienähnlichkeit zwischen der lebenden und der toten Frau war wirklich nicht zu übersehen. Aber trotzdem brauchte Heike natürlich die offizielle Aussage der Schwester.

»Sie ist es«, brachte Vera schließlich mit tonloser Stimme hervor. »Diese Leiche war meine Schwester Maria Gruner.«

»Das wäre dann alles, Herr Wolter«, sagte Heike zu dem Bediensteten. Sie führte Vera schnell hinaus, denn die Kriminalistin ahnte, dass es der Schwester des Opfers nicht gerade gut ging. Und so war es auch.

Kaum hatten sie das Leichenschauhaus verlassen, als auch schon die Tränen über Veras Wangen liefen. Von der coolen Fassade der Chefsekretärin war einstweilen nichts mehr zu sehen.

»Bringen Sie mich weg von hier«, flüsterte Vera.

Heike überlegte fieberhaft. Wohin mit der Frau, von der sie ja auch noch eine Zeugenaussage brauchte? Ins Präsidium? Nein, die Verhörräume waren kaum anheimelnder als die Leichenhalle, wenn auch nicht so kalt. In ein Café? Sicher, aber konnte man da in Ruhe reden?

»Wir fahren zu mir nach Hause, wenn es Ihnen recht ist«, sagte Heike. »Es ist nicht weit.«

Vera nickte nur teilnahmslos. Heike verfrachtete sie in eines der Taxis, von denen zu jeder Tages- und Nachtzeit genügend vor dem Krankenhaus standen.

»Zur Isestraße, bitte.«

Der Fahrer knüppelte seinen Wagen schlecht gelaunt vorwärts, denn an der Fahrt vom UKH Eppendorf zur ebenfalls in Eppendorf befindlichen Isestraße konnte er sich keine goldene Nase verdienen. Die Taxiuhr zeigte weniger als zehn Euro, als sie am Ziel angelangt waren.

Heike gab ihm ein gutes Trinkgeld.

In ihrer Wohnung platzierte sie Vera zunächst auf dem Sofa. Dann eilte sie in die Küche.

»Ich mache uns Kaffee, wenn es Ihnen recht ist.«

»Mir ist alles recht, Frau Kommissarin.« Vera trocknete ihre Tränen. »Haben Sie vielleicht für mich auch etwas Stärkeres?«

»Ich kann Ihnen nur Cognac anbieten.«

»Ja, danke.«

Heike holte die Flasche aus ihrer Hausbar und goss etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in einen Schwenker, den sie Vera reichte.

Die Schwester des Opfers nahm einen großen Schluck. Danach kehrte etwas Farbe in ihre Wangen zurück. Bald darauf war die Kaffeemaschine durchgelaufen. Die Hauptkommissarin goss für ihren Gast und für sich jeweils einen Becher voll.

»Milch, Zucker?«, rief sie aus der Küche herüber.

»Gar nichts, danke.«

Als Heike mit dem Kaffee ins Wohnzimmer kam, hatte Vera den Cognacschwenker leer getrunken. Die Kriminalistin bot ihr keinen weiteren an. Schließlich hatte sie keine Lust, eine beschwipste Zeugin zu befragen.

Vera schaute sich um.

»Nett haben Sie es hier, Frau Stein. Gemütlich. Sie leben allein, nicht wahr?«

»So ist es«, erwiderte Heike.

»Ich ebenfalls. Wenn man beruflich stark eingespannt ist, bleibt nicht so viel Zeit für Männer, nicht wahr? Ich denke mir, dass Sie auch eine Menge Stress haben ...«

»Es geht«, erwiderte Heike. »Aber ich wollte nicht über mich sprechen.«

»Nein, natürlich nicht.« Vera Gruner nahm einen Schluck Kaffee. »Sie wollen alles über meine Schwester wissen, nicht wahr? Nun, das ist ein Punkt, wo wir anfangen können. Sie und ich sind beruflich sehr engagiert. Maria war das gar nicht. Für sie gab es keine andere Perspektive als Jobben.«

»Wie meinen Sie das, Frau Gruner? War sie – weniger begabt?«

Die Chefsekretärin lachte ohne Humor.

»Sie meinen lernschwach oder wie man das nennt? Nein, keinesfalls. Sie war auch nicht dumm, falls der Eindruck entstanden sein sollte. Maria hatte nur einfach keine Lust, sich festzulegen. Eine Berufsausbildung? Daran hatte sie nie auch nur im Traum gedacht, obwohl meine Eltern es natürlich gerne gesehen hätten. Immerhin hat sie den Realschulabschluss gemacht. Aber danach? Immer nur Jobs, Jobs, Jobs. In einer Glühbirnenfabrik, in den Biergärten, als Fahrradkurierin – ich glaube, vor ihrem Verschwinden hat sie mehr als ein Dutzend Jobs gehabt.«

»Wie kam es damals überhaupt dazu, dass Sie Ihre Schwester als vermisst gemeldet haben?«

Veras Miene wurde von einem Moment zum nächsten verschlossen. Heike spürte, dass sie nun etwas verschweigen wollte.

»Es gab keinen Grund, Frau Kommissarin. Sie ist gegangen, von einem Tag auf den anderen. Vermutlich war es ihr unbändiger Freiheitsdrang, was weiß ich. Sie hat es ja in keinem Job lange ausgehalten. Vielleicht war es nun plötzlich mit unserem Elternhaus genauso.«

»Könnte es nicht auch anders gewesen sein?«, fragte Heike.

»Wie meinen Sie das?« Vera Gruner blinzelte irritiert.

»Aus meinen Unterlagen geht hervor, dass Maria Ihre jüngere Schwester war. Es ist gewiss nicht leicht, im Schatten einer älteren und erfolgreichen Schwester zu stehen. Ich stelle mir vor, dass Sie auch schon vor über zehn Jahren so waren wie heute – engagiert, professionell, kompetent. Ich weiß, dass eine Chefsekretärin keine simple Tippse ist. Eher so eine Art Neben-Chefin. Könnte es nicht sein, dass Maria sich chronisch unterlegen gefühlt hat?«

Vera Gruner wurde wütend, während Heike redete. Das konnte man direkt sehen.

»Sind Sie fertig, Frau Kommissarin?«, blaffte die Besucherin aus München. »Wenn man Sie hört, könnte man meinen, ich hätte meine Schwester aus dem Haus getrieben. Aber so war es nicht!«

»Dann sagen Sie mir, wie es war.« Heike beugte sich gespannt vor.

»Also gut. Früher oder später hätten Sie es sowieso erfahren. Die Polizei findet doch immer alles heraus, nicht wahr? Meine Schwester war eine Diebin!«

»Eine Diebin?«, echote Heike. Sie wusste nicht, womit sie gerechnet hatte. Aber mit dieser Eröffnung nicht unbedingt.

»Ja, Maria hat gestohlen wie eine Elster. In Geschäften und bei Privatleuten. Aber sie wurde nie angezeigt.«

»Wurde sie nicht ertappt?«

»Nur wenige Male, Frau Kommissarin. Und bei diesen Gelegenheiten ist es ihr immer gelungen, die Bestohlenen von einer Anzeige abzuhalten. Mal musste sie nur mit ihren Wimpern klimpern, mal hat unser Vater Schweigegeld bezahlt.«

»Und Sie vermuten, dass Marias Verschwinden mit einem Diebstahl zusammenhängt?«

Vera zuckte mit den Schultern.

»Es wäre zumindest wahrscheinlich. Ich dachte an eine größere Sache, etwas wirklich Wertvolles. Das würde nämlich erklären, warum sie überhaupt keinen Kontakt zu uns aufgenommen hat. Weil sie nämlich damit rechnete, dass wir von der Polizei beobachtet wurden.«

»Aber das wurden Sie nicht?«

»Nein, Frau Kommissarin. Wir haben niemals mit der Polizei zu tun gehabt. Außer natürlich damals, als meine Eltern und ich die Vermisstenanzeige aufgegeben haben. Und eben jetzt, am heutigen Tag.«

Sie schnaubte selbstironisch durch die Nase und trank von ihrem Kaffee.

Heike musste zugeben, dass Veras Schlussfolgerung plausibel war. Maria hatte etwas Wertvolles gestohlen. Daraufhin wurde ihr in München der Boden unter den Füßen zu heiß.

Aber wieso war sie danach mehr als zehn Jahre verschwunden geblieben? Hatte sie so lange gebraucht, um die Beute zu verprassen? Und warum wurde sie ermordet?

Heike merkte, dass die offenen Fragen keineswegs weniger wurden. Sie überlegte einen Moment, bevor sie sich wieder an die Schwester der Toten wandte.

»Es gab also damals nicht den geringsten Hinweis, wohin Maria gegangen sein konnte?«

Vera Gruner schüttelte energisch den Kopf.

»Nicht den geringsten. Dafür aber umso mehr Vermutungen, eine wilder als die andere. Manche ihrer Bekannten glaubten, sie sei in einen indischen Ashram gegangen, so eine Guru-Kultstätte. Andere waren der Meinung, Maria hätte einen einfachen Bergbauern aus dem Allgäu kennen gelernt und wäre ihm auf seinen Einöd-Hof gefolgt. Dann habe ich auch mal gehört, sie wäre in ein Bordell nach Nordafrika verschleppt worden. – Aber für mich waren das alles Fantasien von Spinnern. Ich glaube auch nicht, dass beispielsweise die indische Polizei jemals nach Maria gesucht hat.«

»Das kommt auf den Einzelfall an«, erklärte Heike. »Es muss ein begründeter Verdacht bestehen, zum Beispiel der Kauf eines Flugtickets nach Indien. Dann wird sich über Interpol auch die dortige Polizei an der Suche beteiligen.«

»Ach, so ist das.« Vera Gruner klang nicht sehr interessiert. »Jedenfalls gab es damals keinerlei Anhaltspunkte für irgendeinen möglichen Aufenthaltsort. Und jetzt, nach über zehn Jahren, habe ich meine kleine Schwester doch noch wieder gefunden. Im Hamburger Leichenschauhaus ...«

Der jungen Frau kamen erneut die Tränen. Heike wartete geduldig, bis Vera wieder sprechen konnte.

»Sie müssen entschuldigen, Frau Stein«, schniefte sie. »Ich bin sonst selten so außer mir. Maria und ich ... wir haben uns nicht so nahe gestanden, verstehen Sie? Haben Sie Geschwister?«

Heike schüttelte den Kopf.

»Dann können Sie das nicht so gut nachvollziehen. Ich war immer die Große, schon als Kind. Da machen drei Jahre Altersunterschied viel aus. Ich musste immer vernünftig sein, immer auf meine kleine Schwester Rücksicht nehmen. Und Maria? Sie war Mamas und Papas Sonnenschein, der kleine Liebling, dem man alles durchgehen ließ.«

»Aber Sie haben sich schließlich die Anerkennung errungen«, meinte Heike. »Und zwar durch Leistung, oder?«

Vera verzog den Mund.

»Sicher, ich bin erfolgreich. Und Maria war – zumindest beruflich gesehen – eine Versagerin. Und dann verschwand sie und blieb verschwunden. Ich musste den Scherbenhaufen zusammenkehren, meine Eltern trösten und alles wieder ins Lot bringen.«

»Haben Sie Maria dafür gehasst?«, fragte Heike unverblümt.

»Puh, Sie gehen aber ran. Vermutlich müssen Sie das, wenn Sie bei der Kripo arbeiten, Frau Stein. – Ja, ich habe Maria gehasst, zumindest zeitweise. Weil sie immer nur Ärger gemacht hat. – Aber nun ist sie tot, und ich empfinde nur noch Leere. Und auch eine gewisse Beruhigung, so pervers das auch klingt. Ich weiß nun endlich, woran ich bin.«

»Das ist nicht pervers«, stellte Heike richtig. »Viele Angehörige von Vermissten sind geradezu erleichtert, wenn sie die Todesnachricht bekommen. Die Ungewissheit ist offenbar schlimmer als die unabänderliche Tatsache. Denn dann kann man anfangen, wirklich zu trauern.«

Heike stellte Vera Gruner noch ein paar Fragen. Aber es war offensichtlich, dass die Schwester der Toten nicht mehr wusste. Sie hatte Maria seit über zehn Jahren nicht gesehen. Und Heike hatte bisher keinen Grund, an dieser Aussage zu zweifeln.

»Das wäre alles für den Moment«, sagte die Kriminalistin schließlich. »Sie müssen noch ein Protokoll Ihrer Aussagen unterschreiben. Aber das können Sie auch in München machen. Ein Beamter der dortigen Kripo wird es Ihnen bringen. Die Leiche Ihrer Schwester muss obduziert werden, das ist Vorschrift bei Opfern von Gewaltverbrechen. Danach kann der Körper selbstverständlich nach München überstellt werden.«

»Ich werde einen Beerdigungsunternehmer beauftragen«, murmelte Vera, »der kann sich dann an Sie wenden. Ich werde das organisieren, wie ich immer alles organisiert habe. – Was meinen Sie, Frau Stein? Werden Sie Marias Mörder fassen?«

»Selbstverständlich meine ich das«, sagte Heike voller Überzeugung. »Wenn ich das nicht tun würde, wäre meine Arbeit sinnlos.«

Vera nickte nur. Sie wirkte plötzlich sehr erschöpft. Heike rief ihr ein Taxi, das sie zum Hauptbahnhof bringen sollte. Die Chefsekretärin hatte vor, mit dem nächsten Zug nach München zurückzukehren. Heike schätzte, dass Vera schon am nächsten Tag wieder im Büro hinter ihrem Schreibtisch sitzen würde.

Eine starke Frau.

5


Heike ging ihre Aufzeichnungen durch. Immerhin hatte sie nun den Namen und die Identität des Opfers. Nun würde Dr. Magnussen es nicht mehr so leicht haben, diese »Angelegenheit« als unlösbaren Fall zu den Akten zu legen. Allerdings war auch nicht zu erwarten, dass sich seine Laune dadurch besserte.

Heike seufzte, packte ihre Siebensachen und machte sich auf den Weg ins Präsidium. Dort bekam sie sofort einen Anpfiff von ihrem Chef.

»Jetzt erscheinen Sie erst zur Arbeit, Frau Stein? Wissen Sie, wie spät es ist?«

»Halb elf«, entgegnete Heike ungerührt. »Ich war bereits im Leichenschauhaus und habe die bisher unbekannte Tote positiv identifizieren lassen. Außerdem habe ich die Schwester des Mordopfers eingehend vernommen.«

Dr. Magnussen funkelte sie immer noch Unheil verkündend an. Da fiel Heike plötzlich eine List ein, wie sie den Kriminaloberrat besänftigen konnte.

»Ich fürchte, dieser Fall wird noch große Kreise ziehen, Herr Kriminaloberrat. Es sind internationale Verstrickungen denkbar. Wenn wir Pech haben, werden sich die Medien, vor allem das Fernsehen, bei den Ermittlungen an unsere Hacken hängen ...«

Dr. Magnussen fiel fast die Tabakspfeife aus dem Mund.

»Das Fernsehen? Meinen Sie wirklich?«

»Ich habe diese Sorge, Herr Kriminaloberrat.«

Während sie diesen Satz aussprach, tat Heike so unschuldig wie eine Klosternovizin beim Morgengebet. Doch sie wusste, dass sie ihren Vorgesetzten nun am Angelhaken hatte.

Der Leiter der Sonderkommission Mord war nämlich beinahe süchtig nach Fernsehauftritten. Wann immer Reporter nach dem Ermittlungsstand bei aufregenden Fällen oder nach Einschätzungen zur Kriminalität allgemein fragten, drängte sich Dr. Magnussen in den Vordergrund.

Tatendurstig streckte Dr. Magnussen das Kinn vor.

»Wir müssen die Flucht nach vorn antreten, Frau Stein! Um die Fernsehleute kümmere ich mich. Ich halte Ihnen den Rücken frei. Informieren Sie mich nur über den neuesten Ermittlungsstand, damit ich weiß, was ich im Fernsehinterview sagen kann und was nicht.«

Heikes Vorgesetzter sah sich offenbar bereits vor der Kamera in den Lokstedter NDR-Studios sitzen. Eine Vorstellung, die seine Stimmung gewaltig aufmöbelte.

»Selbstverständlich, Herr Kriminaloberrat«, sagte Heike und musste sich ein breites Grinsen verkneifen. Dr. Magnussen winkte ihr noch huldvoll zu und eilte dann weiter. Vermutlich würde er jetzt sofort seine Fernseh-Kontaktleute anrufen.

Von dieser Seite hatte Heike also einstweilen nichts zu befürchten. Auf ihrem Schreibtisch fand sie einen Stapel von handschriftlichen Notizen ihrer Kollegen. Jede einzelne davon bezog sich auf verschiedene Anrufer, die sich schon am Morgen wegen der Presseveröffentlichungen gemeldet hatten. Es war der Tag, an dem das Foto von Maria Gruner in den Hamburger Zeitungen abgedruckt wurde. Verbunden mit der Frage, wer diese Frau kennen würde.

Heike ging kurz die Notizen durch. Auf den ersten Blick war nichts Brauchbares dabei. Aber natürlich würde sie die Leute trotzdem alle zurückrufen. Sie konnte es sich nicht leisten, auch nur den kleinsten Hinweis zu vernachlässigen.

Ihr Telefon klingelte. Heike bedauerte, dass sie sich noch keinen Kaffee geholt hatte. Nun war es zu spät. Sie nahm den Hörer ab.

»Stein, Sonderkommission Mord.«

»H ... hallo, mein Name ist Nadine Borchert.« Eine

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4327-8

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