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Amok in Amsterdam - 1

 

»Sie haben Ihre Hand unter meinen BH-Träger geschoben.«

Kriminalkommissarin Bea Ahlers fand, dass ihre eigene Stimme blechern klang.

Kein Wunder, wenn man gefesselt im Kofferraum eines alten Ford Fiesta liegt, dachte sie.

»Ich bedaure unendlich«, gab Inspektor Luc Morel zurück. »Leider macht die Enge es mir unmöglich, Ihnen unangenehme Berührungen zu ersparen.«

»Schon gut, ich werde darüber hinwegkommen«, sagte sie. Und verkniff sich die Frage, ob Morel einen Plan verfolgte.

Das war vermutlich nicht der Fall, obwohl er es im Gegensatz zu ihr geschafft hatte, seine Handfesseln loszuwerden. Den Trick musste er Bea unbedingt verraten, falls die beiden Ermittler die nächsten Minuten überlebten.

Und danach sah es momentan überhaupt nicht aus.

Bea presste die Lippen aufeinander und atmete flach, denn in dem Kofferraum stank es nach Benzin, Motoröl und einer alten Gummimatte. Morel und sie selbst waren wie zwei Anfänger in die Falle gelaufen. Sie hatten sich entwaffnen und fesseln lassen, da ein Kampf gegen die Übermacht von Maskierten Selbstmord gewesen wäre.

Trotz der Sturmhauben über den Visagen ihrer Gegner wusste die Kommissarin genau, mit wem sie es zu tun hatte.

Niederländer verständigen sich nämlich nicht auf Lettisch.

Also waren es Lacis‘ Männer gewesen, die Morel und sie selbst in diesen Kofferraum gezwungen hatten. Und nun rumpelte das Auto durch den dichten Amsterdamer Stadtverkehr. Zumindest vermutete Bea, dass sie sich noch auf Stadtgebiet befanden. Sie hörte die Hupen anderer Autofahrer, das Klingeln der Fahrräder, laute Rufe von Radkurieren auf Kamikaze-Tour.

Sogar die Glocken einer Kirche waren zu hören.

Bea kam sich vor wie auf ihrer eigenen Beerdigung. So muss es sein, wenn man in einem Sarg liegt, dachte sie. Theoretisch hatte die Kommissarin sich mit dem Gedanken angefreundet, dass ihr Dienst bei Europol um ein Vielfaches gefährlicher sein würde als beim deutschen Bundeskriminalamt.

Aber dass sie gleich in ihrer ersten Arbeitswoche gemeinsam mit einem französischen Kollegen von der lettischen Mafia ermordet werden sollte, fand sie schon heftig. Und Bea fragte sich, warum ihre Todesangst nicht größer war.

Womöglich fand sie ihre Situation einfach zu absurd.

Konnte Lacis wirklich so wahnsinnig sein, zwei Europol-Spezialisten kidnappen und ermorden zu lassen? Was bezweckte er damit? Sie hatte den Strippenzieher des organisierten Verbrechens bisher nicht für dumm gehalten. Seine Strafakte war dicker als das Telefonbuch einer Kleinstadt. Und doch gab es kaum eine Verurteilung, weil Lacis seine Hände stets in Unschuld zu waschen verstand.

Während das Auto seine Fahrt ins Unbekannte fortsetzte, hatte ihr Kollege seine Hand wieder unter ihrem Oberteil weggezogen. Bea ging sowieso nicht davon aus, dass er sie ernsthaft anbaggern wollte.

Erstens hatte Morel sie bisher stets wie ein rohes Ei behandelt, mit distanzierter Freundlichkeit. Und zweitens würden sie beide wohl nicht mehr lange genug leben, um eine romantische Beziehung zu beginnen. Oder auch einfach nur Sex zu haben.

Bea staunte über sich selbst und ihre Gedanken. Verdrängte sie schlicht und einfach, dass ihr und ihrem Kollegen ein grässliches Ende bevorstand? Anstatt zu grübeln hätte sie lieber ihre Hände von den Fesseln befreit. Doch es war sinnlos, die Kabelbinder um ihre Gelenke saßen bombenfest.

Wie Morel es wohl geschafft hatte, seine Hand freizubekommen?

Bevor sie ihn fragen konnte, begann er selbst zu sprechen.

»Wenn der Kofferraumdeckel gleich geöffnet wird, tun wir Folgendes, Frau Ahlers: Ich werfe den Schraubenschlüssel, den ich gerade gefunden habe, einem der Maskierten ins Gesicht. Außerdem werde ich versuchen, seine Waffe zu schnappen und möglichst viele von unseren Widersachern zu neutralisieren. Selbst falls es mir nicht gelingt, dürften die Kriminellen mit mir beschäftigt sein. Die Gelegenheit nutzen Sie bitte, um wegzulaufen und Verstärkung anzufordern.«

»Woher haben Sie den Schraubenschlüssel?«

Kaum hatte Bea diese Frage gestellt, als ihr bewusst wurde, wie dumm sie war. Wo sollte der Franzose das Werkzeug wohl gefunden haben? Im Inneren eines engen Kofferraums gab es nicht allzu viele Möglichkeiten.

»Ich habe das Werkzeug in die Finger bekommen, als ich unsere Umgebung abgetastet habe«, erklärte Morel geduldig. »Form und Material legen die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um einen Schraubenschlüssel handelt.«

Der Inspektor drückte sich stets so gewählt aus, als ob er eine Vorlesung an der Polizeiakademie halten würde. Offenbar hatte er stärkere Nerven als Bea selbst. Und sie musste zugeben, dass sein spontaner Plan zumindest teilweise funktionieren konnte. Dennoch musste sie ihm in die Parade fahren.

»Wir können Ihr Vorhaben gern in die Tat umsetzen, Morel. Aber was tun wir, wenn die Dreckskerle das Auto mit uns im Kofferraum einfach in einem Gewässer versenken? Davon gibt es hier in Holland ja genug.«

»Daran habe ich auch gedacht. In dem Fall würde ich versuchen, mit Hilfe des Schraubenschlüssels den Kofferraumdeckel zu öffnen. Doch ich gehe fest davon aus, dass die Delinquenten uns nicht sofort töten werden.«

»Weshalb nicht?«

»Sie werden gewiss versuchen, uns mit allen Mitteln den aktuellen Ermittlungsstand von Europol zu entlocken.«

Bea musste ihrem Kollegen innerlich recht geben. Und sie hatte ganz gewiss nicht vor, sich von skrupellosen Mafiosi foltern zu lassen. Da war es besser, mit fliegenden Fahnen unterzugehen.

Während die Polizisten miteinander sprachen, verließ der Ford Fiesta allmählich das Amsterdamer Stadtgebiet. Das konnten sie daran erkennen, dass der Wagen sich seltener in die Kurven legte und kaum noch an Ampeln stoppte. Bea und Morel verzichteten bewusst darauf, durch laute Hilferufe die Aufmerksamkeit von Passanten zu wecken.

Die Lacis Gruppe war für ihre Skrupellosigkeit berüchtigt. Die Gangster hatten gewiss keine Hemmungen, sich an harmlosen Zivilisten zu vergreifen. Daher musste es unbedingt verhindert werden, dass Unbeteiligte mit hineingezogen wurden.

Und obwohl sie mit Morel noch nicht wirklich warm geworden war, konnte Bea sich in dieser Situation keinen besseren Kollegen an ihrer Seite wünschen. Wie hatten die Verbrecher nur so leichtsinnig sein können, den Schraubenschlüssel in dem Kofferraum zu vergessen? Womöglich hatte das Werkzeug unter der Gummimatte gelegen. Oder Lacis‘ Leute waren davon ausgegangen, dass die Ermittler mit ihren gefesselten Händen sowieso keine Gefahr mehr darstellten.

Da werdet ihr euch getäuscht haben, dachte Bea grimmig. Sie konnte sich zumindest mit Karatetritten ihrer Haut wehren. Und da die Kommissarin Jeans und Turnschuhe trug, würde sie auch entsprechend schnell laufen können. Der Gedanke, dass Morel sich für sie opfern wollte, gefiel ihr überhaupt nicht. Doch nach Lage der Dinge würde zumindest einer von ihnen überleben, um die Ermittlungen weiterzuführen.

Beas Gedankenfaden riss ab, denn der Ford Fiesta wurde nun langsamer. Das Auto fuhr auch nicht mehr auf Asphalt, sondern schien über einen Feldweg zu rumpeln.

Und dann hielt der Wagen an.

Beas Handflächen waren feucht vor Aufregung. Sie spannte ihre Muskeln an, um gleich wie ein Springteufel aus dem Kofferraum schnellen zu können.

Nach der tintenschwarzen Finsternis in dem geschlossenen Kasten blendete das Sonnenlicht. Trotzdem wunderte die Europol-Ermittlerin sich über die vier Männer, die hinter dem Ford Fiesta standen.

Sie trugen nämlich niederländische Polizeiuniformen. Und sie lachten und applaudierten, als sie Bea und Morel sahen.

2


»Kann mir jemand verraten, was dieser Affenzirkus bedeuten soll?«, fauchte Bea auf Englisch, während einer der Polizeikollegen sie von dem Kabelbinder befreite. Die Männer gehörten zu Dienst Speciale Interventies (DSI), einer Elitetruppe der niederländischen Polizei. Der Einsatzleiter stellte sich als Hoofdcommissaris Eric de Bruin vor.

»Wir wollten uns vergewissern, dass Sie einer Konfrontation mit Lacis gewachsen sind«, sagte er. De Bruin war ein großer breitschultriger Mann mit blondem Stoppelhaarschnitt. Falls er die Aktion bedauerte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Und deshalb kidnappen Sie zwei Europol-Beamte am hellichten Tag in Amsterdam?«, fragte Morel. Seine Stimme drückte nur ein leichtes Befremden aus, während Bea innerlich vor Wut kochte.

»Weiß Akkerman davon?«, schrie sie de Bruin an.

Aldus Akkerman war Beas und Morels direkter Vorgesetzter bei der Europol.

»Commissioner Akkerman wird in diesen Minuten unterrichtet«, erwiderte der Holländer. »Wir sind angenehm überrascht davon, dass Sie den Schraubenschlüssel gefunden haben. Allerdings wäre es besser gewesen, wenn Sie beide sich von dem Kabelbinder hätten befreien können.«

Für einen Moment schämte Bea sich wirklich dafür, dass sie die Fessel nicht losgeworden war. Doch dann gewann ihr Zorn wieder Überhand.

»Das haben Sie ja prima eingefädelt!«, grollte die Ermittlerin. »Sie müssen Ihren Gorillas bloß noch beibringen, Lettisch ohne holländischen Akzent zu sprechen!«

Sie deutete auf die DSI-Männer, die ihren Temperamentsausbruch grinsend über sich ergehen ließen. In Wirklichkeit hatte Bea keineswegs bemerkt, dass es sich bei den Angreifern um verkleidete Polizisten gehandelt hatte. Die Männer hatten sich offenbar in der Zwischenzeit umgezogen. Bei dem Kidnapping hatten sie Sweatshirts und Jeans getragen, außerdem Sturmhauben. Doch zumindest einer von ihnen hatte ein so aufdringliches Rasierwasser benutzt, dass Bea ihn am Geruch wiedererkannte.

Sie ärgerte sich am meisten über sich selbst. Wie eine Anfängerin war sie in die Falle getappt. Und der oberschlaue und analytische Morel hatte sich keinen Deut besser angestellt!

»Wir wollten Ihnen nur plastisch vor Augen führen, womit Sie rechnen müssen, wenn Sie es mit Lacis aufnehmen«, erklärte de Bruin geduldig. »Wir sind nämlich dankbar dafür, dass Europol sich nun in die Ermittlungen einschaltet.«

Eine seltsame Art, das zu zeigen, dachte Bea.

Lacis und seine Leute hatten seit einem halben Jahr damit begonnen, ihre Aktivitäten in Sachen Menschenhandel und Waffenschmuggel systematisch auf ganz Mittel- und Nordeuropa auszudehnen. Amsterdam diente den Kriminellen dabei als Dreh- und Angelpunkt. Viktor Lacis residierte inzwischen sogar persönlich in der niederländischen Hauptstadt.

Deshalb sind Morel und ich jetzt hier, dachte Bea grimmig. Und außerdem, um uns vor den Holländern bis auf die Knochen zu blamieren.

Der Franzose schien zu spüren, was in ihr vorging. Konnte er etwa Gedanken lesen? Oder war es so offensichtlich, was in ihr vorging. Er warf ihr einen Blick zu, als ob er sagen wollte: Gib dir bloß keine Blöße!

»Ich schlage vor, dass wir zum Polizeipräsidium zurückkehren und die nächsten Aktionen besprechen«, sagte de Bruin. Bea unterdrückte eine sarkastische Bemerkung und nickte einfach nur. Es brachte nichts, hier als Zimtzicke aufzutreten. Die niederländischen Kollegen hatten das gefakte Kidnapping womöglich in bester Absicht durchgezogen, doch die Kommissarin fühlte sich einfach nur gedemütigt. Und sie war sicher, dass es Morel genauso ging, obwohl er sein übliches Pokerface aufgesetzt hatte.

Die Holländer nahmen die beiden Europol-Ermittler einfach nicht für voll. Womöglich spielte auch gekränkte Eitelkeit eine Rolle. So etwas geschah öfter, wenn eine lokale Polizeibehörde sich von Europol übergangen oder bevormundet fühlte.

In der Nähe war ein neutraler schwarzer Van mit getönten Scheiben geparkt. Der Ford Fiesta stand auf einem Feldweg neben einem Kanal, der eine grüne flache Landschaft durchschnitt. Am Horizont waren Windmühlen zu sehen, wodurch die Postkartenidylle fast perfekt wurde.

Die DSI-Beamten verteilten sich auf den Kleinbus und den Ford, Bea und Morel nahmen hinten im Van Platz. Dann ging die Fahrt zurück nach Amsterdam.

»Sagen Sie es schon«, meinte die Kommissarin nach einigen Minuten des Schweigens.

»Was meinen Sie?«

»Sagen Sie, dass wir wie Anfänger in die Pfanne gehauen wurden.«

»Das sehe ich nicht so.«

»Wenn die Angreifer echt gewesen wären, würden wir schon nicht mehr leben!«

»Das können Sie nicht mit absoluter Sicherheit sagen, Frau Ahlers. Wir sollten den holländischen Kollegen dankbar sein, weil sie uns die Gefährlichkeit unseres Auftrags vor Augen geführt haben.«

»Ja, eine Ermittlung gegen die lettische Mafia ist zweifellos riskanter als Aktenabstauben bei der Europol!«, wütete Bea. Sie wusste nicht viel über Morels polizeiliche Laufbahn. Nach ihrem Kenntnisstand war er allerdings ein typischer Innendienstler, ein Paragrafenhengst und Stubenhocker. Darum hatte er sie mit seiner geplanten Schraubenschlüssel-Attacke ja auch so erstaunt.

»Wir werden der hiesigen Polizei demonstrieren, was in uns steckt«, gab Morel ruhig zurück.

Wie er das anstellen wollte, ließ er allerdings zunächst offen. Bea warf ihm einen misstrauischen Seitenblick zu. Womöglich hatte er einen besseren Draht zu Akkerman als sie selbst. Verfügte der Franzose über Informationen, die er ihr bisher verschwiegen hatte? Aber sie waren doch aufeinander angewiesen!

»Reden Sie vom Djakarta-Projekt, Morel?«

»Wir wissen vom Djakarta-Projekt bisher noch nicht einmal, ob es wirklich existiert.«

Das stimmte natürlich. Doch da war ein Unterton in seiner Stimme, der Bea zweifeln ließ. Sie wollte nicht auf dem Thema herumreiten, um nicht hysterisch oder paranoid zu erscheinen. Stattdessen sprach sie etwas anderes an.

»Wie konnten Sie eigentlich Ihre Fessel loswerden?«

»Ich habe da mal so einen Lehrgang mitgemacht.«

»Zeigen Sie mir den Trick bei Gelegenheit einmal?«

»Selbstverständlich, Frau Ahlers. Wir sind doch jetzt ein Team.«

Und damit hatte er recht. Bea konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Momentan war Morel nicht nur der Einzige, dem sie vertrauen konnte. Außerdem musste sie mit ihm zurechtkommen. Das Gespräch schlief ein, und schon wenig später fuhr der Kleinbus wieder auf Amsterdamer Stadtgebiet.

Das Polizeipräsidium an den Burgwallen erinnerte Bea an einen futuristischen Ozeandampfer aus Glas. De Bruin lud zu einer Besprechung in der Abteilung zur Bekämpfung organisierter Kriminalität. Im Konferenzraum erblickte Bea einige bekannte Gesichter, aber auch Polizisten, mit denen die Europol-Cops bisher noch nichts zu tun gehabt hatten.

Nachdem alle Platz nahmen und der scharf gebrannte holländische Kaffee serviert worden war, ergriff der Hoofdcommissaris das Wort:

»Die heutige Übung mit den Europol-Kollegen ist äußerst erfolgreich verlaufen ...«

Übung? Du meinst wohl: Demütigung! sagte Bea in Gedanken zu de Bruin. Dann versuchte sie, sich auf seine Ausführungen zu konzentrieren.

»Für diejenigen von euch, die noch nicht vollständig im Thema sind, will ich unsere Erkenntnisse zum Djakarta-Projekt noch einmal zusammenfassen. - Viktor Lacis hat angeblich einen neuen Weg gefunden, um osteuropäische Sexsklavinnen nach Amsterdam zu schleusen und von hier aus auf unterschiedliche Städte zu verteilen.«

Ein Ermittler, dessen Namen Bea noch nicht kannte, hob die Hand.

»Ja, bitte?«

De Bruin deutete auf ihn.

»Warum wird die Operation Djakarta-Projekt genannt?«

»Lacis hat zunächst versucht, die Frauen auf einer Yacht namens Djakarta hierher zu bringen«, begann de Bruin, doch Morel fiel ihm ins Wort.

»Man könnte diese ganze Geschichte auch als ein Ammenmärchen bezeichnen.«

Der Holländer kniff die Augen zusammen und warf dem französischen Ermittler einen harten Blick zu.

»Wie war das?«

Morel stand auf, damit ihn alle sehen konnten. Er ließ sich von der ihm entgegen schlagenden Feindseligkeit nicht aus der Ruhe bringen.

»Ich zähle nur die Fakten auf«, sagte Beas Dienstpartner. »Erstens gibt es keine Motoryacht mit dem Namen Djakarta und dem Heimathafen Portsmouth. Diese Information ist also schon mal falsch.«

»Es ist ein Kinderspiel, den Namen eines Schiffs zu ändern«, hielt de Bruin entgegen.

»Dann müsste aber eine Motoryacht mit mutmaßlichen Prostituierten an Bord in den Amsterdamer Hafen eingelaufen sein. Und ich will nicht hoffen, dass ein Wasserfahrzeug ohne eine offizielle Registrierungsnummer hier einen Liegeplatz bekommt.«

Bea ahnte, worauf ihr Kollege hinauswollte. Sie ergänzte: »Und die Information kam von einem drogenabhängigen Polizeispitzel, wenn ich alles richtig verstanden habe.«

De Bruin versuchte sichtlich, die Fassung zu wahren.

»Also behaupten Sie, dass wir einem Phantom nachjagen?«

Morel zuckte mit den Schultern.

»So weit würde ich nicht gehen. Aber es wäre gut zu wissen, ob die Djakarta überhaupt existiert. Ansonsten haben wir es nämlich mit einem Geisterschiff zu tun, so wie dem legendären Fliegenden Holländer

Daraufhin breitete sich eine unangenehme Stille aus. Nach einigen Augenblicken sagte jemand: »Willkommen in der Europäischen Union, wo Deutsche und Franzosen das Zepter schwingen.«

Die Person hatte leise gesprochen, aber laut genug für Beas Ohren. Sie wäre am liebsten aus der Haut gefahren. In diesem Moment klingelte de Bruins Smartphone. Er zog die Augenbrauen zusammen, nahm aber das Gespräch an. Der Hoofdcommissaris lauschte, sagte etwas auf Holländisch und steckte das Gerät wieder weg. Dann wandte er sich auf Englisch an die Europol-Ermittler.

»Es hat einen neuen Vorfall gegeben, bei dem Lacis der Drahtzieher sein dürfte.«


3

Viktor Lacis befand sich in einem Eetcafé unweit vom Rembrandtplein. Alle Tische waren besetzt, was in einer Touristenhochburg wie Amsterdam den Normalzustand darstellte. Die Kellnerinnen gaben ihr Bestes, um trotz der vielen Arbeit und den zahlreichen Gästen aus aller Welt freundlich und flink zu bleiben.

Doch eine Gruppe von Engländern, die unweit von Lacis in einer Ecke hockten, hatten sich auf die zuständige Bedienung eingeschossen. Je weiter der Alkoholpegel anstieg, desto unflätiger wurden sie.

Lacis zog die Augenbrauen zusammen. Es entging ihm nicht, dass die Kellnerin, die laut Namensschild Mareike hieß, mit den Tränen kämpfte. Jetzt warf auch noch einer der Briten sein Bierglas um, was die übrigen Kerle zu einem Begeisterungssturm anstachelte. Die Hälfte des Gerstensafts ergoß sich auf Mareikes Schürze.

Lacis erhob sich und strich sein Jackett glatt.

»Was haben Sie vor?«, fragte Juri. Der ehemalige russische Fallschirmjäger saß bei dem Balten, er war Lacis‘ Mann fürs Grobe.

Der Mafiaboss würdigte seinen Assistenten keiner Antwort. Er ging mit festen Schritten auf den Tisch der Engländer zu. Die Kerle glotzten ihn streitsüchtig an. Sie waren ausnahmslos jung, trugen Polohemden, die sich über ihren muskelbepackten Oberkörpern spannten.

Der magere sechzigjährige Lacis konnte sie mit seiner Statur nicht beeindrucken, daran änderte auch sein teurer Maßanzug nichts.

»Was willst du, Opa?«, sprach ihn ein Rothaariger an. »Willst du uns einen ausgeben?«

Der Lette schüttelte den Kopf.

»Ich möchte, dass Sie jetzt gehen. Und vorher werden Sie sich bei Mareike für Ihr Benehmen entschuldigen.«

Die Briten lachten ihn aus. Mit dieser ersten Reaktion hatte Lacis gerechnet. Sie warf ihn nicht aus der Bahn. Falls eine dieser Kanaillen auch nur den kleinen Finger gegen ihn hob, würde Juri Hackfleisch aus ihm machen. Doch Lacis ging davon aus, dass die Krawallbrüder ihr Verhalten schon sehr bald ändern würden. Er musste gar nichts sagen, um eine andere Reaktion zu erreichen.

Bisher hatte Lacis seine linke Hand in der Hosentasche gelassen. Nun zog er sie heraus. Sein dicker goldener Siegelring fiel sofort ins Auge.

Einer der Männer war besonders stark tätowiert. Seine verwüstete Visage wies ihn als einen erfahrenen Schläger aus. Der Lette wunderte sich nicht darüber, dass ausgerechnet dieser Kerl nun so bleich wurde wie eine Nonne, die einen schmutzigen Witz hört.

Der Tattoo-Brite hatte die Bedeutung des Rings erkannt.

Das Geschmeide verhieß nicht nur Tod, sondern auch Folter und Vernichtung der ganzen Familie.

Der Radaubruder konnte seinen Blick nicht von dem Schmuckstück abwenden.

»Verzeihen Sie, Sir«, sagte er kleinlaut.

Die anderen Kerle glotzten ihn an. Sie konnten nicht glauben, was sie gerade gehört hatten.

»Was ist los, Ken?«

»Bist du plötzlich zum Weichei geworden?«

Die Fragen drangen auf ihn ein. Ken ballte die Fäuste, wandte sich gegen seine Freunde.

»Haltet eure verdammten Mäuler! Ihr wisst nicht, was ihr tut. Wir haben uns wie die Schweine benommen. Jetzt bitten wir die Lady um Verzeihung, dann ist Rückzug angesagt. Ich erkläre euch alles später!«

Lacis fand es bemerkenswert, dass Ken trotz seines hohen Alkoholpegels noch genug Verstand hatte, nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen.

Die Angst ist doch die stärkste Antriebskraft des Menschen, philosophierte der Mafiaboss innerlich. Die anderen Säufer schienen nun kapiert zu haben, dass Ken ihnen gegenüber einen Wissensvorsprung hatte. Sie warfen dem Letten scheue Seitenblicke zu, während sie einer nach dem anderen die Kellnerin um Vergebung baten und dann wie eine geschlagene Armee aus dem Lokal trotteten. Zuvor hatten sie natürlich noch bezahlt.

Mareikes Stimme war ihre Verwirrung anzuhören, als sie sich nun an Lacis wandte.

»Ich danke Ihnen, Mijnheer. Es kommt nicht oft vor, dass jemand für mich eintritt.«

Lacis verbeugte sich und gab ihr einen altmodischen Handkuss.

»Wenn eine Dame belästigt wird, muss ich einfach handeln, Teuerste. Könnten Sie mir bitte noch einen Koffie verkeerd bringen?«

Sein Niederländisch war einwandfrei, wenn auch mit einem unüberhörbaren Baltikum-Akzent. Die Kellnerin nickte und kam wenig später mit einer Tasse Milchkaffee. Lacis bedankte sich höflich. Als Mareike gegangen war, wandte er sich an Juri.

»Du weißt, was aktuell zu tun ist?«

»Selbstverständlich, Herr. Ich besorge die slowenischen Pässe, die gefälschten Gesundheitszeugnisse und die Medikamente.«

»Du hast verlässliche Quellen aufgetan, nehme ich an.«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich. In Amsterdam kann man für Geld alles kaufen, diese Stadt ist ein Sündenpfuhl.«

Lacis zwinkerte lächelnd.

»Deinem Unterton entnehme ich, dass du damit deine Probleme hast. Es ist beeindruckend, wie tief die religiöse Erziehung in deine Seele eingedrungen ist. Und zwar trotz allem, was die Mönche mit dir angestellt haben.«

Juri erwiderte nichts, er biss lediglich die Zähne aufeinander. Die Muskelstränge seiner Wangen traten hervor, weil er dafür so viel Kraft aufwandte. Seine Augen glänzten, und der Mafiaboss fragte sich, ob sein Handlanger gleich weinen würde.

Nein, das war unmöglich, Ein Mann wie Juri hatte keine Tränen mehr. Vermutlich, weil er in seiner Kindheit so stark leiden musste.

Lacis fragte sich manchmal selbstkritisch, ob er mit einem Psycho-Wrack wie Juri nicht besser Mitleid haben sollte.

Aber wozu? Sagte der Alte zu sich selbst. Juri lebt heutzutage wie ein König. Er hat es mir zu verdanken, dass er nicht in eine Nervenklinik gesperrt wurde, sondern an meiner Seite das Leben in allen seinen Facetten genießen kann. Ich muss nur darauf achten, das Reizwort Mönch nicht zu oft fallenzulassen. Sonst brennen bei Juri am Ende doch noch die Sicherungen durch.

„Ich glaube immer noch an Gott“, sagte der Russe mit tonloser Stimme. Lacis verkniff sich eine sarkastische Antwort, sondern forderte seinen Assistenten mit einer Handbewegung zum Weitersprechen auf.

Juri berichtete: »In einer Stunde treffe in einen Belgier, der sich Valois nennt. Von ihm bekomme ich Informationen über dieses Europol-Team, das auf Sie angesetzt wurde.«

Der Lette lachte, als ob Juri einen Scherz gemacht hätte.

»Ich sollte mich angesichts des Interesses der Strafverfolgungsbehörden geschmeichelt fühlen. Was glaubst du – werde ich bereits beschattet?«

Die Stimme des Killers nahm einen verächtlichen Tonfall an.

»Ja, aber nur durch ein paar holländische Stümper. Es sind insgesamt fünf Teams, die rotierend observieren. Elektronik kommt nicht zum Einsatz, die hätte ich mit meinem Lokalisierungsgerät längst geortet. Ja, mit dem Datenschutz nimmt man es hierzulande sehr genau.«

»Wie gut, dass ich ein gesetzestreuer Bürger bin!«, rief Lacis leutselig. »Nachdem ich den Milchkaffee ausgetrunken habe, werde ich mich ein wenig im Rijksmuseum aufhalten. Wer ist übrigens das polizeiliche Observationsteam? Die beiden Turteltauben an den Tisch hinten links?«

Juri schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»Nein, ich tippe auf den angeblich Blinden mit seiner Begleitperson.«

Doch kaum hatte der Russe diesen Satz ausgesprochen, als Lacis den Irrtum seines Gehilfen erkannte. Die Niederlande waren schließlich ein demokratischer Staat, in dem die Polizei einen Verbrecher nicht einfach mit einem Kopfschuss hinrichtete.

Also war der Mann mit der Drei-Punkt-Armbinde gewiss kein Gesetzeshüter. Und der Blindenstock, den er nun auf Lacis und Juri richtete, enthielt offenbar eine Schnellfeuerwaffe.


4

Eine Stunde zuvor

Das steile Dach war eine Todesfalle. Ulyana Dripov hatte es irgendwie geschafft, ihren Peinigern zu entkommen. Sie war verletzt, konnte aber noch laufen. Ohne ihre High Heels kam sie schneller voran. Ulyana musste höllisch aufpassen, um nicht auf den Dachschrägen auszurutschen und in die schmale Gasse unter ihr zu stürzen.

Bei meinem Glück breche ich mir dann gleich den Hals, dachte sie auf Ukrainisch – ihrer Muttersprache. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wo sie sich befand. Womöglich in Amsterdam, zumindest faselten einige ihrer betrunkenen Freier immer davon, wie toll diese Stadt doch wäre.

Für Ulyana bestand Amsterdam nur aus Drogen, Schlägen, und Sex mit Widerlingen.

Immerhin war sie momentan so klar im Kopf, dass sie die Flucht gewagt hatte. Doch die junge Ukrainerin fragte sich, ob ihr Verschwinden nicht der zweitgrößte Fehler ihres Lebens war. Ihre größte Fehlentscheidung hatte darin bestanden, auf diesen Personalvermittler in Kiew hereinzufallen.

Zuhälter wäre die passendere Berufsbezeichnung gewesen.

Ulyana bewegte sich vorsichtig an der metallenen Regenrinne entlang. Das Blech fühlte sich unter ihren Füßen kalt an, die in halterlosen Strümpfen steckten. Ansonsten war sie nur noch mit Dessous und einem Negligé bekleidet. Geld hatte sie nicht bei sich, von einem Reisepass ganz zu schweigen. Wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, dann hätte sie über ihren Situation lachen können. Da hatte sie während der vergangenen Wochen in dieser Bordellhölle garantiert ein kleines Vermögen erwirtschaftet, indem sie die größten Perversionen über sich ergehen ließ. Und doch war kein Cent davon bei ihr geblieben.

Zunächst konzentrierte Ulyana sich ganz darauf, nicht vom Dachrand zu fallen. Jetzt legte sie eine kleine Pause ein und hob vorsichtig den Kopf. Sie versuchte, sich eine Orientierung zu verschaffen.

Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass die Stadt ihr gefiel. Amsterdam war ganz anders als Kiew. Bisher hatte sie ja nur die fensterlosen Verrichtungsräume zu sehen bekommen, außerdem die Bordellküche mit Blick auf einen Lichtschacht. Als Ulyana in der niederländischen Hauptstadt eintraf, war es Nacht gewesen.

Doch jetzt war es Tag, und sie hatte einen Panoramablick über eine Metropole, die auf seltsame Art gleichzeitig mittelalterlich und hochmodern wirkte.

Die schmale Gasse zu Füßen der Ukrainerin endete an einer Uferstraße, die an einem Kanal entlang verlief. Diese Kanäle wurden in Holland Grachten genannt, wie Ulyana wusste. Sie war nicht ungebildet, hatte die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen. Trotzdem war in ihrer Heimat keine Arbeit für sie zu finden gewesen.

Links erhob sich eine gewaltige Kirche, deren Namen Ulyana nicht kannte. Sie schickte trotzdem ein Stoßgebet zum Himmel, denn göttlichen Beistand konnte sie jetzt dringend gebrauchen.

Wohin sollte sie sich wenden? Ulyana konnte nicht zu dem winzigen Dachfenster zurück, durch das sie entkommen war. Also blieb nur ein Sprung über den Spalt zwischen diesem Gebäude und dem Nachbarhaus. Aber das andere Dach kam ihr noch steiler vor als das, auf dem sie sich jetzt befand. Wenn Ulyana dort drüben landete, würde sie womöglich abrutschen und fallen.

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Die Ukrainerin bekam Gesellschaft. Ein Mann hatte die Dachluke geöffnet und näherte sich ihr. Er trug Jeans, ein schwarze T-Shirt sowie eine Sturmhaube über dem Gesicht. Das fand Ulyana besonders absurd, denn hier oben über den Dächern von Amsterdam gab es sowieso keine Zeugen.

Sie machte sich über seine Absichten keine Illusionen. Denn er hielt ein Messer in seiner behandschuhten Rechten.

»Zurück mit dir!«, knurrte er auf Russisch.

Sie schüttelte heftig den Kopf, während ihr Herz sich zusammenkrampfte. Ulyana hätte springen sollen, um ihm zu entkommen. Doch ihr Körper versagte ihr den Dienst. Sie kam sich wie gelähmt vor. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie konnte sich weder vorwärts noch zurück bewegen. Stattdessen kauerte Ulyana auf der Regenrinne, an der sie sich krampfhaft festhielt.

Der Mann bewegte sich bemerkenswert schnell und sicher. Ob er öfter hier oben entflohene Frauen wieder einfangen musste? Die Ukrainerin konnte sich lebhaft vorstellen, welches Schicksal ihr nach der Rückkehr in das Freudenhaus blühen würde. Es war ja schon schlimm genug gewesen, als sie noch fügsam gewesen war. Aber nun, da sie entkommen wollte …

Während Ulyana immer noch wie angewurzelt verharrte, erreichte der Maskierte sie. Er packte ihr linkes Handgelenk.

»Los, komm mit!«

»Neeeiiinnn!!!«

Sie riss die Augen noch weiter auf, starrte ihn an. Das Messer in seiner freien Hand blitzte im Sonnenlicht.

»Hör auf zu schreien!«

Doch das konnte sie nicht. Es war, als ob ihre Stimmbänder ein Eigenleben entwickelt hätten. Ulyanas ganzer Körper blieb bewegungslos, nur den Mund hatte sie geöffnet. Und sie schrie aus Leibeskräften.

Als der Maskenmann ihre Kehle durchschnitt, verstummte der Schrei und ging in ein widerlich klingendes Gurgeln über.

Ulyana konnte spüren, wie das Leben aus ihr entwich. Und das dauerte nicht sehr lange.


5

Lacis warf sich zu Boden, als die Maschinenwaffe zu hämmern begann. Er hatte schon oft genug an der Schwelle des Todes gestanden. Nun reagierte er mit antrainierten Reflexen.

Und Juri?

Der Russe bewies, dass er trotz seiner traumatisierten Kindheit jeden Cent wert wer, den der Mafiaboss ihm bezahlte. Der ehemalige Fallschirmjäger flankte über einen der Cafétische, wobei er sich einen weiteren griff und dessen Marmorplatte als Schutzschild gegen die Kugeln benutzte. Der zur Waffe umgebaute Stock enthielt offenbar nur Munition von geringer Durchschlagskraft. Jedenfalls prallten die Kugeln von der polierten Fläche ab.

Juri hatte nun den vermeintlich Blinden und dessen Begleitperson erreicht. Der zweite Attentäter zog eine Pistole aus seiner Windjacke, richtete sie auf den Russen. Währenddessen waren die übrigen Gäste sowie in der Nähe befindliche Passanten in Panik verfallen. Sie stoben auseinander wie eine Hühnerschar, die sich vor einem Fuchs in Sicherheit bringen musste.

Nur das Liebespaar bewahrte einen kühlen Kopf. Die Frau und der Mann hielten nun ebenfalls Schusswaffen in den Händen, mit denen sie auf den falschen Blinden und dessen Komplizen zielten.

»Polizei! Waffen weg!«, rief der weibliche Teil des Paares auf Niederländisch. Lacis hatte sich also nicht geirrt, als er die beiden als Zivilpolizisten identifizierte. Die Attentäter ignorierten die Beamten. Ihr Auftrag lautete offensichtlich, den lettischen Gangsterboss zu eliminieren.

Doch für dieses Vorhaben mussten sie zunächst Juri überwinden.

Obwohl Lacis‘ Leibwächter weder Pistole noch Revolver hatte, leistete er hervorragende Arbeit. Er war nun so nah an den vermeintlichen Blinden herangekommen, dass er dessen Stockgewehr zur Seite drücken konnte. Der Russe verfügte über Bärenkräfte, sein Widersacher konnte nicht dagegen halten.

Währenddessen versuchte der zweite Mann, die Mission zu beenden. Er hob seine Glock in den Beidhandanschlag, zielte auf Lacis. Der auf dem Boden liegende Lette wollte sich schon zur Seite rollen, als ein Geschoss aus der Waffe des holländischen Polizisten den Attentäter in den linken Oberschenkel traf. Er ging mit einem Schmerzensschrei in die Knie. Doch die Pistole hielt der Angreifer weiterhin auf Lacis gerichtet. Noch war die Gefahr nicht vorbei.

Da entriss Juri dem anderen Kerl den Stock und drosch damit auf das Handgelenk des Schützen. Daraufhin ließ er die Waffe fallen. Juri hob nun seine eigenen Hände, um seine Friedfertigkeit zu demonstrieren. Lacis wusste, dass er die beiden Attentäter am liebsten kaltgemacht hätte. Aber das war in Gegenwart der Polizei nicht möglich.

Der Lette beglückwünschte sich selbst dazu, dass er seinem Bodyguard das Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit strikt verboten hatte. Die Justiz würde weder Juri nach Lacis selbst vorwerfen können, dass sie bis an die Zähne bewaffnet durch Amsterdam schlenderten. Und sich mit den eigenen Händen selbst zu verteidigen war sogar in den Niederlanden erlaubt.

Die Polizei bekam die Lage nun schnell unter Kontrolle. Die beiden Attentäter wurden nach weiteren Waffen durchsucht, außerdem forderte man einen Krankenwagen für den verletzten Angreifer an. Verstärkung traf in Form von uniformierten Polizisten innerhalb weniger Minuten ein.

Lacis erhob sich aus eigener Kraft aus seiner liegenden Position. Er klopfte sich den Schmutz von der Hose. Die Zivilpolizisten kamen auf ihn zu. Der Mafiaboss spürte deutlich, dass sie äußerst gemischte Gefühle für ihn hegten. Einerseits hätten sie Lacis gewiss am liebsten sofort verhaftet, wenn ihm nur etwas nachzuweisen gewesen wäre. Andererseits musste er vor einer feigen Attacke aus dem Hinterhalt genauso beschützt werden wie jeder andere Bürger auch.

Der Rechtsstaat ist schon eine tolle Erfindung, dachte der Alte.

»Ich danke Ihnen sehr für die Rettung«, sagte Lacis in seinem besten Sonntags-Niederländisch. Er schenkte den Beamten ein Zahnpasta-Lächeln.

»Wir haben nur unsere Pflicht getan«, gab die Polizistin schmallippig zurück. Sie war jung, blond und hatte eine Menge Sommersprossen im Gesicht.

»Ja, und was für ein Glück, dass Sie rein zufällig zur Stelle waren.«

Diese ironische Bemerkung konnte der Lette sich nicht verkneifen. Er mochte dieses Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Lacis betrachtete die Ordnungsmacht ohnehin nicht als einen ernstzunehmenden Gegner. Den Kriminalisten waren durch zahlreiche Vorschriften die Hände gebunden, wofür der Mafiaboss dem Parlament aufrichtig dankbar war. Die Bedrohung kam von Seinesgleichen, darüber machte er sich keine Illusionen. Schon bald würde Lacis herausgefunden haben, wer diesen vermeintlichen Blinden und dessen Komplizen beauftragt hatte.

Und dann konnten sich seine Widersacher auf einen gewaltigen Gegenschlag gefasst machen …

Die tiefe Stimme des Polizisten riss ihn aus seinen Überlegungen.

»Benötigen Sie einen Arzt, Mijnheer Lacis?«

Der Alte wandte sich mit gespielter Überraschung an den holländischen Gesetzeshüter.

»Sie kennen meinen Namen? Verbindlichsten Dank, aber das wird nicht nötig sein. Ich bin zwar betagt, doch mir fehlt nichts. Außerdem habe ich meinen Sekretär, der mir zur Hand gehen kann.«

Lacis deutete auf Juri, der mit den inzwischen herbeigeeilten uniformierten Polizisten redete. Dabei ließ er seinen Herrn und Meister allerdings nicht aus den Augen.

»Ihr Sekretär wird uns genau wie Sie selbst zur Dienststelle begleiten müssen, um eine Aussage zu machen«, erklärte die Polizistin. Sie warf ihrem Kollegen einen gereizten Blick zu. Vermutlich würde sie ihm später auf die Nerven gehen, weil er Lacis mit dessen Namen angeredet hatte.

Als ob das noch einen Unterschied machte.

»Es ist uns eine Freude, die Behörden bei der Aufklärung dieser Straftat unterstützen zu können«, sagte Lacis. Mit klammheimlicher Freude registrierte er, dass die Gesetzeshüterin vor Wut zu kochen schien. Vermutlich hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, wie sehr sie seine Geschäftspraktiken verabscheute.

Aufrichtige Empörung von braven Bürgern hatte Lacis immer schon amüsiert. Seit seiner frühen Jugend hatte er stets den Pfad der Untugend beschritten und es bisher noch niemals bereut. Die Befolgung von Regeln war in seinen Augen nichts anders als Schwäche und Duckmäusertum. Er kannte noch die Zeiten, als seine Heimat eine kleine Sowjetrepublik gewesen war und das Überleben von der perfekten Anpassung an die kommunistische Partei abhing. Damals war Lacis nach außen hin ein aalglatter Parteisoldat gewesen, während er mit Devisenschmuggel und Zuhälterei heimlich den Grundstock für sein späteres Verbrecherimperium legte.

Nun trat Juri auf ihn zu.

»Fehlt Ihnen nichts, Herr?«, fragte er besorgt.

Lacis schüttelte den Kopf. Er freute sich nun auf einen Besuch im Polizeipräsidium. Vielleicht würde er sogar die neuen Europol-Fahnder kennenlernen.

6

Der Schrecken stand der jungen uniformierten Polizistin ins Gesicht geschrieben. Bea konnte gut nachvollziehen, wie die niederländische Kollegin sich fühlen musste. Auch die Europol-Beamtin war vom Anblick der ausgebluteten Leiche irritiert.

Einer jungen Frau in Prostituierten-Aufmachung war die Kehle durchschnitten worden. Die Leiche lag auf dem Boden des schmalen Durchgangs, der Trompettersteeg hieß.

»Meiner Meinung nach ist das Opfer auf dem Dach ermordet worden«, sagte Morel und deutete nach oben. »Anders dürften die Blutspuren dort oben an der Wand kaum zu erklären sein.«

Im Trompettersteg herrschten schlechte Lichtverhältnisse. Der Amsterdamer Nachmittagshimmel war stark bewölkt, gelegentlich gab es ein wenig Sprühregen. Bea musste sich eingestehen, dass sie selbst die rötlichen Schlieren nicht sofort bemerkt hatte. Allerdings war sie zunächst völlig auf die Tote konzentriert gewesen. Die Augen der jungen Frau waren gebrochen, ihr Mund halb geöffnet. Ob sie versucht hatte, um Hilfe zu rufen? Falls das zutraf, hatte es nichts genutzt.

»Hoofdagent Dekker hat das Opfer gefunden, als sie und ihr Kollege während einer routinemäßigen Fußstreife hier durchgekommen sind.«

De Bruins Stimme riss Bea aus ihren Gedanken. Sie wandte sich an den holländischen Ermittler.

»Und worin besteht der Zusammenhang zwischen dieser Frau und Viktor Lacis? Ist ihre Identität überhaupt schon bekannt?«

Der Kriminalist schüttelte den Kopf, sein Gesicht zeigte einen Ausdruck des Bedauerns.

»Ich vermute, dass die Ärmste zumindest indirekt für Lacis gearbeitet hat. In dem Gebäude hier auf der linken Seite befindet sich die Honolulu Paradise Bar, die einem von Lacis‘ Strohmännern gehört. Sein Name ist Albert Kerk.«

Bea nickte grimmig.

»Lassen Sie mich raten: Dieser Kerk hat von Viktor Lacis noch nie etwas gehört, und die beiden Männer sind auch noch nicht zusammen gesehen worden.“

»Sie lernen schnell, Frau Ahlers.«

»Danke für die Blumen«, erwiderte Bea. »Also hatte die Tote nichts bei sich, wodurch sie identitifiziert werden könnte?«

Bea kam sich selbst blöd vor, weil sie diese Frage gestellt hatte. Die Leiche war halbnackt. In ihrem schwarzen Spitzenslip ließ sich gewiss kein Reisepass verstecken. Abgesehen davon, dass die Menschenhändler ihren Opfern stets die Personalpapiere abnahmen.

Morel schien sich immer noch dafür zu interessieren, wie die Frau in die Gasse gelangt war. Er hatte einen Laser-Entfernungsmesser aus der Tasche gezogen und ließ den Lichtstrahl über die Backsteinmauer gleiten. Eigentlich war die Spurensicherung dafür zuständig, solche Untersuchungen vorzunehmen. Die Kriminaltechniker waren bereits auf dem Weg, und es konnte gewiss nichts schaden, wenn die Europol-Ermittler sich selbst Datenmaterial beschafften.

Bea kniete sich neben die Tote, um sie sich genauer anzuschauen. Wegen der schlechten Lichtverhältnisse nahm sie ihre Taschenlampe zu Hilfe. Die Kommissarin hatte schon viele Messerwunden gesehen, nicht zuletzt an ihrem eigenen Körper. Ihrer Meinung nach war das Opfer von einem Profi getötet worden. Hier hatte kein rasender Psychopath gewütet, der mit mehreren Dutzend Messerstichen ein wüstes Gemetzel veranstaltete. Nein, der Schnitt war geradezu chirurgisch effizient gewesen. Die Kommissarin war sicher, dass der Täter nicht zum ersten Mal gemordet hatte.

»Die Frau ist also vom Dach gefallen oder gestoßen worden«, dachte Bea laut nach. »Ob sie an dem Sturz oder an der Halsverletzung gestorben ist, wird die Obduktion zeigen. Die Prellungen oder Brüche dürften post mortem entstanden sein. Auf diese kleine Wunde trifft das aber nicht zu.«

Die Ermittlerin hatte einen Kugelschreiber zur Hand genommen und deutete damit auf eine kleine Hautabschürfung am Hals, die wegen des vielen Blutes nur schwer zu erkennen war. De Bruin beugte sich vor.

»Worauf wollen Sie hinaus, Frau Ahlers?«

»Es scheint, als hätte der Mörder dem Opfer ein Kettchen abgerissen. Vielleicht hat sie es auch selbst getan. Sehen Sie, die rechte Faust!«

Nun bemerkte auch der Holländer, dass die eine Hand der Toten zur Faust geballt war. Es gelang Bea mit Mühe, den Griff der Leiche ein wenig zu lockern. Ein Silberkettchen mit Anhänger glitt zu Boden.

Die Kommissarin hatte bereits Latexhandschuhe übergestreift. Sie hob das Schmuckstück vorsichtig auf. Das Medaillon ließ sich öffnen, darin befand sich das Foto eines kleinen Mädchens.

Bea presste die Lippen aufeinander. Es ließ sie nicht kalt, wenn Kinder in einen Kriminalfall verwickelt waren. Die Familienähnlichkeit zwischen dem Opfer und dem Mädchen war unverkennbar. Entweder handelte es sich bei der Toten um die Mutter oder die ältere Schwester des Kindes. Diese Annahme erschien der Kommissarin zumindest plausibel.

Bea machte ein Foto vom Gesicht der toten jungen Frau. Womöglich würde die Obduktion ihre Identifizierung erleichtern. Falls das Opfer irgendwo in Europa bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, konnte auch ein Fingerabdruck- oder DNA-Abgleich Gewissheit bringen.

Die Kriminalistin wandte sich an ihren Dienstpartner.

»Wenn Sie weiter so in die Höhe schauen, werden Sie noch Genickstarre bekommen.«

Morel drehte sich zu ihr um. Seine Lippen waren zu einem schüchternen Lächeln geformt.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ermordung dieser Frau dem Täter leicht gefallen ist. Moralische Skrupel dürfte er nicht gehabt haben, aber Prostituierte sind für diese Leute doch letztlich Einnahmequellen. Und wer nicht mehr lebt, kann kein Geld mehr einbringen.«

Bea runzelte die Stirn.

»Das stimmt – vorausgesetzt, dass es sich bei dem Mörder wirklich um einen Luden handelt. Wir könnten es genauso gut mit einem durchgedrehten Freier zu tun haben.«

»Prinzipiell gebe ich Ihnen recht. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein wütender oder enttäuschter Kunde die Kehle mit einem so präzisen Schnitt durchtrennt.«

Die Kriminalistin schüttelte den Kopf.

»Es bringt nichts, im Nebel zu stochern. Ich will mit Kerk sowie sämtlichen Angestellten der Honolulu Paradise Bar sprechen. Und wenn das Opfer wirklich eine Tochter hat, müssen wir das Kind finden und retten. Die Vorstellung, dass ein kleines Mädchen in der Gewalt von Lacis‘ Schergen sein könnte, macht mich ganz verrückt.«

Sie zeigte Morel das Medaillon. Er nickte und raunte ihr zu: »Glauben Sie nicht, dass die holländischen Kollegen schon unzählige Male mit Kerk gesprochen haben?«

»Doch, das nehme ich an. Aber jetzt sind wir hier. Und wir wären nicht nach Amsterdam geschickt worden, wenn die hiesige Polizei mit Lacis allein fertig werden könnte.«

Bea hatte so laut gesprochen, dass alle Anwesenden sie hören konnten. Beliebt machte sie sich mit solchen Ansagen natürlich nicht. Doch das war ihr egal. Sie wollte in dieser Stadt keine Freunde fürs Leben finden, sondern das Netzwerk eines Schwerkriminellen zerschlagen.

De Bruin warf ihr einen gereizten Blick zu. Aber wer austeilt, muss auch einstecken können. Das war zumindest Beas Meinung.

7

Lacis bedauerte es, dass er seine neuen Widersacher im Polizeipräsidium nicht angetroffen hatte. Der Mafiaboss war wie ein ganz gewöhnlicher Zeuge einer Straftat behandelt worden. Die beiden Zivilfahnder hatten sich aus dem Staub gemacht, als wenn es sie nie gegeben hätte. Lacis‘ Aussage wurde von einer jungen Beamtin (oder Praktikantin?) aufgenommen, die das von ihm unterschriebene Papier in ihrer niedlichen Mädchenschrift gegenzeichnete.

In solchen Momenten bedauerte er es manchmal, dass er nicht mehr jung war. Doch es widersprach seinem Charakter, sich wegen unabänderlicher Dinge den Kopf zu zerbrechen. Lacis versuchte lieber, möglichst viel von seinen Plänen in die Tat umzusetzen. Und allzu viel Zeit blieb ihm nicht mehr, darüber machte er sich keine Illusionen.

Nachdem die junge Polizistin ihm einen guten Tag gewünscht hatte, kehrte der Alte gemeinsam mit Juri zu seinem Haus zurück. Sie nahmen eine Fahrrad-Rikscha, was bei dem Bodyguard offensichtlich nicht auf Begeisterung stieß. Lacis konnte seine Bedenken nachvollziehen, denn die beiden Männer saßen in dem wackligen Gefährt nebeneinander wie auf dem Präsentierteller. Ein Attentäter würde leichtes Spiel haben. Doch ein normales Amsterdamer PKW-Taxi war natürlich auch nicht gepanzert. So gesehen bot das Stahlblech der Karosserie nur eine scheinbare Sicherheit. Hinzu kam noch ein anderer Grund, der aus Lacis‘ Sicht für eine Bike-Rikscha sprach: Während Autos oft genug im Stau steckenblieben, verschaffte sich der Fahrer dieses muskelbetriebenen Dreirads rücksichtslos Platz, ob nun auf der Fahrbahn oder dem Gehweg.

Menschentrauben aus Touristen stoben kreischend auseinander, wenn er mit ungebremster Geschwindigkeit auf sie zu raste. Der Mann, von dem Lacis nur den mageren Rücken und die Rastazöpfe zu sehen bekam, verschaffte an diesem Tag vielen Urlaubern ein unvergessliches Amsterdam-Erlebnis.

Während Juri ganz auf mögliche Angreifer konzentriert war, ließ der Mafiaboss seine Gedanken schweifen. Wie es wohl Lara ging? Er schaffte es manchmal stundenlang, nicht an seine Tochter zu denken. Doch nachts, wenn er allein war, kehrten die Sorgen und Ängste zurück und raubten ihm den Schlaf. Früher hätte er es niemals für möglich gehalten, dass sein eigen Fleisch und Blut ihn so stark emotional berühren konnte. Als Laras Mutter spurlos verschwunden war, hatte sich seine Trauer in Grenzen gehalten. Nastassja und er hatten sich schon lange nichts mehr zu sagen gehabt.

Doch Lara ... in gewisser Weise war sie ein junges weibliches Abbild von Lacis selbst. Falls sie starb, dann würde ein Teil von ihm selbst begraben werden. Aber so weit war es noch nicht. Und solange das Schicksal seiner Tochter ungeklärt war, würde er alles für ihre Rettung unternehmen.

Der Mafiaboss bewohnte ein restauriertes Haus aus dem 16. Jahrhundert, das sich an der Herengracht im Stadtzentrum befand, Als Balte war Lacis es gewohnt, Wasser in der Nähe zu haben. Die hiesigen Kanäle konnte man zwar nicht mit der Ostsee vergleichen, doch das Geräusch der Wellen, die gegen das Gebäudefundament schlugen, erinnerte ihn an die Wogen an den Stränden seiner Kindheit.

Juri bezahlte den Kamikaze-Rikscha-Fahrer, und sie betraten das Haus. Lacis machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem, der direkt an einem der Fenster im zweiten Stockwerk stand.

»Du kannst jetzt Valois abholen«, sagte er zu seinem Gefolgsmann. »Und pass auf, dass euch niemand zusammen sieht.«

»Selbstverständlich, Herr.«

Mit diesen Worten machte sich der gebürtige Russe davon. Lacis führte sich vor Augen, dass seine Bemerkung wirklich überflüssig gewesen war. Ein Perfektionist wie Juri würde Valois gewiss nicht vor den Augen der Polizei treffen. Natürlich war es ein Risiko, den Mann hierher zu schaffen. Der Mafiaboss ging fest davon aus, dass auch sein Haus observiert wurde. Doch er wollte sich einen persönlichen Eindruck von Valois machen. Lacis mochte die Redenart, dass jeder den Verrat liebt, aber niemand den Verräter. Der Alte hielt sich viel auf seine Menschenkenntnis zugute. Er würde schnell bemerken, ob Valois mehr als nur heiße Luft zu bieten hatte. Doch dafür musste er ihm Auge in Auge gegenüber sitzen.

Juri war seit zehn Minuten fort, als das Telefon klingelte. Lacis wurde stutzig. In seinen Kreisen benutzte man eher Wegwerf-Handys als Festnetzanschlüsse. Aus purer Neugier nahm er den Hörer ab.

»Ja, bitte?«, sagte er auf Niederländisch.

»Ich bin es, Papa.«

Lacis‘ Herzschlag beschleunigte sich gewaltig, als er die Stimme seiner Tochter erkannte. Sein Mund trocknete schlagartig aus. Er fühlte sich, als ob er auf Watte gebissen hätte. Und er musste sich mehrfach räuspern, bevor er wieder sprechen konnte.

»Wo bist du, Lara? Geht es dir gut? Was haben sie mit dir vor?«

Wie bist du an diese Telefonnummer gekommen? Diese Frage wäre viel sinnvoller gewesen, alter Trottel, sagte der Mafiaboss innerlich zu sich selbst.

»Mir fehlt nichts, Papa. Ich melde mich später.«

»Später?« Lacis unterdrückte seine Furcht nur schwer. »Seit drei Wochen gibt es kein Lebenszeichen von dir, dein Smartphone war tot. Deine Mitbewohnerin aus dem Schweizer Internat liegt immer noch im Koma. Sie wurde von Unbekannten zusammengeschlagen.«

»Es tut mir leid für Monica. Richte ihr meine Genesungswünsche aus.«

»Monica ist mir piepegal!«, raunzte Lacis unbeherrscht. »Was wollen deine Kidnapper? Kann ich mit ihnen sprechen?«

»Ich wurde nicht entführt, Papa. Bis später.«

»Nein, du ...«

Der Mafiaboss unterbrach sich selbst, denn seine Tochter hatte das Telefonat beendet. Lacis schaute den Hörer so irritiert an, als ob er plötzlich einen stinkenden Fisch in der Hand halten würde.

War also Lara freiwillig verschwunden? Ob sie selbst ihre Zimmergenossin halb tot geschlagen hatte? Diese Variante war dem Mafiaboss noch gar nicht in den Sinn gekommen. Dabei besaß seine Tochter durchaus die Fähigkeiten dazu. Seit ihrer Kindheit betrieb sie Karate, und seit einigen Jahren auch Kickboxen. Er hatte stets großen Wert darauf gelegt, dass Lara sich selbst verteidigen konnte.

Bisher war Lacis stets von einem Kidnapping ausgegangen, und die zuständige Kantonspolizei in Graubünden betrachtete die Angelegenheit genauso. Zumindest hatten die Beamten ihm diese Version aufgetischt, als er nach Laras Verschwinden in die Schweiz geflogen war. Er konnte allerdings nicht einschätzen, ob die Ermittler ihn wirklich für einen harmlosen Import-Export-Unternehmer hielten. Eigentlich hätten alle europäischen Polizeibehörden wissen müssen, wer Lacis wirklich war. Doch den Informations-Flickenteppich der Ordnungsmacht hatte er schon öfter zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen können.

War der Mafiaboss auf beiden Augen blind, wenn es sich um seine eigene Tochter handelte? Lara hatte am Telefon weder eingeschüchtert noch verzweifelt geklungen, doch das musste nichts zu bedeuten haben. Lacis wusste nur zu gut, wie man Menschen unter Drogen setzen oder durch Psycho-Techniken gefügig machen konnte.

Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht, dass seine Tochter ihr eigenes Süppchen kochten wollte? Lara hatte von ihrem Vater den eisernen Willen geerbt, die absolute Skrupellosigkeit. Lacis erkannte seinen Fehler. Er wollte die junge Frau zu seiner Erfüllungsgehilfin machen, eine Handlangerin mit erstklassiger Ausbildung. Doch Lara hatte den goldenen Käfig verlassen und dabei brutal die Gitterstäbe verbogen.

Wo war sie? Und was hatte sie vor?

Der Mafiaboss zerbrach sich fast eine Stunde lang den Kopf, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Plötzlich stand Juri wieder im Raum. Lacis schaute ihn an, als ob er einen Geist sehen würde.

»Ja?«

»Ich habe Valois abgeholt, die Bullen konnte ich abschütteln. Aber wenn es Ihnen gerade nicht passt ...«

»Nein, es ist alles in Ordnung. Schick ihn mir bitte herein.«

Der Leibwächter nickte. Er ging hinaus und kam gleich darauf in Begleitung eines Mannes von undefinierbarem Alter zurück. Lacis hatte nicht gewusst, wie Valois aussah. Er war jedenfalls nicht beeindruckt. Der Belgier trug eine unmodische Brille, eine billige Windjacke und ein bis zum Hals zugeknöpftes Hemd. Seine Kleidung hätte von der Rote-Kreuz-Sammlung stammen können, dabei war er einer der am besten bezahlten Computerspezialisten bei der Polizei seines Heimatlandes gewesen.

Juri hielt eine Augenbinde in der linken Hand. Natürlich hatte er Valois nicht wissen lassen, wo genau Lacis wohnte. Der Russe dachte an alles. Sein Chef nickte ihm zu.

»Danke, Juri. Ich rufe dich, wenn ich dich wieder brauche.«

Der Bodyguard ging hinaus und schloss die Tür. Valois schaute den Alten an, als ob er es nicht begreifen könnte, bei ihm gelandet zu sein.

Dieser Kerl ist ein Fluchttier, dachte Lacis. Nur seine gekränkte Eitelkeit ist noch größer als seine Angst. Und das ist gut so.

Der Mafiaboss spielte den freundlichen älteren Herrn.

»Nehmen Sie doch bitte Platz, Mijnheer Valois«, sagte er auf Niederländisch.

Der Belgier setzte sich auf die äußerste Kante eines Sofas, das gegenüber von Lacis mitten im Raum stand. Seinen Rücken hielt er kerzengerade, die auf den Knien ruhenden Hände waren so blass wie bei einer Leiche.

»Ich will gleich zur Sache kommen«, erklärte Lacis, den Valois‘ Gegenwart bereits nach wenigen Sekunden nervte. »Was können Sie mir über Kommissarin Beatrix Ahlers und Inspektor Luc Morel erzählen?«

Der frühpensionierte Polizist antwortete nicht sofort.

Der Mafiaboss fuhr fort: »Mir ist bekannt, dass Sie Zugriff auf die Personaldaten von Europol hatten. Und Sie möchten sich den Ruhestand finanziell versüßen, dieser Tatsache habe ich Ihren Besuch zu verdanken.«

»Man hat mich kaltgestellt, ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen!«, gab Valois anklagend von sich.

»Ihr Privatleben interessiert mich nicht«, stellte Lacis klar. »Fest steht, dass Sie von Glück sagen können, um eine Strafanzeige herumgekommen zu sein. Also jammern Sie mir nicht die Ohren voll, sondern kommen Sie auf den Punkt. Über die Höhe Ihres Honorars werden Sie sich nicht beklagen können.«

Die schmale Hühnerbrust des Belgiers hob und senkte sich.

»Verzeihen Sie, die Situation ist für mich ungewohnt ... ich mache so etwas zum ersten Mal.«

»Kommen Sie zur Sache«, erwiderte Lacis und warf seinem Gegenüber einen harten Blick zu.

Valois fische ein Tablet aus seiner Umhängetasche und schaltete es ein.

»Beatrix Ahlers hat beim deutschen Bundeskriminalamt schnell Karriere gemacht«, begann er. »Von ihren Vorgesetzten wird sie als leistungsorientiert, risikobereit und ehrgeizig beschrieben.«

»Eine Streberin also«, fasste der Mafiaboss zusammen.

»Wenn Sie das so nennen wollen, Mijnheer Lacis - ja, eine Streberin. Allerdings ist ihre Personalakte nicht völlig fleckenlos. Es gab eine Auseinandersetzung mit einem Kollegen. Worum es dabei ging, konnte ich nicht herausfinden.«

»Warum nicht?«, wunderte Lacis sich. »Ich dachte, Sie seien so ein genialer Hacker.«

»Es gibt keine Datei, die ich hätte öffnen können. Frau Ahlers hatte eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen diesen Kollegen angestrengt, sie später aber wieder zurückgezogen.«

»Und wie heißt dieser andere Beamte?«

»Kriminalhauptkommissar Oliver Behn. - Ich vermute, dass Behn Frau Ahlers belästigt hat und die beiden sich hinter den Kulissen gütlich geeinigt haben, um ihre beiden Karrieren nicht zu zerstören.«

Mit zerstörten Karrieren kennst du dich ja aus, zumindest mit deiner eigenen, dachte Lacis gehässig. Doch er musste zugeben, dass Valois‘ Schlussfolgerung einen Sinn ergab. Überhaupt verhielt der Belgier sich ruhiger, seit er seine Informationen über die beiden Europol-Beamten herunterbeten durfte. Er hatte seine Beklommenheit ein wenig überwunden. Der Lette hielt ihn für einen Schreibtischhengst, der vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben persönlich einem echten Gangster gegenüber saß.

»Okay, offenbar hatte die Ahlers einen lästigen Verehrer. Und sie hat sich bei Europol beworben, um nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten zu müssen. Also ist dieser Kerl ihre Schwachstelle oder ihr wunder Punkt, wie immer man das auch nennen möchte. Haben Sie noch weitere Details über Beatrix Ahlers zu berichten?«

Valois hob die Schultern.

»Wie gesagt, sie hat erstklassige berufliche Kenntnisse vorzuweisen. Insbesondere ist sie Verhörspezialistin, außerdem betreibt sie Krav Maga und Karate.«

»Man sollte sich ihr also nicht ohne Schusswaffe nähern«, scherzte der Mafiaboss. »Und was können Sie mir über Luc Morel mitteilen?«

»Der Franzose stammt aus einer sehr wohlhabenden und einflussreichen Familie. Sein Urgroßvater hat eine der wichtigsten Porzellanmanufakturen des Landes gegründet. Morels Großonkel war der stellvertretende Gouverneur in Französisch-Guyana. Morels Vater ist Richter am Palais de Justice in Paris, einem der wichtigsten Zentren der französischen Gerichtsbarkeit.«

»Und - hat Morel auch eine Leiche im Keller?«

Lacis‘ Frage machte Valois stutzig.

»Ich verstehe nicht ...«

»Das war sinnbildlich gemeint«, erklärte der Alte geduldig. »Mich interessiert, ob Morel angreifbar ist. Gibt es womöglich ein Laster, dem er sich hingibt? Oder ist er so intelligent, dass seine Schwächen keinen Einzug in seine Personalakte gefunden haben. Nach meiner Erfahrung hat nämlich jeder Mensch einen oder mehrere Punkte, an denen er extrem verletzbar ist. Diese These werden Sie doch bestätigen können, Valois.«

»Ich?«

»Wer denn sonst? Sie wurden doch wegen Ihrer Perversionen in die Frührente abgeschoben.«

Der Belgier wurde vor Verlegenheit knallrot. Aber das war Lacis egal. Er hatte Valois nicht zu sich zitiert, um auf dessen Gefühle Rücksicht zu nehmen. Ihm kam es auf Ergebnisse an.

»Morels Dienstakte ist makellos«, presste Valois hervor. »Allerdings gibt es ein psychologisches Gutachten über ihn, das für Sie interessant sein könnte.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Der Nervenarzt hat Morel psychopathische Züge bescheinigt, er hält ihn für eine narzisstische Persönlichkeit.«

»Was habe ich mir konkret darunter vorzustellen?«, wollte der Mafiaboss wissen. »Ich dachte immer, Psychopathen wären irgendwelche Irren, deren Freizeitvergnügen aus Gemetzeln und Blutbädern besteht.«

»Morel hat diese Veranlagung, womöglich ausgelöst durch frühkindliche Erlebnisse. Aber laut des Gutachtens kann er seine gewalttätigen und antisozialen Tendenzen sehr gut unterdrücken, weil sein Selbstbild durch seine Herkunft aus einer guten Familie und seinen Polizeiberuf gefestigt ist. Zumindest sah der untersuchende Mediziner keine Veranlassung, um Morels Diensttauglichkeit in Frage zu stellen.«

Lacis grinste.

»Das erinnert mich an diese Gutachter, die einem durchgedrehten Irren eine gute Sozialprognose bescheinigen. Und wenn der Kerl dann wieder ein paar Leuten die Köpfe abschneidet, waschen sie ihre Hände in Unschuld.«

»Ich kann nur das widergeben, was in der Personalakte steht«, gab Valois steif zurück. »Wollen Sie auch noch meine persönliche Meinung hören?«

»Es spielt für mich keine Rolle, was Sie denken. Für mich sind Ihre Informationen sehr wertvoll. Ich nehme an, dass ich die Daten für den weiteren Gebrauch in die Hand bekomme?«

»Selbstverständlich.«

Valois stand auf und überreichte dem Letten einen USB-Stick. Lacis steckte das Speichermedium ein und rief nach seinem Assistenten.

»Juri, begleite unseren Gast hinaus. - Leben Sie wohl, Mijnheer Valois!«

Der Belgier machte sich mit unverhohlener Erleichterung in Gesellschaft des Russen aus dem Staub.

»Ich hätte wohl besser sagen sollen: Sterben Sie wohl«, sagte Lacis, als der verräterische Frühpensionär außer Hörweite war. Der Mafiaboss blickte verträumt auf das Wasser der Herengracht hinunter.

Valois musste verschwinden, und einem Verräter weinte ohnehin niemand eine Träne nach. Juri würde die Leiche so perfekt beseitigen, dass sie unauffindbar blieb.


8


Bea kämpfte ihren Brechreiz nieder, als sie die Honolulu Paradise Bar betrat. Das Rotlicht-Etablissement wurde von einem echten Amsterdamer Geruchsmix durchzogen, dessen Elemente aus billigem Parfüm, Marihuana, abgestandenem Bier und Körpergeruch bestanden.

Die Ermittlerin und ihr Dienstpartner hatten einige uniformierte Polizisten als Unterstützung dabei. Die Beamten begannen damit, die Personalien der Anwesenden zu kontrollieren. Bea bemerkte auf den ersten Blick, dass die meisten Gäste Touristen waren. Die Männergruppen unterhielten sich auf Koreanisch oder mit amerikanischem Südstaaten-Slang angeregt untereinander. Wahrscheinlich waren sie von den verschiedenen Enden der Welt auf dem Flughafen Schiphol gelandet, um von hier aus ihren Europa-Trip zu beginnen.

Und da bietet sich natürlich ein niederländischer Puff an, zumindest für die Männer, dachte Bea. Aber die Touristen interessierten sie momentan nur am Rande. Falls einer von ihnen nicht zufällig Augenzeuge des Verbrechens geworden war, konnte man ihre Aussagen getrost als wertlos betrachten. Ihr kam es vor allem auf Kerk an.

Sie ließ ihren Blick durch den mit künstlichen Palmen und Papierblumenkränzen geschmückten Barraum schweifen, der von einem Innenarchitekten mit Geschmacksverirrung auf Hawaii-Stil getrimmt worden war. Eine steile schmale Treppe führte zu den Toiletten. Vermutlich waren diese Stufen für betrunkene Gäste lebensgefährlich.

Bea wandte sich an die dunkelhäutige vollbusige Bardame, die sich als Cindy Wilkenaar vorgestellt hatte. Falls die Frau von der Polizeirazzia beeindruckt war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Ich muss mit dem Chef sprechen.«

»Geht mir genauso«, entgegnete Cindy, ohne mit dem Kaugummikauen aufzuhören. »Mein letztes Gehalt lässt auf sich warten.«

»Mein herzliches Beileid. Und wo finde ich Mijnheer Kerk?«

»Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.«

Cindy spülte ein paar Gläser. Offenbar hielt sie Bea nicht für wichtig genug, um wegen der Kommissarin ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Wo kann ich ihn denn finden?«

»In seinem Büro, falls er da ist.«

Die Bardame deutete auf eine schmale Tür, die sich unmittelbar neben der Treppe befand. Bea zeigte Cindy eines der Fotos, die sie von der Leiche gemacht hatte.

»Kennen Sie diese Frau?«

Cindy zuckte zusammen, schüttelte aber den Kopf.

»Nie gesehen.«

»Ich glaube Ihnen nicht. Und ich bin überzeugt davon, dass sie hier gearbeitet hat. Diese Frau wurde ermordet. Wenn Sie unsere Ermittlungen behindern, müssen Sie mit einer Anklage wegen Beihilfe rechnen.«

»Warten Sie ... jetzt erinnere ich mich. Die Kleine ist in letzter Zeit ein paar Mal hier aufgekreuzt, um Freier abzuschleppen. Hier gibt es so viele Nutten, da kann man schon mal die Übersicht verlieren..«

Das klang nach einer faulen Ausrede, aber Bea ließ es einstweilen dabei bewenden. Ihr kam es auf den Boss an, der vermutlich einen direkten Draht zu Lacis hatte. Sie nickte Cindy zu, ging zu der Tür hinüber und riss sie auf.

Ein kleiner Mann in einem schlecht sitzenden Sakko und mit offenem Hemdkragen hockte hinter einem Schreibtisch und sog an einem Joint. Er warf Bea einen verhangenen Blick aus glasigen Augen zu.

»Die meisten Leute klopfen an ... warum kommst du nicht näher und setzt dich auf mein Gesicht?«

»Vielleicht später«, gab Bea trocken zurück. »Sind Sie Mijnheer Kerk?«

»In voller Lebensgröße. Wo drückt der Schuh, meine Süße?«

»Ich bin nicht Ihre Süße, sondern Kriminalkommissarin Ahlers von der Europol.«

Mit diesen Worten präsentierte Bea ihren Dienstausweis. Der Anblick der amtlichen Legitimation schien Kerk zu ernüchtern, zumindest teilweise. Er drückte den Joint in einem großen Glasascher aus und versuchte vergeblich, sein zerknittertes Jackett glattzustreichen. Dann erhob Kerk sich von seinem Bürosessel. Er stand nun Bea direkt gegenüber und war eine Handbreit kleiner als sie.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte er förmlich.

»Wer ist diese Frau?«

Die Ermittlerin hielt ihm das Foto von der Leiche unter die Nase. Sie war sicher, dass der Manager die Tote erkannte.

»Ich habe keine Ahnung«, holte Kerk aus, doch Bea fiel ihm ins Wort.

»Sie sollten sich besser überlegen, was für eine Geschichte Sie mir auftischen wollen. Laut einer Zeugenaussage hat sich diese Frau öfter in Ihrem Etablissement aufgehalten.«

»Glauben Sie, ich kann mir das Gesicht jeder Hure merken?«, gab Kerk grob zurück. Bea musste ihre Wut niederkämpfen, bevor sie etwas entgegnete.

»Das mag sein, Kerk. Es gibt allerdings einen großen Unterschied. Diese Frau ist tot, wahrscheinlich ermordet. Sie wird sich jedenfalls nicht selbst vom Dach dieses Gebäudes gestürzt haben. Und wenn Sie nicht mit Europol kooperieren, dann verhafte ich Sie wegen Beihilfe zum Mord.«

Der Manager entgegnete nichts, sondern schaute die Kommissarin nur an. In diesem Moment erinnerte er sie an einen gealterten Schüler, der von seiner Lehrerin bei einem Streich erwischt worden ist.

»Ich habe niemanden umgebracht«, sagte er nach einer Pause.

»Wer hat Zugang zum Dachboden?«, wollte Bea wissen.

»Praktisch jeder, das Schloss ist irgendwann kaputt gegangen.«

»Wollen Sie mich für dumm verkaufen, Kerk? Ich bin noch nicht lange in Amsterdam, aber ich weiß, dass es hier etliche Obdachlose gibt. Ein trockener Dachboden wäre für die armen Menschen ein willkommener Schlafplatz.«

»Das ist mir auch bekannt, Mevrouw Ahlers. Aber wenn ein Penner dort oben hin will, muss er an meinen Separees vorbei. Und so einen abgerissenen Strolche lassen wir gar nicht erst hinein.«

»Schon klar, in Ihrem Etablissement verkehren nur solvente Ehrenmänner«, sagte Bea. Doch ihr Sarkasmus perlte an Kerk ab. Oder er war zu bekifft, um ihn zu begreifen.

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich die Hure doch kenne. Sie heißt Ulyana Dripov. Sie hat mich gebeten, ihren Reisepass für sie aufzubewahren.«

Mit diesen Worten zog der Holländer eine Schreibtischschublade auf und gab Bea das Ausweisdokument. Sie schaute es sich genauer an. Auf den ersten Blick schien der Pass echt zu sein. Bei der Frau auf dem Foto handelte es sich zweifellos um das Mordopfer.

Die Kommissarin machte sich keine Illusionen darüber, wie Kerk in den Besitz des Reisepasses gekommen war. Freiwillig würde Ulyana ihn gewiss nicht herausgerückt haben. Einen Beweis für Zwang hatte Bea allerdings nicht.

»Ich beschlagnahme den Pass als Beweisstück«, sagte sie und schob das Personaldokument in ihre Tasche. »Kommen Sie, Kerk.«

»Wohin?«

»Auf das Dach, wohin sonst? Ich will mir selbst ein Bild davon machen, wie es dort oben aussieht.«

»Ich habe aber Höhenangst!«

»Höhenangst in einem so flachen Land?«, spottete Bea. »Vorwärts, Ausreden lasse ich nicht gelten.«

Sie hielt den Atem an, als der Manager an ihr vorbei ging. Er verströmte eine Mixtur aus Körpergeruch und Marihuanagestank, die einfach ekelerregend war.

»Wie geht es eigentlich Ihrem Freund Lacis?«, fragte sie scheinbar beiläufig.

»Den Namen habe ich noch nie gehört.«

Kerk gab sich noch nicht einmal Mühe, überzeugend zu lügen. Vielleicht war seine Energie durch den Wortwechsel mit Bea schon verpufft. Im Gastraum half Morel den niederländischen Kollegen bei der Befragung der Freier und Prostituierten. Die Ermittlerin gab ihm ein Zeichen.

»Kommen Sie, Morel. Mijnheer Kerk will uns den mutmaßlichen Tatort zeigen.«

»Von Wollen kann wohl keine Rede sein«, jammerte der Manager. Widerstrebend führte er die Europol-Ermittler zunächst in die obere Etage, wo inzwischen alle Separees verwaist waren. Sämtliche Personen waren zur Identitätsfeststellung in die Bar geschafft worden.

Immerhin schien Kerk nicht gelogen zu haben, was den Zugang zum Dachgeschoss anging. Nach Beas Meinung funktionierte das Schloss schon seit längerer Zeit nicht mehr. Auf dem Spitzboden stand allerlei Krimskrams herum, es roch nach Staub und Rattenkot.

»Schauen Sie, Frau Ahlers!«

Morel deutete auf den Profilabdruck eines Stiefels, der auf dem schmutzigen Dielenboden deutlich zu erkennen war. Er konnte unmöglich von Kerk stammen, denn der kleine Mann hatte auch kleine Füße.Unmittelbar vor der Dachluke erblickte Bea außerdem ein Paar hochhackige Pumps. Ulyana hatte sie offenbar abgestreift, bevor sie nach draußen geklettert war. Die Kommissarin packte Kerk am Kragen.

»Wer ist der Frau auf das Dach gefolgt?«

»Ich weiß es nicht ... lassen Sie mich los!«

»Frau Ahlers«, sagte Morel mit einem warnenden Unterton.

»Diese Rotlicht-Ratte lügt doch wie gedruckt«, fauchte Bea. Doch sie nahm ihre Hand von Kerks Revers.

»Mijnheer Kerk wird verstehen, dass er besser mit uns kooperiert«, sagte der Franzose. Dabei schaute er dem Manager so tief in die Augen, als ob er verliebt in ihn wäre oder ihn hypnotisieren wollte.

»Ulyana floh aufs Dach, verfolgt von einer männlichen Person.« Es war, als würde Morel zu sich selbst sprechen. »Lassen Sie uns die Situation rekonstruieren. - Frau Ahlers, Sie sind das Opfer.«

Bea runzelte die Stirn.

Dreht der Franzmann jetzt völlig am Rad? fragte sie sich innerlich. Doch es konnte sinnvoll sein, sich in Ulyanas Rolle zu versetzen. Zumindest, solange sie nicht in die Gasse hinab stürzte. Also ging die Ermittlerin mit gutem Beispiel voran und kletterte als erste durch die Dachluke ins Freie.

Kerk folgte ihr ächzend - und nicht ganz freiwillig. Das wurde ihr bewusst, als sie Morels Dienstwaffe sah. Er hatte sie gezogen und gegen die Flanke des Managers gedrückt.

»Unter freiwilliger Kooperation stelle ich mir etwas anderes vor«, sagte Bea stirnrunzelnd zu ihrem Kollegen. Morels Gesicht hatte eine maskenhafte Starre angenommen. Doch er behielt seinen lockeren Plauderton bei.

»Mijnheer Kerk handelt nicht unter Zwang. So ist es doch, Mijnheer Kerk?«

Der Holländer war nun beinahe so bleich wie die Leiche, die weit unter ihnen auf dem dreckigen Pflaster des Trompettersteegs lag. Er presste die Lippen aufeinander und nickte eifrig.

»Ja, es ist alles freiwillig. Ich unterstütze Sie gern bei Ihren Ermittlungen.«

Kerks Stimme zitterte. Dabei wirkte Morel auf einen unvoreingenommenen Menschen gar nicht besonders bedrohlich. Doch es handelte sich bei ihm um einen Mann, der zu allem fähig war. Das wurde Bea in diesem Moment bewusst. Und sie musste sich eingestehen, dass sie sich nun ebenfalls vor ihrem Dienstpartner fürchtete.

Morel wird Kerk vom Dach werfen, wenn er nicht spurt!

Dieser Gedanke hatte sich in ihr Bewusstsein gegraben und ließ sich nicht wieder vertreiben. Nicht, dass es ihr um den Manager besonders leid getan hätte. Er war am Menschenhandel beteiligt gewesen und hatte zumindest nichts unternommen, um Ulyanas miserable Situation zu verbessern.

Der Franzose deutete auf die Dachschindeln oberhalb der Regenrinne.

»Sehen Sie? Genau dort dürfte die Bluttat stattgefunden haben. Der Täter kam von hier oben ... gehen Sie dorthin, wo das Opfer gestanden haben muss, Frau Ahlers.«

Bea fühlte sich, als ob jemand ihre Kehle zuschnüren würde. Sie fürchtete sich davor, so nahe an den Dachrand zu treten. Aber Morel sollte sie auf keinen Fall für eine feige Ratte halten. Also nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. Mit ihren Turnschuhen hatte sie einigermaßen Halt auf der schrägen Ebene. Dennoch musste sie aufpassen, um nicht zu stolpern und in die Tiefe zu stürzen.

Auf gar keinen Fall durfte Bea nach unten schauen. Das würde ihr Ende sein.

»Drehen Sie sich zu mir, Frau Ahlers«, kommandierte Morel. »Ist der Mörder von hier gekommen?«

»Ja, da sind minimale Spuren auf den Dachschindeln zu erkennen.«

»Exzellent, das habe ich ebenfalls bemerkt. Jetzt bleibt nur noch eine Frage offen - nämlich die Identität des Mörders. Nicht wahr, Mijnheer Kerk?«

Der Inspektor lachte jovial und klopfte dem Holländer auf die Schulter, als ob dieser ein alter Freund wäre. Bea konnte sich vorstellen, dass Kerk in diesem Moment vor Angst beinahe starb.

»Ich weiß nicht ...«

»Legendäre letzte Worte«, erwiderte Morel mit einem üblen Lachen und holte mit seiner Waffenhand aus. Bea war wie gelähmt. Was sollte sie tun? Gewiss, Kerk war ein Mistkerl. Doch sie als Polizistin konnte doch nicht einfach zulassen, dass ihr Kollege diesen Mann vom Dach stieß. Wenn Bea schon an einem Verbrechen beteiligt war, wollte sie wenigstens damit durchkommen. Und sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass die unten in der Gasse arbeitenden holländischen Polizisten die richtigen Schlussfolgerungen ziehen würden. Sie hätten gewiss keine Hemmungen, die beiden Europol-Fahnder zu verhaften.

Weder die Deutsche noch der Franzose konnten nach den Ereignissen der vergangenen Stunden auf ein besonderes Entgegenkommen der hiesigen Behörden hoffen.

Kerks Stirn war mit unzähligen kleinen Schweißperlen bedeckt. Seine Unterlippe zitterte.

»Warten Sie ... das war ein Mann von Lacis. Uns war schon länger aufgefallen, dass Ulyana Ärger gemacht hat. Sie tat nicht, was sie sollte. Also kam dieser Kerl, um ihr ins Gewissen zu reden. Aber bevor er zu ihr durchdringen konnte, brannte sie durch. Da musste er natürlich hinterher.«

»Natürlich«, bestätigte der Franzose ironisch. »Und hat Lacis‘ Gefolgsmann auch einen Namen?«

»Wir nannten ihn Boris. Seinen Familiennamen kenne ich nicht. Er spricht schlecht Niederländisch, ich halte ihn für einen Russen oder Ukrainer.«

»Werden Sie sich mit uns gemeinsam die elektronische Verbrecherkartei anschauen?«, fragte Morel mit Unschuldsmiene.

»Selbstverständlich«, beteuerte Kerk. »Darf ich noch einen Moment lang hier draußen bleiben? Die frische Luft tut mir gut.«

»Das lässt sich einrichten«, gab der Franzose zurück.

Bea war nicht begeistert davon, den Manager auf dem Dach zurückzulassen. Doch sie fügte sich. Ihr fiel auf, dass Morel mit einem Wattestäbchen etwas Blut von der Blechverkleidung des Dachfensters schabte und in ein schmales Glas tat.

»Der Körper der Frau weist keine Wunde auf, die zu dieser scharfen Kante passt. Wenn wir Glück haben, dann gehört das Blut zum Täter.«

Der Inspektor nickte und steckte das Beweisstück ein.

»Ich werde es umgehend im Labor untersuchen lassen. - Nun nun sollten wir uns beeilen. Es wäre gut, wenn wir wieder in der Gasse sind, bevor ...«

Er unterbrach sich selbst.

»Bevor Kerk springt«, sagte Morel, als ob sie sich nach einer Selbstverständlichkeit erkundigt hätte.

»Wie bitte?! Sie vermuten eine suizidale Absicht? Wir müssen ...«

Bea wollte aufs Dach zurück, doch ihr Kollege packte sie hart am Handgelenk.

»Wenn er das tun will, ist es seine Entscheidung. Glauben Sie ernsthaft, dass eine Memme wie Kerk gegen Lacis vor Gericht aussagt? Wir können von ihm nicht mehr erwarten als das, was er uns verraten hat. Er ist nutzlos geworden.«

Die Kommissarin war zu durcheinander, um antworten zu können. Sie ließ sich von Morel wieder zum Trompettersteeg geleiten.

Kaum waren sie dort angelangt, als der Körper des Managers wie ein nasser Sack auf dem Pflaster aufschlug.


9

Amsterdam kam ihm vor wie ein schmutziges und von Marihuana-Schwaden durchzogenes Disneyland. Nicht, dass er jemals in den Staaten gewesen wäre. Er hatte im Schlamm gelegen, war in Geländewagen nächtelang auf eisigen unbefestigten Pisten gefahren, hatte in Armee-Biwaks und im Schlafsack unter freiem Himmel kampiert. Man hätte ihn durchaus als weitgereist bezeichnen können, als einen Globetrotter des Todes.

Sein Heimatland war ihm fremd geworden, doch dank seiner erstklassigen Vernetzung blieb er stets auf dem neuesten Stand. Er bekam alle Informationen, um sein Ziel zu erreichen. Doch diesmal gab es keine Organisation und keinen fremden Staat, der seine Söldnerdienste in Anspruch nahm.

Der reisende Killer war rein privat in die niederländische Hauptstadt gereist. Auf dem Flughafen Schiphol gelangte er durch die Sicherheitskontrolle, ohne mit der Wimper zucken zu müssen. Seine Personalpapiere waren erstklassig, man würde sie nicht als Fälschungen erkennen. Das organisierte Verbrechen war den Sicherheitsbehörden mindestens einen Schritt voraus.

So, wie immer.

Er stieg in ein Taxi und nannte dem Fahrer in gut verständlichem Englisch eine Adresse an der Elandsstraat. Dort hatte ein Strohmann für ihn eine Wohnung gemietet. Ein Hotelzimmer wäre nicht in Frage gekommen.

Das Kind brauchte Ruhe und eine familiäre Umgebung.

Der Killer ließ sich seinen Widerwillen nicht anmerken, während das Taxi sich seinen Weg in die Innenstadt bahnte. Trauben von vergnügungssüchtigen Touristen bevölkerten die Gehwege. Sie belagerten altehrwürdige Gebäude und fotografierten sich ständig gegenseitig, als ob sie Tiere im Zoo wären. Er grinste bitter, dieser Vergleich gefiel ihm.

Aber er hatte oft genug im Blut seiner Feinde gelegen, da würden ihn ein paar Tage in diesem Sündenpfuhl nicht umbringen. Wenn alles klappte, dann würde niemand mit seiner Ankunft rechnen. Das Überraschungsmoment war sein wichtigster Trumpf.

Der Wagen hielt vor dem Cafe Saarein. Der Fahrer deutete auf ein schmales Haus auf der gegenüber liegenden Straßenseite.

»Dort müsste es sein, Mijnheer.«

Der Killer bedankte sich und gab ein gutes, wenn auch nicht übertrieben großzügiges Trinkgeld. Er war ein großer athletischer Mann mit kurzen Haaren und unauffälliger Freizeitkleidung. Man konnte ihn für einen jener Touristen halten, die Amsterdam zu Millionen überrannten. War er Engländer, Däne, Australier, Russe, Finne? Es spielte keine Rolle, er konnte buchstäblich alles sein. Der Killer trug keine Ringe und war nicht tätowiert. Seine Haarfarbe konnte er wechseln oder einfach eine Mütze tragen. Wer ihn identifzieren wollte, musste schon über Gesichtserkennungssoftware verfügen. Und selbst dann würde die Spur lediglich zu einem Massengrab in der Ukraine führen. Er hatte sich sehr große Mühe damit gegeben, unsichtbar zu werden.

Die Schlüssel, die man ihm zugespielt hatte, passten. Trotzdem blieb er auf der Hut, als er in das Haus trat und seine in Turnschuhen steckenden Füße auf die knarrenden Bodendielen stellte.

Er rechnete stets und ständig mit einer Attacke aus dem Hinterhalt. Es gab gewiss Leute, die ihn deshalb für paranoid hielten. Doch seinem Misstrauen hatte er es zu verdanken, dass er inzwischen schon fünfunddreißig Jahre alt war.

Im Vergleich zu vielen seiner Berufskollegen kam er sich wie ein Methusalem vor. Ein Veteran, der zahlreiche Schlachten überlebt hatte. Der Killer stieß langsam die Luft aus den Lungen, nachdem er sein neues Zuhause sorgfältig überprüft hatte. Niemand lauerte ihm auf, vermutlich gab es keine Person, die seine Anwesenheit auf dem europäischen Kontinent auch nur ahnte. Trotzdem konnte ein Mann in seiner Position nicht vorsichtig genug sein.

Zufrieden stellte der Killer fest, dass das Kinderzimmer komplett eingerichtet war. Es gab ein Gitterbettchen und eine Wickelkommode. Er vermisste lediglich Plüschtiere, aber das war kein Problem. Er würde später eins kaufen, vielleicht einen Hasen.

Er mochte Hasen.

Der Fremde ging in die Küche und bereitete sich einen Tee zu, den er wenig später mit viel Zucker trank. Stark gesüßter Tee war sein einziges Laster. Während viele seiner Berufskollegen das Grauen ihres Arbeitsalltags mit Alkohol oder Drogen betäubten, blieb er nüchtern und distanziert. Er empfand nichts, wenn er tötete oder marterte. Der Killer hatte schon öfter gelesen, dass dies ein psychischer Defekt sei. Irgend etwas in seiner DNA stimmte nicht. Doch das war ihm egal. Es war ein Manko, mit dem er nur allzu gut leben konnte. Immerhin hatte es ihn reich gemacht.

Aktuell ging es ihm allerdings nicht ums Geld.

Er reagierte auf eine Botschaft, die er vor kurzem erhalten hatte. Nun wollte er das tun, was getan werden musste. Während der Killer genüsslich seinen Tee schlürfte, verbrachte er die nächste Stunde mit Informationsbeschafftung. Das war einfach, zumal viele Menschen geradezu sträflich leichtsinnig mit ihren Daten umgingen. Aus ihrer Schwäche machte er seine Stärke. Also der Fremde alles Nötige beisammen hatte, machte er sich auf den Weg zu einem Autoverleih. Er entschied sich für einen kleinen blauen Peugeot, zahlte mit einer Kreditkarte und legte einen südafrikanischen Führerschein vor. An falschen Papieren mangelte es ihm ebenso wenig wie an Geld.

Dann ließ er sich vom Navigationssystem seines Smartphones zu einer Adresse in Stadionbuurt geleiten. Dieser Stadtteil mit einförmigen Sozialsiedlungen aus braunen Backsteinen verdankte seine Existenz den Olympischen Spielen von 1928, wie der Killer gelesen hatte. Ihn interessierte vor allem, wie er sich nach seiner selbst gestellten Aufgabe möglichst schnell und unauffällig wieder aus der Affäre ziehen konnte. Je weniger Menschen sein Gesicht sahen, desto einfach würde er sich den Erfolg sichern können.

Das Kind musste leben. Das war alles, was ihn wirklich interessierte.

Natürlich wäre es in einer Stadt wie Amsterdam leicht gewesen, sich Schusswaffen zu besorgen. Darauf hatte er vorerst verzichtet. Die Effektivität von Pistolenkugeln wurden von Laien maßlos überschätzt. Er hatte im Kampfeinsatz schon Männer gesehen, die mit fünf oder sechs Patronen im Leib immer noch brandgefährlich waren. Das Adrenalin tat sein Übriges. Wer einen Feind wirklich nachhaltig stoppen wollte, verließ sich dabei besser auf ein Schlaginstrument oder ein Messer. Ganz abgesehen davon, dass solche Gegenstände nicht allzu viel Lärm verursachten. Von Pistolen mit Schalldämpfern hielt der Killer nicht viel, in dieser Hinsicht war er sehr konservativ.

Noch wusste er nicht, ob die Adresse im Stadionbuurt überhaupt stimmte. Er musste sich auf seine Intuition verlassen und die Situation so annehmen, wie sie sich ihm präsentierte. Er parkte um die Ecke von seinem Zielobjekt. Falls er sich schnell entfernen musste, sollte sich kein übereifriger Zeuge in der unmittelbaren Umgebung sein Nummernschild einprägen können.

Er stieg aus und schlenderte lässig auf den fünfstöckigen Mietsbau zu. Auf einer Parkbank lungerten ein paar junge Tagediebe herum, vermutlich Kleinkriminelle. Der Killer hatte für dieses Gesocks nur Verachtung übrig. Wer es in seiner Branche wirklich zu etwas bringen wollte, musste Visionen haben und mehr wollen. Durfte sich nicht vor dem Tod fürchten. All das traf auf diese Schmalspurganoven in seinen Augen nicht zu.

Falls einer von ihnen dem Fremden in die Quere kam, würde er es bitter bereuen. Der Killer ging langsam an der Parkbank vorbei. Er trug ein billiges Kapuzenshirt, dazu eine Jeans und Turnschuhe. Ein Allerwelts-Outfit, mit dem er nirgendwo Aufsehen erregte - außer vielleicht bei einem Opernball.

Die Eckensteher verfügten offenbar über gute Instinkte. Sie witterten, dass dieser Mann ihnen allen haushoch überlegen war, sogar ohne Waffe. Daher verzichteten sie darauf, ihn von der Seite anzuquatschen. Ja, sie dämpften sogar ihre Stimmen, solange er in Hörweite war. Oder ob sie ihn für einen Zivilfahnder hielten? Das konnte der Killer sich nicht vorstellen, denn diese Bengels hatten üblicherweise keinen Respekt vor der Polizei, was er aus ihrer Perspektive sogar nachvollziehen konnte. Die europäische Kuscheljustiz hatte auf die kriminellen Nichtstuer ganz gewiss keine abschreckende Wirkung.

Die Haustür seines Zielobjekts stand sperrangelweit offen. In der Eingangshalle roch es nach Desinfektionsmittel, das den beißenden Uringestank nur unvollkommen überdecken konnte. Und es gab natürlich Graffiti, ohne ging es anscheinend nirgendwo.

Der Fremde musste ein wenig suchen, bis er in die zweite Etage hoch stieg. Aus vielen Wohnungen drangen Fernsehgeräusche oder lautstarke Streitigkeiten in den unterschiedlichsten Sprachen. Der Killer fühlte sich schon beinahe zu Hause, denn es gab solche Gegenden überall auf der Welt, ob nun in Los Angeles, Sao Paulo oder Berlin. Überall dort war er schon im Einsatz gewesen, und er hatte noch niemals versagt. Auch heute stand diese Option nicht auf seinem Plan.

Er klingelte an einer Tür.

Aus dem Inneren der Wohnung drang leise Musik. Der Killer belauschte einen kurzen Wortwechsel. Immerhin schien jemand daheim zu sein. Er schellte noch einmal. Hartnäckigkeit zahlte sich aus, nicht nur in seinem Beruf.

Ein Sperrriegel wurde zurückgeschoben. Nach Meinung des Fremden war das der erste Fehler. Man sollte niemals die Tür so einfach freigeben, wenn man nicht weiß, wer herein will. Er spannte seine Muskeln an, als geöffnet wurde.

Das Mädchen war schlank und dunkelhäutig, trug eine weiße Caprihose und ein lila Top. Er schätzte sie auf ungefähr achtzehn Jahre. Für einen Moment wurde er von einem Gefühl der Enttäuschung überwältigt.

Das war nicht die Person, auf die es ihm ankam. Doch war nicht allein in der Bude, jedenfalls würde sie nicht mit sich selbst gesprochen haben. Der Killer hatte sich bereits eine Sturmhaube über das Gesicht gezogen. Er wollte nicht töten, wenn es sich vermeiden ließ. Jedenfalls nicht jetzt. Also war es notwendig, dass sie sein Gesicht nicht sah.

Die Kleine starrte ihn erschrocken an, wollte schreien und die Tür zu rammen. Da hatte er sie allerdings schon an der Kehle gepackt und in die Wohnung gedrängt. Sie gab nur einen leisen gurgelnden Laut von sich, als der Killer ihr nachsetzte und die Tür mit einem Fußtritt von innen schloss.

Die Wohnung war nicht groß, verfügte vielleicht über zwei oder drei Zimmer. In dem kleinen Wohnraum lümmelte ein Bursche mit offener Hose auf der durchgesessenen Couch. Offenbar war er der Freund des Mädchens, die beiden schienen gerade ein wenig gefummelt zu haben. Also würde die Mutter der Kleinen vermutlich nicht daheim sein. Dabei war der Fremde nur wegen ihr gekommen.

Der Teenager rief etwas auf Niederländisch und kam von dem Sofa hoch, um seiner Freundin beizusteheh. Wie süß. Der Killer hatte bereits einen spontanen Plan entwickelt, wie er weiter vorgehen wollte.

Das Mädchen würde leben, der Junge nicht.

Er schleuderte die Kleine wie eine lebensgroße Puppe achtlos zur Seite und griff sich den Burschen, der ihn soeben attackieren wollte. Der Killer durchbrach die Deckung des schlaksigen Kerls, der offenbar keine Ahnung vom waffenlosen Zweikampf hatte.

Der Fremde machte kurzen Prozess. Es knackte laut, als das Genick des Teenagers brach. Sein Kopf stand in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab. Der Killer ließ ihn achtlos zu Boden gleiten. Die Erfahrung sagte ihm, dass dieser Knilch ihm keine Schwierigkeiten mehr machen würde.

Das Mädchen hatte die Augen weit aufgerissen. Sie starrte den Killer an, als ob sie einen Geist vor sich hätte. Oder einen Dämon. Sie zitterte am ganzen Körper. Der Eindringling bemerkte das Smartphone in ihrer Hand. Offenbar war sie drauf und dran gewesen, die Polizei zu alarmieren.

Er streckte ihr einfach nur seine Rechte entgegen.

Diese Geste war nicht misszuverstehen. Die Kleine hätte ins Nebenzimmer fliehen, sich dort verbarrikadieren können. Nicht, dass es wirklich viel genutzt hätte. Aber sie versuchte es noch nicht einmal. Der gewalttätiger Auftritt des Killers hatte sie offenbar in eine Schockstarre versetzt.

Der Fremde griff sich einen Stuhl aus der Essecke und platzierte ihn mitten im Raum. Das Smartphone steckte er ein. Das Mädchen konnte den Blick nicht von dem toten Freund abwenden.

»Zieh dich aus«, sagte der Killer auf Englisch zu ihr. Sie zögerte und zitterte noch stärker, falls das überhaupt möglich war. Doch dann zog sie ihr Top über den Kopf. Der Fremde hatte noch nicht einmal seine Stimme erheben müssen. Das Mädchen hatte gesehen, wozu er fähig war. Raffinierte Überredungskünste hatten sich daher erübrigt.

Laut den gekauften Informationen des Killers hatte die Frau, an der er eigentlich interessiert war, eine Tochter. Jenes Mädchen also, das inzwischen splitternackt und von Todesangst geschüttelt vor ihm stand. Ob die Kleine annahm, dass er sich an ihr vergehen wollte? Das hatte er gar nicht vor, ein solcher Akt würde bloß seine Konzentration stören. Andererseits konnte es nichts schaden, wenn er sie in dem Glauben ließ.

Der Killer deutete auf den Stuhl.

Sie setzte sich. Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass ihr unzählige Fragen durch den Kopf schwirrten. Doch sie war zu ängstlich, um auch nur eine davon loszuwerden. Sie wollte gewiss erfahren, ob sie diesen Tag überleben würde. Wenn die Dinge in seinem Sinn liefen, hatte er nichts dagegen. Er hielt sich selbst nicht für einen übertrieben grausamen Menschen. Der Freund des Mädchens hatte nur sterben müssen, weil das die effizienteste Möglichkeit war, ihn ruhig zu stellen. Wäre der Teenager nur gefesselt und geknebelt worden, dann hätte der Killer ihn trotzdem ständig im Auge behalten müssen. Und es fiel ihm leichter, sich nur auf eine Person zu konzentrieren.

Der Killer durchsuchte in der Küche die Schubladen und fand zwischen allerlei Kramskrams eine Rolle mit Paketband. Er drehte der Nackten dabei den Rücken zu, ohne sich deshalb den Kopf zu zerbrechen. Auf seine Menschenkenntnis konnte er sich verlassen. Das Mädchen hätte niemals gewagt, ihn anzugreifen. Er kehrte zu ihr zurück und benutzte das Band, um die Kleine an den Stuhl zu fesseln. Außerdem knebelte er sie mit einem Stück der klebenden Plastikfolie. Eigentlich war es unnötig, da sie noch nicht einmal als Augenzeugin des Mordes einen Schreckensschrei ausgestoßen hatte.

Der Anblick der gefesselten und geknebelten Nackten war hauptsächlich für ihre Mutter gedacht. Gleiches galt für das Steakmesser, das der Killer sich aus der Küche holte. Er ging nicht davon aus, es benutzen zu müssen. Doch mit einer solchen blanken Klinge in der Hand konnte er seinen Worten noch mehr Nachdruck verleihen.

Der Fremde lehnte sich gegen die Wand. Wenn die Mutter seiner Geisel hereinkam, würde sie sofort ihre Tochter und den maskierten Messermann in ihrer Nähe sehen. Er wusste nicht, wann er mit ihrer Ankunft rechnen konnte, aber er hatte Zeit. Sein größter Vorteil war das Überraschungsmoment. Niemand rechnete damit, dass er sich in Amsterdam befand.

Ob es dem Kind gut ging? Diese Sorge konnte er nicht aus seinem Bewusstsein verdrängen. Blut war eben doch dicker als Wasser, wie es so schön hieß. Wenn er diese Textnachricht nicht erhalten hätte ... aber er hatte sie bekommen, und nun musste er retten, was noch zu retten war.

Das Kind.

Der Killer konnte sich nicht daran erinnern, jemals auf eigene Rechnung gearbeitet zu haben. Diesmal würde kein Geld auf eines seiner Offshore-Konten fließen, aber das machte ihm nichts aus. Es gab Dinge, die nicht mit Gold aufzuwiegen waren. Er wusste nicht, wie lange er gegrübelt hatte, während sein Opfer leise vor sich hin schluchzte.

Die Wohnungstür wurde aufgeschlossen. Eine Frau kam herein, beladen mit mehreren Einkaufstüten. Sie zuckte zusammen, als sie den toten Teenager, ihre nackte gefesselte Tochter und den Killer erblickte. Genau so, wie er es vermutet hatte.

»Was ist hier los?«, fragte Cindy Wilkenaar mit zitternder Stimme.


10

»Was wissen wir über den Toten?«

Bea richtete diese Frage an Eric de Bruin. Die Kommissarin wollte verhindern, dass der niederländische Kollege angesichts von Kerks Selbstmord Verdacht schöpfte. Man konnte sich ja wirklich fragen, was dort oben auf dem Dach geschehen war. Obwohl sie nicht glaubte, das irgend jemand diesem Widerling auch nur eine Träne nachweinte. Bea musste sich eingestehen, dass Morel ihr zunehmend unheimlich wurde. Sein Verhalten war für sie nicht immer nachvollziehbar. Dennoch musste sie mit ihrem neuen Dienstpartner auskommen, wenn sie sich nicht im Handumdrehen von ihrer neuen Karriere bei der Europol verabschieden wollte.

De Bruin stand weit genug von dem Leichnam entfernt, um die Kriminaltechniker nicht an ihrer Arbeit zu hindern. Sein Blick hatte etwas Träumerisches, wie die deutsche Ermittlerin fand.

»Kerk war ein Produkt des Rotlichtviertels, wenn Sie es so nennen wollen. Seine Mutter hat als Hure gearbeitet, sein Erzeuger wird irgendein namenloser Freier gewesen sein. In der Schule ist Kerk keine Leuchte gewesen, er hat sie ohne Abschluss verlassen. Aber für Typen wie ihn gibt es in dieser Gegend immer etwas zu tun. In jungen Jahren war Kerk als Taschendieb unterwegs, hat betrunkene Touristen beklaut. Doch er war nicht wirklich fix genug, um bei solchen Delikten Erfolg zu haben. Nach zwei Gefängnisaufenthalten sattelte er um, war eine Zeitlang Mitinhaber eines Koffieshops. Vor drei Jahren wurde Kerk Manager der Honolulu Paradise Bar.«

»Sie wissen viel über diesen Mann«, stellte Morel fest. »Können Sie uns auch sagen, wie Kerks Kontakt mit Lacis zustande kam?«

Der Hoofdcommissaris lachte, doch er klang nicht amüsiert.

»Soll das ein Witz sein? Es gibt hier weit und breit kein Etablissement, das nicht unter der Fuchtel des organisierten Verbrechens steht. Das gilt natürlich auch für die Honolulu Paradise Bar.«

»Vor drei Jahren war Lacis noch gar nicht in Amsterdam«, gab Bea zu bedenken.

»Das weiß ich auch«, erwiderte de Bruin. »Früher gehörte die Spelunke zum Imperium des dicken Stavros. Aber der Grieche ist weg vom Fenster.«

»Tot?«, vergewisserte sich Morel.

»Nein, er ist in seine Heimat zurückgekehrt. Und zwar vier Monate, nachdem Lacis in unsere schöne Stadt eingefallen ist. Nun haben Sie mir aber genug Fragen gestellt, finde ich. Jetzt bin ich an der Reihe. Und mich würde brennend interessieren, warum Kerk sich so plötzlich das Leben genommen hat, nachdem er mit Ihnen auf dem Dach war. Das sieht ihm nämlich gar nicht ähnlich. Er war eine menschliche Kakerlake, ein Überlebenskünstler.«

»Kerk ist vom Dach gesprungen, um Lacis nicht in die Hände zu fallen«, sagte Morel ruhig.

»Können Sie das beweisen?«

De Bruin hatte sich nun dem Franzosen zugewandt. Seine Haltung war feindselig geworden. Bea konnte ihn in gewisser Weise sogar verstehen. Amsterdam war seine Stadt, er hatte sich schon sein ganzes Berufsleben lang mit Typen wie Kerk herumgeschlagen. Und nun wurde ihm von Europol ein Duo vor die Nase gesetzt, das hier noch nicht einmal das nächste Postamt finden konnte.

»Nein, selbstverständlich nicht«, erwiderte der Franzose ruhig. »Wir arbeiten hier nur mit Hypothesen, nicht wahr? Dasselbe trifft zweifellos auch auf Sie zu. Wenn Sie genügend Beweise gegen den Balten in der Hand hätten, würden Sie nicht die Hilfe von Europol benötigen.«

Der Niederländer sah nach Beas Meinung so aus, als ob er Morel liebend gern die Visage poliert hätte. Die Körpersprache und Haltung ihres Kollegen beunruhigte die junge Kommissarin allerdings noch viel stärker. Er wirkte auf sie in diesem Moment wie ein Zombie oder Android, wie eine nicht menschliche Tötungsmaschine. Sie hätte nicht sagen können, wie dieser Eindruck entstand, denn in den Augen eines unvoreingenommenen Beobachters stand der Inspektor völlig entspannt neben ihr, sein Tonfall wirkte beinahe gelangweilt. Und doch lief es Bea eiskalt den Rücken herunter, und sie rückte unwillkürlich ein paar Schritte von ihm ab. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie sich vermittelnd zwischen die beiden Männer stellen musste. Andernfalls würde es schon bald zu einer Konfrontation kommen, die sie unbedingt verhindern wollte.

»Wir sollten uns die Arbeit aufteilen«, schlug sie mit einem munteren Unterton vor, der ihr selbst falsch vorkam. »Wie wäre es, wenn Sie das private Umfeld des Toten durchleuchten, während wir die Europol-Datenbanken nach Kerks möglichen Kontakten ins Ausland durchforsten?«

Sie hatte sich zunächst an de Bruin gewandt. Der Niederländer schaute sie an, als ob er aus einer tiefen Trance erwachen würde.

»Meinetwegen«, gab er knapp zurück. Immerhin schien ihn die Aussicht, dass die beiden Europol-Ermittler aus seinem Gesichtsfeld verschwanden, ein wenig aufzuheitern. Oder kam es Bea nur so vor?

Sie packte Morel am Ärmel - obwohl die Berührung ihr Widerwillen verursachte - und zog ihn mit sich fort.

»Ich glaube nicht, dass wir in den Fallakten Verbindungen zwischen Kerk und Lacis finden, Frau Ahlers.«

»Das geht mir genauso. Ich wollte nur verhindern, dass Sie und de Bruin sich gleich gegenseitig die Köpfe einschlagen.«

»Das wäre nicht geschehen«, behauptete der Franzose.

»Mir sah es aber ganz danach aus!«

»Es wäre nicht passiert, weil ich den Kollegen getötet hätte, bevor er Hand an mich legen konnte.«

Morel hörte sich nicht wie ein Angeber oder Prahler an, vielmehr trug er diesen Satz im Plauderton vor. Bea redete sich ein, dass er es nicht ernst meinte. Sie ließen sich von einem Streifenwagen zum Polizeipräsidium mitnehmen. Als die Ermittler dort angelangt waren, schaltete Bea den Computer ein, den sie während ihres Aufenthaltes in Amsterdam benutzen durfte.

»Ich verspreche mir auch nichts davon, Kerks etwaige Auslandskontakte zu checken, Morel. Stattdessen möchte ich mich auf das Bild des kleinen Mädchens konzentrieren, das wir bei Ulyana Dripov gefunden haben. Ich wette mit Ihnen, dass es sich um ihre Tochter handelt.«

»Ich würde nicht dagegen wetten, zumal die Familienähnlichkeit zwischen der Frau und dem Kind unübersehbar ist«, gab der Franzose trocken zurück.

Bea holte ihr Smartphone hervor und verglich noch einmal die Fotos der weiblichen Leiche und des Medaillons. Sie war auf sich selbst sauer, weil es ihr noch nicht aufgefallen war. Aber ihr Kollege hatte recht. Morel schien ein ausgezeichneter Beobachter zu sein.

Jedenfalls besser als ich selbst, dachte sie grimmig. Bea tippte den Namen Ulyana Dripov in die Suchmaske der Europol-Datenbank.

»Ihnen ist aber schon bewusst, dass die Ukraine nicht zur Europäischen Union gehört, Frau Ahlers?«

Verdammter Besserwisser! dachte Bea. Sie wandte sich dem Franzosen zu und sagte so ruhig wie möglich: »Für so ungebildet sollten Sie Ihre Dienstpartnerin nicht halten, Morel. Und ist es sehr wohl möglich, dass diese Person in einem anderen Mitgliedsstaat der EU polizeilich aufgefallen ist - na, also! Da haben wir ja schon einen Treffer.«

Die Polizei von Lodz in Polen hatte Ulyana Dripov vor zwei Jahren wegen Beischlafdiebstahl festgenommen. Sie war erkennungsdienstlich behandelt und danach in ihre Heimat abgeschoben worden. Bea deutete auf den Monitor.

»Sehen Sie, was dort steht, Morel!«

Der Inspektor nickte.

»Das Jugendamt in Kiew wurde von der polnischen Polizei informiert, weil Ulyana Dripov ihre minderjährige Tochter Alissa bei sich hatte«, sagte er. »Wir können davon ausgehen, dass es sich bei dem Foto im Medaillon um eine Aufnahme dieses Kindes handelt. Allerdings haben wir bei der Durchsuchung der Bar-Räumlichkeiten keinen Hinweis auf ein kleines Mädchen gefunden.«

»Zum Glück«, gab Bea zurück. »Ulyana hat offenbar so viel Anstand besessen, ihre Tochter nicht an ihrem Arbeitsplatz unterzubringen.«

»Wir sollten die Informationen über dieses Kind an den niederländischen Jugendschutz weiterleiten und uns wieder auf Lacis konzentrieren«, schlug Morel vor. Die Kommissarin zog die Augenbrauen zusammen.

»Wie bitte?! Nein, das werde ich ganz gewiss nicht tun. Womöglich ist das Leben dieses Kindes in Gefahr, wir müssen es finden und in Sicherheit bringen.«

»Ich wüsste nicht, weshalb es jemand auf Alissa abgesehen haben könnte«, gab Morel zurück.

Ist er wirklich so gefühllos oder gehört seine eisige Fassade zu seinem Selbstbild? fragte Bea sich. Die Vorstellung, auf unbestimmte Zeit mit dem französischen Inspektor zusammenarbeiten zu müssen, verursachte ihr zunehmend Unbehagen.

»Womöglich hat das Kind bei seiner Mutter Dinge aufgeschnappt, die Lacis gefährlich werden könnten«, erklärte sie. »Wenn der Lette Alissa für immer zum Schweigen bringen lässt, geht er kein Risiko ein.«

»Diese Annahme erscheint mir äußerst hypothetisch, Frau Ahlers.«

»Sie müssen sich an den Ermittlungen ja nicht beteiligen, Morel.«

Bea lagen noch weitere Sätze auf der Zunge, die sie herunterschluckte. Plötzlich klingelte ihr Smartphone. De Bruin war am Apparat.

»Es gibt ein weiteres Gewaltdelikt im Zusammenhang mit der Honolulu Paradise Bar«, sagte der Niederländer gallig. »Es könnte sich allerdings auch um ein Familiendrama handeln, das mit Lacis überhaupt nichts zu tun hat.«

»Von was für einem Gewaltdelikt sprechen Sie?«, hakte Bea nach.

»Es geht um einen Dreifachmord oder einen Doppelmord nebst einem Suizid.«

11

Juri fürchtete sich vor seiner Freizeit.

Er hatte seine Lebensaufgabe darin gefunden, seinem Herrn wie ein treuer Hund nicht mehr von der Seite zu weichen. Und es erfüllte den ehemaligen Fallschirmjäger mit einem klammheimlichen Stolz, wenn er Viktor Lacis wieder einmal die Haut hatte retten können. Je stärker Juri sich auf den Alten konzentrierte, desto weniger musste er an sich selbst denken. Und es fiel ihm leicht, sich mit einem älteren Mann identifizieren zu können. Lacis hätte glatt sein Vater sein können, aber ... nein, Juri wollte nicht an seinen Vater denken, dessen Knochen längst irgendwo in russischer Erde vermoderten.

Doch in den Träumen verfolgte er seinen Sohn immer noch.

Wäre es nach Juri gegangen, dann hätte es für ihn keinen Urlaub und keinen Feierabend gegeben. Er fühlte sich wohl in Lacis‘ Gesellschaft, wobei an dieser Verbindung nichts Erotisches war. Doch der Alte bestand darauf, dass sein »Mann fürs Grobe« gelegentlich einmal ausspannte. Während dieser Zeiten wurde Lacis‘ Schutz von anderen hartgesottenen Burschen übernommen, die Juri allerdings nicht für halb so fähig hielt wie sich selbst.

Was sollte er nun also tun, um sich in Amsterdam zu amüsieren? Unschlüssig entfernte er sich vom Haus an der Herengracht, kam sich vor wie bei der Vertreibung aus dem Paradies. Zog es ihn zu einer der zahlreichen Huren des Redlight-Distrikts? Nein, diese Vorstellung reizte ihn überhaupt nicht. Eigentlich machte er sich nichts aus Frauen. Oder aus Männern. Oder aus Tieren. Juri war ein Mensch, der seine persönlichen Bedürfnisse hervorragend unterdrücken konnte. Darum war er ja auch so ein guter Soldat gewesen, und als Leibwächter seines Herrn konnte er sich als unverzichtbar ansehen. Er war jederzeit bereit, für Lacis alles zu riskieren, weil sein eigenes Leben ihm nichts bedeutete.

Juri hätte sauer auf seinen Chef sein müssen, weil er ihn jetzt zur Untätigkeit verdammt hatte. Doch jegliche Kritik an Lacis war ihm fremd. Er ging langsam die Paleisstraat hinunter, auf das Königliche Palais zu. Vielleicht sollte er sich ein russisches Restaurant suchen und sich dort darüber amüsieren, wie die Holländer die Kochrezepte seiner Heimat verschandelten. So konnte er zumindest einen Teil der Zeit totschlagen, bis er endlich wieder zu seinem Herrn zurück durfte.

Wie überall im Amsterdamer Zentrum wimmelte es auch in der Paleisstraat von Touristen. Dennoch entging es dem Russen nicht, dass er verfolgt wurde. Auf seine Instinkte war er nicht ohne Grund stolz. Sie hatten ihn bereits oft genug vor dem sicheren Tod bewahrt. Auch in diesem Fall zweifelte Juri nicht an seinem sechsten Sinn für Gefahrensituationen. Und deshalb beging er auch nicht den Fehler, sich umzudrehen.

Wer immer hinter ihm war, sollte in Sicherheit gewiegt werden.

Einen unmittelbaren Mordanschlag hatte der Leibwächter jedenfalls nicht zu befürchten. Er machte sich über den Wert seines eigenen Lebens keine Illusionen. Juri war keinem Menschen wichtig, außer Lacis - und das auch nur aus professionellen Gründen. Seine Mutter hatte ihn zweifellos geliebt, wenn auch nicht stark genug, um ihn als Kind vor seinem Vater zu schützen.

Juris Pulsschlag beschleunigte sich. Plötzlich begann ihm seine erzwungene Freizeit zu gefallen. Jemand hatte es auf ihn abgesehen, um auf diesem Umweg an Lacis heranzukommen. Und Juri würde den unbekannten Feinden diese Suppe gründlich versalzen!

Er tat weiterhin so, als ob er interessiert und neugierig durch die ihm immer noch ziemlich unbekannte Stadt laufen würde. Der Russe kam an einigen Lachgas-Dealern vorbei, die den neuesten Kick der Drogen-Metropole auf offener Straße feilboten. Juri wurde allerdings nicht angesprochen. Diese Kanaillen ahnten vermutlich, dass er nicht an Rauschzuständen interessiert war. Der Russe pflügte durch Gruppen von wild fotografierenden Touristen, die ihre Kameras und Smartphones auf das altehrwürdige Paleis op de Dam richteten. Juri war sicher, dass er gekidnappt werden sollte. Das hätte er zumindest getan, wenn er anstelle seiner unbekannten Widersacher gewesen wäre: Die Zielperson verschleppen und sie dann so lange foltern, bis sie alle wichtigen Informationen ausspuckte.

Doch das war in einer so belebten Gegend so gut wie unmöglich. Allein schon, weil ein Fluchtwagen sich hier nur im Schneckentempo bewegen konnte. Juri änderte seine Route und bog in eine ruhigere Seitenstraße ein. Er vermutete, dass seine Verfolger ebenfalls zu Fuß unterwegs waren und im Funkkontakt mit einem zweiten Team in einem Transporter standen.

Der Russe musste noch ein wenig suchen, bis er die ideale Stelle gefunden hatte, um gekidnappt zu werden. Er blieb auf dem Oudebrugsteeg stehen, legte seine Hände auf das gemauerte Brückengeländer und tat so, als ob er den Blick auf das Grachtenwasser und auf die Fassaden der antiken Bürgerhäuser genießen würde. In Wirklichkeit war Juri angespannt wie in einem Kampfeinsatz und wartete auf den nächsten Schritt, den seine Gegner tun würden.

Jemand kam näher. Das konnte er spüren, auch ohne in die Richtung blicken zu müssen. Einige Minuten zuvor war noch eine Reisegruppe an ihm vorbei gegangen, die aus koreanischen Touristen bestand. Sie hatten sich lautstark in ihrer Muttersprache miteinander unterhalten, ohne den großen durchtrainierten Mann zu beachten. Juri war sicher, dass gleich alles ganz schnell gehen würde.

»Ich habe dich vermisst.«

Mit diesen Worten wurde Lacis‘ Leibwächter auf Russisch angesprochen. Außerdem stieg ihn ein teures Damenparfüm in die Nase. Er drehte langsam den Kopf. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er seine Verfolgerin erkannte. Sie stand so nahe bei ihm am Brückengeländer, dass er die Wärme ihres jungen Körpers spüren konnte. Ihre schönen Augen blitzten, als sie zu Juri aufschaute.

»Fräulein Lara«, brachte er krächzend hervor. »Weiß Ihr Vater, dass Sie hier sind?«

Die Achtzehnjährige warf ihre langen blonden Haare in den Nacken und lachte Juri an.

»Du bist immer noch der Gleiche«, neckte sie ihn. »Wir haben uns ein Jahr lang nicht gesehen. Und wenn ich plötzlich zu dir komme, sprichst du nur von meinem alten Herrn. Das ist ziemlich beleidigend für mich, weißt du das? Zähle ich denn überhaupt nicht?«

Juri wusste nicht, wie er auf die Fragen von Lara Lacis antworten sollte. Spielerisches Geplänkel gehörte nicht zu den Dingen, die er meisterhaft beherrschte. Also hielt er zunächst den Mund. Der Russe hatte die Überraschung immer noch nicht überwunden. Er hatte Lara zum letzten Mal gesehen, als sie bei ihrem Vater in Lettland gewesen war. In der Schuluniform ihres Schweizer Internats sah sie ganz anders aus als jetzt.

Lara Lacis hätte als einheimische Amsterdamerin durchgehen können, und diese Einschätzung war nach Juris Ansicht wahrhaftig kein Kompliment. Sie trug Turnschuhe, eine zerschlissene Jeans mit Löchern über den Knien und ein zu weites orangefarbenes Kapuzenshirt mit der Aufschrift CRAZY GIRL. Da Juri immer noch nichts sagte, fuhr sie fort: »Mein Vater ist ein Gewohnheitsmensch, er gibt dir immer noch dienstags frei, nicht wahr? Ich musste mich nur in der Nähe seiner Residenz auf die Lauer legen, um dich abzupassen. Natürlich hätte ich dich auch anrufen können. Aber das gefällt mir nicht. Ein Gespräch unter vier Augen ist doch viel persönlicher, nicht wahr?«

Lara stand so dicht vor Juri, dass man die beiden für ein Liebespaar hätte halten können. Das Atmen fiel ihm schwer. Er fühlte sich, als ob ein Zentnergewicht auf seiner Brust liegen würde. Tausend Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, und mit einer musste er beginnen.

»Warum sind Ihre Fingerknöchel aufgeplatzt, Fräulein Lara?«

Sie stieß ein helles Lachen aus.

»Na, was glaubst du wohl? Ich habe meiner doofen Zimmergenossin in der Schweiz eine Abreibung verpasst. Und wenn du mich noch einmal Fräulein nennst, dann ziehe ich dir die Hosen stramm!«

Juri hatte sich selbst etwas vorgemacht, das wurde ihm spätestens in diesem Moment bewusst. Er interessierte sich wirklich nicht für Frauen, mit einer Ausnahme. Und die stand gerade jetzt vor ihm. Und Lara war mit ihren achtzehn Jahren reifer und ausgekochter als neunundneunzig Prozent ihrer Altersgenossinnen. Gewiss, sie war noch jung. Aber sie war eben auch eine Lacis. Und Juri zweifelte nicht daran, dass durch ihre Adern dasselbe Verbrecherblut floss wie bei ihrem Vater. Der ehemalige Fallschirmjäger glaubte an die Macht des Schicksals, das seinen Lebensweg mit dem der Lacis‘ gekreuzt hatte. Sie waren bis in alle Ewigkeit miteinander verbunden.

Lara schien in seinem Gesicht lesen zu können wie in einem offenen Buch. Sie lächelte ihn süß und siegessicher an, bevor sie sich bei ihm einhakte.

»Komm, ich will dich in meine Pläne einweihen. Und wenn du tust, was ich von dir will, darfst du mir dienen.«

Diese Ankündigung ließ kalte und heiße Schauer der Vorfreude über Juris Rücken laufen.

12

»Verdammt, wer hat hier gewütet?«, stieß Bea hervor.

Sie war gemeinsam mit Morel zu einem tristen Stadtteil namens Stadionbuurt gefahren. Vor dem Gebäude hielten bereits mehrere Steifenwagen, uniformierte Beamte drängten die sensationslüsternen Gaffer zurück. Die Europol-Beamten hatten sich mit Hilfe ihrer Dienstausweise Zutritt zu der Wohnung verschafft, die nun ein Tatort war.

Ein Kriminaltechniker hatte ihnen Kunststoff-Überzüge für ihre Schuhe gegeben, damit sie nicht versehentlich Spuren vernichteten. Die drei Leichen waren noch nicht abtransportiert worden, ein Gerichtsmediziner untersuchte sie gerade. Bea erkannte eine der Toten wieder.

»Das ist Cindy Wilkenaar, die Bardame aus Kerks Etablissement«, sagte sie zu Morel. Die Stimme der Kommissarin war belegt. In ihrem Beruf hatte sie schon etliche Leichen gesehen, doch der Anblick dieser Toten ging ihr besonders an die Nieren.

»Die Frau ist förmlich zerfleischt worden, vermutlich mit einem Messer oder einem vergleichbaren Gegenstand«, stellte der Franzose fest. Einer der Kriminaltechniker hob den Kopf und zeigte ein Steakmesser, das in einer Kunststofftüte für Beweisstücke steckte.

»Das ist die mutmaßliche Tatwaffe, wir werden sie so schnell wie möglich untersuchen.«

Bea bemühte sich trotz des Blutgestanks, ihre Kreislaufprobleme in den Griff zu bekommen. Ihr war bewusst, dass sie unter Beobachtung stand. Sie durfte sich jetzt keine Schwäche leisten. De Bruin stand in einer Ecke. Er nickte den Europol-Ermittlern kurz zu. Seine Laune schien sich allerdings trotz des grauenvollen Anblicks ein wenig gebessert zu haben.

Doch die Kommissarin hatte momentan keine Augen für den niederländischen Kollegen, sondern für die beiden anderen Opfer. Ein männlicher Teenager wies keine äußeren Verletzungen auf, bei ihm schien die Todesursache ein Genickbruch zu sein. Sein Kopf stand in einem bizarren Winkel vom Körper ab. Der schockierendste Anblick war nach Beas Meinung eine nackte tote junge Frau, die blutüberströmt zwischen Cindy Wilkenaar und dem toten Burschen lag. Ihr Körper wies zahlreiche Einstichwunden auf, während die ältere Frau nur durch eine einzige Verletzung ums Leben gekommen zu sein schien.

Sie hatte sich scheinbar ein Messer selbst in die Brust gerammt, zumindest umklammerten ihre erstarrten Finger den Griff der Stichwaffe. Bea bemerkte erst jetzt, dass de Bruin eine weitere Tüte für Beweisstücke in der Hand hielt. Darin befand sich ein Bogen Papier.

»Es gibt keine Einbruchspuren, die Tür war geschlossen«, erklärte der Hoofdcommissaris.

»Wie sind Sie auf den Tatort aufmerksam geworden?«, fragte Morel.

»Durch diesen fingierten Abschiedsbrief«, antwortete der Niederländer. »Er wurde von Nachbarn im Hausflur gefunden.«

»Also halten Sie ihn nicht für echt? Es sollte der Eindruck erweckt werden, dass Cindy Wilkenaar das Mädchen und den jungen Mann getötet und sich dann selbst das Leben genommen hat«, sagte Bea.

»Das Mädchen war Cindys Tochter Liz. Das männliche Opfer hieß Bart ten Stege, laut den Nachbarn war er Liz‘ Freund«, teilte de Bruin dem Europol-Team mit.

»Und wie kommen Sie darauf, dass der Abschiedsbrief gefälscht ist?«, wollte Bea wissen.

»Der Täter hat Cindy Wilkenaar offenbar dazu gezwungen, ihn zu schreiben. Hier steht wörtlich: Ich kann es nicht mehr aushalten, dass schwarze Kapuze und meine Tochter sündigen. Ich setze ihrem Treiben für immer ein Ende. Und meinem eigenen Leben auch.«

Die Kommissarin runzelte die Stirn.

»Schwarze Kapuze? So ist Bart ten Stege aber nicht gekleidet. Oder sah er womöglich heute anders aus als sonst?«

De Bruin wiegte den Kopf.

»Das ist möglich, aber ich habe eine andere Theorie. Ich bin kein Schriftgutachter, aber Cindys Handschrift ist sehr zittrig. Das könnte man auf ihren Gemütszustand zurückführen, nachdem sie die beiden getötet hat. Aber ich halte es für unmöglich, dass sie so einfach Bart ten Steges Genick brechen konnte. Sie war einen Kopf kleiner als er, warum hat er sich nicht gewehrt?«

»Womöglich war er betrunken oder bekifft«, schlug Bea vor.

»Einverstanden, aber wo bleibt die schwarze Kapuze? Ich vermute, dass der echte Täter kein Niederländisch kann. Er hat den Text diktiert, auf Englisch beispielsweise. Und Cindy hat die Worte zwarte kap - schwarze Kapuze - in den Text eingebaut, um uns einen Tipp zu geben.«

»Ein Fremder, der eine Mitarbeiterin der Honolulu Paradise Bar tötet und es wie ein Familiendrama aussehen lassen will«, fasste Bea zusammen. »Es könnte sich um einen Letten handeln, der auf Lacis‘ Gehaltsliste steht. Die Frage lautet, warum Cindy Wilkenaar sterben musste.«

»Und ob es dieselbe Person war, die auch Ulyana Dripov vom Dach gestoßen hat«, ergänzte der Franzose. »Mit etwas Glück finden Ihre Leute Fremd-DNA hier in der Wohnung. Dann können wir einen Abgleich mit dem Blut an dem Glasscherben vornehmen, den ich gefunden habe.«

»Meine Leute befragen bereits die übrigen Hausbewohner, ob Ihnen eine fremde Person aufgefallen ist«, erklärte de Bruin. »Aber in diesen Gebäuden geht es zu wie im Taubenschlag. Und wenn der Täter nicht völlig behämmert ist, wird er seine schwarze Maske außerhalb der Wohnung abgenommen haben.«

»Wobei man sich fragen muss, wozu er sich überhaupt getarnt hat«, gab Bea zu bedenken. »Wenn er alle Anwesenden töten wollte, wozu dann sein Gesicht verbergen?«

»Die Situation könnte aus dem Ruder gelaufen sein«, mutmaßte Morel.

Bea wandte sich an den Niederländer, wobei sie so charmant wie möglich war:

»Wir haben herausgefunden, dass Ulyana Dripov eine Tochter namens Alissa hatte. Mehr als das Foto aus dem Medaillon der Toten liegt uns allerdings nicht vor. Könnten Sie bitte überprüfen, ob das Mädchen sich momentan hierzulande aufhält?«

»Ich will sehen, was sich machen lässt«, gab de Bruin zurück. Die Unstimmigkeiten zwischen dem Europol-Team und den niederländischen Kollegen schienen einstweilen beigelegt zu sein.

13

Der fensterlose Raum wurde durch das Licht einiger Kerzen illuminiert. Die Wände waren mit Kneifzangen, Vorschlaghämmern, Daumenschrauben, spanischen Stiefeln und anderen Folterinstrumenten dekoriert. Allerdings roch es in dem Gelass nicht nach Blut und Exkrementen, sondern nur nach billigem Parfüm und Schweiß. Es war im Amsterdamer Redlight District kein Problem, ein solches Separee stundenweise zu mieten.

Niemand würde Juri und Lara bei ihrem Stelldichein stören.

Es kam dem Russen so vor, als ob seine geheimsten Wünsche schlagartig Wirklichkeit würden. Er konnte kaum glauben, dass die Tochter seines Chefs erst achtzehn Jahre alt war. Doch für ihr Geburtsdatum gab es ohnehin keinen Beweis. Er wusste nur allzu gut, wie leicht sich offizielle Dokumente fälschen ließen. Oder lag die Abgebrühtheit einfach in der Familie? Lara hatte jedenfalls zielgerichtet dieses Gebäude angesteuert, die Kaution bezahlt und sich mit Juri in diese Abgeschiedenheit zurückgezogen.

Und nun hing Lacis‘ Leibwächter gefesselt an einem Andreaskreuz.

»Du kannst mir nun nicht mehr entkommen«, verkündete Lara und zwinkerte ihm spielerisch zu.

»Das will ich auch gar nicht«, gab er mit rauer Stimme zurück.

Die Tochter seines Chefs stolzierte vor ihm auf und ab. Sie trug immer noch Jeans und Kapuzenshirt, doch für Juri war sie begehrenswerter als die atttraktivsten Huren in Spitzendessous. Und Lara schien sich über seine Empfindungen für sie vollkommen im Klaren zu sein.

»Wie laufen Papas Geschäfte?«, fragte sie im Plauderton.

»Wir haben die Dinge im Griff, regelmäßig kommt neue Ware aus dem Osten, die Distribution funktioniert europaweit. Es gab hier einen Griechen, der sich als Platzhirsch fühlte. Aber Ihr Vater hat ihn aufs Altenteil geschickt.«

»Das kann ich mir vorstellen. Hat dieser Konkurrent sich nun drei Fuß tief unter der Erdoberfläche zur Ruhe gesetzt?«

Juri schüttelte grinsend den Kopf. Er fühlte sich pudelwohl. So, als ob er ständig an einem Andreaskreuz hängen würde. Doch für ihn war nicht die Staffage dieses Raums entscheidend, sondern Laras Gesellschaft.

»Nein, dieser Mann - Stavros - lebt noch. Er wohnt jetzt wieder unter südlicher Sonne auf seiner griechischen Heimatinsel.«

Die junge Frau hob die Augenbrauen.

»Ja, Papa wird alt. Früher hätte er diesen Kerl zur Hölle gejagt. Ich fürchte, dass er inzwischen zu weich ist.«

»Sagen Sie das nicht«, verteidigte Juri seinen Herrn und Meister. »Durch unsere Aktivitäten in Westeuropa haben wir die Bullen aufgeschreckt. Europol hat ein Team auf uns angesetzt, das Ihren Vater hinter Gitter bringen soll. Doch er hat sich eine geniale Gegenmaßnahme ausgedacht.«

»Deine Loyalität Papa gegenüber ist wirklich vorbildlich«, gab Lara trocken zurück. Sie schien wenig beeindruckt, doch der Russe ließ sich nicht beirren.

»Das Djakarta-Projekt wird diese Europol-Bullen zu Fall bringen.«

»Was muss ich mir darunter vorstellen?«

»Eigentlich ist das Djakarta-Projekt nur eine Nebelkerze, um eine falsche Spur zu legen und die Polizei an der Nase herumzuführen. Inzwischen laufen unter diesem Codewort aber alle Aktionen, um unsere Gegner kaltzustellen.«

Juri verriet einige Details, und Lara begann zu lachen.

»Zugegeben, das ist wirklich Papas Stil. Die Bullen zu töten, würde überhaupt nichts nützen. Man schafft Märtyrer, und die Nachfolger wären wahrscheinlich noch ungemütlicher als diese Kommissarin Ahlers und Inspektor Morel. Ja, noch hat mein Vater Klasse. Er sollte allerdings aufhören, bevor er zur Lachnummer wird.«

Juri zuckte zusammen.

»Wie meinen Sie das?«

Lara seufzte.

»Was ist an meinen Worten denn misszuverstehen? Ich bin jung und habe viele neue Ideen. Ich kenne Papa, er wird sich niemals freiwillig aus dem Geschäftsleben zurückziehen. Du bist seine Lebensversicherung, er vertraut dir wie seinem eigenen Sohn. Es wird Zeit, dass du dich entscheidest, mein Bester. Und zwar zwischen Papa und mir.«

Der Russe reagierte nicht. Lara blieb vor ihm stehen und öffnete die obersten drei Knöpfe seines Hemdes.

»Ich kann dir mehr bieten als mein Vater.«

Während sie diesen Satz aussprach, griff sie sich einen der Kerzenständer. Sie hielt ihn schräg, damit das heiße Wachs auf Juris nackte Brust tropfte. Er hielt weiterhin den Mund.

»Du musst mir nichts sagen, Juri. Ich weiß, dass es dir gefällt.«

Damit hatte Lara zweifellos recht. Sie konnte in dem Russen lesen wie in einem offenen Buch. Er begriff, dass an diesem Tag sein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt wurde. Die Folgen waren noch gar nicht absehbar. Konnte er seinen Treueschwur gegenüber Viktor Lacis wirklich brechen?

Juri hätte es noch vor wenigen Stunden für völlig undenkbar gehalten, dass ihn jemand vor eine solche Entscheidung stellen würde. Und bei jeder anderen Person wäre diese Überlegung keinen zweiten Gedanken wert gewesen. Aber nicht bei Lara.

Er ahnte, dass diese junge Frau sein Ende bedeuten konnte.

14

Bea verabschiedete sich von Morel und betrat das Gebäude, in dem Europol für sie ein möbliertes Apartment gemietet hatte. Nach diesem erlebnisreichen Arbeitstag war sie müde und hungrig. Die Kommissarin wollte sich nur noch ein Fertiggericht in die Mikrowelle schieben und die Füße hochlegen.

Doch als sie die Tür aufschloss, flammte ihr Misstrauen wie eine Warnleuchte auf. Hier stimmte etwas nicht. Bea verharrte an der Tür, die bisher nur einen Spalt breit geöffnet war. Hatten die Eindrücke des Tages ihre Fantasie zu sehr gereizt? Oder gab es eine objektive Bedrohung? Sie wollte jedenfalls nicht ins offene Messer laufen. Was genau hatte sie in diesen Alarmzustand versetzt?

Bea war sicher, dass sie beim Verlassen des Apartments zweimal umgeschlossen hatte. Jetzt hingegen war die Tür sofort aufgesprungen. Im Inneren brannte kein Licht, und um halb neun Uhr abends war es schon ziemlich dunkel. Es fiel nur ein wenig fahles Licht von den Straßenlaternen ins Innere ihrer gemieteten Behausung. Doch die Helligkeit reichte nicht aus, um allzu viele Details erkennen zu können. Und dann begriff die Kommissarin, was sie so unruhig gemacht hatte.

Es war der Geruch, eine Mischung aus Blut und Rasierwasser. Schlimmer noch: Sie kannte dieses After Shave. Es war ihr auf eine irritierende Art vertraut. Bea stand immer noch neben der nur wenig geöffneten Tür. Sie konnte sich mit wenigen Schritten in Sicherheit bringen, auf die Straße laufen und um Hilfe rufen. Außerdem hatte sie in ihrem Smartphone die Amsterdamer Polizeizentrale und ihren Kollegen Morel auf Kurzwahl. Doch wenn sie jetzt Panik verbreitete und sich ihre Befürchtungen als haltlos erwiesen, wäre sie endgültig als hysterische Ziege abgestempelt. Das Verhältnis zu den niederländischen Polizisten hatte sich zwar gebessert, doch von ihnen würde gewiss keiner in ihren Fanclub eintreten.

Bea atmete einmal tief durch und entschied, die Situation auf eigene Faust aufzulösen.

Sie zog ihre Pistole und stieß die Tür mit der Schuhspitze auf, während sie gleichzeitig mit der freien Hand den Deckenfluter einschaltete.

Beas Atem stockte.

Europol hatte in einer teuren Stadt wie Amsterdam nicht tief in die Tasche gegriffen, um die Fahnder unterzubringen. Daher bestand das Apartment nur aus einem einzigen Raum, der gleichzeitig zum Wohnen und Schlafen diente. Außerdem gab es noch eine Küchenecke, in der Bea ihren Morgenkaffee trinken und ihren Mikrowellen-Fraß mampfen konnte. Das Bett war immerhin breit und bequem.

Doch als die Kommissarin vor vielen Stunden ihre Behausung verlassen hatte, lag kein nackter toter Mann auf der Matratze. Es war niemand anders als Kriminalhauptkommissar Oliver Behn, ihr aufdringlicher Verehrer. Bea bekam Gänsehaut, als sie sich dem fahlen Körper näherte und nach dem Puls am Handgelenk tastete. Es war kein Leben mehr in ihm, was sie eigentlich nicht hätte verwundern dürfen. Schließlich befasste die Ermittlerin sich schon lange genug mit Mordfällen und hatte schon so manche Leiche gesehen.

Aber keine, bei der sie selbst automatisch zur Hauptverdächtigen wurde!

Ganz abgesehen vom Auffindeort - es war beim Bundeskriminalamt kein Geheimnis, wie stark Bea diesen Casanova-Kollegen verabscheut hatte. Es existierten sogar dienstliche Vermerke, weil sie ihn mehrfach wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte. Aber Behn war clever, es gab niemals Zeugen für seine Fummeleien. Er hatte stets alle Anschuldigungen abgestritten und Bea als ein karrierebesessenes Biest dargestellt. Ja, sie war ehrgeizig. Doch das änderte nichts am Wahrheitsgehalt ihrer Vorwürfe.

An der Todesursache konnte es auf den ersten Blick keinen Zweifel geben. Jemand hatte Behn die Halsschlagader durchtrennt, offenbar mit einem einzigen Schnitt. Hier hatte kein hasserfüllter Amateur gewütet, sondern ein Profikiller seinen Job erledigt.

Bea machte sich keine Illusionen darüber, dass die Kriminaltechnik nennenswerte Spuren finden würde. Abgesehen natürlich von jenen, die auf sie selbst als Täterin deuteten. Ihr Kreislauf spielte verrückt. Sie taumelte zum Fenster, schob es hoch und sog gierig die Amsterdamer Nachtluft in ihre Lungen. In einigen Wohnungen auf der gegenüber liegenden Straßenseite brannte Licht. Plötzlich wurde der Kommissarin bewusst, dass man von dort aus wahrscheinlich den Nackten auf ihrem Bett sehen konnte. Aber ob auf die Entfernung auch das Blut erkennbar war?

Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen. Schnell schloss sie das Fenster wieder und zog alle Rollläden herab.

Was sollte sie nur tun? Ihr erster Impuls bestand darin, die niederländischen Kollegen zu alarmieren und das übliche Programm nach einem Gewaltverbrechen abspulen zu lassen. Kriminaltechnische und forensische Untersuchungen, Informationssammlung zum Opfer und möglichen Tatverdächtigen.

Was hatte dieser verfluchte Kerl in Amsterdam verloren?

Bea wusste genau, dass sie ihn ganz gewiss nicht in ihr Apartment, geschweige denn in ihr Bett eingeladen hatte. Ob ihr Verehrer so liebestoll war, dass er seine Nachstellungen auch an ihrem neuen Einsatzort hatte fortsetzen wollen? Zuzutrauen wäre es ihm gewesen, sagte Bea sich. Doch die Adressen von Europol-Fahndern wurden aus gutem Grund geheim gehalten. Die Frage lautete, ob ein Beamter des Bundeskriminalamtes sie sich nicht trotzdem beschaffen konnte.

Beas Handflächen wurden feucht. Sie lief wie eine Tigerin im Käfig ruhelos hin und her. Wenn sie den üblichen Dienstweg einhielt und die Vorschriften befolgte, waren die Folgen unabsehbar. Selbst wenn sich die Unschuld der Kommissarin herausstellte, würde man sie während der Untersuchungen vom Dienst suspendieren. Sie wusste, wie so etwas lief. Wenn sie schließlich zurückkehrte, saß ihre Nachfolgerin bereits fest im Sattel und würde sich so schnell nicht vertreiben lassen.

Sie gestand sich ein, Hilfe zu brauchen. Und es gab nur eine Person, an die sie sich wenden konnte. Auch, wenn ihr bei dem Gedanken überhaupt nicht wohl war.

Dreimal ertönte das Freizeichen, dann nahm Morel das Telefongespräch an.

»Ja, Frau Ahlers?«

»Morel, ich brauche Sie in meinem Apartment. Sofort!«

»Ich weiß nicht ...«

»Ich will keinen Sex mit Ihnen!«, stellte Bea klar. »Es ist ein beruflicher Notfall, sozusagen. Nichts Privates.«

»Ich verstehe, Frau Ahlers. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.«

Der Franzose beendete das Gespräch. Die folgenden Minuten wurden die längsten in Beas bisherigem Leben. Warum hatte sie so betont, dass sie nicht an einer Abenteuer interessiert sei? Es gab definitiv kein erotisches Knistern zwischen den beiden Europol-Ermittlern, auch wenn Morel schon einmal versehentlich unter Beas BH-Träger gefasst hatte. Er war eigentlich ein attraktiver Mann, trotzdem ließ sein Anblick ihr Herz keineswegs schneller klopfen. Ob er schwul war? Oder asexuell? Bea versuchte, sich Morel bei einer leidenschaftlichen Umarmung mit einer Frau vorzustellen. Doch ihre Fantasie versagte ihr in diesem Fall den Dienst.

Als ob du momentan keine größeren Probleme hättest! dachte sie selbstironisch. Morel schien sich beeilt zu haben, jedenfalls läutete er schon nach dreizehn Minuten an ihrer Tür. Sie öffnete wortlos. Der Franzose nahm den Anblick der nackten Leiche mit unbewegter Miene zur Kenntnis.

»Wer ist das?«

»Sein Name lautet Oliver Behn!«, fauchte Bea. »Und zu Ihrer Information: Ich bin nicht seine Mörderin!«

»Das habe ich mit keiner Silbe behauptet, Frau Ahlers.«

Die Kommissarin stieß langsam die Luft aus den Lungen.

»Entschuldigen Sie bitte, Morel. Ich bin mit den Nerven am Ende. Eigentlich wollte ich mich nach dem heutigen Arbeitstag nur noch ausruhen.«

Sie berichtete von ihrer Vorgeschichte mit Behn, ließ nichts aus. Der Franzose hörte ihr offenbar aufmerksam zu, während er sich Latexhandschuhe überstreifte, das Bett umkreiste und nach Beweisstücken Ausschau hielt.

»Wir sind uns gewiss einig, dass Ihnen jemand eine Falle stellen will«, sagte Morel. »Und da kommt nur Lacis in Frage. Oder fällt Ihnen noch jemand ein?«

»Ich habe mir als Polizistin natürlich viele Feinde gemacht. Aber von denen wird keiner wissen, dass ich momentan in Amsterdam eingesetzt bin.«

»Eigentlich ist Lacis‘ Schachzug ein gutes Zeichen«, sagte der Inspektor und deutete auf den Toten. Bea schaute ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte.

»Was soll denn daran gut sein, um Gottes Willen?«

»Es beweist, dass der Lette sich vor uns fürchtet. Andernfalls dürfte er nicht so einen Aufwand betreiben, um Sie kaltzustellen.«

»So kann man es sehen«, stöhnte Bea. »Dann wird er für Sie auch eine unangenehme Überraschung bereithalten.«

»Das ist schon geschehen«, erwiderte Morel beiläufig. »Jetzt müssen wir erst einmal dieses Problem lösen. Hier ist übrigens das Handy Ihres Freundes.«

Neben dem Bett lag eine Jacke, die offenbar Behn gehört hatte. Der Franzose zog das Mobiltelefon heraus und reichte es seiner Kollegin.

»Er war nicht mein Freund, ist es niemals gewesen!«, unterstrich Bea. »Aber hier, schauen Sie sich diesen Chatverlauf an. Das darf doch nicht wahr sein!«

Die Kommissarin hatte Behns Smartphone eingeschaltet. Darauf war ein schriftlicher Wortwechsel zwischen ihr und dem Opfer zu sehen, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Allerdings hatte Bea kein Wort davon geschrieben, obwohl die Nachrichten scheinbar von ihrem Handy kamen.

»Da wird wohl jemand Ihr Gerät geklont haben, Frau Ahlers«, meinte Morel schulterzuckend.

»Was soll ich nur tun?«, dachte sie laut nach. »Wenn ich den Leichenfund melde, können wir die Ermittlungen gegen Lacis vergessen. Das heißt, Sie werden wohl weitermachen können, aber ...«

Der Inspektor fiel ihr ins Wort, was bisher kaum vorgekommen war.

»Sie und ich wissen doch genau, wer diesen Mann auf dem Gewissen hat, Frau Ahlers. Lacis spekuliert darauf, dass Sie genau das tun: Eine Meldung machen und den offiziellen Dienstweg beschreiten. Dann hat der Gangster erreicht, was er wollte.«

Bea runzelte die Stirn.

»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«

»Wir lassen die Leiche verschwinden und beseitigen alle Spuren.«

Im ersten Moment glaubte die Kommissarin an einen schlechten Scherz. Doch als sie sein maskenhaftes Gesicht sah, wurde ihr bewusst, dass er es ernst meinte.

»Wenn wir das wirklich tun, kann es uns den Job kosten und vielleicht sogar eine Haftstrafe einbringen!«

»Wir dürfen eben nicht stümperhaft handeln. Ich sehe es jedenfalls als meine Pflicht an, einer Kollegin in Not zu helfen.«

»Wie großmütig von Ihnen!«, höhnte Bea, bereute ihre Worte aber bereits im nächsten Moment. Schließlich war es ja nicht Morels Apartment, in dem eine Leiche lag.

Auf welche Art Lacis wohl den Franzosen unter Druck gesetzt hatte?

Falls Morel durch ihre Erwiderung gekränkt war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Wie würden Sie es denn tun?«, fragte sie nach einer längeren Gesprächspause.

»Es ist zu riskant, den Körper fortzuschaffen«, sagte Morel. Er ging ins Bad, kehrte gleich darauf zurück. »Sie haben ja eine Badewanne, das ist ausgezeichnet!«

»Warum?«, fragte Bea, obwohl sie die Antwort ahnte.

»Wir lösen den Toten in Säure auf, darum kümmere ich mich. Falls dann wirklich noch Überreste da sind, können wir sie in Plastiktüten sehr unauffällig entsorgen.«

Der Franzose zog bereits seine Jacke aus und kletterte auf das Bett, wobei er dem Leichnam unter die Arme fasste.

»Nehmen Sie bitte die Beine, Frau Ahlers?«

Bea gehorchte wie in Trance. Es gefiel ihr in diesem Moment eigentlich sehr gut, ihrem Kollegen die Initiative zu überlassen. Eigentlich war es nicht ihre Art, Entscheidungen auf andere Menschen zu schieben. Bisher hatte allerdings auch noch niemand versucht, ihr einen Mord in die Schuhe zu schieben.

Sie unterdrückte einen Würgereiz, als sie Behns kaltes nacktes Fleisch berührte. Gleichzeitig wurde ihr die Absurdität der Situation bewusst. Dieser Mann hatte sich seit Jahren so sehr danach gesehnt, von ihr angefasst zu werden. Nun war es endlich soweit, doch Behn konnte es nicht mehr genießen.

Es gelang den Ermittlern mit vereinten Kräften, die Leiche in die Wanne zu wuchten.

»Die Beschaffung der Chemikalien übernehme ich«, bot Morel an. »Das werde ich morgen im Lauf des Tages tun. Ich kaufe in verschiedenen Geschäften, damit niemand wegen der Menge Verdacht schöpft. - Wenn Sie mögen, dann können Sie in meinem Apartment übernachten.«

Er hielt seinen Wohnungsschlüssel hoch.

Bea zögerte.

»Ich bleibe natürlich hier«, fügte der Franzose hinzu. »Es stört mich nicht, in Gegenwart eines Toten zu schlafen.«

Das kann ich mir vorstellen, dachte Bea. Morel legte bei der Leichenbeseitigung eine beängstigende Routine an den Tag. Sie wollte gar nicht wissen, was das zu bedeuten hatte.

»Sie sind sehr freundlich. Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen kann.«

»Wir sind doch Kollegen, Frau Ahlers. Ich bin sicher, dass Sie das Gleiche auch für mich tun würden.«

Wenn du dich da mal nicht täuscht, sagte sie in Gedanken zu ihm. Bea wollte sich schon verabschieden, aber eine Sache lag ihr noch auf der Zunge.

»Womit hat Lacis Sie eigentlich unter Druck gesetzt, Morel?«

Der Franzose warf ihr einen ausdruckslosen Blick zu.

»Ein Unbekannter hat mir eine Bilddatei auf mein Smartphone geschickt. Meine Cousine ist gekidnappt worden. Sie wird angeblich sterben, wenn ich mich nicht aus dem Europol-Dienst zurückziehe. Aber ein Morel lässt sich nicht erpressen.«

15

Der Killer kam im Schutz der Dunkelheit.

Er hatte sich tagsüber die Umgebung genau angeschaut. Das Haus stand in dem ruhigen Stadtteil Waardhuizen, der zu der Amsterdamer Nachbargemeinde Amstelveen gehörte. Er hatte sich ein Fahrrad gekauft, um diese Gegend unauffällig ausspähen zu können. Hier waren viele Menschen auf zwei Rädern unterwegs - Kinder, Hausfrauen, Senioren. Er hatte unauffällige Kleidung angezogen und war sicher, dass sich niemand an ihn erinnern würde.

Jetzt saß er in seinem Leihwagen, die Scheinwerfer waren ausgeschaltet. Die Uhr zeigte Mitternacht. Liz hatte plötzlich die Nerven verloren, und ihre Mutter stand unter Schock. Es gab für den Killer keine andere saubere Lösung. Er hatte Cindy Wilkenaar dazu gezwungen, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Dann war sie durch eine Messerattacke von ihrem Elend erlöst worden.

Während des Wartens erinnerte er sich an das Blutbad, das er vor kurzem verursacht hatte. Ob es eine Möglichkeit gegeben hätte, Cindy Wilkenaar und ihre Tochter am Leben zu lassen? Nach wie vor tötete der Fremde nicht aus Grausamkeit, sondern aus Berechnung.

Nach Ansicht des Fremden wäre ihr Leben nach dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter nicht mehr lebenwert gewesen. So gesehen hatte er eine humanitäre Tat begangen, jedenfalls in seinen Augen. Mit etwas Glück würden die Bullen den Köder schlucken und ihre Ermittlungen einstellen. Er hatte schon oft erlebt, dass die Unfähigkeit von Strafverfolgungsbehörden oder die falsch verstandene Milde von Richtern einer Verbrecherkarriere ungeheuren Auftrieb gaben.

Er blickte auf seine Uhr. Zuletzt hatte vor zwanzig Minuten ein Pkw die Straße passiert. Auch die Hundebesitzer, die mit ihren vierbeinigen Freunden spazierengingen, horchten vermutlich längst an der Matratze. Der Fremde war in seiner dunklen Kleidung so gut wie unsichtbar. Er stieg aus und drückte die Autotür beinahe geräuschlos zu. Der Wagen war so geparkt, dass der Killer innerhalb von fünf Minuten auf eine Schnellstraße gelangen konnte. Allerdings rechnete er nicht damit, schnell verschwinden zu müssen. Trotzdem blieb er angespannt. Es entsprach nicht seiner Natur, leichtfertig in eine Gefahrensituation zu gehen.

Er rannte leichtfüßig zu dem Haus, auf das er es abgesehen hatte. Der Fremde presste sich mit dem Rücken gegen die schmale Südseite. Hier befand sich das Fenster, durch das er einsteigen wollte. In den Niederlanden waren die meisten Fensterbänke so niedrig, dass ein Einbrecher keine besonderen Anstrengungen unternehmen musste. Dem Killer reichte ein simpler Schraubendreher, um einsteigen zu können. Er schloss das Fenster schnell von innen und lauschte. Er wusste aus Erfahrung, dass so etwas wie absolute Stille nicht existiert. Gerade in einem alten Gebäude gab es immer Töne oder Geräusche, die furchtsame Gemüter nachts ängstigen konnten.

Es roch nach Zimt und Möbelpolitur. Der Killer schaltete seine Taschenlampe ein. Er konnte sich eigentlich gut im Dunkeln orientieren, aber er wollte möglichst wenig Zeit in diesem Haus verbringen. Er hatte für seine Mission maximal acht Minuten veranschlagt. Je länger er brauchte, desto größer war die Gefahr der Entdeckung.

Er bewegte sich auf seinen Gummisohlen schnell vorwärts, ohne an die Möbel zu stoßen. Dieser Raum war offensichtlich ein Wohnzimmer, ein Salon oder wie immer man das in den Niederlanden auch nennen mochte. Der Killer schlich in den Flur und von dort aus über die steile Treppe ins erste Stockwerk. Tagsüber hatte er ein Mobile mit Comicfiguren im Fenster des Obergeschosses hängen gesehen. Daher vermutete er dort das Kinderzimmer.

Unwillkürlich hielt er den Atem an, als er die Tür öffnete. Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Der Lichtstrahl seiner Lampe glitt über pastellfarbene Tapeten und Spielzeug, bis er ein Gitterbett entdeckte.

Das kleine Mädchen schlief tief und fest. Der Killer beugte sich über das Kind und zog seine Sturmmaske vom Gesicht. Dann richtete er den Lichtstrahl auf sich selbst und stupste das Mädchen mit der anderen Hand sanft an.

Es schlug die Augen auf und öffnete den Mund, wollte vielleicht schreien. Der Fremde lächelte und hielt den Zeigefinger vor seine Lippen. Das Kind blinzelte, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Dann begann es zu strahlen, denn es hatte den Eindringling erkannt.

»Onkel Ilya!«, sagte es leise auf Ukrainisch. Das Herz des Killers wurde von Liebe durchströmt, als er seine kleine Nichte zärtlich in die Arme nahm. Alissa war nun in Sicherheit.

Jetzt musste Ilya Dripov nur noch mit diesen Bastarden abrechnen, die seine Schwester Ulyana auf dem Gewissen hatten.

16

Morels Apartement war nicht größer als das von Bea, aber immerhin lag kein Leichnam im Bett. Die Kommissarin hatte trotzdem nicht gut geschlafen, als sie am nächsten Morgen die Weckfunktion ihres Smartphones vernahm. Wirre Alpträume waren ihre Begleiter gewesen, während sie sich im Bett ihres Kollegen hin und her gewälzt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, in seinen Laken genächtigt zu haben.

Du kannst dich nun wirklich nicht beklagen, sagte sie zu sich selbst, während sie ihre Beine auf den Boden stellte. Wer außer Morel ist schon so kollegial, dass er dir nicht nur einen Schlafplatz ohne Hintergedanken anbietet, sondern sogar für dich die Leiche entsorgt?

Während Bea duschte, dachte sie weiter über ihre aktuelle Lage nach. Es war völlig klar, dass Lacis den Franzosen und sie selbst im Visier hatte. Insgeheim musste sie Morel zustimmen: Es hatte für den alten Gangsterboss gewiss einen gewaltigen organisatorischen Aufwand bedeutet, Behn nach Amsterdam zu locken und ihn in Beas Apartment töten zu lassen. Es wäre viel einfacher gewesen, die beiden Europol-Ermittler per Scharfschützengewehr exekutieren zu lassen.

Die Rollen wurden vertauscht, dachte Bea, während sie sich ankleidete. Eigentlich sollten Morel und ich den baltischen Gangster jagen. Jetzt scheint es genau umgekehrt zu sein!

Diese Aussicht gefiel ihr überhaupt nicht. Es wurde Zeit, dass die Europol-Ermittler einen Erfolg vorweisen konnten. Bisher war es ihnen ja noch nicht einmal gelungen, einen Zusammenhang zwischen der toten Prostituierten und Lacis nachzuweisen. Die Kommissarin hoffte auf die Analyse der Blutrückstände auf dem Glasscherben.

Und was war mit den rivalisierenden Verbrechern, die im Herzen von Amsterdam einen Mordanschlag auf den alten lettischen Fuchs verübt hatten? Bea war am gestrigen Tag nur nebenbei über dieses Attentat informiert worden, als sie im Präsidium an ihrem Computer gearbeitet hatte. Ihr persönliches Interesse galt vor allem Alissa, Ulyanas Tochter. Bevor Bea nicht wusste, dass die Kleine in Sicherheit war, sah sie schwarz für ihren eigenen Seelenfrieden.

Das Klingeln ihres Smartphones riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm das Gespräch an. Kriminalrat Helmut Klausner war am Apparat, ihr ehemaliger Vorgesetzter beim Bundeskriminalamt.

»Guten Morgen, Frau Ahlers. Wie gefällt es Ihnen bei Europol? Haben Sie sich schon etwas eingelebt?«

»Guten Morgen, Herr Klausner. Ja, meine momentane Aufgabe ist sehr anspruchsvoll, man muss auch auf negative Überraschungen gefasst sein.«

Zum Beispiel auf eine nackte Leiche im Bett, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Ich verstehe. Nun, ich rufe Sie heute morgen nicht nur an, um nett mit Ihnen zu plaudern, Frau Ahlers. Es geht mir in erster Linie um Kriminalhauptkommissar Oliver Behn. Ich nehme an, dass Sie wissen, von wem ich spreche.«

»Allerdings.«

Man konnte hören, dass Kriminalrat Klausner tief Luft holte.

»Wir alle haben mitbekommen, dass es private Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und Herrn Behn gab. Er hat es zutiefst bedauert, dass Sie zu Europol gewechselt sind. Er war danach nicht mehr derselbe. Der Kollege scheint wirklich etwas für Sie zu empfinden.«

»Ich habe ihm niemals Hoffnungen gemacht, zu seinem Verhalten mir gegenüber gibt es auch einige Aktennotizen«, erwiderte Bea kühl. Doch in ihrem Inneren schwitzte sie Blut und Wasser.

»Das weiß ich doch.« Die Stimme des Ex-Chefs klang begütigend. »Haben Sie noch einmal etwas von Herrn Behn gehört, Frau Ahlers? Hat er sich in irgendeiner Form bei ihnen gemeldet?«

»Nein, Herr Kriminalrat.«

Das war noch nicht einmal gelogen. Eine Leiche konnte niemanden aufsuchen, jedenfalls nicht aktiv. Beas ehemaliger Vorgesetzter fuhr fort:

»Ich will offen mit Ihnen sprechen. Wir hier beim Bundeskriminalamt halten es für möglich, dass Herrn Behn sich etwas angetan hat.«

»Ich habe nicht mit ihm gesprochen, seit ich bei meinem aktuellen Einsatz bin.«

Auch diese Aussage stimmte. Behn hatte keinen Mucks von sich gegeben, als er mit durchschnittener Kehle in ihrem Bett lag.

»Wir müssen alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen«, sagte Klausner. »Frau Behn hat offiziell eine Vermisstenanzeige aufgegeben, und wir setzen alle Hebel in Bewegung, um den Kollegen zu finden. Bitte informieren Sie mich umgehend, falls er doch noch Kontakt mit Ihnen aufnehmen sollte.«

Vielleicht als Stimme aus dem Jenseits? Doch Bea verdrängte diesen morbiden Gedanken und versprach ihrem ehemaligen Vorgesetzten brav, sich in dem Fall sofort zu melden.

Was sowieso niemals geschehen würde.

Als das Telefonat beendet war, wurde sie von heftigen Gewissensbissen geplagt. Sie wusste natürlich, dass Behn verheiratet war und Kinder hatte. Das war ja ein weiterer Grund dafür gewesen, dass sie seine amourösen Avancen als so widerwärtig empfunden hatte. Die Familie des Ermordeten tat ihr leid. Und sie fühlte sich plötzlich schuldig. Gewiss, mit dem Tod ihres aufdringlichen Verehrers hatte sie direkt nichts zu tun. Aber Behn hatte sterben müssen, um ihr eine Falle zu stellen. Allmählich begriff sie, warum ihre niederländischen Kollegen sie und Morel zu Beginn des Einsatzes zum Schein gekidnappt hatten. Womöglich war diese Warnung vor Lacis noch nicht eindringlich genug gewesen. Dieser alte Satan war offenbar zu allem fähig.

Plötzlich wurde der Kommissarin bewusst, dass sie sich nicht mehr allein im Raum befand. Sie zuckte ein wenig zusammen, als sie Richtung Tür schaute. Dort stand Hoofdcommissaris de Bruin, gegen den Rahmen gelehnt und mit einem Becher Kaffee in der Hand. Er schaute sie so prüfend an, als ob er bis auf den Grund ihrer Seele schauen wollte.

»Guten Morgen. Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Mevrouw Ahlers? Sie sehen ehrlich gesagt ziemlich erledigt aus.«

Bea verzog den Mund, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte. An diesem Morgen hatte sie es nicht ohne Grund größtenteils vermieden, in einen Spiegel zu blicken. Die Nacht ohne erholsamen Schlaf forderte zweifellos ihren Tribut. Die unangenehme Überraschung am Vorabend hatte erst recht nicht zu ihrem Seelenfrieden beigetragen. Die Kommissarin zwang sich zu einem Lächeln.

»Sie werfen mit Komplimenten ja geradezu um sich! Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, aber es gibt keinen Grund zur Besorgnis.«

»Das freut mich«, gab der Holländer zurück. »Unsere Zusammenarbeit hat sich ja zunächst ein wenig ... zählflüssig gestaltet. Doch ich bin froh, dass wir heute die Ermittlungen gemeinsam einen Schritt voran bringen können. - Ihr Kollege ist noch nicht anwesend?«

Der Anruf ihres ehemaligen Chefs hatte Bea aus dem Konzept gebracht. Natürlich, Morel hätte schon vor einer Viertelstunde zum Dienst erscheinen müssen. Vermutlich hatte er über der Leichenbeseitigung die Zeit vergessen.

»Nein, Inspektor Morel wird gewiss gleich erscheinen«, behauptete sie. »In einer fremden Stadt kann man sich mit den Entfernungen leicht täuschen.«

»Ich muss gestehen, dass Ihr Kollege mich ein wenig irritiert«, gab de Bruin zu. »Aber immerhin haben wir es ihm zu verdanken, dass die Blutreste an der Glasscherbe gefunden wurden. Wir konnten die Identität des Mannes feststellen. Mit etwas Glück gelingt es uns, eine Verbindung zwischen ihm und Lacis nachzuweisen Und dann wird uns der Lette nicht mehr dreist an der Nase herumführen.«

In diesem Moment erschien der Franzose auf der Bildfläche. Er war frisch rasiert, trug allerdings dieselbe Kleidung wie am Vortag. Morel hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, Wäsche zum Wechseln aus seinem eigenen Apartment zu holen, während Bea vor ihrem Spontan-Umzug in seine Behausung noch einige Textilien in ihre Reisetasche geworfen hatte. Sie fragte sich, warum sein Kinn keine Bartstoppeln aufwies. Die Erklärung war naheliegend: Er hatte den Rasierapparat benutzt, den sie für ihre Beine verwendete.

Der Inspektor wirkte frisch und voller Tatendrang. Die Gesellschaft eines Ermordeten schien ihm nichts geschadet zu haben. De Bruin wandte sich ihm zu.

»Wir haben gerade über Sie gesprochen, Morel.«

Der Franzose hob die Augenbrauen.

»Ach, wirklich?«

Er warf Bea einen Blick zu, der so viel bedeuten konnte wie: Bist du Weichei etwa schon nach einem Tag umgefallen?

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und hoffte, dass Morel die Geste richtig einordnete. Der Holländer wandte sich an den Inspektor: »Es ging um die von Ihnen entdeckte Glasscherbe. Das Blut daran konnten wir mit Hilfe eines DNA-Abgleichs einem gewissen Boris Virellis zuordnen. Er ist lettischer Staatsbürger, wurde vor dreiunddreißig Jahren geboren und ist bisher in Polen und Deutschland straffällig geworden - wegen schwerer Körperverletzung und räuberischer Erpressung. Vielleicht sollte ich besser sagen, dass er in diesen Ländern verhaftet wurde. Ich gehe davon aus, dass er noch mehr auf dem Kerbholz hat.«

»Das ist nicht unwahrscheinlich«, gab Morel zurück. »Wo finden wir ihn hier in Amsterdam?«

»Wir sind uns wohl einig darüber, dass Virellis ein Gefolgsmann von Lacis ist«, betonte de Bruin. »Offiziell arbeitet er für ein lettisches Subunternehmen der Spedition Van Clerk. Das Firmengelände befindet sich an der Archangelkade, im Hafen.«

Während der Hoofdcommissaris sprach, hatte Bea den Namen in ihren Computer eingegeben. Sie holte sich die elektronische Fallakte des Verdächtigen auf den Bildschirm. Die erkennungsdienstlichen Fotos zeigten einen finsteren Kerl mit Tätowierungen bis zum Hals. Die Kommissarin stellte sich vor, wie er die Prostituierte vom Dach gestoßen hatte. Nach seinen Vorstrafen zu urteilen konnte man Virellis eine solche Tat getrost zutrauen.

»Wenn der Kerl nur zum Schein dort angestellt ist, wird er sich wohl kaum auf dem Speditionsareal aufhalten«, gab Bea zu bedenken.

»Das ist nicht gesagt«, warf Morel ein. »Die Spedition könnte in Lacis‘ kriminelle Machenschaften verstrickt sein. Denken Sie daran, wie oft illegale Einwanderer in Lastwagen gefunden werden. Jede Form von Menschenhandel ist nur so effektiv wie die zur Verfügung stehenden Transportmöglichkeiten.«

»Es kann kein Zufall sein, dass Lacis‘ Handlanger ausgerechnet bei einem Subunternehmen einer Spedition angestellt ist«, ergänzte Bea.

»Ich werde einen Observierungsplan ausarbeiten«, schlug de Bruin vor. »Virellis hat keine niederländische Meldeadresse. Wir können nur darüber spekulieren, wo er wohnt. Vielleicht hat er in einem der Separees in Kerks Bar genächtigt, bevor er die Frau vom Dach gestoßen hat. Wie auch immer, sobald er das Gelände betritt, werde ich Sie informieren.«

»Ich bitte darum«, sagte Bea. »Bei dem Zugriff wären wir nämlich gern dabei.«

Der Niederländer grinste, tippte an einen imaginären Mützenrand und schloss die Tür von außen.

Die Kommissarin stieß langsam die Luft aus den Lungen. Sie warf dem Franzosen einen besorgten Blick zu, suchte nach den richtigen Worten. Aber er kam ihr zuvor.

»Ich habe heute morgen schon ein wenig Säure besorgt«, sagte Morel leise. »Im Lauf des Tages kann ich bestimmt noch größere Mengen in Ihr Apartment schaffen. Ich gehe davon aus, dass unser Problem morgen Abend erledigt ist.«

Unser Problem? dachte Bea. Aber es stimmte natürlich. Der Inspektor war zu ihrem Komplizen geworden. Wenn jemals herauskam, dass sie gemeinsam die Leiche beseitigt hatten, konnten sie ihre Karrieren bei der Europol vergessen. Warum hatte Morel ihr überhaupt beigestanden? Die beiden arbeiteten erst seit kurzer Zeit zusammen. Von einer gefühlsmäßigen Bindung zwischen ihnen konnte keine Rede sein. Hegte dieser verschlossene Franzose tiefere Empfindungen für Bea, von denen sie bisher nichts bemerkt hatte? Sie schaute ihn an, als ob sie ihn zum ersten Mal im Leben sehen würde. Morel hatte sein übliches Pokerface aufgesetzt.

»Gibt es etwas Neues von Ihrer Cousine?«, fragte die Kommissarin.

»Ich habe die Polizeikollegen in ihrem Heimatort verständigt, obwohl die Kidnapper mich davor gewarnt hatten«, erklärte Morel ohne erkennbare Erregung in der Stimme. »Wie gesagt, ich lasse mich nicht unter Druck setzen. Lacis wird noch erkennen, dass er sich mit dem Falschen angelegt hat.«

Ob dem Inspektor bewusst war, dass die Entführer im Zweifelsfall seine Verwandte töten würden? Natürlich, einem Gegner wie Lacis war ein solcher Schachzug zuzutrauen. Seine Attacke gegen die Europol-Ermittler war nach Beas Meinung ein klarer Fall von Psychoterror.

»Behn war ein BKA-Mann, und trotzdem hat Lacis nicht vor einem Mord an ihm zurückgeschreckt«, sagte Bea mit leiser Stimme zu Morel. »Wer keine Hemmungen hat, einen Polizeibeamten zu töten, wird sich bei einer Zivilistin gewiss nicht zurückhalten.«

»Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen, Frau Ahlers, aber was soll ich Ihrer Ansicht nach unternehmen? Um Yvette zu befreien, müsste es Hinweise auf ihren Aufenthaltsort geben. Wir müssen den Letten kaltstellen und seine Organisation zerschlagen. Dann besteht eine geringe Chance, dass meine Cousine diese Episode mit heiler Haut überlebt.«

Morels Smartphone gab einen Signalton von sich. Er fischte es aus der Tasche und öffnete die soeben erhaltene Nachricht. Sein Gesichtsausdruck blieb unbewegt, während er das Telefon seiner Kollegin reichte.

»Wir können dieses Thema jetzt abhaken, Frau Ahlers.«

Die Kommissarin nahm das Gerät entgegen. Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie die Bilddatei mit dem Foto einer blutigen Frauenleiche sah.

»War das Ihre Cousine, Morel?«

Der Franzose nickte.

17

Viktor Lacis hatte die Bilddatei verschickt, ohne dabei Sicherheitsbedenken zu hegen. Hochbezahlte Hacker sorgten dafür, dass sein Morgengruß an Morel unmöglich zu ihm zurückverfolgt werden konnte. Der Alte blickte nachdenklich auf die Gracht hinab, während er die zweite Tasse Tee trank.

Ob Morel es nun mit der Angst zu tun bekommen würde? Lacis zweifelte daran. Der Gangsterboss erinnerte sich an die Informationen, die er von Valois erhalten hatte. Nach Lacis‘ Meinung war Morel zweifellos ein härterer Brocken als Beatrix Ahlers. Und diese Einschätzung hatte nichts mit dem Geschlecht zu tun. Er hatte schon oft erlebt, dass Frauen zäher und rabiater als Männer sein konnten. Wie die deutsche Kommissarin wohl auf sein unerwünschtes Präsent reagiert hatte? Bisher war es ihm gelungen, seine Neugierde zu bezwingen. Aber nun wollte Lacis sich unbedingt Gewissheit verschaffen.

Er startete auf seinem Smartphone das Programm, mit dem er Zugriff auf die Überwachungstechnologie in Beatrix Ahlers‘ Apartment hatte. Lacis konnte einen Anflug von Enttäuschung nicht unterdrücken, als die Mini-Kameras und Mikrofone alle noch an ihren Plätzen waren.

Bin ich so wenig wert, dass Europol keine besseren Polizisten auf mich ansetzt? dachte der Alter. Oder haben sie einfach niemanden, der mir auf Augenhöhe begegnen kann?

Lacis die die Aufnahme bis zum Vorabend zurück laufen, als die Ahlers den Leichnam in ihrem Bett fand. Der Gangsterboss beobachtete grinsend, wie sie aufgeregt hin und her lief und dann schließlich Morel kontaktierte. Der Vorschlag mit dem Säurebad erstaunte Lacis. Natürlich war dies die beste Methode, um einen Toten spurlos zu beseitigen. Doch dass ein französischer Polizeiinspektor so handeln würde, verblüffte den Verbrecher.

Morel handelte offensichtlich völlig skrupellos - in Lacis‘ Augen ein gutes Zeichen.

Ob es mir gelingt, ihn auf meine Seite zu ziehen?

Nun bereute Lacis es beinahe schon, dass er die Cousine des Inspektors hatte massakrieren lassen. Andererseits - wenn Morel wirklich so ein harter Hund war, würde ihn dieser Mord nicht aus der Bahn werfen. Es wäre wirklich sehr verlockend, einen Maulwurf in den Reihen der Europol zu haben. Nicht, dass die polizeilichen Maßnahmen den Gangsterboss bisher nennenswert zurückgehalten hätten. Doch mit einem Spitzel bei den Ordnungskräften würde Lacis seine Geschäfte völlig risikolos ausweiten können.

Und letztlich ging es immer um Gewinnmaximierung.

Während ihm diese Überlegungen durch den Kopf schwirrten, verschaffte er sich per schnellem Vorlauf einen Überblick. Was hatte sich während der Nachtstunden in Beas Apartment ereignet?

Morel legte offenbar großen Wert auf eine regelmäßige Nachtruhe. Jedenfalls hatte er sich ausgezogen, war zwischen die blutbefleckten Laken gekrochen und eingeschlafen. Am Morgen rasierte er sich. Da die Badewanne nach wie vor von der Leiche blockiert wurde, musste die Dusche ausfallen. Der Inspektor verließ die Wohnung und kehrte eine Stunde später mit einer Säge und einem Kanister zurück. Natürlich hatte Lacis auch im Bad Minikameras anbringen lassen. Daher konnter er nun mit eigenen Augen sehen, wie Morel den Toten in handliche Stücke zu sägen begann, wobei er vor sich hin kicherte.

Der Kerl ist wirklich irre, dachte der Lette. Das musste allerdings kein Nachteil sein, falls er sich trotzdem kontrollieren ließ. Lacis beobachtete eine Weile, wie der Inspektor sich an den sterblichen Überresten von Behn zu schaffen machte. Dann wusch er sich die Hände und verließ das Apartment - vermutlich, um zum Präsidium zu fahren.

Lacis war noch unentschlossen, was seine Haltung gegenüber Morel anging. Er stellte das Thema zurück und rief seinen Assistenten. Juri hatte wie ein treuer Wachhund vor der Tür gewartet. Der Gangsterboss empfing ihn mit ausgesprochener Freundlichkeit.

»Guten Morgen, mein Bester! Konntest du dich gestern an deinem freien Tag gut erholen?«

Lacis schaute dem Handlanger ins Gesicht. Der ehemalige Fallschirmjäger blieb in Hab-Acht-Stellung vor seinem Boss stehen. Sein Mienenspiel beschränkte sich auf das absolute Minimum, aber Lacis durchschaute ihn trotzdem. Ein Außenstehender hätte keine Veränderung bemerkt. Doch der Alte erkannte sofort, dass Juri sich nicht mehr besonders wohl in seiner Haut fühlte. Und das war nach Lacis‘ Meinung in diesem Moment ein gutes Zeichen.

»Ja, Danke, Herr.«

Lacis liebte ein gutes Katz-und-Maus-Spiel. Es freute ihn immer, wenn sein Gegenüber im Unklaren gelassen wurde. Die meisten Menschen verrieten sich durch ihr Verhalten schon nach wenigen Minuten selbst. Da bildete Juri keine Ausnahme. Hinzu kam, dass der Gangsterboss seinen Getreuen sehr gut kannte. Zumindest hatte er das bis zum gestrigen Tag geglaubt.

»Hast du dich auch gut erholt? Du weißt, dass ich auf dich zähle. Wenn du in dem Eetcafé nicht so geistesgegenwärtig gewesen wärst, würde ich schon nicht mehr leben. Wissen wir eigentlich schon, wer uns die Killer auf den Hals gehetzt hat?«

»Unsere Knastkontakte konnten leider noch nicht an die Bastarde herankommen«, gab der Russe zurück. »Und auf der Straße sind die wildesten Gerüchte im Umlauf. Ein Verdacht besteht gegen die Polen, aber auch gegen die Ukrainer.«

»Naja, zumindest die Nigerianer können wir ausschließen, denn dafür waren die Killer eindeutig zu blass.«

Lacis lachte über seinen eigenen dummen Witz, und Juris Gesicht verzog sich pflichtschuldig zu einem Grinsen. Doch plötzlich wurde der Alte wieder todernst.

»Meine Tochter wird wohl nicht dahinter stecken. Oder was meinst du, Juri?«

Er starrte seinen Assistenten so lange an, bis dieser den Blick abwenden musste.

»I-ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen. Ist Lara nicht im Internat in der Schweiz?«

Der Alte beantwortete die Frage nicht. Sein Leibwächter konnte sich denken, dass Lacis mehr wusste, als er momentan preisgab. Zunächst wechselte er scheinbar das Thema.

»Diese beiden Bullen von Europol sind übrigens höchst interessant, Juri. Die Ahlers ist ja noch halbwegs normal, aber Morel scheint ein echter Psycho zu sein.«

Der Mafiaboss erzählte seinem Assistenten, was der Inspektor morgens im Bad mit der Leiche angestellt hatte.

»Das hätte ich einem Polizisten nicht zugetraut«, gab Juri zu.

»Ja, nicht wahr? Man sollte doch von Gesetzeshütern erwarten, dass sie sich an die Regeln halten. Das Gleiche gilt allerdings auch für uns - mit dem Unterschied, dass es bei uns andere Gesetze gibt.«

Lacis nahm noch einen Schluck Tee. Juri schien keine gute Entgegnung einzufallen, er hielt den Mund. Daher fuhr der Alte fort:

»Es gibt nichts, was du mir anvertrauen möchtest? Du weißt, dass du wie ein Sohn für mich bist.«

Der Russe schüttelte heftig den Kopf. Lacis hatte das Wort Sohn bewusst gewählt. Er wusste, dass Juri öfter an seinen leiblichen Vater dachte, als ihm lieb war. Dieser Dreckskerl hatte Juri unfassbare Dinge angetan, als er noch klein war und sich nicht wehren konnte. Lacis hingegen war immer gut zu seinem Assistenten gewesen. Er wusste, dass Juri zu ihm aufblickte und in ihm einen Vaterersatz sah.

Umso schlimmer war der Verrat des jüngeren Mannes. Das wollte Lacis ihm auf keinen Fall durchgehen lassen.

»Es war eine gute Idee, das Apartment der Kommissarin mit Überwachungstechnologie zu spicken«, sagte Lacis lächelnd. »Ich kann gar nicht verstehen, dass viele Leute in meinem Alter der modernen Technik so ängstlich gegenüber stehen. Ich bin ein großer Freund dieser Neuerungen. Man kann sie vielfältig einsetzen. Du hattest übrigens gestern auch ein Mikrofon in der Tasche, als du deinen wohlverdienten freien Tag genommen hast.«

Juri erschrak sichtlich.

»Hören Sie bitte, Herr ...«

»Nein, du hörst mir jetzt zu!«, blaffte der Alte. »Ich weiß nicht, was mich wütender macht: Die geplante Machtübernahme durch mein Töchterchen oder dein Verrat an mir!«

Der Russe fiel in eine Schockstarre. Er hatte ganz offensichtlich nicht damit gerechnet, dass Lacis ihm misstrauen würde. Andernfalls hätte er womöglich nach dem Mini-Mikrofon gesucht. Der Alte wusste natürlich, wie die Rollenverteilung bei dem geplanten Umsturz aussah. Schließlich hatte er den Wortwechsel zwischen Lara und Juri in dieser SM-Folterkammer mit angehört. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte: Juri würde immer nur ein Werkzeug sein, ob nun in Lacis‘ Händen oder denen seiner Tochter.

Der Mafiaboss erhob sich aus seinem Sessel am Fenster des Grachtenhauses und tätschelte gönnerhaft die Wange seines Leibwächters.

»Lara hat uns beide zum Narren gehalten, mein Bester. Als sie spurlos aus dem Internat verschwunden ist, hätte ich mir denken können, dass sie selbst etwas ausheckt. Durch ihre Adern fließt mein Blut, sie ist eine echte Lacis. Eigentlich wäre ich sogar enttäuscht gewesen, wenn sie nicht versucht hätte, mich abzusägen. Lara hat eben vom Meister gelernt. Sie wusste genau, dass sie meine Schwachstelle finden musste - nämlich dich!«

Juri zuckte zusammen, als ob er einen Schlag eingesteckt hätte. Wem gefiel es schon, sich so nennen zu lassen? Und der Alte machte unbarmherzig weiter: »Ich habe mich in dir getäuscht, mein Bester. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass du dich von deinen Gefühlen so beeinflussen lässt. Glaubst du im Ernst, dass meine Tochter etwas für dich empfindet? Du weißt, was eine Gottesanbeterin mit ihrem Liebhaber tut, wenn er seine Aufgabe erledigt hat, oder?«

Das war eine rhetorische Frage gewesen, außerdem machte Lacis sich über die Allgemeinbildung seines Leibwächters keine großen Illusionen. Daher fuhr er fort: »Das ist eine weibliche Heuschrecke, die sich begatten lässt und dann ihren Beschäler umbringt. Kapiert?«

Es schien, als ob Juri überhaupt nichts mehr sagen wollte. Er nickte heftig. Auf seiner Stirn bildeten sich unzählige kleine Schweißperlen. Der Alte bezweifelte trorzdem, ob der Russe den Sinn seiner Worte verstanden hatte. Er griff zu seinem Smartphone und holte eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher.

»Sergej? Ihr könnt jetzt hereinkommen.«

Keine drei Minuten später wurde die Tür geöffnet. Juri rang nach Luft, denn Lara betrat in Begleitung von zwei weiteren Gefolgsleuten des Mafiabosses den Raum. Lacis‘ Tochter war mit Klebeband geknebelt worden, außerdem hatte man ihre Handgelenke mit einem Strick gefesselt.

»Habt ihr euch wirklich eingebildet, mich abservieren zu können?«, höhnte der Alte.

18

Morel verschwand im Lauf des Tages mehrere Male für kurze Zeit, um weitere Säure zu beschaffen. Bea schwitzte jedes Mal Blut und Wasser, wenn er fort war. Falls etwas schief ging und man ihn erwischte, würden sie beide viel zu erklären haben. Allmählich begriff die Kommissarin, auf was für ein irrsinniges Unternehmen sie sich eingelassen hatte. Selbst wenn es den beiden Europol-Ermittlern gelang, die Leiche spurlos verschwinden zu lassen - Lacis würde gewiss nicht aufgeben und ihnen schon bald mit einer neuen Teufelei in die Suppe spucken.

Zum Glück ließ sich de Bruin während der nächsten Stunden nicht in Beas Büro blicken. Sie befürchtete, dass er sie durchschaut hätte. Doch woher sollte der niederländische Kollege wissen, dass sich ein Toter in ihrem Apartment befand? Die Kommissarin fürchtete, allmählich paranoid zu werden.

Also konzentrierte sie sich auf die Arbeit. Bea wollte die beiden Verdächtigen befragen, die Lacis in einem Eetcafé hatten töten wollen. Die Presse schrieb bereits von einem Amoklauf und belagerte das Untersuchungsgefängnis. Doch für die Kommissarin stand fest, dass es ein gezielter Anschlag auf den Letten gewesen war. Sie hatte die Protokolle des Observationgsteams gelesen. Lacis verdankte es nur dem Eingreifen seines Leibwächters und der Polizei, dass er überhaupt noch lebte.


Immerhin war es inzwischen gelungen, die Identität des Duos festzustellen. Es handelte sich um zwei vorbestrafte polnische Staatsbürger, nämlich Jakob Jablonski und Patryk Sorok. Beide verweigerten bisher die Aussage, aber so leicht gab Bea nicht auf. Sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um den Pflichtverteidiger der Männer ans Telefon zu bekommen. Als sie es endlich geschafft hatte, stellte die Kommissarin sich mit Namen und Dienstgrad vor. Der Rechtsanwalt hieß Henk van Buren. Seine Stimme klang so jung, als ob er das Staaatsexamen erst vor wenigen Tagen bestanden hätte. Vielleicht war das ja auch wirklich so.

»Oh, Mevrouw Ahlers ... ich hatte bisher noch nicht mit Europol zu tun. Doch ich fürchte, dass Sie nicht mit meinen Mandanten sprechen können.«

Van Buren sprach mit Akzent, doch sein Deutsch war einwandfrei. Dennoch klang seine Stimme seltsam. So, als ob er etwas Wichtiges vor Bea verbergen wollte. Sie konnte einen Menschen besser einschätzen, wenn er ihr direkt gegenüber saß oder stand. Doch während ihrer Jahre beim Bundeskriminalamt hatte die Kommissarin gelernt, auch Telefonstimmen richtig zu deuten.

»Warum nicht?«, blaffte sie. »Es geht hier um versuchten Mord. Wenn Ihre Mandanten schweigen, dann ist das ihr gutes Recht. Doch ich will sie verhören und ihnen persönlich ihre Lage vor Augen führen.«

Der Strafverteidiger seufzte.

»Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Mevrouw Ahlers. Sie können nicht mit Mijnheer Jablonski und Mijnheer Sorok reden, weil die beiden Männer in der vorigen Nachr ermordet wurden.«

Diese Nachricht musste Bea erst einmal sacken lassen. Allerdings war es im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität nicht ungewöhnlich, dass auch Killer gefährlich lebten. Insbesondere, wenn sie bei der Erfüllung ihrer Aufgabe versagt hatten. Entweder waren die Attentäter von ihrem Auftraggeber auf die Todesliste gesetzt worden, damit sie ihn nicht verraten konnten. Oder Lacis hatte Mittel und Wege gefunden, sich hinter Gefängnismauern für den Angriff auf ihn zu rächen.

»Sind Sie noch am Apparat?«

Van Burens Stimme riss die Kommissarin aus ihren Überlegungen.

»Ja, entschuldigen Sie bitte. Wie konnte es zu diesem Verbrechen kommen? Ich gehe davon aus, dass der oder die Täter bereits ermittelt wurden? Oder ist ihnen nach dem Doppelmord die Flucht gelungen?«

»Nein, der Täter sitzt nun in Einzelhaft. Es handelt sich um einen gewissen Leon Boud, der bereits wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüsst.«

Also hat er nichts zu verlieren, dachte Bea. Sie fragte: »Können Sie mir schon etwas zum Tathergang sagen?«

»Ja, die Anstaltsleitung hat mich informiert. Boud wurde zu meinen Mandanten in die Zelle verlegt. Als seine späteren Opfer eingeschlafen waren, erstach er sie mit einem selbstgebastelten Messer.« Der Anwalt fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Es soll wie eine Hinrichtung gewirkt haben. Meine Mandanten hatten keine Chance, beide wurden offenbar im Schlaf getötet. Als das Verbrechen entdeckt wurde, ließ der Mörder sich widerstandslos festnehmen. Er händigte dem Anstaltspersonal sogar die Waffe aus.«

Darüber wunderte Bea sich nicht. Für sie stand fest, dass dieser Boud für seine Bluttat angeheuert worden war. Zwar saß er lebenslänglich hinter Gittern, doch das Verbrechen würde ihm bei seinen Zellengenossen zusätzlichen Respekt einbringen. Außerdem konnte die Ermittlerin sich vorstellen, dass auch eine satte Prämie an seine Angehörigen in Freiheit floss. Es war nicht wirklich schwierig, Kontakt zu einem Mörder hinter Gittern aufzunehmen. Die Frage lautete, wer Boud engagiert hatte. Bea machte sich keine Illusionen darüber, dass der Täter seinen Auftraggeber ans Messer liefern würde.

»Mir kommt es ungewöhnlich vor, dass ein Lebenslänglicher zu zwei Untersuchungshäftlingen verlegt wird«, sagte sie zu van Buren.

»Offenbar hat es da eine Verwechslung gegeben«, erwiderte er. Bea hätte am liebsten gelacht, wenn das Thema nicht so ernst gewesen wäre. Sie glaubte nicht an Zufälle. Bei dieser »Verwechslung« war gewiss eine Menge Bestechungsgeld geflossen. Ob man eine solche Transaktion jemals würde beweisen können, stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt.

Dennoch wollte die Kommissarin diese Spur nicht einfach im Sand verlaufen lassen. Es gab zumindest eine winzige Chance, dass Boud bewusst oder unbewusst einen Hinweis gab.

»Ich will mit dem Mörder sprechen«, forderte sie.

»Darüber habe ich nicht zu entscheiden, wenden Sie sich an die Gefängnisverwaltung«, gab der Anwalt zurück. Das wusste die Kommissarin natürlich auch. Sie bedankte sich förmlich für die Informationen und beendete das Telefonat. Danach rief sie sofort in der Strafanstalt an. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, trat Morel ein. Der Franzose lächelte ihr zu.

»Ich gehe davon, dass morgen früh Ihr Bad wieder benutzbar ist.«

Bea schaute ihn an. Eigentlich hätte sie ihrem Kollegen dankbar sein sollen, denn er riskierte viel für sie. Stattdessen fürchtete sie sich vor ihm. Sie war deshalb auf sich selbst sauer und versuchte, das Gefühl niederzukämpfen. Bea stand von ihrem Bürostuhl auf.

»Kommen Sie mit, ein Verhör wartet auf uns. Ich erzähle Ihnen unterwegs, was geschehen ist.«

Die Ermittler stiegen in ihren Dienstwagen und kämpften sich durch den dichten Verkehr der Amsterdamer Innenstadt. Bea berichtete, was sie von dem Strafverteidiger erfahren hatte. Morel nahm die Neuigkeiten mit unbewegter Miene zur Kenntnis.

»Wenn dieser Boud den Mund aufmacht, muss er befürchten, zum nächsten Opfer zu werden«, mutmaßte der Franzose. »Doch selbst, wenn er nicht auskunftsfreudig ist, kann uns diese Befragung weiterbringen.«

»Inwiefern?«

»Lassen Sie sich überraschen, Frau Ahlers.«

Bea verzog den Mund und drückte ihren Kopf gegen die Rückenlehne. Zum Glück saß ihr Kollege am Lenkrad, sie war durch den chaotischen Straßenverkehr zunehmend genervt. Jeden Moment rechnete sie damit, dass ein Radfahrer auf der Kühlerhaube des zivilen Dienstfahrzeugs landen würde. Doch Morel kämpfte sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Massen an PKWs, Fahrrädern und Motorrollern.

»Auf Überraschungen stehe ich nicht so, seit mein toter Verehrer in meinem Bett gelandet ist!«

Der Inspektor lachte leise.

»Für diese Haltung habe ich vollstes Verständnis. Ich will Ihnen gegenüber nicht den Geheimniskrämer spielen. Bitte vertrauen Sie mir einfach.«

Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, dachte Bea. Sie sagte: »Nun gut, wir werden sehen. Benötigen Sie eigentlich Hilfe bei unserem ... Projekt?«

Der Franzose schüttelte den Kopf.

»Die einzigen Nachbarn, die mir bisher begegnet sind, war ein bereits abreisendes Pärchen aus Korea. Die wird niemand als Zeugen befragen. Es sei denn, man möchte sich nach Seoul begeben oder die dortige Polizei um Hilfe bitten. Wenn ein Verdacht bestünde, dass Ihr Freund in Ihr Apartment gekommen ist, wären die niederländischen Kollegen schon längst auf der Bildfläche erschienen.«

»Behn war nicht mein Freund!«, fauchte Bea abermals. Was die Nachbarn anging, so hatte Morel allerdings recht. Das Haus, in dem die Kommissarin lebte, schien vor allem für Kurzzeitvermietungen an Internet-Vermittlungsportale gedacht zu sein. Sie hatte seit ihrer Ankunft dort einige Nachbarn getroffen, die ausnahmslos Touristen aus aller Welt zu sein schienen. Koreaner, Amerikaner, Latinos und Araber gaben sich die Klinke in die Hand. Einen Holländer hatte Bea in ihrem direkten Wohnumfeld noch nicht zu Gesicht bekommen.

»Gut, also ist niemand auf Sie aufmerksam geworden«, sagte sie. »Und wo wollen Sie Behns Überreste entsorgen?«

Ich hätte nie gedacht, dass ich so einen Satz einmal aussprechen würde, schoss es ihr durch den Kopf. Doch Morel schien ihre Überlegung für völlig normal zu halten.

»Das hängt vom Zersetzungszustand ab«, gab er im Plauderton zurück. »Zum Glück ist Amsterdam eine Hafenstadt, und es gibt sehr einsame Flecken im Bereich der Piers und Docks. Wenn ich dort zur späten Nachtstunde ein paar Plastiktüten ins Wasser werfe, wird das niemandem auffallen.«

»Also zersetzt sich die Leiche nicht vollständig?«

»Nicht in dem Maße, wie ich es mir gewünscht hätte, Frau Ahlers. Die Chemikalien, die ich hier beschaffen konnte, sind nur bedingt geeignet.«

Bea lag die Frage auf der Zunge, ob Morel einschlägige Erfahrungen hätte. Doch sie verkniff sich diesen Satz. Eigentlich wollte sie es gar nicht so genau wissen.


Bei Europol hatte die Kommissarin erfahren, dass in den Niederlanden die Zahl der Gefängnisinsassen seit Jahren rückläufig sei und leichtere Fälle gar nicht erst gesiebte Luft atmen mussten. Ob das ein Grund dafür war, dass man den verurteilten Mörder Boud zu den beiden Attentätern gesteckt hatte? Daran zweifelte sie.

Die grauen Mauern der Justizvollzugsanstalt ragten vor dem Kühler des Dienstwagens auf. Nachdem die Europol-Ermittler verschiedene Sicherheitschecks durchlaufen hatten, wurden sie von einem Wärter in einen Besucherraum gebracht. Es dauerte nicht lange, bis zwei weitere Uniformierte den Täter zu ihnen brachten.

Boud war ein bulliger Kerl, der sich die Zeit hinter Gittern offenbar größtenteils mit Krafttraining vertrieb. Seine Schultern waren so breit, dass der Anstaltsoverall beinahe aus den Nähten platzte. Den Schädel hatte er sich rasiert. Seine kalten blauen Augen starrten die Kriminalisten an. Bea stellte ihren Kollegen und sich selbst vor, woraufhin Boud breit grinste.

»Was will denn die Europol von mir? Waren die beiden Läuse, die ich zerquetscht habe, so wichtig?«

Die Kommissarin ließ sich nicht provozieren.

»Erzählen Sie uns doch einfach, wie es zu der Tat gekommen ist.«

»Na schön, ich langweile mich hier drin sowieso«, meinte der Gefangene. »Aber es gibt nicht viel zu berichten. Ich wurde wieder mal verlegt. Das passiert hier öfter, weil die Wachen wohl nichts Besseres zu tun haben. Sie steckten mich also zu diesen beiden Knilchen. Ich grüßte freundlich, aber sie kriegten die Zähne nicht auseinander. Arrogante Fatzkes kann ich nicht ausstehen. Die hielten sich wohl für etwas Besseres. Also beschloss ich, ihnen eine Lektion zu erteilen. Als sie eingepennt waren, hab ich sie mit meiner Klinge gekitzelt. Dabei muss ich es wohl übertrieben haben.«

»Das haben Sie sich ja schön zurechtgelegt«, sagte Morel. »Also brachten Sie Ihre Mitgefangenen nur um, weil sie Ihnen überheblich vorkamen?«

»Klar, aber wen juckt das? Zwei Polacken weniger!«

Bea beugte sich vor.

»Woher wussten Sie, dass die Männer polnische Staatsbürger waren? Sie haben doch angeblich gar nicht mit ihnen gesprochen.«

Mit diesem Einwand hatte Boud offenbar nicht gerechnet. Er unternahm einen halbherzigen Versuch, seine Geschichte zurechtzubiegen: »Nee, aber die Kerle haben auf Polnisch miteinander gequatscht.«

»Verschonen Sie uns mit der Märchenstunde«, sagte die Kommissarin. »Wir wissen, dass Sie mit dem Doppelmord beauftragt wurden. Wer hat Ihnen den Tötungsbefehl gegeben? Und was springt für Sie dabei heraus?«

Boud reagierte nicht. Bea sah ihre Felle davon schwimmen. Sie verfügte über kein Druckmittel, um den Killer zum Reden zu bringen. Hilfesuchend warf sie Morel einen Seitenblick zu. Doch ihr Kollege schien nur noch Augen für sein Gegenüber zu haben. Das fiel natürlich auch dem Mörder auf. Er blinzelte irritiert.

»Warum starren Sie mich so an?«, fragte er den Franzosen. »Haben Sie sich in mich verknallt?«

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

»Nein, das nicht. Aber ich kann Sie sehr gut verstehen, Boud.«

»Ach, wirklich?« Der Niederländer lachte rau. »Und warum?«

»Weil ich auch schon getötet habe.«

Boud schnaubte verächtlich.

»Das denken Sie sich doch bloß aus, um mich zu beeindrucken.«

»Habe ich nicht nötig. Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage.«

»Ich bin kein verdammter Hellseher«, gab Boud zurück. Doch seine coole Fassade bröckelte ein wenig. Oder kam es Bea nur so vor? Der Doppelmörder schien Morel plötzlich mit völlig anderen Augen zu sehen.

Da habe ich Boud doch schon etwas voraus, dachte die Kommissarin. Sie konnte sich vorstellen, dass der Insasse Morel für einen völlig normalen rechtschaffenen Polizisten gehalten hatte. Sie hingegen wusste schon von der dunklen Seite ihres Dienstpartners, und sie profitierte sogar davon. Auch, wenn sie von dieser Entwicklung nicht gerade begeistert war.

Der Inspektor begann wieder zu reden. Es war, als wenn er zu sich selbst sprechen würde.

»Es war vor drei Jahren, als ich in Avignon gemeinsam mit Kollegen einer Sondereinheit ein Drogenlabor hochgehen ließ. Wir hatten den Zugriff sorgfältig geplant, konnten die meisten Täter sofort festnehmen. Sie waren so verblüfft, dass sie keinen Widerstand leisteten. Die illegale Produktionsstätte befand sich im Kellergewölbe einer Klosterruine, entsprechend unübersichtlich war die Umgebung. Obwohl wir glaubten, alle Zugänge versperrt zu haben, konnten ein oder zwei Verdächtige entkommen. Die meisten Kollegen waren damit beschäftigt, die Beweise zu sichern und die Verhafteten zu durchsuchen. Der Kommandant gab mehreren Polizisten die Anweisung, das Gemäuer systematisch zu durchkämmen. Dabei sollten wir Sichtkontakt halten, was illusorisch war. Auf jeden Fall verlor ich die anderen aus den Augen. Und dann sah ich ihn vor mir.«

»Den Leibhaftigen?«, höhnte Boud.

»Einen der Dealer«, fuhr Morel unbeirrt fort. »Ich gab mich zu erkennen und forderte ihn auf, sich zu ergeben. Stattdessen rannte er davon, in einen dunklen Gang. Es war Nacht, das hatte ich noch nicht erwähnt. Der Verbrecher hatte eine Taschenlampe dabei, genau wie ich. Wahrscheinlich kannte er sich in der Ruine besser aus als ich. Doch als er eine steile Treppe ohne Geländer hoch lief, rutschte er auf den feuchten Stufen aus und fiel mir vor die Füße.«

»Eine reife Frucht! Und warum erzählen Sie das?«

»Nicht so ungeduldig, Boud. Sie werden gleich merken, worauf ich hinaus will. Der Dealer hatte seinen Revolver verloren, die Waffe lag ein paar Schritt von ihm entfernt. Außerdem war seine Lampe kaputt gegangen. Ich leuchtete ihm ins Gesicht. Selbst wenn er nach dem Achtunddreißiger gegriffen hätte, wäre ich ihm zuvor gekommen. Doch er hob stattdessen die Hände. Und ich - jagte ihm drei Kugeln in seine Visage!«

Während Morel seinen Bericht ansonsten mit monotoner Stimme vorgetragen hatte, spie er den letzten Satz förmlich aus. Sowohl Bea als auch der Doppelmörder schauten ihn verblüfft an. Der Franzose holte Luft und fuhr fort: »Ich hasse Dealer. Während der Ermittlungen habe ich einige Opfer dieser Teufel in Menschengestalt gesehen. Junge Menschen, tot, entstellt oder schwer behindert. Ich sagte mir, dass dieser Bastard höchstens ein paar Jahre Gefängnis zu erwarten hatte, vielleicht auch weniger. Also erledigte ich ihn. Da ich Handschuhe trug, konnte ich problemlos seinen Revolver in seine tote Hand zwängen. Ich gab zu Protokoll, dass er auf mich gezielt hätte. Sie beide sind die Ersten, denen ich die Wahrheit erzähle.«

Bea verschlug es die Sprache. Und Boud fragte nur:

»Warum?«

»Ich kenne dieses Gefühl absoluter Macht, das mit dem Töten verbunden ist. Und glauben Sie bitte nicht, dass ich meine Tat bereue. Ich würde immer wieder so handeln, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«

Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dachte die Kommissarin. Und sie fragte sich unwillkürlich, wie viele weitere Menschenleben dieser Psycho an ihrer Seite auf dem Gewissen hatte.

»Sie haben echt Eier, mir so eine Geschichte aufzutischen«, sagte Boud nach einer kurzen Gesprächspause. »Wissen Sie was: Ich glaube Ihnen. Sie sind so ein Typ, der auf den ersten Blick lammfromm wirkt und einem dann kalt grinsend einen Dolch in den Rücken rammt.«

»Ich würde auch Sie töten, wenn ich damit durchkäme, Boud. Aber das wird nicht möglich sein, ohne meine Karriere zu gefährden.«

Die Augen des Doppelmörders verengten sich zu Schlitzen. Für einen Moment fürchtete Bea, dass Morel zu weit gegangen wäre. Doch dann stieß Boud ein raues Lachen aus.

»So viel Ehrlichkeit muss belohnt werden, finde ich. Also gut, ich gestehe den Auftragsmord. Ich erhielt einen Anruf auf meinem Handy. Es ist kinderleicht, die Dinger hier herein zu schmuggeln. Fast jeder Insasse hat eins. Jedenfalls bot mir ein gewisser Juri an, fünfzigtausend Euro auf mein Konto auf den Cayman Inseln zu überweisen. Im Gegenzug sollte ich die beiden Polacken umlegen. Er gab mir die Details.«

»Fünfzigtausend erscheint mir für einen Doppelmord günstig«, warf Bea ein.

Der Killer zuckte mit den breiten Schultern.

»Schon möglich. Aber ich freute mich über die Aufgabe. Ist auch gut für mein Image hier drin - damit niemand auf die Idee kommt, dass ich weich geworden wäre.«

»Würden Sie die Stimme von Juri wiedererkennen?«, hakte die Kommissarin nach.

»Sicher. Und bevor Sie mich nach seiner Mobilfunknummer fragen: Der Anruf kam von einem Prepaidhandy, das werden Sie gewiss nicht orten können.«

»Überlassen Sie diese Entscheidung uns«, sagte Morel. Und wirklich betete der Muskelprotz brav eine Zahlenfolge herunter, die sich die Europol-Ermittler notierten. Dann verabschiedeten sie sich von dem unheimlichen Gesellen.

Bea öffnete erst wieder den Mund, als sie die Gefängnismauern hinter sich gelassen hatten und im Auto saßen.

»Diese Geschichte haben Sie doch erfunden, Morel? Ich meine, Sie haben nicht wirklich einen wehrlosen Mann erschossen?«

Der Franzose lächelte, während er den Motor anließ und die Hände aufs Lenkrad legte.

»Natürlich nicht, Frau Ahlers. Für wen halten Sie mich?«

Das willst du nicht wirklich wissen, gab sie in Gedanken zurück.

19

Lara Lacis warf ihrem Vater einen kalten Blick zu.

»Und ich soll dir wirklich glauben, dass du um mein Wohlergehen besorgt bist?«

Der Alte gab seinen Schergen ein Zeichen, und sie traten einen Schritt weit von der Achtzehnjährigen zurück. Die Männer blieben allerdings nach wie vor einsatzbereit. Es war deutlich, dass der Mafiaboss seinem Kind nicht traute. Und dafür hatte er ja auch objektiv betrachtet überhaupt keinen Grund. Juri hingegen stand immer noch wie ein begossener Pudel in der Ecke. Er schien vor Scham am liebsten im Boden versinken zu wollen. Er hatte den Kopf gesenkt und konnte keinem der Anwesenden in die Augen sehen.

Lacis wirkte amüsiert, als er das Wort an Lara richtete.

»Du hast also deine Zimmergenossin im Internat aufgemischt, bist untergetaucht und hast meinem Bodyguard in einer Folterkammer den Kopf verdreht, damit er dir bei einer Palastrevolution in meinem Haus hilft. Da ist es doch wohl nicht verwunderlich, dass ich mir über deinen Geisteszustand den Kopf zerbreche.«

Die junge Frau lachte, aber sie wirkte nicht amüsiert.

»Ernsthaft, Daddy? Du hältst mich für irre, weil ich etwas frischen Wind in unseren Familienbetrieb bringen will?«

Der Alte ließ sich von ihrer herausfordernden Art nicht aus der Ruhe bringen. Er zuckte nur mit den Schultern.

»Ich habe nichts gegen moderne Erfindungen, denn sonst hätte ich wohl kaum modernste Überwachungstechnologie eingesetzt, um deinen neuen Freund Juri im Auge zu behalten. Und dass du mehr Verantwortung übernehmen willst, finde ich in Ordnung. Allerdings nicht, wenn ich als Konsequenz daraus auf dem Friedhof lande. In unserer Branche pflegt man sich nämlich nicht in ein Altersheim zurückzuziehen.«

Lara merkte, dass sie bei ihrem Vater auf Granit biss. Das hätte sie eigentlich nicht wundern dürfen, da sie viele Charakterzüge von ihm geerbt hatte. Er wusste, dass sie mit dem Kopf durch die Wand wollte. So war es bei Lacis auch gewesen, als er noch jung gewesen war. Bis heute blieb ihm diese Eigenschaft erhalten. Allerdings benutzte er inzwischen seinen Schädel nur noch dann als Rammbock, wenn die Mauer ihm besonders brüchig oder rissig erschien. Aussichtslose Unternehmungen waren nicht sein Metier.

Deshalb hatte er auch eine klare Botschaft an die polnischen Rivalen gesandt, indem er die beiden Attentäter im Gefängnis liquidieren ließ. Wenn seine Konkurrenten nun keine weiteren Aktionen unternahmen, würde er seinerseits das Kriegsbeil begraben. Der Markt war schließlich groß genug für mehrere gut funktionierende Organisationen. Doch wenn diese Warschauer Holzköpfe glaubten, ihm weiterhin seine Position streitig machen zu können, dann würden sie in einem Meer von Blut ertrinken.

Lara klimperte mit den Wimpern. Trotz ihrer ausgekochten Art und ihrer düsteren Umsturzpläne war sie immer noch ein wenig kindlich. Glaubte sie wirklich, ihren Vater um den Finger wickeln zu können?

»Natürlich habe ich nicht deine Erfahrung, Daddy. Aber wie soll ich jemals in deine Fußstapfen treten, wenn ich nicht selbst etwas unternehmen darf?«

»Wenn du unserer Familie keine Schande machen willst, dann kehrst du in die Schweiz zurück und machst dein Abitur. Die Verletzungen deiner Zimmergenossin werde ich mit Geld zukleistern können. Ihr Vater wird sich nicht trauen, uns an den Karren zu fahren.«

Lara schmollte.

»Wozu brauche ich das blöde Abitur? Um ein Verteilzentrum für Huren zu organisieren?«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Die Zeiten haben sich geändert, Süße. Wenn du heutzutage Erfolg haben willst, musst du auch in der Welt von gesetzestreuen Unternehmen bestehen können. Du bist intelligent und attraktiv. Nach einem Wirtschaftsstudium könntest du in einen international tätigen Konzern einsteigen ...«

»Wie sterbenslangweilig!«, warf Lara ein. Doch ihr Vater ließ sich nicht beirren.

» ... und dich dort in eine wichtige Position katapulieren«, fuhr er fort. »Mit den entsprechenden Verbindungen in Politik und Verwaltung bist du dann praktisch unangreifbar und ziehst die Fäden im Hintergrund. Dein armer Vater muss sich sogar in seinem Alter noch mit übereifrigen Europol-Ermittlern herumschlagen, die ihn unbedingt hinter Gittern sehen wollen.«

»Dann lass mich beweisen, wie loyal ich dir gegenüber bin!«, schlug Lara vor. »Ich lege diese Bullen für dich um!«

Lacis konnte nicht anders, er musste seine Tochter einfach auslachen.

»Hältst du mich für völlig verkalkt? Du hast meinen Tod geplant, indem du dir Juri gefügig gemacht hast. Und nun soll ich dir einen Mordauftrag erteilen?«

»Das war doch alles nicht so ernst gemeint, Daddy. Glaubst du wirklich, dass ich dir etwas hätte antun können? Das habe ich nur behauptet, damit dieser russische Brutalo mich für vertrauenswürdig hält. Der kennt doch nur die Gewalt.«

Falls Juri von ihren Worten getroffen wurde, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er stand ohnehin herum wie eine lebende Leiche. Lacis hatte ihm die härteste Strafe zukommen lassen, die für diesen jungen Mann vorstellbar war. Er durfte den Alten nicht mehr als seinen Vaterersatz betrachten. Lacis zeigte ihm die kalte Schulter. Juri wäre gewiss lieber gestorben.

Aber dem Mafiaboss gingen jetzt andere Dinge durch den Kopf. Er musste seine Tochter irgendwie zur Räson bringen. Und er hatte keinen blassen Schimmer, wie er das hinbekommen sollte.

Lacis selbst war als Kind von seinem Vater regelmäßig verprügelt worden, mit fragwürdigem Erfolg. Lacis Senior hatte versucht, dem kleinen Viktor Respekt vor Gesetz und Ordnung einzubläuen. Und diese Absicht war gründlich danbengegangen. Mit jedem Schlag, den Lacis vor vielen Jahren einstecken musste, wuchs seine Sehnsucht nach Freiheit und Regellosigkeit. So war es bis heute geblieben, wobei der Alte sich inzwischen nur noch an ein einziges Gesetz hielt.

Nämlich an sein eigenes.

Lara zeigte sich bockig.

»Ich bin volljährig!«, tönte sie. »Und mich bringen keine zehn Pferde zurück in dieses spießige Internat!«

Lacis setzte zu einer scharfzüngigen Antwort an. Aber dazu kam es nicht mehr. Denn in diesem Moment krachte eine Rakete durch das Fenster und explodierte.

20

Der Besuch im Gefängnis war nicht sinnlos gewesen, wie sich bei der folgenden Besprechung im Polizeipräsidium herausstellte. De Bruin hörte sich an, was die Europol-Ermittler bei der Befragung des Doppelmörders herausgefunden hatten. Natürlich verschwiegen sie ihm, auf welche Art sie die Informationen bekommen hatten.

»So, Boud ist also von einem gewissen Juri angerufen worden? Das wundert mich nicht«, sagte der niederländische Kollege. »Juri Brussow arbeitet offiziell als Lacis‘ Privatsekretär. In Wirklichkeit ist er sein Leibwächter und generell der Mann fürs Grobe.«

De Bruin projizierte ein Foto an die Wand des Konferenzraums. Es zeigte einen düsteren Mann mit dunklen Haaren.

»Dem möchte ich nicht im Dunklen begegnen«, stellte Bea trocken fest. »Wie auch immer, Boud behauptet, die Stimme des Anrufers wiedererkennen zu können.«

»Wird der Dreckskerl wirklich eine Aussage machen?«, fragte der Hoofdcommissaris skeptisch. »Falls das wirklich klappen sollte, kann ein guter Strafverteidiger Bouds Angaben in der Luft zerreißen. Die Erinnerung an ein Telefonat ist äußerst subjektiv, und jeder kann sich Juri nennen.«

»Mit der Mobilfunknummer werden wir auch nicht viel anfangen können«, meinte Morel, »doch für einen unangemeldeten Besuch bei Lacis sollte der Anfangsverdacht reichen.«

»Dann wird der alte Satan Ihnen nur frech ins Gesicht lachen, aber meinetwegen können Sie Ihr Glück gern versuchen«, grollte de Bruin. »Ich bin heute übrigens auch nicht untätig geblieben. Die kleine Alissa Dripov ist in einem Kindergarten in Amstelveen angemeldet. Sie wohnt offenbar bei einer dortigen Pflegemutter, die das Mädchen heute morgen als vermisst gemeldet hat.«

Die Kommissarin war ganz Ohr.

»Erzählen Sie uns mehr«, bat sie.

»Ich bin durch einen Datenabgleich auf den Namen gestoßen«, sagte der Niederländer. »Dann stellte sich schnell heraus, dass von dem Kind jede Spur fehlt. Laut den Kollegen aus Amstelveen wurde vorige Nacht ins Haus der Pflegemutter eingebrochen. Es fehlen keine Wertgegenstände, und nichts deutet auf Gewalttätigkeit hin. Das Kind war vermutlich zu eingeschüchtert, um sich zu wehren oder zu schreien. Es wird dem Täter brav gefolgt sein. Fest steht, dass der Einbruch äußerst professionell durchgeführt wurde.«

»Es ist möglich, dass Alissa sich vor dem Kidnapper gefürchtet hat«, warf Morel ein. »Ebenso vorstellbar ist es aber auch, dass es ihn kannte und deshalb mitgegangen ist.«

Bea und de Bruin schauten den Franzosen skeptisch an.

»Wem soll Alissa denn vertrauen?«, fragte die Kommissarin. »Ihrem Vater vielleicht? Wir wissen ja noch nicht mal, wer das Kind gezeugt hat.«

»Ich dachte weniger an den Vater als an den Onkel«, erklärte Morel. »Ich habe nämlich recherchiert und herausgefunden, dass Ulyana Dripov einen Bruder namens Ilya hat. Und dieser junge Mann scheint mir ein sehr interessanter Kandidat zu sein.«

Und wann wolltest du dein Wissen mit mir teilen? dachte Bea verdrossen. Aber sie würde ihren Dienstpartner gewiss nicht in Gegenwart des Niederländers herunterputzen. Immerhin erledigte er für sie die Drecksarbeit, und das im Wortsinn. Da konnte er ruhig einen kleinen Ermittlungserfolg für sich einheimsen.

»Was ist denn so spannend an diesem Kerl?«, fragte de Bruin. Sein Tonfall war nicht hämisch, er schien wirklich an der Antwort interessiert zu sein.

»Ilya Dripov hat in der ukrainischen Armee gekämpft, wurde verwundet und verschwand von der Bildfläche. Er tauchte Monate später als Söldner wieder auf, war in Afrika und Asien an Kriegsverbrechen beteiligt. Er gilt als völlig skrupellos, äußerst diszipliniert und technisch hochbegabt. Er steht bei verschiedenen Ländern auf der Fahndungsliste, eigentlich hätte er bei seiner Einreise in die Europäische Union sofort verhaftet werden müssen.«

»Wenn Dripov gesucht wird, dürfte er wohl kaum seinen echten Namen benutzt haben«, gab Bea zu bedenken. »Und wir wissen ja alle, wie wenig effektiv der Schutz unserer Außengrenzen ist. Zumindest sollten wir erwägen, dass er sich in den Niederlanden befinden könnte.«

Morel nickte und zeigte ihr auf seinem Tablet einen Auszug aus Dripovs ukrainischer Militärakte. Auf dem Foto war ein ernster junger Mann zu sehen, dessen Familienähnlichkeit mit der ermordeten Prostituierten deutlich zu erkennen war.«

»Ich stelle es mir so vor, dass eine von Ulyanas Kolleginnen in der Honolulu Paradise Bar als eine Art Notfallkontakt gedient hat«, dachte Bea laut nach. »Als Ulyana starb, verständigte diese Frau den Bruder, dessen Nummer sie von dessen Schwester bekommen hatte. Daraufhin setzte sich Ilya Dripov von irgendwo auf der Welt Richtung Amsterdam in Bewegung, um seine Schwester zu rächen und seine Nichte zu sich zu nehmen.«

»Ich werde eine Fahndungsmeldung in die Wege leiten«, sagte der Hoofdcommissaris. »Leider gibt es in Amsterdam mehr als genug Möglichkeiten, sich diskret eine Bleibe zu suchen.«

»Es wird allerdings schwieriger, wenn man ein kleines Kind bei sich hat«, warf Morel ein. »Ein erwachsener Mann in Begleitung eines ungefähr fünfjährigen Mädchens erregt mehr Aufsehen, als wenn er allein unterwegs ist. Dripov hat viel riskiert, um seine Nichte zu holen. Das bedeutet: Sie wird ihm nicht gleichgültig sein. Ich gehe davon aus, dass sie es bei dieser Pflegemutter gut hatte?«

»Bisher konnte ich nicht mit der Frau sprechen, aber das erscheint mir nicht unwahrscheinlich«, meinte de Bruin zustimmend.

Bea führte ihren Gedanken weiter: »Also braucht Dripov wieder eine Frau, die ihm den Rücken freihält. Er kann sich nicht rund um die Uhr dem Kind widmen. Außerdem ist die Kombination Mann, Frau und kleines Mädchen viel unauffälliger. Dann wirken die drei nämlich wie eine Familie.«

»Welche Frau könnte Dripov in Amsterdam kennen?«, fragte Morel und gab die Antwort sogleich selbst: »Jene Berufskollegin seiner Schwester, die ihn über Ulyanas Tod informiert hat. Bei ihr kann er sicher sein, dass sie seine Motivation versteht. Und ich würde es Dripov durchaus zutrauen, sie dem Zugriff ihrer Luden zu entreißen.«

Bevor jemand etwas entgegnen konnte, schrillte de Bruins Smartphone. Er nahm ein Gespräch an, stieß eine kurze Entgegnung auf Niederländisch hervor und beendete das Telefonat. Die Europol-Ermittler schauten ihn gespannt an.

»Soeben wurde eine Explosion in Lacis‘ Grachtenhaus gemeldet«, sagte der Hoofdcommissaris mit gepresster Stimme.

21

Drei Stunden zuvor

Alissa freute sich über den Hasen, den ihr Onkel für sie gekauft hatte. Das Stofftier wartete im Auto, das Dripov in der Nähe geparkt hatte.

»Der ist sooo lieb, Onkel Ilya! Ich werde ihn Henk nennen. Hier in Holland heißen alle Henk.«

Der Killer strich seiner Nichte schmunzelnd über das Haar. Henk der Hase war fast so groß wie das kleine Mädchen.

»Du kannst jetzt in aller Ruhe mit Henk spielen«, sagte Dripov. »Ich muss noch einmal weg, etwas erledigen.«

»Kannst du Mama holen, Onkel Ilya? Ich möchte so gern mal wieder zu Mama!«

Er presste die Lippen aufeinander. Noch hatte er es nicht übers Herz gebracht, seiner Nichte vom Tod ihrer Mutter zu berichten. Die Kehle des Killers war plötzlich staubtrocken. Er würde die richtigen Worte wählen müssen. Wie sollte man einem kleinen Kind das Unbegreifliche deutlich machen? Das Töten selbst bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Schon bei seinem ersten Kampfeinsatz hatte Ilya Dripov verdrängt, dass jeder seiner toten Feinde von einer Mutter und einem Vater betrauert wurden. Manche der Männer, die er eigenhändig im Zweikampf tötete, waren womöglich schon selbst stolze Papas. Diese Gedanken ließ er gar nicht erst hochkommen, denn es handelte sich ja um Fremde. Er hatte nichts mit ihnen zu schaffen. Doch bei seiner eigenen Verwandtschaft lagen die Dinge natürlich anders.

Denn die Familie war ihm heilig.

»Wir fahren jetzt zu meiner neuen Wohnung«, sagte Dripov mit gespielter Munterkeit. »Da lernst du dann Rosa kennen, und Mama ... was Mama angeht, spreche ich später mit dir.«

Er schnallte das Mädchen in dem Kindersitz fest, den er für das Mietauto besorgt hatte. Alissa blinzelte ihm lächelnd zu.

»Ist Rosa deine Freundin, Onkel Ilya?«

»Das kann man sagen«, log der Killer.

In Wirklichkeit war Rosa eine freundliche, aber schweigsame philippinische Kinderfrau, die er über seine Amsterdamer Kontakte angeheuert hatte. Sie würde sich um Alissa kümmern, während er seinen Rachefeldzug startete. Für den Fall, dass Dripov nicht zurückkehrte, war das Kind nicht allein. Er hatte an alles gedacht.

Die Rückkehr in die niederländische Hauptstadt verlief ohne Probleme. Er hatte sich die Route genau angeschaut und vermied alle Straßenecken, an denen ein Schild mit der Aufschrift CAMERATOEZICHT POLITIE auf Überwachungstechnik hinwies.

Dripov war sehr erleichtert, weil es seiner Nicht gutging. Doch Ulyanas früher Tod hatte ein Loch in sein Leben gerissen, das mit dem Blut seiner Feinde zugeschmiert werden musste. Der Killer hatte erst vor wenigen Wochen davon erfahren, dass seine Schwester in Amsterdam zur Prostitution gezwungen wurde. Er machte sich schwere Vorwürfe, weil er sie nicht sofort aus dem Milieu herausgeholt hatte. Ulyana könnte noch leben, wenn Dripov umgehend gehandelt hätte. Das war seine feste Überzeugung.

Doch er war zu der Zeit auf einer mörderischen Mission im tiefsten Afrika gewesen. Außerdem kam ihm die Nachricht über die Rotlichtkarriere seiner Schwester nur durch ihre beste Freundin zu Ohren, und ihr hatte er noch niemals getraut. Als Dripov schließlich nach Europa zurückkehrte, musste er feststellen, dass Tatjana die Wahrheit gesagt hatte. Er wollte sofort aufbrechen, um Ulyana zu retten.

Doch da erreichte ihn bereits die Nachricht von ihrem Tod.

Der Killer versuchte, sich seine düstere Stimmung gegenüber dem Kind nicht anmerken zu lassen. Doch Alissa hatte feine Antennen für Gefühle. Sie musterte ihn genau, als er ihr aus dem Kindersitz half.

»Warum bist du so traurig, Onkel?«

»Ich bin gar nicht traurig, ich muss nur heute noch so viel arbeiten. Wenn ich zurückkomme, dann spielen wir zusammen, einverstanden?«

»Muss ich heute gar nicht in den Kindergarten?«

»Nein, du hast ausnahmsweise frei.«

Dripov betrat gemeinsam mit seiner Nicht die Wohnung, in der bereits Rosa wartete. Die Philippina hatte angeblich selbst mehrere Kinder, die aber in ihrer asiatischen Heimat geblieben waren. Der Killer wusste nicht, ob diese Geschichte stimmte. Doch Rosas Begrüßung für Alissa bewies ihm, dass sie ein intuitives Gespür für Kinder hatte.

Er würde seine Nichte getrost in Rosas Obhut lassen können, während er töten ging.

Dripov gab dem Mädchen einen Kuss.

»Ich muss los, wir sehen uns dann später.«

Der Killer verließ das Grachtenhaus und fuhr zu einem Gewerbegebiet, wo er mit einem Waffenhändler namens Paul verabredet war. Es gab für Dripov keinen Zweifel daran, wer wirklich für den Tod seiner Schwester verantwortlich war.

Der Mann hieß Viktor Lacis. Er zog im Hintergrund die Strippen. Ulyanas Mörder stand gewiss auf seiner Gehaltsliste. Und Dripov war schon immer dafür gewesen, das Übel an der Wurzel zu packen.

Paul erwartete ihn bereits. Die Männer sprachen Englisch miteinander. Soweit Dripov wusste, war sein Gegenüber ein Schweizer. Doch die Nationalität eines Menschen interessierte ihn schon nicht mehr, seit er für die Ukraine gekämpft hatte und schwer verwundet worden war. Seitdem lieh er seinen Arm demjenigen, der ihn am besten bezahlte.

Paul war ein Mann mittleren Alters, dessen Aussehen wegen der fehlenden Augenbrauen etwas seltsam wirkte. Das spielte für Dripov keine Rolle. Er dachte sich nur, dass mehr Unauffälligkeit dem Waffenhändler besser zu Gesicht gestanden hätte. Nach Ansicht des Killers war ein neutrales Aussehen die beste Lebensversicherung. Daher verzichtete er auch im Gegensatz zu vielen seiner Berufskollegen auf Tätowierungen. Nicht umsonst führten die Strafverfolgungsbehörden vieler Länder Karteien mit prägnanten Motiven von Gang-Tattoos. Wer die Aufmerksamkeit der Polizei partout auf sich ziehen wollte, ließ sich Tinte unter die Haut jagen. Auf diese Idee wäre Dripov niemals gekommen.

Paul präsentierte ihm die Bestellungen: Eine Milan-Lenkwaffe, eine Mini-Uzi mit genügend Munition sowie fünf Handgranaten. Dieses Equiment sollte ausreichen, um ein Blutbad anzurichten.

Dripov verschwendete keine Zeit damit, die Funktionsfähigkeit der Ware zu überprüfen. Ein Mann wie Paul konnte es sich nicht leisten, seine Kundschaft übers Ohr zu hauen. Der Konkurrenzkampf war gnadenlos, und betrügerisches Verhalten sprach sich in der Branche schnell herum. Dripov hatte die Lieferung bereits mit Bitcoins bezahlt.

Das Milan-Waffensystem war in unauffällige Pakete verpackt, die Maschinenpistole und die Granaten befanden sich in einer Umhängetasche. Paul half dem Killer dabei, die Ware in sein Auto zu verfrachten. Dann verabschiedeten die Männer sich mit Handschlag voneinander.

Dripov fuhr zu der Gracht, an der sich Lacis‘ Haus befand. Er schleppte die Pakete auf den Dachboden eines Gebäudes, das sich unmittelbar gegenüber befand. Da er einen Overall trug, hielten Passanten ihn vermutlich für einen Lieferanten. Jedenfalls nahm niemand Anstoß an seiner Anwesenheit. In den Wohnungen lebte offenbar niemand, es handelte sich offenbar um Anlageobjekte reicher Investoren. Die Haustür verfügte zwar über ein modernes Sicherungssystem, das aber einem Spezialisten wie Dripov nicht lange widerstehen konnte. Er war tatsächlich ganz allein in dem dreistöckigen Haus. Also konnte er in aller Ruhe seine Waffen auf den Dachboden schaffen.

Er öffnete eine Luke, setzte das Milan-System zusammen und justierte es. Eigentlich handelte es sich um eine Infanteriewaffe, die gegen Panzer und tief fliegende Helikopter eingesetzt wurde. Die Milan war auf eine Distanz von zwei Kilometern treffsicher. Natürlich konnte man sie auch benutzen, um ein Wohnhaus zu zerstören.

Dripov nahm das Ziel ins Visier. Er wollte mit der Milan-Attacke zunächst nur Chaos, Angst und Schrecken verbreiten. Alles Weitere kam später. Er feuerte die Rakete ab. Sie jagte über die Gracht hinweg und schlug mit ohrenbetäubendem Lärm in Lacis‘ Hausfront ein. Steine und Glassplitter flogen umher, Rauch stieg auf, Flammen züngelten.

Der Killer hatte keinen Zweifel an der Effektivität seines ersten Angriffs gehabt. Doch das war erst der Anfang. Er zog sich seine Sturmhaube über das Gesicht, griff zur Uzi und hängte sich die Tasche mit der Munition über den Rücken. Natürlich stellte es ein Risiko dar, mit einer Waffe in der Hand die Brücke zu überqueren. Er hatte sich ausgerechnet, dass er nicht mehr als drei oder vier Minuten bis zu seinem Ziel benötigen würde. Er setzte auf den Schockeffekt, den seine Attacke auslöste. Die Amsterdamer waren noch nicht so stark an Terroraktionen gewöhnt wie die Londoner.

Wer einen Mann wie Lacis bezwingen wollte, musste im Wortsinn große Geschütze auffahren. Anstelle des Mafiabosses hätte Dripov sich niemals in einem so leicht angreifbaren Bürgerhaus mitten in der Innenstadt einquartiert. Seiner Meinung nach wäre ein abgelegener Gewerbebau mit winzigen Fenstern besser gewesen, der sich leicht verteidigen ließ. Am besten in einem Gebiet ohne unmittelbare Nachbarn, wo es keine Deckung gab und ein Angriff mit einer Milan-Rakete frühzeitig bemerkt werden konnte.

Entweder fühlte Lacis sich zu sicher oder er war nicht so gefährlich, wie der Killer ihn eingeschätzt hatte.

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, raste Dripov bereits die Treppe hinab. Die Zeit arbeitete eindeutig gegen ihn. Wie lange würde es dauern, bis die Polizei vor Ort war? Fünf Minuten? Doch sobald der Sound von Automatikwaffen erklang, hielten sich die normalen Streifenbeamten erfahrungsgemäß zurück. Dann wurde eine Spezialeinheit angefordert. Der Killer kannte die Vorgehensweise seiner potentiellen Gegner. Er hatte also vermutlich mindestens eine Viertelstunde Zeit, um ein Gemetzel zu veranstalten.

Als Dripov auf das Gebäude zu lief, wurden die Türen eines geparkten Autos aufgerissen. Damit hatte er gerechnet. Der Mann und die Frau waren Polizisten in Zivil, dafür hatte er einen Blick. Die beiden hatten ihre Dienstwaffen bereits gezogen, doch das nützte ihnen nichts.

Der Attentäter feuerte ohne Vorwarnung das halbe Magazin seiner Uzi leer. Die Beamten gingen zu Boden. Dripov schenkte ihnen keine weitere Aufmerksamkeit, denn er war ganz auf sein eigentliches Ziel konzentriert.

Er stürmte aus der Haustür und bemerkte, das sein Plan bereits zumindest teilweise aufging. Autofahrer hatten angehalten und hupten aufgeregt. Passanten blieben auf der Brücke stehen und filmten mit ihren Smartphones das brennende Haus des Mafiabosses. Menschen redeten und schrien wild durcheinander, einige kleine Kinder weinten.

Und der Anblick des Maskierten mit der Maschinenpistole schlug ein wie eine Bombe. Die Passanten liefen davon, als sie Dripov sahen. Einige glaubten, dass er sie verfolgen würde. Dabei konzentrierte er sich ausschließlich auf das Domizil seines Feindes.

Die Haustür war nicht extra gesichert, der Killer konnte sie mit einem Fußtritt öffnen. Dicker schwarzer Qualm füllte bereits den Eingangsbereich. Mündungsfeuer blitzte auf, als er in das Gebäude einzudringen versuchte. Offenbar waren noch nicht alle Bodyguards des alten Satans außer Gefecht gesetzt. Dripov feuerte zurück, dann warf er eine Handgranate. Er ließ sich zu Boden fallen, bevor die Druckwelle über ihn hinweg jagte. Außerdem hatte er sich mit einem Hörschutz präpariert, um durch den Krach der Detonation nicht beeeinträchtigt zu werden.

Sein Gegner hatte das Feuer eingestellt.

Mit schussbereiter Maschinenpistole in den Fäusten stieg er über die Trümmer und den zerfetzten Leichnam eines Mannes hinweg. Dripov war auf alles gefasst, während er die steilen Stufen der Treppe erklomm.

22

Lara Lacis war reaktionsschnell.

Sie erkannte ihre Chance, als bei der Explosion sämtliche Anwesenden von den Beinen gerissen wurden. Die junge Frau wusste nicht, ob ihre Bewacher durch umherfliegende Trümmer oder Splitter verletzt worden waren. Fest stand nur, dass ihr selbst nicht fehlte, wenn man von einigen Schrammen absah. Außerdem dröhnte der Nachhall des Höllenlärms noch in ihren Ohren.

Sie kam schnell wieder auf die Füße und flitzte nach draußen. Hatte es Todesopfer gegeben? War ihr Vater oder Juri bei dem Angriff getötet worden? Sie wusste es nicht, weil der dichte Qualm ihr die Sicht nahm. Es fiel Lara ohnehin schwer, nun einen klaren Gedanken zu fassen. Für sie war momentan nur wichtig, dass sie nicht mehr festgehalten wurde.

Sie wollte das Haus so schnell wie möglich verlassen. Doch plötzlich ertönte das Hämmern von Automatikwaffen im Erdgeschoss. Lara presste die Lippen aufeinander. Sie hätte sich denken können, dass die Feinde ihres Vaters sich nicht mit einer einzigen Explosion zufriedengeben würden. Vermutlich stürmten jetzt mehrere Schwerbewaffnete das Grachtenhaus, um alle Überlebenden bis auf den letzten Mann niederzumachen.

Doch früher oder später würde die Polizei anrücken, um dem Spuk ein Ende zu machen. Spätestens dann konnte die junge Frau sich aus der Affäre ziehen, denn gegen sie lag ja nichts vor.

Zumindest hatte sie kein Verbrechen begangen, das man ihr hätte nachweisen können. Einstweilen fiel ihr nichts Besseres ein, als in einen großen alten Wandschrank auf dem Korridor zu schlüpfen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Lara wurde von absoluter Dunkelheit umhüllt. Es roch nach Staub und Mottenkugeln. Wie aus weiter Ferne drangen die Schmerzensschreie von Verletzten an ihr Ohr. Sie konnte die Stimmen unmöglich zuordnen, wusste also nicht, zu wem sie gehörten.

Ob ihr Vater noch lebte?

Sie war überrascht, wie stark sie diese Frage beschäftigte. Nach ihrer Flucht aus dem Internat hätte Lara sich niemals vorstellen können, für ihren Alten mehr als Verachtung zu empfinden. Ihrer Meinung nach hatte Viktor Lacis sie in einen goldenen Käfig gesperrt, um ein Geschöpf ganz nach seinen eigenen Vorstellungen heranzuzüchten.

Laras Handflächen fühlten sich feucht an, ihre Knie waren weich wie Butter. Sie hatte sich bisher für cool und abgebrüht gehalten, aber dieser völlig unerwartete Terrorangriff ließ auch sie nicht kalt. Gewiss, beim Kampfsporttraining hatte sie gelernt, nicht nur auszuteilen, sondern auch einzustecken. Und es war aufregend gewesen, ihre nervige Internats-Zimmergenossin plattzumachen. Obwohl die blöde Göre keinen nennenswerten Widerstand geleistet hatte.

Plötzlich kam sich Lacis‘ Tochter naiv und pubertär vor. War sie ernsthaft der Meinung gewesen, wegen solcher Mätzchen plötzlich am Erwachsenentisch zu sitzen und in der Liga ihres Vaters mitmischen zu können?

Und wegen dieses Irrglaubens versteckte sie sich nun in einem Schrank und bangte um ihr Leben!

Sie glaubte, die Schussgeräusche unterschiedlicher Waffen zu vernehmen. Also waren noch nicht alle Gefolgsleute ihres Daddys tot. Oder? Womöglich waren mehrere Feinde ins Haus eingedrungen und erschossen alle, die noch nicht durch die Explosion ums Leben gekommen waren.

Lara erschrak fast zu Tode, als plötzlich die Schranktür aufgerissen wurde. Juri stand vor ihr. Seine Kleidung war staubig und teilweise zerfetzt, sein Gesicht blutüberströmt. Aber er lebte, und er hielt eine Pistole schussbereit in der Hand.

»Hier sind Sie!«, stieß er mit heiserer Stimme hervor. »Kommen Sie, wir müssen fort. Es ist nicht mehr sicher. Ich ...«

Der Russe konnte den Satz nicht mehr beenden. Er hatte die linke Hand am Schrankgriff, mit der rechten hielt er seine Waffe. Doch der Lauf war Richtung Boden gesenkt, und Juri schaute Lara direkt ins Gesicht.

Sie stand immer noch im Schrank und konnte daher den heran nahenden Feind nicht sehen. Doch plötzlich schlugen mehrere Geschosse kurz hintereinander in Juris Brust und Kopf ein. Sein Blut spritzte so weit, dass Lara von etlichen Tropfen getroffen wurde. Sie kreischte entsetzt. Der Leibwächter ihres Vaters wurde durch die Aufprallwirkung der Kugeln durchgeschüttelt. Es war, als ob er einen grotesken Tanz aufführen würde. Juri hatte nur noch ein Auge, das andere war durch ein Geschoss zerstört worden. Er versuchte offenbar, sich zu drehen und seine Pistole auf den für Lara unsichtbaren Angreifer zu richten. Doch seine Verletzungen waren zu schwer. Juri krachte zu Boden. Unter seinem Körper bildete sich im Handumdrehen eine große Blutlache, die immer stärker anwuchs.

Die junge Frau war vor Entsetzen wie gelähmt.

Ein Maskierter in einem Overall trat in ihr Gesichtsfeld. Er richtete seine Maschinenpistole auf sie. Lara glaubte schon, dass ihr Leben nun enden würde. Doch der Mann bedrohte sie nur, während er sich neben Juri kniete. Er tastete nach der Halsschlagader des Russen. Dann durchsuchte er dessen Taschen und steckte das Smartphone des Toten ein.

»Wo ist dein Vater?«, fragte der Unbekannte auf Russisch.

Lara hielt unwillkürlich den Atem an. Der Feind wusste oder ahnte also, dass sie Lacis‘ Tochter war. Das gefiel ihr überhaupt nicht. Ob sie versuchen sollte, sich dumm zu stellen? Natürlich verstand sie Russisch, so wie die meisten Balten. Doch sie schüttelte den Kopf. Vielleicht fiel er darauf herein, hielt sie für eine Niederländerin.

Aber der Maskierte packte sie brutal am Handgelenk und zerrte sie aus dem offen stehenden Schrank.

»Halte mich nicht zum Narren, sonst schneide ich dir die Nase ab!«, blaffte er. »Ich weiß, dass du die Tochter des Satans sein musst, du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten!«

Und damit hatte der Bewaffnete zweifellos recht. Lara kannte zahlreiche Fotos, die ihren Vater als Zwanzigjährigen in der sowjetischen Armee zeigten. Viktor Lacis war ein schöner junger Mann gewesen. Inzwischen hatten das Leben und seine Untaten ihre Spuren bei ihm hinterlassen, doch als ein Rekrut der UdSSR hätte er glatt als Laras attraktiver Zwillingsbruder durchgehen können.

Der Maskierte musste gut über ihre Familie informiert sein, was die junge Frau allerdings nicht verwunderte. Sie war nicht davon ausgegangen, dass das Haus ihres Vaters zufällig zum Ziel eines Terroranschlags geworden war.

Es wurde Zeit, das knallharte Biest zu spielen. Obwohl Lara sich in diesem Moment überhaupt nicht danach fühlte. Schließlich lag Juri tot vor ihr auf dem Boden. Sie wusste, dass der ehemalige Fallschirmjäger für ihren Daddy eine Lebensversicherung auf zwei Beinen gewesen war. Nun, da es ihn nicht mehr gab, konnte niemand mehr ihren Vater vor dem mörderischen Maskenmann schützen.

»Ja, ich bin Viktor Lacis‘ Tochter!«, fauchte sie. »Und du wirst noch um deinen Tod betteln, bevor wir mit dir fertig sind!«

Der Fremde lachte, aber er klang nicht amüsiert. Ob sie den Bogen überspannt hatte? Oder war es ihr einfach nicht überzeugend genug gelungen, ihre Furcht hinter einer Wutrede zu tarnen? Was würde den Maskierten davon abhalten, Lara ebenfalls einfach niederzuschießen?

Sie hörte das Geräusch von Polizeisirenen, das rasch lauter wurde. Nie hätte die Tochter des Mafiabosses sich vorstellen können, dass sie sich einmal nach dem Erscheinen der Ordnungsmacht sehnen würde.

»Mir wird es hier zu ungemütlich, komm mit!«, sagte der Unbekannte. Er zog sie mit sich in den Raum, der mit Rauch gefüllt war und wo ihnen Flammen entgegen schlugen. In dem Durcheinander konnte Lara unmöglich erkennen, ob ihr Vater unter den Steinen lag. Der Qualm nahm ihr die Sicht.

»Es ist heiß hier drin, ein Bad wird uns guttun!«, schrie der Maskierte. Er drückte Lara fest an sich. Und dann sprang er mit ihr gemeinsam durch das Feuer. Ihr Haar wurde angesengt. Doch im nächsten Moment landete sie gemeinsam mit ihrem Entführer im kalten Grachtenwasser.

23

Lacis kam sich vor wie eine Katze mit neun Leben.

Er war dem Tod schon so oft von der Schippe gesprungen, dass er das Mitzählen aufgegeben hatte. Sein Körper funktionierte mit antrainierten Reflexen. Wie schon bei dem Feuerüberfall im dem Eetcafé dachte der Mafiaboss nicht lange nach, sondern handelte einfach. Noch während seine Tochter über ihr »spießiges Internat« lamentiert hatte, bemerkte er das Herannahen einer Rakete. Es war zu spät, um die anderen Anwesenden zu warnen. Lacis‘ Überlebensinstinkt gewann die Oberhand. Der Alte brachte sich mit einem Hechtsprung hinter seinen wuchtigen Eichenholzschreibtisch in Sicherheit. Sekundenbruchteile später erschütterte die Explosion den Raum. Die Zimmerdecke stürzte teilweise ein, Trümmer und Glassplitter flogen umher. Und Lacis erlitt ein Knalltrauma.

Er wusste aus Erfahrung, dass seine Ohren früher oder später wieder funktionsfähig sein würden. Der Staub und der Rauch des aufflammenden Feuers nahmen ihm die Sicht. Seine Augen brannten, er konnte kaum noch etwas erkennen. Aber abgesehen von dem beeinträchtigten Gehör hatte der Alte keine Verletzungen davongetragen. Die paar Schrammen waren nicht der Rede wert. Vor allem sein Verstand arbeitete immer noch klar und strukturiert.

Lacis konnte sich nicht vorstellen, dass seine Feinde sich mit dem Raketenangriff zufriedengeben würden. Das hätte er an ihrer Stelle zumindest nicht getan. Seine Widersacher wussten ja nicht, ob in dem Haus noch jemand lebte. An ihrer Stelle wäre Lacis mit Handfeuerwaffen in das Gebäude eingedrungen und hätte den Rest auf diese Weise erledigt.

Der Mafiaboss musste unbedingt verschwinden, bevor das geschah. Er war kein Feigling, aber bei der unklaren Lage und mit seinem eingeschränkten Gehör war ein taktischer Rückzug die beste Option.

Sogar dann, wenn seine Tochter womöglich nicht mehr lebte. Lacis unterdrückte den Impuls, zwischen den Trümmern nach Lara zu suchen. Er liebte sie, aber noch mehr liebte er sein eigenes Leben. Außerdem musste er damit rechnen, dass sie herumzickte, nachdem er sie durch seine Leute hatte gefangennehmen lassen. Diskussionen mit Teenagern waren sogar dann unerfreulich, wenn man nicht mit einem unmittelbaren tödlichen Angriff rechnen musste.

Während Lacis diese Gedanken durch den Kopf schossen, kroch er auf allen vieren in die Richtung, wo er die Tür zum Korridor vermutete. Er wischte sich den Schmutz aus dem Gesicht. In seinen Ohren dröhnte immer noch der Nachhall der Detonation. Der Alte führte sich vor Augen, dass der Anschlag im Zentrum von Amsterdam stattgefunden hatte. Die Polizei würde nicht allzu lange auf sich warten lassen. Und auch wenn er nicht allzu viel von der Staatsmacht hielt - in diesem Fall sehnte er ihr Auftreten herbei. Allerdings wollte er nicht zugegen sein, wenn die Spezialeinheit die Ruine stürmte, die vor kurzem noch sein Haus gewesen war.

Lacis musste gnadenlos zurückschlagen, wenn er in seinen Kreisen nicht sein Gesicht verlieren wollte. Und das war nur möglich, wenn er nicht im Präsidium unzählige Fragen über sich ergehen lassen musste.

Er rannte die steile Treppe hoch. Aus dem Augenwinkel sah Lacis Mündungsfeuer aufblitzen. Doch der Schütze hatte ihn nicht bemerkt, sonst wäre er hinter Lacis her gelaufen. Der Mafiaboss vermutete, dass der Raketenangriff ihm selbst gegolten hatte. Alles andere wäre ihm weniger wahrscheinlich erschienen.

Das Feuer griff um sich, und aus seiner Sicht war das ein echter Vorteil. Wenn die hölzernen Treppenstufen in Flammen standen, konnte man ihm nicht folgen. Gewiss, bald würden Polizei und Feuerwehr vor Ort sein. Momentan zählte jede Sekunde.

Seitenstechen erinnerte Lacis daran, dass er nicht mehr der Jüngste war. Als er das Dach erreichte, gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause. Vorsichtig spähte er hinunter auf die Straße. Dort trafen soeben Feuerwehrwagen ein, und die kreisenden Blinklichter der Polizeifahrzeuge waren ebenfalls nicht zu übersehen. Sobald die Drehleitern der Rettungskräfte ausgefahren wurden, würden sich die Blicke nach oben richten. Noch hatte niemand den Alten entdeckt, zumindest hoffte er das. Rauchwolken stiegen hoch.

Lacis kletterte hinaus auf das Dach. Zu den vielen Dingen, die er an Amsterdam schätzte, gehörten die schmalen Gassen in den inneren Stadtteilen. Der Abstand zum Nachbargebäude war nicht breit. Außerdem hatte Lacis sein Leben lang Kampfsport betrieben und verfügte deshalb über mehr Fitness als die meisten Männer seines Alters. Hinzu kam, dass der Raketenangriff ihm momentan einen gewaltigen Adrenalinrausch bescherte.

Zaudern war nicht seine Art. Er spannte die Muskeln an und katapultierte seinen mageren Körper über den Abgrund. Dabei beging er nicht den Fehler, nach unten zu schauen. Lacis schaffte es wirklich, das Dach zu erreichen. Er klammerte sich an den Schindeln fest, schlug mit seinem Pistolengriff das Glas des Dachlukenfensters ein und ließ sich ins Innere des Hauses gleiten. Als er den Dachboden erreicht hatte, steckte er die Waffe schnell wieder ein.

Wenn ihm ein Bewohner begegnete, sollte dieser einen zwar schmutzigen, aber harmlos wirkenden älteren Herrn vor sich sehen. Es gab tausende solcher Männer in der Stadt, sie wurden Obdachlose oder von weniger wohlmeinenden Menschen Penner genannt. Lacis blickte an sich herab und führte sich vor Augen, dass er mit seiner schmutzigen und teilweise zerrissenen Kleidung aktuell sehr gut als ein bedauernswerter Sozialfall durchgehen konnte.

Und das, obwohl der Menschenhandel ihm schon ein beachtliches Vermögen eingebracht hatte. Der Alte stellte zu seiner Erleichterung fest, dass der Dachboden nicht abgeschlosse war. Er schlich die Treppe hinunter. Allmählich ließ das Rauschen in seinen Ohren nach, er konnte wieder zwischen Geräuschen differenzieren. Nun vernahm er die Sirenen der Einsatzfahrzeuge, die draußen hielten. Lacis linste aus der Eingangstür, die er inzwischen erreicht hatte. Die Polizei war bereits dabei, vor seinem Haus mit Trassierband abzusperren. Eine Spezialeinheit kam schon wieder heraus und machte Platz für Notärzte und Sanitäter, die nun hinein eilten. Gleichzeitig versuchte die Feuerwehr, den Brand in den Griff zu bekommen. Mit anderen Worten: Alle waren höchst beschäftigt.

Niemand achtete auf einen alten Streuner, der sich humpelnd zu Fuß davon machte. Lacis drehte sich nicht um. Er versuchte, möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Und das klappte erstaunlich gut. Im Amsterdamer Redlight District trieben sich zahlreiche arme Teufel herum, deren Kleidung in einem noch schlechteren Zustand war als seine eigene.

Lacis bewegte sich weiter vorwärts, obwohl sich allmählich die Erschöpfung bemerkbar machte. Ein Taxi würde ihn in seinem jetzigen Zustand wohl kaum mitnehmen. Da versagte auch die legendäre niederländische Toleranz. Als er am Kloveniersburgwal angekommen war, gönnte er sich auf einer Parkbank eine Pause. Der Baum neben ihm spendete Schatten, er blickte auf das Wasser der Amstel, die unter der Halvemaansbrug hindurch floss.

Der Alte ordnete seine Gedanken. Er musste zunächst herausfinden, was mit seiner Tochter geschehen war und wer von seinen Gefolgsleuten noch lebte. Erst dann konnte er einen Racheplan improvisieren. Doch eine echte Atempause war ihm nicht vergönnt.

Denn nun klingelte sein Smartphone.


24

Nach der Alarmmeldung fuhren Bea und Morel sofort mit den niederländischen Kollegen zu Lacis‘ Haus. Schon aus der Entfernung konnten sie eine schwarze Rauchwolke aufsteigen sehen.

»Ein Unbekannter hat die observierenden Kollegen niedergeschossen«, stieß de Bruin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Beide sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Zum Glück hatten sie ihre Schutzwesten an, sonst wären sie wahrscheinlich tot. Ich hoffe, dass sie durchkommen.«

»Gibt es Zeugen?«, wollte der Franzose wissen.

»Es ist eine belebte Gegend, die Attacke kann nicht unbemerkt geblieben sein.«

De Bruin bekam ständig neue Informationen über Funk, natürlich in seiner Muttersprache. Es waren schon etliche Einsatzfahrzeuge vor Ort, wie Bea bemerkte. Zahlreiche uniformierte Polizisten mussten die Gaffer zurückhalten. De Bruin, Bea und Morel stiegen aus. Ein Beamter erstattete dem Hoofdcommissaris Bericht.

»Die Spezialeinheit klärt die Lage in Lacis‘ Haus«, sagte de Bruin zu den Europol-Ermittlern. »Laut Zeugenaussagen wurde eine Art Explosivkörper von dort aus abgefeuert. Danach rannte ein Maskierter auf Lacis‘ Residenz zu, wobei er unsere Kollegen niederschoss.«

Die Kommissarin nickte.

»Wir schauen uns an dem Ort um, von dem aus die Bombe losgejagt wurde.«

Der Niederländer machte eine zustimmende Geste und sprach bereits wieder in sein Funkgerät. Bea und ihr Dienstpartner eilten auf das Gebäude am anderen Ufer der Gracht zu.

»Dieses Chaos ist gar nicht mal schlecht«, sagte Morel halblaut. »Wenn die Stadt noch ein paar Stunden im Ausnahmezustand bleibt, kann ich in aller Ruhe die verbleibenden Reste Ihres kleinen Problems beseitigen.«

Mein kleines Problem? Du sprichst von einer Leiche und nicht von einem tropfenden Wasserhahn!

Diese Sätze sagte sie allerdings nur in Gedanken zu ihrem Kollegen. Insgeheim musste sie ihm nämlich recht geben. Doch im nächsten Moment schämte sie sich für diese Überlegung. Polizisten waren verletzt worden, es hatte womöglich Tote gegeben, das Haus brannte lichterloh - und sie dachte nur daran, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen!

Die Ermittler zogen ihre Pistolen, als sie sich dem Dachboden des Grachtenhauses näherten. Bea nahm nicht an, dass sich dort jetzt noch ein Attentäter befand. Aber sie konnte es nicht hundertprozentig ausschließen. Schnell zeigte sich allerdings, dass die Befürchtung unbegründet war.

Morel deutete auf eine Apparatur, die neben der Dachluke lag.

»Das ist die Abschussvorrichtung für eine Milan-Rakete«, erklärte er. »Damit kann man einen Panzer stoppen, einen Helikopter abschießen oder ein Haus in eine Ruine verwandeln.«

»Ich nehme nicht an, dass man so eine Waffe bei besonders vielen Händlern bekommt«, dachte Bea laut nach. »Das ist ein erster Ermittlungsansatz.«

Morel nickte und hob ein zerknülltes Stück Papier auf. Die Kommissarin warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Hier haben wir einen Kassenzettel, Frau Ahlers.«

»Ja, das sehe ich auch. Jetzt sagen Sie mir nicht, dass der Täter die Milan-Rakete aus einem Baumarkt hat.«

Der Franzose grinste.

»Nein, natürlich nicht. Dieser Kassenzettel ist für ein Stofftier.«

»Wie bitte?! Vielleicht liegt das Papier schon länger dort.«

»Nein, der Beleg stammt vom gestrigen Tag. Immerhin können wir nun verfolgen, um welche Uhrzeit das Stofftier an einer bestimmten Kasse in diesem Kaufhaus bezahlt wurde. Mit etwas Glück gibt es dort eine Kameraüberwachung.«

Bea schnippte mit den Fingern.

»Der Täter wird das Stofftier gewiss nicht gekauft haben, um selbst damit zu kuscheln! Wissen Sie, was ich glaube? Das Spielzeug ist ein Geschenk für Alissa, und zwar von ihrem Onkel Ilya Dripov!«

»Ich bin mit dieser These vollkommen einverstanden, Frau Ahlers. Bei Dripov können wir auch davon ausgehen, dass er weiß, wie er mit einer Milan-Lenkwaffe umgehen muss. Außerdem hat er ein überzeugendes Motiv. Er will den Tod seiner Schwester rächen, für den er zumindest indirekt Lacis die Schuld gibt.«

»Ja, der Alte hat zwar Ulyana nicht persönlich vom Dach gestoßen, aber für die Zwangsprostitution ist er auf jeden Fall verantwortlich. Also ist Dripov nach dem Raketenabschuss hinüber gelaufen, um Nägel mit Köpfen zu machen?«

»Davon gehe ich aus«, sagte Morel. »Lassen Sie uns mit de Bruin reden. Vielleicht hat er inzwischen schon weitere Informationen erhalten können.«

Die Europol-Ermittler mussten sich ihren Weg zwischen den Schaulustigen vor der Ruine von Lacis‘ Haus bahnen. Ihre Dienstausweise verschafften ihnen Zugang zu dem abgesperrten Bereich. Kurze Zeit später hatten sie den Hoofdcommissaris gefunden.

»Im Gebäude wurden drei Leichen gefunden, darunter der Bodyguard des Alten«, berichtete der Niederländer. »Juri wurde von Kugeln förmlich durchsiebt. Es gibt zwei Verletzte, die allerdings die Aussage verweigern. Wir haben aber Augenzeugen, die von der Brücke aus etwas Seltsames beobachtet haben wollen. Angeblich sind zwei Personen eng aneinander geklammert aus dem brennenden Haus in die Gracht gesprungen. Sie wurden noch nicht gefunden. Entweder konnten sie schwimmend und tauchend entkommen oder sie sind einfach ersoffen.«

»War Viktor Lacis unter den Opfern?«, fragte Bea.

»Nein, von dem Alten fehlt jede Spur. Es ist allerdings möglich, dass er unter Trümmern begraben liegt. Die Feuerwehr hat den Brand zunächst unter Kontrolle gebracht und kämpft noch gegen letzte Glutnester. Die Spurensicherung kann erst arbeiten, wenn diese Aufgaben erledigt sind.«

Die Europol-Ermittler berichteten, was sie auf dem Dachboden herausgefunden hatten. De Bruin nickte grimmig.

»Also hat sich unser Verdacht bestätigt. Dripov läuft Amok, um den Tod seiner Schwester zu rächen. Und falls Lacis noch lebt, wird er nicht aufgeben, bevor er den Alten ebenfalls erledigt hat. Das ist zumindest meine Befürchtung.«

»Immerhin wissen wir nun, nach wem wir fahnden müssen«, warf Bea ein.

»Das ist ein geringer Trost«, grollte de Bruin. Er deutete auf die Ruine. »Hier sehen Sie das Zerstörungswerk eines einzigen Mannes. Wir müssen unbedingt verhindern, dass er seine Blutspur weiterhin durch Amsterdam zieht. Ich lasse seine Personenbeschreibung sofort an alle Einsatzkräfte übermitteln.«

»Zweifellos eine sinnvolle Maßnahme«, sagte Morel diplomatisch. »Und ich würde mich der These anschließen, dass Dripov auf einem Rachefeldzug ist. Es wäre aus seiner Sicht nur konsequent, wenn er nicht nur den Drahtzieher bestraft, sondern auch Boris Virellis. Er war es schließlich, der unmittelbar für den Tod der Zwangsprostituierten verantwortlich ist.«

»Das wird Dripov aber nicht bekannt sein«, gab Bea zu bedenken.

Der Franzose schüttelte den Kopf.

»Wir können nicht mit letzter Sicherheit einschätzen, welchen Kenntnisstand der Täter hat. Wenn ich das richtig sehe, wird das Firmengelände an der Archangelkade ohnehin überwacht. Ich bin sicher, dass Dripov dort früher oder später erscheinen wird, um sein Vorhaben zu beenden. Wenn wir dorthin fahren und uns auf die Lauer legen, läuft er uns direkt in die Arme.«


25

Kurze Zeit vorher

Lara schluckte schmutziges Grachtenwasser.

Nach dem Sprung in den Kanal hätte sie womöglich ihrem Kidnapper entkommen können. Sein eiserner Griff um ihre Hüfte hatte sich etwas gelockert. Doch sie wollte nicht riskieren, den Mann zu verärgern. Er hatte bewiesen, zu welcher Brutalität er fähig war.

Die junge Frau fand es momentan einfacher, keinen Widerstand zu leisten. Falls sich das Blatt wendete, konnte sie immer noch umschwenken. Außerdem war sie vollauf damit beschäftigt, nicht zu ertrinken.

Als sie schon glaubte, gleich ersticken zu müssen, riss der Maskierte sie an die Wasseroberfläche. Sie öffnete den Mund, so gierig die Luft in ihre Lungen. Es war schwierig, in voller Bekleidung zu schwimmen. Doch es musste sein, denn sie wollte nicht sterben. Und schon gar nicht auf dem Grund eines stinkenden Kanals! Nun wagte Lara es auch, die Augen zu öffnen. Der Maskierte hatte seinen Arm um ihren Hals gelegt und sie fest an sich gedrückt. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihr mit einer einzigen Bewegung das Genick brechen konnte.

»Du wirst schön ruhig sein«, flüsterte er ihr ins Ohr. Seine Stimme war völlig gefühllos. Lara fror noch stärker.

»Sicher, ich bin ja nicht lebensmüde«, gab sie ebenso leise zurück.

»Das ist gut. Wir brauchen jetzt trockene Kleidung und eine Pause. Wenn du mir hilfst, wird dir nichts geschehen.«

Als ob ich eine Wahl hätte! dachte sie. Es sah ganz danach aus, dass dieser Psychopath jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren hatte. Wo wollte er denn trockene Klamotten her bekommen? Doch dann bemerkte sie, dass der Mann und sie selbst sich unmittelbar neben dem eisernen Rumpf eines Hausbootes befanden. Die beiden mussten weiter geschwommen und getaucht sein, als Lara es eingeschätzt hatte. In der Umgebung der Lacis Residenz lagen jedenfalls keine Boote in den Grachten vor Anker, das stand für sie fest.

Am Heck des Hausbootes stand ein Fenster halb offen.

»Du kletterst zuerst hinein«, befahl der Maskierte. »Ich folge dir. Und keine faulen Tricks, kapiert?«

Lara schüttelte den Kopf. Der Mann ließ sie los, und sie umfasste die Kante des Schiffsrumpfs mit beiden Händen. Im nächsten Moment zog sie sich hoch und glitt geschmeidig wie eine Katze durch das Fenster. Sie landete auf einem wunderbar weichen grünen Sofa, das die ganze Breite des Bootes ausfüllte.

Kurzzeitig dachte sie daran, einfach an Land zu springen und laut um Hilfe zu rufen. Doch was würde dann geschehen? Es war nicht gesagt, dass überhaupt Menschen in der Nähe waren. Das Hausboot schien jedenfalls momentan unbewohnt zu sein. Aber selbst wenn sie auf Passanten traf - würden diese Leute den Maskierten stoppen können? Er war eine verdammte Ein-Mann-Armee und hatte sogar den als unbesiegbar geltenden Juri eiskalt getötet.

Lara gestand sich ein, dass die kompromisslose Härte dieses Kerls sie beeindruckte. Sie jemanden wie ihn hatte sie in ihrem jungen Leben noch nicht kennengelernt. Gewiss, Juri war ein kerniger Typ gewesen. Doch er gehörte zu den Männern, die sich von einer willensstarken schönen Frau nur zu gern unterwerfen ließen. Lara hatte seine Vorliebe intuitiv erkannt und ihn deshalb um den kleinen Finger wickeln können.

Dieser Maskierte hingegen war aus einem anderen Holz geschnitzt.

Also flüchtete sie nicht, ließ ihren winzigen Zeitvorsprung ungenützt verstreichen. Stattdessen wartete sie gehorsam, während sich unter ihr auf den Decksplanken eine Wasserlache bildete. Lara schaute sich um. Dieses Hausboot gehörte gewiss keinem Amsterdamer, der am Hungertuch nagen musste. Die Wände waren mit Mahagoniholz getäfelt, es gab einige gerahmte Ölgemälde. Wahrscheinlich handelte er sich um Originale, für sie etwas hatte die junge Frau einen Blick. Der Kunstunterricht im Internat machte sich bezahlt. Lara konnte nicht verstehen, dass wohlhabende Leute so leichtsinnig waren und das Fenster offen ließen - und das in so einer kriminellen Stadt wie Amsterdam.

Laras Überlegungen wurden unterbrochen, denn nun drang der Maskenmann durch das Fenster in das Hausboot ein. Gleichzeitig musste sie feststellen, dass sie sich getäuscht hatte. Die beiden waren keineswegs allein.

Ein älterer Mann mit breitem Schnurrbart erschien auf der Bildfläche. Er hatte sich Lara lautlos genähert, denn er ging barfuß. Bekleidet war er nur mit Boxershorts und einem T-Shirt. Ob er geschlafen hatte? Auf jeden Fall hielt er einen großkalibrigen Revolver in der Hand, mit dem er die Eindringlinge bedrohte. Der Hausboot-Besitzer rief etwas auf Holländisch, das die junge Frau nicht verstand. Sie hob jedenfalls die Hände auf Schulterhöhe. Das konnte gewiss nichts schaden. Der Mann mit dem Revolver zielte auf den Maskierten. Er ging vermutlich davon aus, dass der Maskierte der gefährlichere von den beiden war.

Auch der Kidnapper nahm nun die Hände hoch. Lara bemerkte, dass er seine Maschinenpistole nicht mehr bei sich hatte. Ob sie ihm bei dem Tauchgang abhanden gekommen war? Oder ließ er sie im brennenden Haus zurück? Es spielte keine Rolle, denn jetzt hielt er keine Waffe in der Hand. Der Bootsbesitzer befand sich auf der Siegerstraße. Er trat nun auf den Maskierten zu, ohne Lara zu beachten. Dabei geriet er in ihre Reichweite.

Sie handelte, ohne nachzudenken. Nun war sie dankbar für ihre Kampfsportkenntnisse. Lara drehte sich um die eigene Achse und verpasste dem Schnurrbartträger einen fürchterlichern Ellenbogenstoß in die kurzen Rippen. Damit hatte er nicht gerechnet. Ächzend taumelte er zur Seite, schwenkte die Mündung seiner Waffe in ihre Richtung. Doch bevor er schießen konnte, knallte Laras rechte Faust gegen seine Schläfe. Er ging stehend k.o.

Noch während der Bootsbesitzer zu Boden glitt, sprang der Maskierte vor und schnappte sich den Revolver. Dann warf er der jungen Frau einen verblüfften Blick zu.

»Warum hast du das getan?«

Sie zuckte mit den Schultern, kam sich plötzlich sehr cool vor.

»Hätte ich zulassen sollen, dass der Typ die Bullen ruft? Ich bin eine echte Lacis, mit den Bullen habe ich nichts am Hut.«

Der Maskierte nickte langsam.

»Ich verstehe. Du fesselst den Kerl, ich suche nach Klamotten für uns.«

In seiner Stimme schwang nun so etwas wie Respekt mit, zumindest kam es ihr so vor. Der Attentäter ging in den hinteren Teil des Hausboots. Laras hörte, wie er Schränke öffnete. Sie entdeckte in einer Schublade ein Stück Schnur, mit dem sie die Hand- und Fußgelenke des Mannes band.

Der Verbrecher kam zurück.

»Hier hast du ein Handtuch, und das dürften Frauenkleider sein. Vielleicht passen sie dir sogar.«

Lara nahm ein Frotteetuch entgegen und warf einen prüfenden Blick auf die Jeans und das T-Shirt, die er gebracht hatte.

»Ja, das müsste gehen. Der Stil entspricht einem Mädel in meinem Alter. Vielleicht seine Tochter, oder seine zweite Frau. Ältere Kerle schmücken sich ja gern mit jungem Gemüse.«

Ihr Kidnapper lachte.

»Du bist nicht auf den Mund gefallen, wie? Du kannst mich Ilya nennen.«

Ob das sein richtiger Name war? Mit dieser Frage hielt Lara sich nicht lange auf. Sie riss sich ihre nassen Sachen vom Leib und frottierte sich trocken. Ihr entging nicht, dass Ilyas Blick auf ihr ruhte. Ob ihm gefiel, was er zu sehen bekam? Das konnte sie unmöglich einschätzen. Er nahm nun seine Maske ab, ließ sie achtlos zu Boden fallen. Das erschreckte sie. Und zwar nicht, weil sein Gesicht abstoßend hässlich gewesen wäre. Er sah eigentlich ganz passabel aus. Doch wenn sie nun wusste, mit wem sie es zu tun hatte, würde er sie später unweigerlich töten.

Zumindest ihr Vater hätte so gehandelt. Es war die einzig logische Vorgehensweise. Lara versuchte, sich ihre plötzlich wieder aufgeflammte Furcht nicht anmerken zu lassen.

Sie schlüpfte in die Jeans und das T-Shirt. Ilya hatte auch Tennisschuhe für sie gefunden. Die waren ihr eine Nummer zu groß, aber dafür saßen Hose und Oberteil, als ob Lara sie selbst gekauft hätte.

Wenigstens muss ich nicht in einem Kartoffelsack sterben, dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. Ilya hatte auch trockene Kleidung für sich selbst gefunden. Er zog sich um, wobei er den Revolver auf den Tisch neben sich legte. Lara überlegte, ob sie an die Waffe herankommen konnte. Aber es war aussichtslos. Ihr Entführer ging kein Risiko ein. Selbst mit einem Hechtsprung würde sie nicht schnell genug an den Revolver gelangen, um den Kidnapper ausschalten zu können. Ilya verfügte zweifellos über hervorragende Reflexe. Sie wollte es jedenfalls nicht darauf ankommen lassen, denn mehr als einen Versuch würde es nicht geben.

Der Verbrecher trug nun eine Khakihose und ein blaues Sweatshirt. Die Hose war zu weit und zu kurz, was aber wegen seiner Stiefel nicht weiter auffiel. Die Sachen stammten zweifellos von dem Bootsbesitzer selbst.

»Wie geht es nun weiter?«, fragte Lara. Eigentlich fürchtete sie sich vor der Antwort. Aber sie musste sich einfach Gewissheit verschaffen.

»Es war nicht geplant, dich zu entführen«, gab Ilya zu. »Da hat mir der Zufall in die Hände gespielt. Deine Anwesenheit werde ich nun zu meinem Vorteil nutzen.«

Wenn ich brav im Internat geblieben wäre, müsste ich jetzt nicht in einem holländischen Hausboot um mein Leben fürchten, dachte sie verdrossen. Und Lara fragte sich selbstkritisch, ob sie sich nicht einfach zu viel vorgenommen hatte.

Der Kidnapper fuhr fort: »Es wird sich zeigen, wie viel zu deinem Alten wert bist.«

Mit diesen Worten griff er zu dem Smartphone des Bootsbesitzers. Für einen Mann wie Ilya war es scheinbar kein Problem, das Passwort zu knacken. Jedenfalls tippte er wenig später eine Zahlenfolge in die Tastatur.


26

»Hallo?«

Lacis hatte nicht die geringste Ahnung, wer ihn jetzt anrufen könnte. Das Display zeigte unbekannte Nummer an, aber das musste nichts zu bedeuten haben. Er kannte nicht die Mobilfunkverbindungen von allen seinen Gefolgsleuten.

»Ich habe Ihre Tochter, Lacis.«

Der Anrufer benutzte die russische Sprache, und die tiefe Stimme klang ruhig und bestimmt. Immerhin war es kein kreischender Irrer, der nun Kontakt mit dem Mafiaboss aufnahm. Das war aber auch das einzig Gute, dass der Alte dieser Situation abgewinnen konnte. Immerhin schien Lara zu leben. Vorausgesetzt, dass dieser Bastard ihn nicht anlog.

»Ich will mit meiner Tochter sprechen.«

»Sie haben gar nichts zu wollen, Lacis. Ich erlaube es trotzdem, damit dieses Gespräch nicht ewig dauert. Sind die Bullen bei Ihnen?«

»Wollen Sie mich beleidigen? Was ist nun mit Lara?«

»Hier, rede kurz mit deinem Alten.«

Es knarrte ein wenig, dann vernahm Lacis eine helle Mädchenstimme.

»Daddy?«

Sein Herz raste. Lacis war über sich selbst verwundert. Er hatte geglaubt, dass das ungewisse Schicksal seiner Tochter ihn nicht aus der Bahn werfen würde. Aber er hatte sich selbst etwas vorgemacht. Lara war ihm wichtig. Sogar jetzt, nachdem sie sich gegen ihn aufgelehnt hatte und ihn eventuell sogar beseitigen wollte. Trotz allem war sie immer noch sein eigen Fleisch und Blut!

»Lara, mein Schatz ... wie geht es dir?«

»Ich bin okay. Nass wie eine Katze, aber mir ist nichts geschehen.«

Der Alte war sicher, dass sie ihm gern noch mehr gesagt hätte. Doch nun ertönte wieder die Stimme des Kerls, der ihm seine Tochter entrissen hatte. Und der vermutlich auch für das Gemetzel verantwortlich war. Lacis spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Doch er war zu erfahren, um sich von dieser Welle fortreißen zu lassen. Er hatte in seiner Branche so lange überlebt und Erfolg gehabt, weil er sich nicht von spontanen Empfindungen leiten ließ. Ja, er würde das Lebenslicht dieses Bastards auslöschen. Aber erst nach kühler Überlegung und Abwägung aller Variablen.

»Schluss mit dem trauten Familiengeplauder, Lacis! Sie werden jetzt tun, was ich will. Andernfalls sehen Sie Ihr süßes Vögelchen nicht lebend wieder.«

»Wie viel wollen Sie?«

Der Hurensohn lachte, aber er klang nicht amüsiert.

»Um Geld geht es mir nicht. Ich will nur eine Information, ist das nicht entgegenkommend von mir? Es geht um die Frau, die in der Honolulu Paradise Bar getötet wurde. Na, klingelt da etwas bei Ihnen?«

Natürlich wusste Lacis, wovon die Rede war. Er hasste es, wenn der Geschäftsbetrieb gestört wurde. Da hatte es dieses Luder gegeben, das nicht spuren wollte. Natürlich hatte er Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Es war nicht geplant gewesen, dass sie sterben sollte. Boris hatte lediglich den Auftrag, sie zur Räson zu bringen und kräftig durchzuprügeln. Dass die Sache dann aus dem Ruder gelaufen war, verbuchte er als Kollateralschaden. Inzwischen war schon wieder Ersatz für die Hure nachgerückt. Das würde er dem Kidnapper seiner Tochter natürlich nicht auf die Nase binden.

»Schon möglich.«

»Ich habe keine Lust auf Spielchen, Lacis! Soll ich Lara ein Ohr abschneiden, in bester Van-Gogh-Tradition?«

Die Stimme des Dreckskerls war aggressiver geworden. Der Mafiaboss begriff, dass er ihn nicht hinhalten durfte.

»Also gut, ich weiß, worum es geht. Und ich kann Ihnen auch sagen, wer die Frau vom Dach gestoßen hat.«

Dem Alten war es egal, ob Boris Virellis lebte oder starb. Solche Eckensteher wie ihn gab es im Dutzend billiger. Für Lacis zählte nur, dass es seiner Tochter gut ging und ihr Kidnapper zur Hölle fuhr.

»Wie heißt der Satan? Und wo finde ich ihn?«

Lacis überlegte kurz. Wo hatte er einen Heimvorteil? Wie konnte er den Entführer in die Falle locken und Lara aus seinen Klauen reißen?

»Ich sage Ihnen jetzt, wo wir uns treffen. Der Name des Mannes lautet Boris Virellis. Ich liefere ihn ans Messer, wenn Sie mit meiner Tochter dorthin kommen und Lara unversehrt ist.«

»Okay, Lacis. Wir haben einen Deal.«

27

Bea war irritiert, als Morel nicht an dem Zugriff auf dem Speditionsgelände teilnehmen wollte. Sie fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Die niederländischen Kollegen nahmen ihm womöglich ab, dass er unter einem akuten Migräneanfall litt. Doch für die Kommissarin klang dieser Grund sehr nach einer faulen Ausrede. Sie schaffte es, ihren Dienstpartner vor der Abfahrt Richtung Hafen kurz beiseitezunehmen.

»Was soll dieser Unsinn, Morel? Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie mir bei meinem ... kleinen Problem helfen. Aber hat das nicht Zeit bis zum Feierabend?«

Die Miene des Franzosen blieb unbewegt. Falls er Schuldbewusstsein empfand, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Es ist kompliziert, Frau Ahlers. Ich habe meine Gründe glauben Sie mir. Und je weniger Sie von meinem Vorhaben wissen, desto besser für Sie.«

Bea rollte ungeduldig mit den Augen.

»Morel, ich hasse Geheimniskrämerei! Es war ein Fehler, Sie in meine Angelegenheit hineinzuziehen.«

»Nein, das war es nicht.«

»Ach, wirklich?«

Die Kommissarin schnaubte ironisch. Doch der Inspektor blieb ernsthaft und sachlich.

»Ja, Frau Ahlers. Lacis hat nämlich in Ihrem Apartment Mini-Kameras installieren lassen. Vermutlich verfügt er über Aufzeichnungen davon, wie wir die Leiche entsorgt haben.«

Bea fiel aus allen Wolken. Sie benötigte einige Momente, bis sie die Tragweite dieser Aussage begriff. Sie und Morel waren nun durch einen der gefährlichsten Köpfe des organisierten Verbrechens erpressbar! Sie senkte das Kinn auf ihre Brust, ihr Kreislauf begann verrückt zu spielen. Morel legte eine Hand auf ihre Schulter. Diese mitfühlende Geste wollte nicht so recht zu einem Mann wie ihm passen. Bea lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, und Morel ließ sie sofort wieder los.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte er besorgt.

»Wundern Sie sich darüber? Sie haben mir gerade eröffnet, dass ein Mafiaboss uns in der Hand hat.«

»Es sah eine Zeitlang wirklich nicht gut für uns aus«, räumte Morel ein. »Allerdings hat uns Dripov einen Gefallen getan, als er Lacis‘ Haus attackiert hat. Vermutlich sind sämtliche Computer-Festplatten bei dem Raketenangriff und den folgenden Löscharbeiten unbrauchbar geworden.«

Was nützt das heutzutage, wo man Dateien auch in eine Cloud legen kann, dachte Bea verdrossen. Doch sie klammerte sich an die Hoffnung, dass nun wirklich kein Erpressungsmaterial mehr vorhanden war. Ihr lag allerdings eine andere Frage auf der Zunge.

»Woher wussten Sie, dass Lacis mein Apartment verwanzt hat?«

»Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich habe einen sechsten Sinn für Überwachungstechnologie. Ich habe mir nichts anmerken lassen, weil ich Sie nicht beunruhigen wollte. Außerdem erschien es mir sinnvoller, den Spieß umzudrehen.«

»Sie sprechen in Rätseln, Morel. Wie wollen wir auf dieser Weise gegen Lacis vorgehen?«

»Wie gesagt, ich möchte Sie nicht genauer einweihen. Das ist nur zu Ihrem Schutz.«

»Ach, wirklich? Und woher kommt dieses Bedürfnis, mich unbedingt schützen zu wollen?«

Morel antwortete nicht. Stattdessen drückte er unbeholfen einen feuchten Kuss auf Beas Lippen und verließ fluchtartig den Raum. Er ließ sie sprachlos zurück. Mit sexueller Belästigung hatte die Kommissarin in der Vergangenheit mehr als genug negative Erfahrungen gemacht. Die Kussattacke ihres Kollegen war unangenehm gewesen, vor allem aber mitleiderregend.

Warum gerate ich immer an solche kaputten Typen? fragte Bea sich.

28

Es wären noch weitere Gelegenheiten zur Flucht gewesen, doch Lara nutzte keine davon. Ihr Vater hatte Ilya am Telefon den Ort verraten, an dem sie gegen diesen Boris Virellis ausgetauscht werden sollte. Lara glaubte nicht, dass die Sache glatt über die Bühne gehen würde. Viktor Lacis wäre nicht er selbst gewesen, wenn er die Forderung eines Kidnappers ohne Hintergedanken erfüllte.

Vor allem unter den jetzigen Umständen.

Lara war verwirrt. Sie hatte nicht weniger versucht als den Unterweltkönig von seinem Thron zu stürzen. Und zum Dank dafür wollte er ihr Leben retten? Daran konnte sie nicht glauben. Doch momentan blieb ihr nichts anderes übrig als ihre Rolle in diesem seltsamen Kräftemessen zwischen ihrem Vater und Ilya auszufüllen. Denn die Alternativen waren praktisch nicht vorhanden. Ihren einzigen Verbündeten Juri hatte Lara verloren. Wenn sie die Situation zu ihren Gunsten drehen wollte, musste sie Ilya aushorchen.

Immerhin stellte sich das Transportproblem nicht. Der Kidnapper hatte in dem Hausboot die Zündschlüssel eines Porsche Cayenne gefunden. Das Auto war an der Straße geparkt, nur einen Steinwurf weit von der schwimmenden Luxusbehausung entfernt.

»Du fährst!«, kommandierte Ilya, als sie das Boot verließen und auf den Wagen zu gingen. Lara hob ihre Augenbrauen.

»Das würde ich ja gern tun, aber ich habe keinen Führerschein. Und ich habe noch nie hinter einem Lenkrad gesessen.«

Der Kidnapper kniff die Augen zusammen.

»Willst du mich verschaukeln?«

»Ich bin erst achtzehn!«

Ilya schüttelte den Kopf, hielt dann aber für Lara die Beifahrertür auf.

»Okay, dann setz dich neben mich. Aber keine faulen Tricks, kapiert?«

Sie nickte nur. Der Entführer klemmte sich hinter das Steuer, gab die Adresse in das Navi ein und fuhr los. Schon bald steckte der Porsche Cayenne mitten im dichten Amsterdamer Innenstadtverkehr. Ilya hatte den Revolver in seinen Hosenbund geschoben. Die Waffe wurde durch das Sweatshirt verdeckt. Lara fragte sich, ob sein Vertrauen in sie wirklich so grenzenlos war. Das Auto fuhr im Schritttempo, weil die Kreuzung vor ihnen verstopft war. Wenn die junge Frau jetzt aus dem Wagen sprang und losrannte, würde Ilya sie garantiert nicht erwischen.

Aber sie verzichtete darauf. Stattdessen schaute sie ihren Kidnapper von der Seite an.

»Was ist los?«, fragte er mit gereiztem Unterton.

»Sie haben die Hölle losbrechen lassen. Diese Frau muss Ihnen viel bedeutet haben.«

»Das geht dich nichts an.«

»Ich bin nicht Ihre Feindin.«

Ilya stieß ein verächtliches Schnauben aus.

»Wer es glaubt, wird selig.«

»Ich bin es wirklich nicht. Haben Sie sich noch nicht gefragt, warum ich nicht abhauen bin? Chancen gab es mehr als genug.«

»Weil du dich fürchtest.«

Lara lachte schrill.

»Ach, wirklich? Und ich habe den Kerl mit dem Revolver ausgeknockt, obwohl ich so ein Angsthase bin?«

Darauf erwiderte der Kidnapper nichts. Er blickte stur auf die Fahrbahn und trat gerade noch rechtzeitig auf die Bremse, als eine Fahrrad-Rikscha aus einer Seitenstraße geschossen kam und sich vor dem Porsche Cayenne in den Verkehrsfluss drängte. Ilya hupte, aber davon schien der Rikschafahrer nicht beeindruckt zu sein. Lara wertete das Schweigen ihres Entführers als Zustimmung.

»Meine Schwester wurde getötet«, sagte er nach einigen weiteren Sekunden des Schweigens. »Und dein Vater ist dafür verantwortlich.«

»So ein Mist!«, stieß die junge Frau hervor. »Sie wollen sich jetzt an dem Kerl rächen, der von meinem Daddy den Mordauftrag erhalten hat?«

Er nickte.

»Und was wird aus meinem Vater?«, bohrte Lara nach.

Der Kidnapper hüllte sich erneut in Schweigen. Also fuhr sie fort:

»Wenn Viktor Lacis stirbt, steht seine Organisation ohne Führung da. Seine Befehlsempfänger sind hirnlose Maden. Daddy ist der einzige, der den Laden zusammenhält.«

Ilyas Mundwinkel kräuselten sich.

»Legst du mir gerade nahe, deinen Vater zu töten? Dann könntest du das Zepter übernehmen, wenn mich nicht alles täuscht. Es geht doch nichts über das gute alte Familienunternehmen.«

Lara verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sie können sich ruhig über mich lustig machen, aber ich bin für mein Alter sehr reif. Eine Lacis ist kein Mädchen wie alle anderen. Ich habe schon früh begriffen, dass die Firma einst mir gehören wird.«

»Hat dein Vater keine Söhne?«

Sie quittierte Ilyas Frage mit einem gereizten Seitenblick.

»Sind Sie so ein traditioneller Macho? Glauben Sie, ich wäre zu weich, um Sexsklavinnen aus dem Osten zu importieren? Es gab schon einige Menschen, die mich nicht für voll genommen haben.«

»Das klingt jetzt fast so, als wolltest du mir drohen«, erwiderte er grinsend. Abgesehen davon, dass er nicht unrecht hatte, gefiel Lara noch eine andere Sache. Es kam ihr so vor, als ob Ilya ein wenig auftauen würde. Er ließ seine Deckung ein Stück weit sinken, für so etwas hatte sie als Kampfsportlerin einen Sinn. Jetzt kam es darauf an, die Situation zu ihren Gunsten zu verändern. Sie musste nur den richtigen Moment abpassen.

Versuchsweise legte sie ihre Hand auf seinen sehnigen Oberschenkel. Er schlug ihren Arm weg.

»Lass den Unsinn! Du kannst mich nicht verschaukeln, nur weil du gut aussiehst!«

Lara war sich ihrer eigenen Attraktivität bewusst. Dadurch wurde es leichter, Menschen in ihrem Sinn zu beeinflussen. Und trotz Ilyas harscher Reaktion schien er sie hübsch zu finden. Lara war wild entschlossen, dies für sich auszunutzen.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie und schenkte ihm einen verführerischen Augenaufschlag. »Wir Frauen fühlen uns eben zu willensstarken Männern hingezogen.«

»Wenn du mich noch einmal anfasst, schneide ich dir ein paar Finger ab.«

Lara begriff, dass sie den Bogen überspannt hatte. Ilya gehörte nicht zu den Kerlen, die sich von weiblicher Schönheit verbiegen ließen. Oh, es war so einfach gewesen, Juri für ihre Zwecke einzuspannen! Doch dieser große starke Ex-Fallschirmjäger war ein geborener Sklave gewesen, der für sie auch durch einen brennenden Reifen gesprungen wäre. Ilya war zweifellos eine härtere Nuss. Doch Lara war sicher, dass sie auch ihn vor ihren Karren spannen konnte.

»Es tut mir leid. Halten Sie mich für ein machthungriges Biest? Da schätzen Sie mich ganz falsch ein. Es ist nur so ... mein Vater ist ein grausamer Tyrann. Ich weiß nicht, wie oft er mich geschlagen hat.«

Lara brach in Tränen aus. Die Lügen gingen ihr glatt über die Lippen, und sie konnte aus dem Stegreif heulen wie ein Schlosshund. In Wirklichkeit hatte Lacis sie niemals verprügelt, sondern ihr vielmehr jeden Wunsch erfüllt. Gewiss, er war ein harter Hund, aber nicht ihr gegenüber.

Ihre neue Taktik schien anzuschlagen. Lara warf einen mit Tränen verschleierten Blick auf Ilyas Gesicht und bildete sich ein, nun so etwas wie Bedauern oder Mitgefühl bei ihm zu entdecken. Nein, dieser Mann war keine emotionslose Tötungsmaschine. In dem Fall hätte er wohl nicht so viele Risiken auf sich genommen, nur um seine Schwester zu rächen.

»Hör schon auf, Lara.«

Täuschte sie sich, oder klang seine Stimme nun weicher als zuvor?

Sie öffnete das Handschuhfach, um nach einem Papiertaschentuch zu suchen. Das fand sie auch, aber zusätzlich eine Pistole. Es war eine kleine Glock, die perfekt in Laras Hand passte.

Sie unterdrückte den Impuls, Ilya sofort eine Kugel in den Kopf zu jagen. Er hielt das Lenkrad mit beiden Händen, hatte in diesem Moment keine Möglichkeit zur Gegenwehr.

Das war ihre einmalige Chance, sein Vertrauen zu gewinnen. Lara richtete die Pistole nicht auf den Kidnapper, sondern senkte den Lauf nach unten.

»Gib mir die Bleispritze!«, forderte er.

»Das werde ich nicht tun«, widersprach sie. »Was glauben Sie, warum ich Sie eben gerade nicht erschossen habe? Die Knarre ist geladen, ich hätte nur abdrücken müssen.«

Ilyas Hände öffneten und schlossen sich. Er schien zu überlegen, ob er ihr die Glock einfach entreißen sollte. Doch das konnte er nicht tun, ohne einen Unfall zu riskieren. Letztlich ließ er seine Finger dort, wo sie waren.

»Ich mag keine Ratespiele, aber du wirst es mir gewiss gleich unter die Nase reiben.«

Lara trocknete ihre Tränen und sagte: »Wir sind jetzt ein Team, haben Sie das noch nicht begriffen? Ich wette mit Ihnen, dass mein Vater schmutzige Tricks anwenden wird. Glauben Sie im Ernst, er lässt Sie einfach den Mörder Ihrer Schwester töten und danach ungehindert verschwinden? Das kann er sich nicht erlauben. Sie haben ihn gedemütigt, indem Sie sein Haus in die Luft gejagt haben. Wenn er Sie jetzt noch am Leben lässt, nimmt ihn in der Branche niemand mehr ernst.«

Ilya antwortete nicht sofort.

»Du bist wirklich reif für dein Alter«, erwiderte er einige Augenblicke später. Lara wertete diese Reaktion als Zustimmung. Sie schob die Glock in ihren Hosenbund und drapierte das T-Shirt darüber.

»Ich wiederhole, dass ich nicht Ihre Feindin bin. Betrachten Sie mich als Ihre Rückendeckung. Wenn mein Vater eine krumme Tour versucht, werde ich schießen. Ich habe allen Grund dazu.«

Der Porsche Cayenne hielt an einer roten Ampel. Das wäre die Gelegenheit für Lara gewesen, ihr ganzes Magazin in Ilyas Kopf und Brust zu leeren und zu verschwinden. Sie wäre mit der Tat davongekommen, denn in den Augen der Welt war sie das Opfer. Doch sie tat es nicht, sondern lächelte den Kidnapper an.

»Also gut«, murmelte er schließlich.

Sie konnte kaum glauben, dass er sich auf ihren Vorschlag einließ. Dabei hatte sie zuletzt gar nicht gelogen. Lara würde wirklich schießen, wenn es notwendig war.

Sie wusste nur noch nicht, auf wen.

29

Viktor Lacis nahm den Stadtbus.

Der erfahrene Mafiaboss war durchaus für Selbstironie empfänglich. Deshalb konnte er durchaus schmunzeln, als er nun wie ein Obdachloser oder armer Rentner mit der Linie 48 zu den Docks fuhr.

Der Alte hatte sich vergewissert, dass Boris Virellis momentan auf dem Speditionsgelände war. Wenn sein Plan funktionierte, würde ihm noch ein genügend großes Zeitfenster bleiben, um Laras Kidnapper zur Hölle zu jagen. Natürlich hatte Lacis Virellis nicht verraten, aus welchem Grund er ihn sehen wollte. Als oberster Chef der Organisation musste er sich nicht rechtfertigen. Es würde kein Problem sein, für den Kidnapper einen schönen Hinterhalt zu legen. Lacis stieg an der Koivistokade aus und schlenderte auf sein Ziel zu. Die Archangelkade war eine langgestreckte Gewerbestraße, die links von Bäumen und einem Graben gesäumt wurde. Rechts standen die Gebäude, von denen einige auch direkten Zugang zum Houtveemkanaal hatten. Zulieferer und Angestellte parkten entlang der Straße.

Lacis wollte überprüfen, ob das Speditionsgelände womöglich bereits von der Polizei observiert wurde. Falls das der Fall war, würde man den Kidnapper lautlos töten müssen. Der Alte hatte jedenfalls nicht vor, den Entführer ungeschoren davonkommen zu lassen.

Es waren noch ungefähr dreihundert Meter bis zur Spedition, als Lacis plötzlich leise Schritte hinter sich hörte. Die Archangelkade war keine Straße, an der besonders viele Menschen zu Fuß unterwegs waren. Dem Mafiaboss schwante Übles. Ihm wurde bewusst, dass er keine Waffe bei sich hatte.

Im nächsten Moment schloss ein hochgewachsener schlanker Mann zu ihm auf und drückte ihm eine Messerspitze gegen die Flanke.

»Gehen Sie dort hinein, Lacis.«

Der Angreifer deutete auf ein Flachdachgebäude, an dem mehrere Schilder mit der Aufschrift TE HUUR - zu vermieten - standen. Der Mafiaboss behielt die Nerven.

»Die Tür wird verschlossen sein.«

»Nein, das ist sie nicht.«

Natürlich nicht, dachte der Alte verdrossen. Sein Widersacher hatte an alles gedacht. Wahrscheinlich war er kurz zuvor schon hier gewesen, um das Schloss zu knacken. Doch woher hatte er wissen können, dass Lacis zu Fuß kommen würde? Weil es die einzige logische Schlussfolgerung aus den zurückliegenden Ereignissen ist, dachte der Alte verdrossen. Und natürlich wusste er nun auch, mit wem er es zu tun hatte. Er schaute seinem Gegner direkt ins Gesicht, sobald sie das leer stehende Gebäude betreten hatten.

»Wollen Sie sich jetzt Ihre Polizeikarriere endgültig ruinieren, Morel?«

Die Jalousien waren geschlossen, nur durch einige Oberlichter drang Helligkeit in das Gewerbeobjekt. Doch die Sichtverhältnisse reichten aus, um zu erkennen, dass die Miene des Franzosen keine Gefühlsäußerungen zeigte. Morel schüttelte den Kopf.

»Sie irren sich, Lacis. Es war eine clevere Idee, die Leiche dieses Trottels in Frau Ahlers‘ Apartment zu schaffen und dort Überwachungstechnologie zu installieren. Wie bedauerlich für Sie, dass ich den Toten beiseiteschaffen konnte und Dripov Ihr Haus mitsamt sämtlicher Speichermedien pulverisiert hat.«

Lacis stieß ein raues Lachen aus.

»Ach, heißt so der Kerl, der sich mit mir angelegt hat? Er hat übrigens auch meine Tochter gekidnappt, falls Ihnen das noch nicht bekannt ist. Und wenn Sie mich hier festhalten, wird Lara sterben.«

»Das ist Pech.«

Der Alte kniff die Augen zusammen.

»Halten Sie mich wirklich für so dumm, dass ich die Aufzeichnungen von Ihnen als Leichenbeseitiger nur auf irgendwelchen Festplatten speichere? Sie liegen auch in einer Cloud!«

»Das dachte ich mir«, gab Morel unbeeindruckt zurück. »Doch ein Kontrollfreak wie Sie wird die Zugangsdaten zu diesen Beweisstücken an niemanden weitergegeben haben.«

Lacis breitete die Arme aus.

»Morel, Sie sind ein Mann nach meinem Geschmack - hochintelligent, skrupellos und bestens organisiert. Was halten Sie davon, wenn Sie weiterhin für Europol arbeiten und nebenbei quasi nebenberuflich für mich tätig werden?«

»Sie meinen, als so eine Art Maulwurf des organisierten Verbrechens?«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen ... ja, natürlich. Die Zeiten haben sich geändert, die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen immer mehr. Haben Sie darüber einmal nachgedacht? Ich könnte Ihnen sehr nützlich sein. Tief in Ihrem Inneren sind Sie einer von uns.«

Morel schien über die Worte des Alten nachzudenken.

»Bei einer psychologischen Routineuntersuchung wurden mir psychopathische Charakterzüge attestiert. Allerdings stufte der Doktor mich als durchaus diensttauglich ein.«

»Das sind Sie zweifellos, Morel. - Also, haben wir einen Deal?«

Der Inspektor antwortete nicht. Er stellte eine Gegenfrage:

»Macht es Sie gar nicht misstrauisch, dass ich allein hier bin? Meine Kollegen wissen nichts von meiner Anwesenheit.«

»Das haben Sie gewiss getan, um mit mir in Ruhe unter vier Augen verhandeln zu können«, mutmaßte Lacis.

»Sie irren sich. Ich habe Sie abgefangen, weil man Kakerlaken zertreten muss.«

Mit diesen Worten schnellte Morel vorwärts und schlitzte die Kehle des Alten auf. Lacis war schon tot, bevor er auf dem Zementboden des Gewerbeobjekts aufschlug.

30

Bea saß zusammen mit de Bruin und einigen Kollegen der Spezialeinheit in einem Van mit getönten Scheiben. Sie beobachteten das Speditionsgelände. Weitere Einheiten hielten sich in der Parallelstraße bereit, außerdem wartete ein Polizeiboot im nahegelegenen Kanal. Bei einem Zugriff sollte nichts dem Zufall überlassen werden.

»Da ist Boris Virellis«, sagte der Niederländer. Die Kommissarin nickte und richtete ihr Fernglas auf den Verdächtigen. Er hatte in seinem Auto gesessen und telefoniert. Nun ging er quer über den Platz hinweg auf eine Lagerhalle zu, nahm die wenigen Stufen zu einer Laderampe, schob die schwere Schiebetür auf und ging hinein.

»Ich wüsste zu gern, was dort aufbewahrt wird«, sagte Bea.

»Leider konnten wir bisher keinen Durchsuchungsbeschluss erwirken, da es keine hinreichenden Verdachtsmomente gegen den Spediteur gibt«, erwiderte de Bruin.

Die Europol-Ermittlerin musste an ihren Dienstpartner denken. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Morel wirklich an Migräne litt. Er hatte vermutlich wieder eine Solonummer geplant. Doch sie konnte ihm deshalb schlecht einen Vorwurf machen, denn er hatte sich ja freiwillig die Beseitigung ihres aufdringlichen Ex-Verehrers aufgebürdet.

Was tut man nicht alles für die Frau, die man liebt! dachte sie mit einem Anflug bitteren Humors. Mit Schaudern erinnerte Bea sich an Morels feuchten kalten Kuss, der besser zu einem Frosch gepasst hätte als zu einem ausgewachsenen Mann. Sie hatte ihren Kollegen bisher niemals als einen potentiellen Beziehungspartner betrachtet und tat das auch jetzt nicht. Ihre Fantasie reichte nicht aus, um sich Morel und sie selbst in leidenschaftlicher Umarmung vorzustellen. Er war ihr immer noch unheimlich, obwohl sie allen Grund dafür hatte, ihm dankbar zu sein.

Bevor sie sich weiter über Morel den Kopf zerbrechen konnte, näherte sich ein Porsche Cayenne dem Speditionsgelände. Der PKW hielt vor dem Büro, ein Mann und eine junge Frau stiegen aus.

»Wer ist das?«, dachte der Hoofdcommissaris laut nach.

»Bei der männlichen Person handelt es sich um Ilya Dripov!«, rief Bea aufgeregt. »Die Frau wird seine Komplizin sein!«

Die Polizisten beobachteten, wie das Paar in das Verwaltungsgebäude ging. Gleich darauf kamen sie wieder heraus und steuerten auf das Lagerhaus zu.

»Die Verdächtigen haben sich nach Boris Virellis erkundigt«, mutmaßte de Bruin. »Sobald sie den Mann zu Gesicht bekommen, fließt hier Blut - Zugriff!«

Er verständigte über Funk die übrigen Einheiten. Nun war ein Entkommen vom Speditionsgelände unmöglich. Der Van bretterte auf das Areal und kam zum Stehen. Die Spezialeinheit sprang aus dem Wagen. Bea war genau wie ihre Kollegen mit einer schusssicheren Weste und einem Helm ausgestattet.

»Polizei! Waffen weg!«

Der Ruf war für Dripov bloß die Aufforderung, ohne Vorwarnung zu schießen. Einer der Beamten ging mit einem Schmerzenschrei zu Boden. Die übrigen Kollegen richteten ihre Automatikwaffen auf den Attentäter, doch der schnappte sich seine Begleiterin und benutzte sie als einen menschlichen Schutzschild.

»Ich habe eine Geisel!«, schrie er auf Englisch. »Runter mit den Kanonen!«

Bea konnte nicht glauben, dass die Frau wirklich zum Mitmachen gezwungen worden war. Ihre Körpersprache hatte etwas anderes verraten. Sie schien mit Dripov zu harmonieren. Doch ein solcher Eindruck konnte täuschen, und das Leben einer Unbeteiligten hatte absoluten Vorrang.

Plötzlich wurde das Tor an der Laderampe aufgeschoben, und Virellis trat heraus. Und er war nicht allein. Die Gangster eröffneten sofort das Feuer. Gab es in der Halle Geheimnisse, die unbedingt vor der Polizei verborgen werden mussten? Bea wusste es nicht. Fest stand, dass ihr und den niederländischen Kollegen die Kugeln um die Ohren flogen. Eine heftige Schießerei entstand.

Dripov zielte sofort auf Virellis und drückte ab. Die Kugel traf den Kerl in den Kopf, er wurde nach hinten geschleudert. Ein anderer Gangster legte mit seiner Maschinenpistole auf Dripov an. Doch bevor er den Abzug betätigen konnte, zog das Mädchen eine Waffe hervor und knallte ihn nieder.

Nun war endgültig klar, dass es sich bei ihr nicht um eine ungefährliche Geisel handelte. Die beiden flohen nun zu ihrem Auto, wobei sie wild um sich schossen.

Doch dort wartete bereits Bea auf sie.

Die Kommissarin hatte sich hinter die Motorhaube des Wagens geduckt. Nun kam sie hoch, die Pistole im Beidhandanschlag.

»Polizei! Hände hoch und Waffen weg!«

Dripov wollte erneut feuern. Aber sie hatte nicht vor, sich widerstandslos abschlachten zu lassen. Er hatte schon bewiesen, dass ihm ein Menschenleben nichts bedeutete.

Sie verpasste ihm einen gezielten Schuss ins linke Bein. Der Attentäter verlor das Gleichgewicht, ging zu Boden. Die junge Frau warf Bea einen wilden Blick zu. Sie schien zu überlegen, ob sie sich den Weg freischießen sollte. Doch nun bekam die Kommissarin Verstärkung von einigen Kollegen der Spezialeinheit.

Dripov und seine Begleiterin wurden entwaffnet. Lacis‘ Gefolgsleute gaben angesichts der Übermacht den Widerstand auf.


***


Bea fuhr nach dem Einsatz mit gemischten Gefühlen zu Morel. Einerseits konnte man den Zugriff als durchaus erfolgreich ansehen. Die verletzten Kollegen hatten zum Glück nur Schüsse in ihre Schutzwesten abbekommen und würden keine bleibenden Schäden davontragen. Dass die angebliche Geisel in Wirklichkeit Lacis‘ Tochter war, hatte die Kommissarin allerdings verblüfft. Sie hoffte, in einem Verhör die Wahrheit ans Licht bringen zu können. Vorerst verweigerte Lara Lacis allerdings die Aussage. Das Gleiche galt für Dripov, der sich generell in Schweigen hüllte. Doch Bea hatte keinen Zweifel daran, dass ihm der Anschlag auf Lacis‘ Haus nachgewiesen werden konnte. Ganz abgesehen von dem Mord an Boris Varellis, bei dem sie selbst sowie mehrere Polizisten Augenzeugen gewesen waren. In der Lagerhalle hatte die Spezialeinheit ein halbes Dutzend gefesselte und geknebelte Zwangsprostituierte befreien können. Das war aus Sicht der Kommissarin die beste Nachricht des Tages.

Leider gab es auch einen Wermutstropfen, denn von Viktor Lacis selbst fehlte immer noch jede Spur. In der Ruine seines Hauses hatte man vergeblich nach seiner Leiche gesucht. Es wurde mit Hochdruck nach dem Drahtzieher des Menschenhandels gefahndet. Bea hoffte sehr, dass er bald irgendwo auftauchen würde.

Doch wie sollte es zwischen ihr und Morel weitergehen?

Der Franzose hatte sich als ein fähiger Kriminalist erwiesen, doch seine Gefühle für Bea konnten ihre Zusammenarbeit ernsthaft gefährden. Am liebsten hätte sie sich von Akkerman einen neuen Dienstpartner zuweisen lassen. Leider stand sie bei Morel in der Schuld. Womöglich würde er sogar die Geschichte mit Behns Leiche gegen sie verwenden.

Bea klingelte an der Tür ihres Apartments, in dem nun Morel wohnte. Er öffnete sofort. Sie schaute ihn prüfend an. In diesem Moment hätte man wirklich glauben können, dass er an Migräne litt. Der Inspektor sah bleich und käsig aus, er konnte ihr nicht in die Augen sehen.

»Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen«, sagte er zur Begrüßung.

Dann bereut er den Kuss also? fragte Bea innerlich sich selbst. Es roch in der kleinen Wohnung penetrant nach Chemikalien. Die Tür zum Bad stand offen, dort war es blitzsauber. Auch die Wanne war offensichtlich frisch gereinigt worden. Selbst erfahrene Kriminaltechniker würden keine Hinweise auf einen Toten finden können, davon war die Kommissarin fest überzeugt. Sie lächelte Morel an.

»Schon gut, wir sind alle Menschen. Wichtig ist, dass es nicht wieder vorkommen wird.«

»Das kann ich Ihnen aufrichtig versichern«, erwiderte der Franzose.


ENDE

Brüssel Barbaren - 1


Kommissarin Bea Ahlers bekam kaum Luft. Sie versuchte, sich ihr Unwohlsein nicht anmerken zu lassen. Als Ermittlerin der Europol war Bea nur Gast im Polizeipräsidium der belgischen Hauptstadt Brüssel. Sie saß mit ihrem Kollegen Inspektor Luc Morel sowie einigen einheimischen Kriminalisten an einem langen altmodischen Konferenztisch. Draußen vor den hohen Holzfenstern schoben sich an diesem schönen Sommertag auf der Rue du Marché au Charbon die lauten Touristenmassen vorbei. Daher wurde nicht gelüftet, und Beas Geruchssinn war den After-Shave-Düften ihrer männlichen Kollegen wehrlos ausgesetzt.

Eigentlich hatte die Kommissarin nichts gegen derartige Gerüche einzuwenden. Doch es schien unter belgischen Polizisten des gehobenen Dienstes üblich zu sein, dass man in Rasierwasser badete. Zumindest kam es ihr so vor. Ihr eigenes Parfüm konnte sie angesichts dieses olfaktorischen Sturmangriffs überhaupt nicht mehr wahrnehmen.

Also kämpfte die Kommissarin tapfer gegen ihre aufsteigende Übelkeit an und lauschte den Ausführungen von Hauptkommissar Jan van Dijk. Er gab Erklärungen zu einem Video ab, das mittels eines Beamers auf die weiße Schmalwand des Raums projiziert wurde. Und der Inhalt des Films trug nicht dazu bei, Beas Magen zu beruhigen. Dabei war sie als Mordermittlerin der Europol an Grausamkeiten gewöhnt.

»Diese Szene wurde vor zwei Tagen in den sozialen Medien hochgeladen«, sagte van Dijk. »Ich muss wohl nicht betonen, dass der oder die Urheber bisher nicht zurückverfolgt werden konnten. Sie haben Alias-Adressen hinterlassen, die ins Nichts führen. Die Provider löschten das Video nach ein paar Stunden. Es war also genügend Zeit, um es unzählige Male zu teilen.«

Wieder einmal fragte Bea sich, welche kranken Charaktere sich dermaßen am Elende anderer Menschen ergötzen konnten. Die junge Frau, die man in dem Filmchen erblickte, hatte erkennbare Todesangst. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre blutigen Fingerknöchel und der Schmutz auf ihrem Gesicht und ihrem Oberkörper zeugten davon, dass es bereits einen heftigen Kampf gegeben haben musste. Und sie hatte dabei offenbar den Kürzeren gezogen, denn nun kauerte sie auf dem Boden in einer Ecke eines schäbigen Zimmers. Womöglich befand es sich in einem leer stehenden Haus, denn die altmodischen Tapeten waren teilweise abgerissen und mit Graffiti bedeckt. Die Frau trug eine zerschlissene Jeans und ein ehemals weißes Top, das an mehreren Stellen aufgerissen war. Bea bildete sich ein, den Angstschweiß des Opfers riechen zu können. Doch wahrscheinlich wurde sie von ihrem malträtierten Geruchssinn zum Narren gehalten.

»Jetzt kommt der Täter ins Spiel«, sagte der belgische Kriminalist überflüssigerweise. Im Video erblickte man nun eine schwarz gekleidete Gestalt, die sich mit raubtierhafter Behändigkeit ins Bild schob. Die in schwarzen Lederhandschuhen steckenden Finger hielten ein Samuraischwert. Der Killer schaute kurz in die Kamera, aber sein Gesicht hatte er mit einer Sturmmaske maskiert. Die Frau begann zu schreien, als er mit der Hieb- und Stichwaffe auf sie einzuschlagen begann. Das Blut spritzte teilweise so weit, dass einige Tropfen auf dem Kameraobjektiv landeten. Dann herrschte eine beklemmende Stille. Van Dijk schaltete den Projektor aus. Nun meldete sich Beas Dienstpartner Luc Morel zu Wort: »Nun wird es deutlich, weshalb Sie uns angefordert haben. Die Vorgehensweise ist dieselbe wie bei den ungelösten Mordfällen in Oslo, Berlin und Sevilla. Der Täter benutzt ein Schwert - genauer gesagt: ein Wakizashi - und tötet sein Opfer unpräzise und mit großer Brutalität. Die Tat selbst wird von ihm oder einem Komplizen gefilmt und im Internet hochgeladen.«

Die Augen aller Anwesenden richteten sich plötzlich auf Bea. Sie musste jetzt auch etwas sagen, wenn sie sich nicht als passives Anhängsel von Morel präsentieren wollte.

»Wir gingen zunächst von einer rassistisch motivierten Mordserie aus, da das Opfer in Sevilla ein afrikanischer Straßenhändler und der Getötete in Oslo ein syrischer Flüchtling waren«, begann sie. »Diese These geriet allerdings schon ins Wanken, als das Video mit dem Berliner Toten im Netz erschien. Es handelte sich um einen weißen deutschen Obdachlosen im Alter von einundsechzig Jahren.«

»Nun hat es erstmals eine weibliche Person getroffen, ebenfalls weiß«, stellte Morel fest. »Konnte das Opfer bereits identifiziert werden?«

Der belgische Chefermittler nickte.

»Wir haben ihr Gesicht mit unserer nationalen Vermisstenkartei abgeglichen. Offenbar handelte es sich um eine gewisse Amélie Vernier, siebzehn Jahre alt und vor drei Wochen aus ihrem Elternhaus in einer südbelgischen Kleinstadt fortgelaufen.«

»Die Leiche wurde noch nicht gefunden? Konnte der Tatort ermittelt werden?«, vergewisserte Morel sich.

»Wir arbeiten daran.«

Diese Erwiderung kam von einer jungen sommersprossigen Kommissarin namens Valerie Angers, die außer Bea die einzige Frau in dem Besprechungsraum war. Sie kaute ununterbrochen mit offenem Mund Kaugummi, was die deutsche Kommissarin irritierend fand. Aber vielleicht half diese Gewohnheit Valerie ja gegen die After-Shave-Attacken ihrer männlichen Kollegen.

»Ist Ihnen an der Tonspur gar nichts aufgefallen?«, fragte van Dijk, wobei seine Stimme vor unterdrücktem Stolz leicht zitterte. Bea schüttelte den Kopf. Sie hatte sich zusammenreißen müssen, um während der Todesschreie des Opfers nicht die Fassung zu verlieren.

»Wir konnten Amélie Verniers Stimme von dem Glockenspiel in der Rue de Namur separieren, das von ihr beinahe übertönt worden wäre«, erklärte der Belgier. »Wir vermuten, dass die Melodie noch im Umkreis von anderthalb Kilometern zu hören gewesen sein muss. Momentan filtern wir die Gebäude heraus, die innerhalb von diesem Radius als Tatorte in Frage kommen. Wahrscheinlich können wir schon in einer Stunde mit Ergebnissen rechnen. - Warum gönnen Sie sich nicht eine kleine Pause? Sie sind schließlich erst heute in Brüssel angekommen?«

Van Dijk schaute die Europol-Ermittler freundlich blinzelnd an. Bea hatte belgische Kollegen bisher als stets kooperativ, wenn auch etwas gewöhnungsbedürftig erlebt. Doch seit ihrer Zusammenarbeit mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 11.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4213-4

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