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St. Pauli Baby - Prolog

Nora Fabian, auch „die Nachtigall“ genannt, schrieb die Story ihres Lebens.

Mit vor Erregung geröteten Wangen hockte die junge Journalistin vor ihrem Computer. Die Welt um sie herum war versunken. Nora registrierte nicht, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Ihre Finger flogen über die Tasten. Sie hockte in ihrem Büro im Verlagsgebäude der Illustrierten NUMMER EINS. Ihre Kollegen hatten längst Feierabend gemacht.

Auch bemerkte Nora nicht den Neuschnee, der die Fahrbahn der Mönckebergstraße vor ihrem Bürofenster zu bedecken begann. Und sie registrierte ihren Besuch erst, als die Person bereits ihren Arbeitsraum betreten hatte.

Die Journalistin schaute beunruhigt auf. Aber dann erschien ein erleichtertes Lächeln auf ihrem schönen Gesicht.

„Ach, du bist es“, sagte sie. „Das ist ja eine nette Überraschung! Sei mir nicht böse, aber ich habe gerade wirklich überhaupt keine Zeit. Ich schreibe etwas wirklich Umwerfendes.“

„Ja“, lautete die Antwort. „Ich weiß.“

Und dann ging alles ganz schnell. Die Person trat auf Nora Fabian zu. Im nächsten Moment spürte die Frau am Computer einen stechenden Schmerz im Nacken. Sie wollte schreien, etwas sagen, irgendetwas tun. Doch sie war gelähmt. Voller Entsetzen musste Nora mit ansehen, wie ihr Besuch plötzlich eine Rasierklinge in der Hand hielt. Systematisch wurden Noras Pulsadern aufgeschlitzt. An beiden Armen. Das Blut strömte aus ihrem Körper, ergoss sich auf ihr elegantes Yamamoto-Kostüm, auf den Designer-Schreibtisch, den Velours-Teppichboden, die Manuskriptseiten.

Entsetzliche Minuten vergingen, bis Nora durch eine gnädige Ohnmacht erlöst wurde. Die Bewusstlosigkeit, die vor dem Tod kommt.

Während die Journalistin starb, löschte ihr Besuch in aller Ruhe die Datei, mit der Nora Fabian einen Skandal anprangern wollte. Natürlich wurden auch die Sicherungskopien nicht vergessen. Und das Recherchematerial der Toten nahm der ungebetene Besuch mit, als er unerkannt das blutige Büro verließ.

 

 

Erstes Kapitel

Die Kriminalhauptkommissarin Isa Boysen flitzte auf Schlittschuhkufen durch die Hamburger Innenstadt. Das wäre normalerweise gefährlich gewesen, denn es war ein Vormittag im Dezember, ein Werktag. Und da wurde das Zentrum der Metropolregion Hamburg mit ihren über vier Millionen Einwohnern nicht nur von unzähligen Berufspendlern, Touristen und einkaufswütigen Konsumenten bevölkert, sondern eben auch von Motorfahrzeugen aller Art. Doch dort, wo Isa ihre Runden drehte, waren die Schlittschuhfans unter sich.

Die Kriminalistin lief nämlich auf dem Dach von Sport-Karstadt!

Die Eislaufbahn hoch oben auf dem größten Sporthaus Europas war ein Geheimtipp. Dort hatte man beim Schlittschuhlaufen außerdem noch einen Panoramablick über die Hansestadt. Obwohl Isa in Hamburg geboren und aufgewachsen war, wurde sie immer wieder von der Skyline dieser Stadt in ihren Bann gezogen.

In unmittelbarer Nähe des Sporthauses befand sich der Hauptbahnhof, entstanden zwischen 1899 und 1906. Vor wenigen Jahren war er ganz im Stil seiner Erbauerjahre restauriert worden und verfügte nun über eine attraktive Shoppingmeile in der Wandelhalle.

Im Süden, hinter dem Kontorhausviertel, grüßten bereits die ersten Kräne des Hamburger Hafens. Auch die Kirchturmspitze von St. Jakobi konnte Isa erkennen, ebenso weiter hinten den „Michel“, das Hamburger Wahrzeichen. Nur das stolze Hamburger Rathaus wurde halb durch einen mächtigen Einkaufs-Komplex an der Mönckebergstraße verdeckt.

Isa konnte sich wunderbar entspannen, während sie mal langsam und mal schneller über das Kunsteis glitt. Ein arbeitsreiches und anstrengendes Jahr lag nun schon fast gänzlich hinter ihr. Wie in jedem Dezember beschäftigte sie die Frage, wie sie Weihnachten verbringen sollte. Die Kriminalistin lebte zwar allein, war aber alles andere als menschenscheu. Es wäre also für sie ein Leichtes gewesen, eine der zahlreichen Heiligabend-Veranstaltungen für Singles aufzusuchen. Doch das hatte Isa schon in der Vergangenheit mehrmals als öde und trostlos empfunden.

Am Schönsten wäre es natürlich gewesen, mit einem lieben Mann unter einem Christbaum zu sitzen und Weihnachten zu feiern. Der schlechte Witz des Lebens bestand darin, dass Isa einen solchen Mann sogar hatte. Er hieß Arne Weger und war bei der 3. Mordbereitschaft ihr Dienstpartner, mit dem gemeinsam sie ihre meisten Fälle löste.

Doch leider war Arne bereits verheiratet und hatte mit seiner Frau Svenja eine kleine Tochter, Lea. Und es gab keinen Grund anzunehmen, dass er nicht mit ihnen die Feiertage verbringen würde.

Isas Liebe zu Arne lag momentan auf Eis. Anders konnte man das nicht nennen. Im Sommer hatten sie eine heiße Liebesaffäre miteinander gehabt. Doch da sie ihr Gewissen nicht belasten wollten, hatten sie Arnes Frau alles gebeichtet. Es war eine Zeit, an die Isa sich nur ungern erinnerte ...

Das Schrillen ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken.

Isa fuhr auf ihren Kufen an die Seite, stoppte und aktivierte das Telefon.

„Boysen.“

„Endlich gehen Sie ran, Frau Boysen!“, blaffte Dr. Walter Kranach, Isas direkter Vorgesetzter. Sie hörte sofort, dass der Kriminaloberrat eine miserable Laune hatte. „Ich weiß, dass heute Ihr freier Tag ist. Aber was soll ich machen? Hier trudelt eine Krankmeldung nach der anderen ein. Nun sind schon Frau Roper, Herr Lehmann und Herr Prante ausgefallen. Diese momentane Grippewelle macht die 3. Mordbereitschaft noch völlig handlungsunfähig! – Jedenfalls haben wir eine Meldung von der Zentrale bekommen. In einem Büro an der Mönckebergstraße ist eine weibliche Leiche aufgefunden worden. Alles spricht für einen Freitod. Aber Sie kennen ja die Vorschriften, Frau Boysen. Jemand von uns muss einen Blick auf die Tote werfen. Es handelt sich eindeutig um einen Selbstmord. Daher werden Sie wohl nicht allzu viel von Ihrer Freizeit opfern müssen.“

„In Ordnung, Herr Kriminaloberrat“, erwiderte Isa. „Wie es der Zufall will, befinde ich mich momentan sowieso in unmittelbarer Nähe der Mönckebergstraße.“

Die Kriminalistin wollte ihrem Chef allerdings nicht sagen, dass sie gerade Schlittschuh lief. Sie fand nämlich, dass ihn das nichts anging.

„Dann macht es Ihnen wohl nicht allzu viele Umstände“, knurrte Dr. Kranach.

„Nein. Falls es übrigens Personalengpässe während der Feiertage gibt, bin ich gerne bereit, auch am Heiligabend und am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag Tatortdienst zu machen.“

Isa hatte soeben diesen spontanen Entschluss gefasst. Wenn sie schon nicht mit Arne Weihnachten feiern konnte – was sie am Allerliebsten getan hätte – dann konnte sie an den Feiertagen ebenso gut arbeiten. Wozu war sie schließlich bei der Kripo? Dort gab es immer etwas zu tun.

„Das würden Sie tun, Frau Boysen?“ Dr. Kranachs Stimme klang erleichtert. Isa wusste, dass er mit seiner Frau über Weihnachten und Neujahr in den Harz fahren wollte. Dafür musste natürlich in seiner Abteilung zuvor alles geregelt und organisiert sein. „Ich weiß Ihre Einsatzbereitschaft zu schätzen, das sage ich ganz offen. – Darf ich Sie dann bitten, sich diese Selbstmörderin einmal kurz anzuschauen? Die Tote heißt übrigens Nora Fabian. Ich gebe Ihnen noch die Adresse durch.“

Isa schrieb sich die Angaben auf einen Zettel. Dann beendete sie das Gespräch. Nora Fabian? Der Name kam Isa bekannt vor. Momentan konnte sie ihn allerdings noch nicht so recht zuordnen.

Die Sache ließ der Kriminalistin nun ohnehin keine Ruhe mehr. Sie entfernte sich gedankenverloren von der Eisbahn. Isa beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie eine Sporttasche mitgenommen hatte. Darin konnte sie ihre Schlittschuhe versenken. Es würde doch ziemlich unprofessionell aussehen, wenn sie als Kriminalhauptkommissarin mit an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Schlittschuhen über der Schulter am Tatort erschien ...

Auch ihre rote Zipfelmütze verstaute Isa wohlweislich in der Sporttasche. Die Kopfbedeckung war zwar sehr nützlich für eine Schlittschuhfahrt auf dem Dach von Sport-Karstadt, wirkte aber an einem Leichenfundort ebenfalls deplatziert. Jedenfalls war das Isas Meinung.

Sie musste nicht weit gehen. Die Mönckebergstraße verband den Hauptbahnhof mit dem Rathaus. Mit ihren breiten Fußgängerwegen war sie dementsprechend als Flanierstraße anzusehen. Auf den Fahrbahnen waren nur noch Stadtbusse und Taxis erlaubt, so dass sich das Verkehrschaos in Grenzen hielt. Daher war die Mönckebergstraße teils Shoppingmeile, teils eine sehr repräsentative Firmenadresse mitten in der Hamburger City.

Letzteres traf jedenfalls auf das Gebäude zu, in dem die Selbstmörderin aufgefunden worden war.

Isa rief sich allerdings innerlich selbst zur Ordnung, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging. Sie teilte nämlich die Auffassung ihres Vorgesetzten nicht. Woher wollte Dr. Kranach überhaupt so genau wissen, dass die Frau freiwillig aus dem Leben geschieden war? Seit wann stellte die Kripo telefonische Ferndiagnosen?

Isa hatte dies zum Glück nicht von dem Kriminaloberrat wissen wollen. Durch ihre Bereitschaft zum Feiertagsdienst hatte die junge Kriminalistin momentan bei ihrem Vorgesetzten einen Stein im Brett. Nun kam es darauf an, diese Pluspunkte nicht wieder zu löschen ...

Aber dadurch würde Isa sich trotzdem nicht davon abbringen lassen, sich ihre eigene Meinung zu bilden.

Sie betrat das Gebäude, an dessen Eingang der typische Schriftzug von NUMMER EINS prangte. Das war eine Illustrierte, die sich hauptsächlich mit Klatschgeschichten über mehr oder weniger Prominente aus dem In- und Ausland befasste. Die Sorte Zeitschrift eben, die Frauen normalerweise beim Frisör lesen.

Isa ging natürlich auch regelmäßig zur Kopfverschönerung. Doch sie ließ sich ihre brünette Kurzhaarfrisur von einem Meister schneiden, der aus seiner Vorliebe für gut gebaute junge Männer kein Hehl machte.

Da Isa kein Kind von Traurigkeit war, hatte sie ebenfalls nichts gegen die Abbildungen von sonnengebräunten jungen Bodybuildern einzuwenden, die allerhöchstens mit äußerst knappen Tangaslips bekleidet waren.

Daher hatte Isa im Laufe der Jahre gewiss schon mehrere Hundert amerikanische Schwulen-Softpornos durchgeblättert, aber höchstens zwei oder drei Ausgaben von NUMMER EINS.

Die Kriminalistin trat in den Empfangsbereich. Hinter einer Marmor-Empfangstheke thronte eine sehr gut aussehende junge Frau. Isa glaubte im ersten Moment, das deutsche Topmodel Claudia Schiffer hätte einen neuen Nebenjob angenommen. Aber die Schöne in dem Designer-Kostüm sah doch etwas anders aus als die weltberühmte Claudia.

Sie maß Isa mit einem leicht arroganten Blick. Die Kriminalistin war in einen sportlichen Ski-Anorak, Steghosen und Stiefel gekleidet. Offenbar nicht das Outfit, das in diesem Haus erwartet wurde. Aber Isa ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Bevor die Schöne den Mund aufbekommen konnte, hielt die Hauptkommissarin ihr den fälschungssicheren blauen Kripoausweis unter die Nase.

„Kripo Hamburg. Ich komme wegen der Leiche.“

Die Empfangsdame lächelte, als wäre ihr gerade eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt angekündigt worden.

„Ach, Sie gehören zu den ... Herrschaften. Ich verstehe. Bitte nehmen Sie den Lift bis zum vierten Stockwerk.“

Isa bedankte sich mit einem knappen Kopfnicken. Wen diese Tussi wohl mit Herrschaften meinte? Gleich darauf konnte Isa sich diese Frage selbst beantworten. Als sie nach kurzer Aufzugfahrt in der vierten Etage ankam, bewachten uniformierte Kollegen argwöhnisch den Fahrstuhl. Kein Unbefugter sollte an den Tatort gelangen. Schon gar kein Vertreter der Sensationspresse. Die Polizisten ließen aber Isa sofort passieren. Sie hatte ihren Ausweis an ihrem Anorak befestigt.

Von weitem erblickte sie die Männer von der Technischen Abteilung, die bereits vollauf beschäftigt waren. Isa sah auch Dr. Scholl, den Mann vom Gerichtsmedizinischen Institut.

Da er der ranghöchste anwesende Kollege war, begrüßte Isa ihn als Ersten.

„Guten Morgen, Herr Dr. Scholl.“

„Guten Morgen, Frau Boysen.“

Sie gaben sich die Hände.

„Ich bin mit der ersten Untersuchung fertig“, meinte der Pathologe. „Ich wollte gerade nach einem Blechsarg telefonieren, damit man die sterblichen Überreste von Nora Fabian ins Gerichtsmedizinische Institut bringt. Die Obduktion kann ich vielleicht sogar noch heute Abend vornehmen.“

Isa schaute ihn neugierig an.

„Gibt es erste Erkenntnisse, Herr Dr. Scholl?“

Der Gerichtsmediziner blätterte in seinen Aufzeichnungen.

„Tja, der Tod muss zwischen drei Uhr und vier Uhr heute früh eingetreten sein. Todesursache ist ganz eindeutig Blutverlust. Es ist kein schöner Anblick, ehrlich gesagt.“

„Ich werde als Kriminalhauptkommissarin vom Steuerzahler besoldet, um auch unschöne Anblicke ertragen zu können“, gab Isa trocken zurück. „Ich sehe mir die Leiche gleich mal an.“

„Tun Sie das, Frau Boysen, tun Sie das. Die Pulsadern an beiden Handgelenken waren aufgetrennt. Dadurch konnte das Blut so schnell ausströmen, dass eine fast vollständige Ausblutung stattfand. – Sobald ich nach der Obduktion Näheres sagen kann, werde ich Sie im Präsidium anrufen.“

Isa und Dr. Scholl hatten auf dem Flur miteinander gesprochen. Es war nicht zu übersehen, in welchem der verschiedenen Büros Nora Fabian aus dem Leben geschieden war. Ob nun freiwillig oder unfreiwillig. Die Tür dieses Raums stand nämlich weit offen. Kollegen von der Technischen Abteilung waren emsig am Werk.

Die Hauptkommissarin ging zu ihnen. Norbert Schröder, der Leiter des Spurensicherungsteams, blickte auf.

„Hallo, Isa. Ich habe schon gehört, dass du deinen freien Tag opfern musstest.“

„Ich werde drüber hinwegkommen, Norbert. Gibt es schon erste Erkenntnisse?“

„Ja. Das Opfer hat sich vor ihrem Tod die Pulsadern mit einer handelsüblichen Rasierklinge geöffnet. Erst am rechten Handgelenk, dann am linken. Jedenfalls hielt sie die Klinge in der rechten Hand, als sie gefunden wurde.“

„War Nora Fabian Linkshänderin?“, fragte Isa. Norbert Schröder zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung, Frau Kollegin.“

„Ich habe auch eigentlich nur laut nachgedacht, Norbert.“

Während sie mit dem Leiter des Spurensicherungsteams sprach, trat Isa näher an die Tote heran. Das war gar nicht so einfach, denn natürlich wollte die Hauptkommissarin die Arbeit der Technischen Abteilung nicht behindern.

Das Blut war jedenfalls überall. Es bedeckte die Schreibtischplatte, die Computertastatur, den Teppich und natürlich Körper und Kleidung der Toten. Isa schaute sich stirnrunzelnd um, ohne etwas anzufassen.

„Also, falls das Opfer Linkshänderin war, ist davon hier nichts zu sehen. Stifte, Papierlocher, Büroklammern, Notizzettel, Visitenkarten – alles liegt auf der rechten Schreibtischhälfte. Links sehe ich nur irgendwelche Papierstapel, die sie offenbar mit Nichtachtung gestraft hat.“

„Worauf willst du hinaus, Isa?“

„Ganz einfach. Nora Fabian war meiner Meinung nach Rechtshänderin. Ich werde natürlich noch ihre Freunde, Kollegen und ihre Familie danach fragen. Aber gehen wir zunächst mal davon aus. Ich finde es unwahrscheinlich, dass sich eine Linkshänderin zunächst die rechte Pulsader aufschneidet. Und dann erst die linke.“

„Warum?“

„Weil man unbewusst alle wichtigen Sachen mit der Hand macht, mit der man besser zurechtkommt. Und was könnte wohl wichtiger sein als der eigene Tod?“

„Ich ahne, worauf du hinaus willst, Isa. Aber wenn ein Mörder ihr die Handgelenke verletzt hat, würde sie sich doch gewiss gewehrt haben.“

„Ja, falls er sie nicht vorher betäubt hat.“

„Das klingt für meinen Geschmack zu konstruiert“, brummte Norbert. „Aber eine Betäubung müsste sich ja bei der Obduktion nachweisen lassen.“

„Ja, natürlich.“

„Na, also!“ Der Leiter des Spurensicherungsteams klopfte Isa kollegial auf die Schulter. „Das wäre doch der beste Beweis für deine Theorie von der Fremdeinwirkung. Du musst nur das Obduktionsergebnis abwarten.“

„Es gibt noch andere Hinweise“, meinte Isa. „Zum Beispiel, ob die Bürotür von innen abgeschlossen war oder nicht.“

„Das war sie eindeutig nicht“, sagte Norbert Schröder. „Wie du siehst, musste das Schloss nicht aufgebrochen werden. Nora Fabian wurde von einer Praktikantin gefunden. Sie wartet übrigens nebenan. Der Notarzt hat ihr eine Beruhigungsspritze verpasst.“

Isa nickte. Um diese Zeugin wollte sie sich als Nächstes kümmern.

„Jedenfalls war die Tür unverschlossen. Nora musste also damit rechnen, bei ihrem Vorhaben gestört zu werden. Warum hat sie nicht abgeschlossen, bevor sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat?“

„Ich finde, du setzt viel zu viel voraus“, meinte Norbert Schröder achselzuckend. „So eine Selbstmörderin ist doch wahrscheinlich zutiefst verzweifelt. Da wird sie nicht an solche Details denken.“

„Dann gehst du also auch von einem Freitod aus, Norbert?“

Der Leiter des Spurensicherungsteams hob abwehrend die Hände.

„Es ist die Aufgabe von euch Ermittlern, das herauszufinden. Aber aus Sicht der Technischen Abteilung spricht nichts für ein Fremdverschulden. Auf der Rasierklinge sind keine Fingerabdrücke außer denen des Opfers zu erkennen. Nora Fabian ist an ihrem Schreibtisch zusammengesunken, wie du selbst sehen kannst. Nichts deutet auf einen Kampf hin.“ Bartel zögerte einen Moment. „Allerdings ...“

„Ja?“ Isa beugte sich gespannt vor.

„Wir haben hier einen Gegenstand in Nora Fabians Jackentasche gefunden, für den wir keine rechte Erklärung haben.“

Der Spurensicherer zeigte Isa eine der Plastiktüten, in denen Beweisstücke gesammelt werden. In diesem Fall war es ein kleines rosa Stück Textil.

„Das ist ein Babysöckchen, Norbert. Lass’ es dir von einer Frau gesagt sein.“

„Ich bin stolzer Großvater, Isa. Ich weiß sehr gut, wie ein Babysöckchen aussieht. Aber warum trug diese Nora Fabian ein einzelnes Babysöckchen in der Jacketttasche mit sich herum? – Na, dieses Rätsel müsst ja ihr von der Mordbereitschaft lösen.“

Isa machte sich in Gedanken eine Notiz. Ein Babysöckchen also. Die einfachste Erklärung war eine Schwangerschaft der Toten. Aber darüber würde die Obduktion Auskunft geben. Oder war vielleicht eine ungewollte Gravidität der Grund für den Selbstmord?

Ärgerlich schob Isa diesen Gedanken beiseite. Das war eine Überlegung von Anno dunnemals. Schon seit mehreren Jahren schrieb man das 21. Jahrhundert. Nora Fabian war ganz offensichtlich eine berufstätige und unabhängige Frau gewesen. Dieses Motiv erschien bei einer Frau wie Nora mehr als unwahrscheinlich!

Isa verabschiedete sich einstweilen von den Spurensicherern. Sie ließ sich von einem uniformierten Kollegen zu der jungen Frau führen, die Nora Fabian gefunden hatte.

Die Praktikantin hockte in einem kleinen Raum am Flurende, der ganz offensichtlich als Teeküche diente. Isa schätzte sie auf höchstens zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre. Die Zeugin unterschied sich äußerlich in nichts von Tausenden anderer junger Frauen in dem Alter. Sie war modisch gekleidet, mit Hüftjeans und trotz winterlicher Kälte einem Kurzpullover. Jedenfalls konnte man ihren gepiercten Bauchnabel sehen, als sie aufstand.

Isa stellte sich mit Namen und Dienstrang vor. Sie machte eine auffordernde Handbewegung.

„Nimm doch bitte wieder Platz. Ich darf dich doch duzen, oder?“

„Ja, sicher, Frau Kommissarin. Ich habe es auch gerne, wenn es locker zugeht. Nora dachte genauso. Sie ... sie war so voller Power ...“

Isa glaubte, ihr Gegenüber würde wieder zu weinen anfangen. Die geröteten Augen der jungen Frau zeugten jedenfalls davon, dass ihr die Tränen gekommen waren. Aber das war in Isas Augen eine ganz normale menschliche Reaktion angesichts einer blutüberströmten Leiche ...

„Zu Nora Fabian kommen wir gleich“, sagte die Kriminalistin. Sie versuchte, ihrer Stimme einen möglichst beruhigenden Unterton zu geben. „Das heißt, falls du dich in der Lage fühlst, meine Fragen zu beantworten.“

„Doch, schon.“ Die Praktikantin schniefte, putzte sich die Nase. „Der Doc hat mir ja eine Spritze gegeben. Seitdem geht es einigermaßen. Ich wäre ja fast umgekippt, als ich heute Morgen in Noras Büro gekommen bin.“

„Am Besten erzählst du der Reihe nach. Ich habe mich ja schon vorgestellt. Aber du hast deinen Namen noch gar nicht verraten.“

„Oh, Entschuldigung. Ich bin so durcheinander. Also, ich heiße Jasmin Ehlers. Ich bin einundzwanzig Jahre alt und studiere Medien. Hier an der Universität Hamburg. Bei NUMMER EINS mache ich ein einmonatiges Praktikum.“

Isa nickte. Sie kritzelte Jasmins Angaben auf die Rückseite einer Postwurfsendung, die sich in ihrer Jackentasche angefunden hatte. Normalerweise hatte die Kriminalistin ihr dickes gebundenes Notizbuch bei sich. Aber das schleppte sie nicht mit sich herum, wenn sie auf die Eisbahn ging.

„Und Nora war deine Praktikumsbetreuerin, Jasmin?“

„So kann man das nicht sagen, Frau Kommissarin. Der Chefredakteur, Herr Wecker, wollte mir sehr viele unterschiedliche Aufgaben bei der Illustrierten zeigen. Ich durfte den Fotografen helfen, war bei der Redaktionskonferenz und habe dem Knaben assistiert, der Skandalstorys aus dem Ausland ankauft. Aber ehrlich gesagt hat es mir bei Nora am Besten gefallen!“

„Warum?“

Jasmin schaute sich um, senkte ihre Stimme.

„Sie war die Einzige, die ich bei NUMMER EINS gut leiden konnte. Alle anderen, die ich hier kennen gelernt habe, sind Angeber, Wüteriche oder auf eine andere Art widerlich. Aber Nora ... sie war ja ziemlich berühmt. Keine Ahnung, ob Sie das wissen. Aber sie hat mich nie wie eine kleine Praktikantin behandelt, kapieren Sie? Eher wie eine Freundin.“

Isa nickte langsam. Das klang wirklich danach, als ob die Verstorbene eine sympathische Frau gewesen war.

„Jasmin, kannst du dir einen Grund denken, warum Nora freiwillig aus dem Leben scheiden wollte?“

Die Praktikantin schüttelte wild den Kopf.

„Keinen einzigen, Frau Kommissarin! Nora steckte voller Pläne. Sie hatte noch so viel vor. Beruflich und privat, wenn ich das richtig sehe. Sie wollte nach Nepal reisen und nach Peru. Und ein Interview mit einem echten sibirischen Schamanen machen. Eine Sache hat sie allerdings vor mir geheim gehalten.“

Isa horchte auf.

„Und was?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wie gesagt, ich sollte nichts davon wissen. Einmal habe ich Nora direkt darauf angesprochen. Da wurde sie ganz ernst und sagte, dass ich nicht noch einmal nach ihrem Geheimnis fragen sollte. Es wäre zu gefährlich für mich.“

„Waren das ihre genauen Worte, Jasmin?“

Die Praktikantin starrte auf die auberginenfarbenen modernen Küchenmöbel in dem kleinen fensterlosen Raum. Sie schien angestrengt nachzudenken.

„Nein, Frau Kommissarin. Sie sagte so in etwa: ,Ich riskiere selbst Kopf und Kragen. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt, Jasmin. Das könnte ich nicht verantworten’.“

„Wann war das?“

„Vor drei oder vier Tagen.“

Isa stieß langsam die Luft aus den Lungen. Angenommen, Jasmin sprach die Wahrheit. Nora hatte also als Journalistin ein brandheißes Thema bearbeitet. Wenig später starb sie eines gewaltsamen Todes. Das sah für Isa Boysen keinesfalls nach einem Selbstmord aus.

Sondern nach einer besonders heimtückischen und grausamen Tötung!

„Nora hat sich doch gewiss auch mit Themen beschäftigt, die nicht geheim für dich waren, Jasmin ...“

„Ja, Frau Kommissarin. Es ging in den letzten Tagen hauptsächlich um das Interview mit diesem amerikanischen Fernsehstar Matt Howard. Er trifft morgen mit dem Flieger von Los Angeles auf dem Flughafen Fuhlsbüttel ein. Er soll eine Gastrolle in einer deutschen Fernsehserie spielen.“

Ein typisches Thema, das die Leser von NUMMER EINS offenbar fieberhaft beschäftigte. Isas persönliches Interesse daran hielt sich in Grenzen. Vor allem aber konnte sie sich nicht vorstellen, dass die junge Journalistin wegen einer solchen Harmlosigkeit sterben musste.

Wenn überhaupt, dann war das „geheime“ Thema gleichzeitig das Mordmotiv. Isa versprach sich einiges von der geplanten Schnüffelei in Nora Fabians Wohnung. Norbert Schröder hatte die Schlüssel der Toten an sich genommen und wollte noch am gleichen Nachmittag mit seinem Spurensicherungsteam dort auflaufen. Ein offizieller Hausdurchsuchungsbefehl war in solchen Fällen sehr leicht zu bekommen.

Vorerst wandte Isa sich wieder an ihre junge Zeugin.

„Bitte schildere mir mit deinen eigenen Worten, wie du Nora vorhin aufgefunden hast, Jasmin!“

„Ja, Frau Kommissarin. – Also, es war kurz nach neun heute Morgen. Wir Praktikanten fangen immer um diese Zeit mit der Arbeit an. Ich fuhr mit dem Lift hoch und ging zu Noras Büro. Mir fiel auf, dass die Tür geschlossen war.“

„Ist das ungewöhnlich?“

„Bei NUMMER EINS schon. Die meisten Journalisten, die hier arbeiten, haben immer ihre Bürotür sperrangelweit offen stehen. Ich finde das auch manchmal nervig, weil man ständig Stimmen hört, die durcheinander reden. Aber die Leute arbeiten viel zusammen, das habe ich schon mitgekriegt. Da wäre es wohl blöd, wenn man jedes Mal an der Tür klopfen müsste, wenn man von dem anderen was will.“

Isa nickte. Sie selbst saß bei der 3. Mordbereitschaft in einem Großraumbüro und nahm die Stimmen ihrer Kolleginnen und Kollegen im Hintergrund schon gar nicht mehr wahr.

„Die Tür war also verschlossen, Jasmin ...“

„Ja. Ich habe geklopft. Es kam keine Antwort. Ich dachte mir, dass Nora vielleicht noch gar nicht da war. Aber dann habe ich mich doch getraut, die Tür aufzumachen. Ich wollte einfach wissen, was los ist. Und dann ... dann habe ich gleich das Blut gesehen.“

Die junge Praktikantin atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Es war Isa natürlich nicht entgangen, dass Jasmin unter Beruhigungsmitteln stand. Aber wenn das nicht so gewesen wäre, hätte sie ihre Zeugenaussage wohl nicht durchgestanden. Da war sich Isa sicher.

„Ich wollte Hilfe holen. Da kam zum Glück gerade der Bildreporter, der im Büro gegenüber residiert. Er hat auch nur kurz durch die Tür gelinst und dann gleich die Polizei und den Notarzt verständigt. Und ... und dann hat er sie fotografiert.“

„Wie bitte?“

„Ja, er meinte, es wäre für alle Fälle gut, ein paar Aufnahmen zu haben.“

Isa nickte. Da sie noch niemals Respekt vor Skandaljournalisten empfunden hatte, konnte sie diesen auch gar nicht verlieren. Entsprechend der zynischen Logik dieser Leute hatte der Mann das einzig Richtige getan. Nämlich für eine sensationelle Story gesorgt ...

„In Ordnung, Jasmin. Kannst du dir vorstellen, warum Nora ihrem Leben selbst ein Ende setzen wollte? Oder hatte sie Feinde, denen du zutrauen würdest, dass sie die Journalistin lieber tot als lebendig sehen wollten?“

Die Praktikantin schüttelte leidenschaftlich den Kopf.

„Nein, Frau Kommissarin. Nora wollte nicht sterben. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Diesen Eindruck hat sie überhaupt nicht auf mich gemacht. Und Feinde? Sorry, da muss ich passen. Sie war ja Klatschjournalistin. Da wird sie wohl dem einen oder anderen auf den Schlips getreten sein. Aber Namen kann ich Ihnen nicht nennen. Ich habe Nora ja erst vor einer Woche kennen gelernt.“

Isa überreichte der Praktikantin eine ihrer dienstlichen Visitenkarten, die sie immer bei sich hatte.

„Bitte ruf’ mich an, wenn dir noch was einfällt, Jasmin. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“

„Logo, das mache ich, Frau Kommissarin. Ich will ja auch, dass Sie den Mistkerl fangen, der Nora das angetan hat.“

Isa nickte der jungen Frau noch einmal zu und verließ die Teeküche. Auf dem Korridor sprach eine Dame in typischer Sekretärinnen-Aufmachung mit einem der uniformierten Polizeikollegen.

„Jedenfalls möchte unser Chefredakteur, Herr Wecker, sobald wie möglich mit dem leitenden Ermittlungsbeamten sprechen.“

Isa trat auf die beiden zu.

„Das lässt sich einrichten. Ich bin Kriminalhauptkommissarin Isa Boysen. Und ich leite die Ermittlungen im Mordfall Nora Fabian.“


Zweites Kapitel

Die Verlagsmitarbeiterin hob die Augenbrauen. Ganz offensichtlich hatte sie nicht erwartet, dass eine junge Frau die Untersuchung führte.

„Im ... Mordfall, Frau Kommissarin? Aber ich dachte, hier liegt ein Selbstmord vor.“

„Für die Schlussfolgerungen ist die Polizei zuständig“, sagte Isa. Das klang arrogant und entsprach daher eigentlich überhaupt nicht Isas Charakter. Aber die ganze Atmosphäre in dieser Klatschredaktion ging der Kriminalistin gegen den Strich. Hier wurde ungeheuer viel Geld verdient, nur weil sich Menschen für das Liebes- und Berufsleben von so genannten Prominenten interessierten. Und wenn die eigene Kollegin elend verblutete, hatte man nichts Besseres zu tun, als die Kamera draufzuhalten!

Das entsprach jedenfalls nicht Isas Vorstellung von einer soliden Art, das tägliche Brot zu verdienen.

Die Frau von NUMMER EINS schlug die Augen nieder.

„Äh, gewiss, Frau Kommissarin. Entschuldigen Sie bitte. Wenn Sie mir dann folgen wollen?“

Isa nickte schweigend. Sie ging hinter der Sekretärin her und hielt dabei ihre Sporttasche so bedeutungsschwer, als würde dieses bereits jede Menge Belastungsmaterial beinhalten. Und nicht ein Paar Schlittschuhe und eine rote Zipfelmütze.

Das Büro von Chefredakteur Raimund Wecker hatte die Größe eines kleinen Tanzsaales. Durch die großen Panoramafenster konnte man das obere Ende der Mönckebergstraße und den Rathausmarkt sehen. Diesen Anblick fand Isa erfreulicher als das Gemälde, mit dem die weiße Wand verziert war. Es stammte offenbar von einem zeitgenössischen Künstler. Bei der Komposition aus Rot und Gelb konnte man unmöglich erkennen, was es darstellen sollte.

Auf den Mann, der unter dem Gemälde in einem schwarzledernen Chefsessel saß, traf das genaue Gegenteil zu. Raimund Wecker verkörperte hundertprozentig einen befehlsgewohnten Erfolgsmenschen. Seine Energie bemerkte man schon an der Art, wie er hochschnellte und Isa seine Rechte entgegenstreckte.

Falls der Chefredakteur irritiert darüber war, eine Frau vor sich zu haben, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Die Kriminalistin gab ihm die Hand. Seine Finger waren manikürt, sein Händedruck fest und angenehm. Mit diesen beiden Eigenschaftswörtern konnte der ganze Mann beschrieben werden, dachte Isa. Jedenfalls auf den ersten Blick.

Raimund Wecker war groß und breitschultrig. Sein Körper steckte in einem grauen Geschäftsanzug, der offensichtlich als Maßarbeit in der Londoner Savile Row angefertigt worden war. Dem Paradies aller Herrenausstatter dieser Welt. Wie so viele Hamburger in Spitzenpositionen hatte auch Wecker eine Vorliebe für das Englische. Und für das Detail, wie Isa sofort feststellte. Ihrem Kriminalistinnenblick entging nicht, dass der Chefredakteur goldene Manschettenknöpfe mit den Initialen R. W. trug. Und natürlich eine dazu passende Krawattennadel mit demselben Signet. Es kam heutzutage nur noch selten vor, dass Männer Oberhemden mit separaten Manschettenknöpfen benutzten. Aber zu Raimund Wecker passte es, ohne dass er dadurch altmodisch wirkte. Isa schätzte ihn auf Anfang bis Mitte fünfzig. Wecker deutete auf den Besucherstuhl, der auf der anderen Seite seines Marmorschreibtisches stand. Die Chefsekretärin servierte unaufgefordert Kaffee.

„Sie wollten mich sprechen, Herr Wecker?“

Mit diesen Worten begann Isa die Unterredung, nachdem die gestylte Dame im Geschäftskostüm den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Außerdem zeigte Isa noch einmal ihre Legitimation, nannte ihren Namen und Dienstrang.

„Ja, Frau Boysen. Zunächst geht es mir darum, wann unsere Arbeit hier wieder normal weiterlaufen kann nach dem bedauerlichen Freitod von Nora Fabian.“

Isa zog die Augenbrauen zusammen.

„Meine Kollegen von der Technischen Abteilung müssten innerhalb der nächsten Stunde mit der Spurensicherung fertig sein. Der Leichnam wird vermutlich in diesen Minuten abgeholt und ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht. – Was veranlasst Sie übrigens zu der Annahme, dass Frau Fabian Selbstmord begangen hat?“

Der Chefredakteur ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er machte eine unbestimmte Handbewegung.

„Nun, ein Mitarbeiter sagte mir, sie hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten ...“

„War das der Kerl, der gleich Fotos von der blutigen Leiche gemacht hat?“

Diese patzige Bemerkung konnte Isa sich nicht verkneifen.

Raimund Wecker zog seine buschigen Augenbrauen zusammen.

„Herr Haller ist nur seiner journalistischen Aufklärungspflicht nachgekommen, Frau Kommissarin.“

„Lassen wir das Thema beiseite. – Ich bin jedenfalls hier, um den Tod von Nora Fabian aufzuklären. Meiner Meinung nach ist es keinesfalls sicher, dass sie freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Daher frage ich Sie, Herr Wecker, ob Ihnen etwas von Drohungen gegen Nora Fabian bekannt ist. Gab es Menschen, die Ihre Mitarbeiterin gehasst haben?“

Der Chefredakteur stand auf und begann damit, zwischen Wand und Schreibtisch auf und ab zu gehen.

„Nun, als Reporterin hat sie sich natürlich nicht immer nur beliebt gemacht. Schließlich ist beispielsweise die Scheidung von Konsul Delgado und seiner Gattin Melissa letztlich auf Enthüllungen von Nora Fabian zurückzuführen, die dann prompt von NUMMER EINS exklusiv veröffentlicht wurden.“

Isa machte sich Notizen.

„Und diesem Konsul ... wie war sein Name? ... würden Sie also zutrauen, Frau Fabian ermorden zu lassen?“

„Um Gottes Willen, nein! Sie schreiben das doch nicht etwa mit? – Frau Boysen, das war nur ein Beispiel. Eines von vielen. Aber es gehört zum Leben von Prominenten, in den Medien zu erscheinen. Und sei es mit einem handfesten Skandal. Letztlich sind wir Journalisten ebenso auf die Stars angewiesen wie sie auf uns.“

„Nun gut, stellen wir die Prominenten zurück, Herr Wecker. Nach meiner beruflichen Erfahrung findet sich der Mörder oftmals im direkten Umfeld des Opfers. Also in der Familie, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz. – Was ist Ihnen über die Angehörigen von Nora Fabian bekannt?“

Der Chefredakteur legte nachdenklich die Stirn in Falten.

„So weit ich weiß, ist ... war Frau Fabian Vollwaise. Sie wurde von einer alten Tante aufgezogen, die aber auch starb, kurz nachdem ihre Pflegetochter volljährig geworden war. Nora Fabian muss damals schon sehr ehrgeizig gewesen sein. Ihre Erbschaft ermöglichte es ihr, die Schule abzuschließen und sofort mit dem Journalistik-Studium zu beginnen.“

„Ich verstehe. Also sind keine näheren lebenden Verwandten vorhanden?“

„Nicht, dass ich wüsste. Aber ich habe so gut wie nie mit Frau Fabian über familiäre Dinge geredet. Wir arbeiten hier sehr hart, Frau Kommissarin. 12- oder 14-Stunden-Tage sind eher die Regel als die Ausnahme. Da bleibt keine Zeit für Privates.“

Mir kommen gleich die Tränen, dachte Isa ironisch. Aber sie sagte: „Dann wissen Sie wohl auch nicht, was Nora Fabian für einen Freundeskreis hatte?“

„Ihre beste Freundin kann ich Ihnen immerhin nennen, Frau Boysen. Die Dame heißt Ines Bern. Sie ist freiberufliche Fotodesignerin und arbeitet auch öfter für NUMMER EINS. Frau Bern kam auch öfter privat hier in der Redaktion vorbei. Natürlich hat sie es so eingerichtet, dass Nora Fabians Arbeit nicht darunter litt. Frau Bern ist selbst professionell genug, um so zu denken.“

Isa notierte sich den Namen.

„Woher wissen Sie so genau, dass Ines Bern Nora Fabians beste Freundin war, Herr Wecker?“

„Weil sie es selbst öfter erwähnt hat. ,Ines ist meine beste Freundin.’ Diesen Satz habe ich mehr als einmal von ihr gehört.“

„Und wie sieht es mit einem Freund oder Liebhaber aus? Nora Fabian war ja zu Lebzeiten sehr attraktiv, wenn ich das richtig sehe.“

Der Chefredakteur zögerte mit seiner Antwort für Isas Geschmack einen Moment zu lange.

„Das sehen Sie richtig, Frau Boysen. Aber da muss ich Sie enttäuschen. Wenn es da einen Mann in Frau Fabians Leben gegeben hat, kann ich Ihnen den Namen nicht nennen.“

Das konnte sich Isa nur schwer vorstellen. Wenn bei NUMMER EINS auch nur halb so viel getratscht wurde wie im Hamburger Polizeipräsidium, dann hätte der Chefredakteur mindestens ein halbes Dutzend möglicher Kandidaten benennen können. Andererseits: Wenn sie, Isa Boysen, sterben sollte und man Dr. Kranach nach ihrem möglichen Liebhaber fragte, dann würde der Kriminaloberrat gewiss länger als ein paar Sekunden herumdrucksen. Und außerdem puterrot anlaufen. Doch der Vergleich hinkte, wie Isa selbst wusste. Sie hielt nämlich Raimund Wecker für viel abgebrühter als ihren eigenen Vorgesetzten ...

„Dann bleibt natürlich noch die Frage offen, ob es hier bei Ihnen im Haus sozusagen Todfeinde von Nora Fabian gibt, Herr Wecker.“

Das Gesicht des Chefredakteurs nahm einen unwilligen Ausdruck an.

„Meinen Sie, wir würden Killer einstellen?“

„Durchaus nicht, Herr Wecker“, entgegnete Isa gelassen. „Doch die meisten Menschen werden nicht als Killer oder Mörder geboren, sondern kommen in eine Situation, die sie einen Menschen töten lässt. Manche tun es wie aus heiterem Himmel, andere planen die Bluttat monatelang minutiös vor. – Ich weiß selbst, dass es am Arbeitsplatz fast überall Reibereien gibt. Mobbing ist ein beliebtes Stichwort dazu. Aber ich habe bewusst von Todfeinden gesprochen. Damit dürfte klar sein, dass es nicht um kleinere Meinungsverschiedenheiten oder Rivalitäten geht.“

„Klar? Sonnenklar, Frau Kommissarin“, höhnte der Chefredakteur. „Aber ich muss Sie trotzdem enttäuschen. In der Redaktion von NUMMER EINS gibt es niemanden, den ich mit gutem Gewissen als Nora Fabians Todfeind bezeichnen könnte.“

„Nun gut.“ Isa schaute ihrem Gegenüber direkt ins Gesicht. „Solange es keine eindeutigen Hinweise auf einen Freitod gibt, muss ich auch einen Mord in Betracht ziehen. Daher frage ich Sie: Wie viele Personen haben nachts zwischen drei und vier Uhr Zugang zu den Redaktionsräumen?“

Wecker legte den Kopf in den Nacken und bewegte stumm die Lippen. Wahrscheinlich rechnete er im Kopf. Schließlich sagte er: „52 Personen, mich selbst eingeschlossen. Jedenfalls lautet so meine erste grobe Schätzung.“

„Ist der Empfang an der Eingangshalle nachts besetzt?“

„Ja, und zwar von einem Wachmann eines privaten Sicherheitsdienstes. Den haben wir sozusagen gemietet. Aber da es sich turnusmäßig immer um dieselben Wächter handelt, kennen sie natürlich meine Mitarbeiter.“

„Und was heißt das?“

„Das bedeutet, wenn zum Beispiel ich selbst um ein Uhr morgens unten hereingeschneit käme, würde mich niemand fragen, was ich hier zu suchen habe.“

„Das ist logisch, Herr Wecker. Gibt es noch einen weiteren Zugang?“

„Ja, einen Nebeneingang. Der kann mit einem Spezialschlüssel im Scheckkartenformat geöffnet werden. Jede feste Mitarbeiterin und jeder feste Mitarbeiter bekommt so einen bei Einstellung ausgehändigt.“

Er griff in die Hosentasche und zog einen entsprechenden Schlüssel-Chip hervor. Wecker ließ das Plastikstück über die Tischplatte flitzen wie einen Poker-Jeton. Isa fing es auf, betrachtete es kurz und schnipste es dann zurück.

„Stechuhren oder ähnliche Zeitkontrollsysteme gibt es bei Ihnen nicht?“, fragte Isa.

„Nein, Frau Kommissarin. Wir sind ja keine Beamten, die stur ihre Stunden absitzen, sondern kreative Köpfe. – Oh, verzeihen Sie bitte! Ich wollte Sie selbst damit keinesfalls beleidigen.“

Arroganter Pinsel!, dachte Isa. Aber sie schenkte dem Chefredakteur ein honigsüßes Lächeln und sagte: „Oh, ich fühle mich auch nicht angesprochen. Zu anderen Zeiten sitze ich in der Tat meine Stunden im Polizeipräsidium ab. Aber heute habe ich meinen freien Tag. Diesen Fall löse ich sozusagen als Freizeitvergnügen. – Vielen Dank für die Informationen, Herr Wecker!“

Isa stand auf und ließ den Chefredakteur etwas ratlos zurück. Er überlegte anscheinend, ob sie ihn hochnehmen wollte oder nicht. Nun, das sollte nicht Isas Problem sein. Die Hauptkommissarin war sicher, dass sie in den nächsten Tagen noch öfter das NUMMER EINS-Gebäude an der Mönckebergstraße würde aufsuchen müssen. Das behagte ihr gar nicht.

Der Hinweis mit dem Schlüssel-Chip war nicht schlecht gewesen, wie Isa fand. Logischerweise müsste ja auch Nora Fabian eine solche Plastikkarte besessen haben. Isa notierte sich im Geist, dass sie die Spurensicherer danach fragen wollte.

Einstweilen verzichtete Isa auf weitere Befragungen in der Redaktion. Sie wollte erst einmal ihre Gedanken ordnen. Außerdem erwartete Dr. Kranach sie wahrscheinlich schon im Präsidium für einen ersten Zwischenbericht.

Ein kalter Wind wehte von der Elbe herüber, als Isa aus dem Verlagsgebäude kam. Möwen flogen kreischend hoch über der Fahrbahn. Die Vögel schienen in der Luft zu stehen. Isa ging die Mönckebergstraße hoch und stieg an der Station Rathaus in die U-Bahn. Sie fuhr mit der U 3 bis Kellinghusenstraße und stieg dort in die U 1 um, die sie nach Alsterdorf im Hamburger Norden brachte. Dort befand sich seit einiger Zeit das neue Polizeipräsidium.

Isa besaß keinen eigenen PKW, da sie während der Arbeit meist ohnehin mit einem Dienstwagen unterwegs war. Als die Hauptkommissarin die Räume der 3. Mordbereitschaft betrat, fiel ihr sofort die gähnende Leere auf. Es machte schon eine Menge aus, wenn so viele Kollegen krankgeschrieben waren. Momentan saß nur Heiner Kuhn an seinem Schreibtisch und telefonierte. Isa blickte sich suchend um.

„Hältst du nach mir Ausschau, Isa?“

Die Kriminalistin zuckte zusammen, als sie die Männerstimme hinter sich hörte. Aber sie hatte Arne natürlich sofort erkannt. Er war offenbar direkt hinter ihr hereingekommen.

„Bilde dir bloß nichts ein, mein Lieber! Ich hatte mich nur gerade gefragt, ob ich den Laden hier allein schmeißen muss. Abgesehen von dem guten Heiner natürlich.“

In Wirklichkeit war es allerdings schon so, dass Isa instinktiv Arnes Nähe suchte. Ihr Verhältnis war neuerdings ziemlich kompliziert geworden. Früher gab es einfach nur eine kollegiale Freundschaft zwischen ihnen. Doch seit Isa einmal mit Arne geschlafen hatte, konnte sie ihm nicht mehr unbefangen begegnen. Und ihm ging es genauso, wie sie wusste.

Immerhin hatte Arne ihr bei dieser Gelegenheit seine Liebe gestanden. Allerdings liebte er gleichzeitig auch seine Frau Svenja, was die Angelegenheit nicht gerade vereinfachte ...

Es war, als ob Arne Isas Gedanken gelesen hätte.

„Svenja ist heute mit Pia zu meinen Schwiegereltern nach Husum gefahren“, sagte der gut aussehende Hauptkommissar. „Sie werden erst in einer Woche zurückkehren.“

„Dann hast du ja jetzt sturmfreie Bude“, neckte Isa ihn. „Startest du heute Abend gleich ein großes Trinkgelage mit deinen Kumpels?“

„Ich bin froh, wenn ich irgendwann im Bett lande“, seufzte Arne. „Da Michael ja nun krank ist, muss ich mich allein um den Raubmord in Barmbek kümmern.“

„Mein Mitgefühl ist dir sicher“, frotzelte Isa. „Jetzt muss ich aber erstmal zum Chef. Er wird mich schon sehnsüchtig erwarten.“

„Du hast doch heute eigentlich frei, oder?“

„Ja, aber die Grippewelle kennt keine Gnade, Arne. – Wir sehen uns dann später, in Ordnung?“

„In Ordnung, Isa.“

Während Isa scheinbar locker zum Büro von Dr. Kranach hinüberging, schlugen ihre Gedanken Purzelbäume.

Warum nur hatte Arne ihr erzählt, dass seine Frau und seine Tochter weggefahren waren? Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein? Wünschte er sich, dass Isa zu ihm kam?

Oh, das wünschte er sich ganz bestimmt. Da war die Kriminalistin sicher. Und sie selbst konnte sich auch nichts Schöneres vorstellen als eine Nacht in Arnes Armen, wenn sie ehrlich war. Doch so einfach waren die Dinge leider nicht.

Isa wollte nämlich Arnes Ehe nicht zerstören. Das hatte nichts mit Selbstaufopferung zu tun. Vielmehr konnte sie nicht ihr eigenes Glück auf dem Unglück anderer aufbauen. Da hatte sie eine innere Sperre.

Doch nun mussten ihre privaten Wehwehchen erst einmal warten. Isa klopfte an die Tür des Kriminaloberrates und trat gleich darauf ein.

Dr. Kranach hockte über unzähligen Akten. Er war ein älterer Mann mit Übergewicht und schlecht sitzenden Anzügen.

„Und?“, bellte Dr. Kranach. „Konnten Sie die Angelegenheit bei NUMMER EINS bereinigen, Frau Boysen?“

Isa merkte sofort, dass ihr Vorgesetzter eine fürchterliche Laune hatte. Er starrte sie an, als ob er ihr am Liebsten ins Gesicht springen würde. Wenn Isa jetzt auch noch erwähnte, dass sie nicht an einen Selbstmord glaubte, würde Dr. Kranach einen Tobsuchtsanfall bekommen. Da half nur weibliche List ...

„Jawohl, Herr Dr. Kranach“, sagte Isa daher scheinbar brav. „Ich denke, dass wir es eindeutig mit einem Freitod zu tun haben. Darum sollten wir die Akte möglichst schnell schließen, bevor die Medien, besonders das Fernsehen, die Sache zu sehr aufbauschen ...“

Dr. Kranach war hellhörig geworden.

„Das Fernsehen? Aufbauschen? Wieso?“

„Das Opfer, diese Nora Fabian, war wohl selbst recht prominent, Herr Kriminaloberrat. Zumindest eine Zeugin zweifelt unsere Selbstmordtheorie an. Ich halte das natürlich für überzogen, aber ...“

„Nicht so eilig, Frau Boysen. Und was tun wir, falls diese Nora Fabian wirklich ermordet wurde? Dann steht die Kripo Hamburg wieder einmal dumm da. – Ermitteln Sie ruhig weiter, Frau Boysen. Prüfen Sie, ob nicht vielleicht doch ein Mord vorliegt. Ich werde gleich mal beim NDR anrufen und fragen, ob das Fernsehen einen Kommentar von mir haben will. Eine Bluttat mitten in einer Zeitschriftenredaktion – das ist doch spektakulär genug, sollte man meinen.“

Die Aussicht auf einen Fernsehauftritt hatte Dr. Kranachs Laune sofort gebessert. Es war nämlich seine große Leidenschaft, vor laufende TV-Kameras zu treten.

„Ja, dann werde ich auch die Möglichkeit einer Ermordung berücksichtigen“, sagte Isa. Sie konnte kaum ihre Freude darüber verhehlen, dass Dr. Kranach ihr wieder einmal auf den Leim gegangen war.

„Ich hatte Ihnen ja von Anfang an gesagt, dass eine Fremdeinwirkung dahinter steckt. Aber Sie hören ja nie zu. Nun aber an die Arbeit mit Ihnen, Frau Boysen!“

Isa verließ den Raum. Zwar hatte ihr Vorgesetzter nie etwas in der Art geäußert, aber die Kriminalistin hatte sich schon längst daran gewöhnt, dass Dr. Kranach ihr gerne das Wort im Mund verdrehte oder ihre Einfälle als seine eigenen genialen Vorschläge ausgab. Es war ihr auch egal, solange sie ihre Pläne verfolgen konnte.

Die Kriminalistin ging zu ihrem Schreibtisch. Sie rief Norbert Schröder auf dessen Handy an.

„Hier spricht Isa. Wann nehmt ihr euch die Wohnung von dieser Nora Fabian vor?“

„Hallo, Isa“, erwiderte der Leiter des Spurensicherungsteams. „Ich denke mal, dass wir in einer Stunde dort sein können. Wollen wir uns da treffen?“

„Ja, gern. Ich werde euch schon nicht im Weg herumstehen.“

Es kam Isa nämlich darauf an, sich möglichst schnell ein Bild von der Ermordeten zu machen. Wenn die Kriminalistin das Opfer besser kennen lernte, würde sie auch den Täter schneller ermitteln können. Das hatte die Erfahrung immer wieder gezeigt.

Eine Stunde Zeit also. Isa fuhr schnell nach Hause, um ihre Kleidung zu wechseln. Ihr sportlicher Look war zum Eislaufen genau richtig gewesen. Aber als Ermittlerin trat sie doch lieber etwas seriöser auf. Außerdem wollte sie nicht den ganzen Tag lang diese Schlittschuhe mit sich herumschleppen.

Zum Glück wohnte Isa nicht allzu weit vom Präsidium entfernt. Sie hatte eine restaurierte Altbau-Wohnung mit zwei Zimmern in Hoheluft.

Auch für eine Dusche und einen Jogurt im Stehen war noch Zeit. Dann warf sich Isa in ein rostfarbenes Tweedkostüm mit knielangem Rock und dazu passendem karamellfarbenen Rollkragenpulli. Eine blickdichte dicke Strumpfhose war genau das Richtige bei den frostigen Dezember-Temperaturen. Nun zog Isa noch pelzgefütterte Stiefeletten an und war bereit.

Nora Fabian hatte am Schwanenwik gewohnt. Das war eine exklusive Straße mit Panoramablick auf die Außenalster. Wer dort wohnte, nagte ganz bestimmt nicht am Hungertuch. Die Kriminalistin traf offenbar nur wenige Minuten nach dem Spurensicherungsteam ein. Die Kollegen begannen gerade damit, ihre Ausrüstung aufzubauen.

Isa verschaffte sich zunächst einen allgemeinen Überblick. Das Apartment des Mordopfers war ein Neubau, schätzungsweise allerhöchstens zehn Jahre alt. Die drei Zimmer erinnerten Isa allerdings eher an die Ausstellungsräume eines exklusiven Möbelhauses als an die Wohnung eines lebendigen Menschen. Doch dafür konnte es eine ganz einfache Erklärung geben. Wenn nämlich die Journalisten von NUMMER EINS wirklich so lange arbeiteten, wie Raimund Wecker behauptete, dann war Nora Faber oftmals wohl nur zum Schlafen nach Hause gekommen.

Langsam streifte die Kriminalistin durch die Wohnung. An den Wänden hingen vergrößerte Fotos von ausländischen Städten bei Nacht: New York, Buenos Aires, Kairo, Paris, Moskau, Athen. Isa verstand nicht viel von Foto-Design. Aber es kam ihr so vor, als würden alle diese Bilder sozusagen dieselbe Handschrift tragen.

Ob sie von Ines Bern stammten, der besten Freundin des Mordopfers?

Das würde sich herausfinden lassen. Genau wie ihre Kollegen von der Technischen Abteilung hatte Isa sich Einweg-Untersuchungshandschuhe aus Plastik übergestreift. Sie wollte den Spurensicherern zwar nicht ins Handwerk pfuschen, aber gerade deshalb legte sie Wert darauf, keine Spuren unabsichtlich zu zerstören.

Die Hauptkommissarin hatte zunächst nur flüchtig ins Wohnzimmer, Schlafzimmer und Arbeitszimmer geschaut. Dann nahm sie sich die Küche vor. Die Einbauelemente wirkten nagelneu und blitzblank. Es sah jedenfalls nicht so aus, als ob Nora Fabian jemals ein Küchengerät benutzt hätte – wenn man einmal von Kaffeemaschine, Toaster und Mikrowelle absah.

Der Panoramablick auf die Außenalster war Wohn- und Schlafzimmer vorbehalten. Von der Küche aus schaute man nur auf einen begrünten Parkstreifen. Doch das interessierte Isa weniger. Sie konzentrierte sich auf ein schwarzes Brett aus Kork, das zwischen Fenster und Geschirrspüler an der Wand hing. Dort befand sich das übliche Sammelsurium aus Menükarten vom Pizzaservice, entwerteten Eintrittstickets, Schnappschüssen, Mitteilungen der HEW (Hamburger Elektrizitätswerke) und sonstigen Nutzlosigkeiten.

Ein Polaroid-Foto zeigte einen jungen Mann im Smoking. Seinen schwarzen Querbinder hatte er gelöst. Er schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein und lachte in die Kamera.

Der Knabe sah nicht übel aus, wie Isa fand. Ein Schönling war er andererseits aber auch nicht. Jedenfalls hatte es im Leben von Nora Fabian zumindest einen Mann gegeben. Jetzt musste Isa nur noch herausfinden, was für eine Beziehung sie zu ihm gehabt hatte. Liebhaber? Bester Freund? Große Liebe? Arbeitskollege? Ehemaliger Schulkamerad?

Isa wollte das Foto auf jeden Fall an sich nehmen, falls die Spurensicherung nichts damit anfangen konnte. Eine Postkarte weckte ebenfalls Isas Neugier. Es war eine Ansichtskarte aus Hongkong. Sie zeigte die Skyline der ostasiatischen Metropole. Außerdem waren dort die Worte „Greetings from Hongkong“ zu lesen. Darunter standen chinesische Schriftzeichen, die vermutlich dasselbe aussagten.

Die Kriminalistin löste vorsichtig die Nadel, mit der die Karte an der Pinnwand befestigt war. Dann nahm sie den papierenen Gruß herunter und drehte das Stück bunter Pappe um.

„Liebe Nora, herzliche Grüße aus dem Perlflussdelta. Schade, dass du nicht hier bist. In Hongkong kann man wunderbar shoppen. Bis bald an der Elbe, deine Ines.“

Ein freundlicher, wenn auch nichts sagender Kartengruß, wie Isa fand. Ines, das war höchstwahrscheinlich Ines Bern. Die Schreiberin hatte das Datum weggelassen, aber der chinesische Poststempel zeigte den 23. Oktober. Demnach musste Ines Bern längst wieder in Hamburg sein. Falls sie sich nicht gerade in einer völlig anderen Weltgegend bewegte ...

„Isa!“

Der Ruf eines Spurensicherers riss sie aus ihren Überlegungen. Die Kriminalistin fühlte sich beinahe schuldbewusst, weil sie eigenmächtig die Karte abgenommen hatte. Andererseits: Sie war keine Anfängerin mehr, die durch Tölpelhaftigkeit wichtige Spuren zerstörte.

Isa drehte sich zu dem Kollegen von der Technischen Abteilung um. Er kam zu ihr hinüber. In der rechten Hand hielt er eine Plastiktüte, in der Beweismaterial aufbewahrt und katalogisiert wurde.

Die Ermittlerin riss die Augen auf, als sie den kleinen Gegenstand sah, der sich in dem Behältnis befand.

„Kannst du damit etwas anfangen?“ Der Kollege grinste. „Du musst nicht antworten, Isa. Dein Gesicht spricht Bände ...“

„So, tut es das?“ Isa war völlig aus dem Häuschen. „Wo habt ihr das gute Stück denn sichergestellt?“

„Unter dem Bett. Eigentlich ist die Wohnung ja tadellos sauber, wie du mir bestätigen wirst. Hier muss eine verflixt gute Putzfrau am Werke sein. Aber hundertprozentig perfekt ist sie doch nicht.“

„Zum Glück!“, rief Isa. „Kann ich das haben? Ihr kriegt es auch später wieder. Aber ich brauche es jetzt sofort.“

„Es ist noch nicht kriminaltechnisch untersucht, wie du dir denken kannst. Da muss ich erst den Großen Meister fragen.“

Der Techniker wandte sich an Norbert Schröder. Der Teamleiter war nicht begeistert davon, dass Isa das Beweisstück jetzt schon an sich nehmen wollte.

„Ihr bekommt es auch später wieder!“, bettelte die Hauptkommissarin. „Aber ich will einen Verdächtigen damit konfrontieren, Norbert. Bitte!“

„Also gut“, schmunzelte der oberste Spurensicherer. „Du wirst schon nicht damit stiften gehen.“

„Du bist ein Schatz! Ihr bekommt es noch heute Abend zurück.“

Mit diesen Worten machte sich Isa davon. Ihre rechte Hand hielt die Plastiktüte umklammert. Sie lief die Treppe hinab und rief sich per Handy ein Taxi herbei. Isa hatte jetzt nicht die Ruhe, um Öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Doch bei der Taxizentrale kam sie nicht durch.

Isa fluchte undamenhaft. Da kam ihr der Zufall zu Hilfe. Ein Streifenwagen fuhr langsam am Schwanenwik herunter Richtung Sechslingspforte. Die Hauptkommissarin gestikulierte wild. Das Einsatzfahrzeug, das in Hamburg „Peterwagen“ genannt wird, fuhr an die Bordsteinkante.

Isa riss die hintere Tür auf und ließ sich in den Fonds fallen.

„Könnt ihr mal bitte Taxi für mich spielen?“

„Was erlauben Sie sich?“, knurrte der junge uniformierte Polizist am Lenkrad. Doch sein älterer Kollege lachte.

„Schon gut, Thorsten. Die Lady gehört zu uns, kapierst du? Das ist Kriminalhauptkommissarin Isa Boysen. – Wo soll’s denn hingehen, Isa?“

„Zur Mönckebergstraße, Werner.“

Der Polizist blinzelte.

„Aber nicht zum Shoppen, oder?“

„Nicht direkt“, erwiderte Isa trocken. „Ich will mir nur einen Verdächtigen kaufen.“

„Wenn’s weiter nichts ist ... Drück’ auf die Tube, Thorsten!“, sagte Werner. Der ältere Obermeister war offenbar Streifenführer in dem Peterwagen.

„Tja, in der Vorweihnachtszeit ist Hamburg schwer zu verdauen“, sinnierte Werner.

Normalerweise war Isa immer für ein Schwätzchen mit Kollegen zu haben. Doch momentan waren ihre Gedanken bei dem Verdächtigen, der sich durch das Beweisstück in ihrer Tasche zum Hauptverdächtigen gemausert hatte.

„Könnt ihr Blaulicht und Sirene anstellen?“, bat Isa, nachdem sie ihr Fahrtziel genannt hatte. „Mir ist nach einem dramatischen Auftritt zu Mute. Ihr braucht aber nicht auf mich zu warten, sondern könnt dann gleich weiterfahren.“

„Für dich tun wir doch alles. – Lass krachen, Thorsten!“

Da die Mönckebergstraße außer für Busse und für Taxis ohnehin für den Verkehr gesperrt war, gab es keine Probleme mit dem Durchkommen. Umso mehr Aufmerksamkeit erzielte der Peterwagen, als er mit gellenden Sirenen direkt vor dem Verlagsgebäude von NUMMER EINS zum Stehen kam.

Isa bedankte sich noch einmal bei den Polizeikollegen und sprang aus dem Auto. Ihren blauen Dienstausweis hatte sie am Revers ihres Tweed-Kostüms befestigt. Sie wollte ihrem Hauptverdächtigen eine Szene machen, die er so schnell nicht vergessen würde.

Die Ermittlerin stürmte in das Gebäude. Die Schönheit hinter dem Empfangstresen schaute irritiert aus der Wäsche.

„Ich will zu Raimund Wecker“, zischte Isa, „und unterstehen Sie sich, ihn telefonisch vorzuwarnen!“

Bevor die Frau antworten konnte, fuhr Isa mit dem Lift hoch in die Chefetage. Auch die Chefsekretärin war auf Isas resolutes Auftreten nicht vorbereitet.

„Wo ist Wecker? In seinem Büro?“, wollte Isa wissen.

„Nein, er leitet gerade die Redaktionssitzung.“

„Wo ist das?“

„Im Besprechungssaal am Ende des Flures. Aber Sie können dort nicht ...“

„Das werden wir ja sehen!“

Isa brauchte niemandem Wut vorzuspielen. Von diesem Gefühl hatte sie jede Menge im Bauch. Dieser aalglatte Kerl hatte sie scheinheilig an der Nase herumgeführt, ihr Informationen vorenthalten. Es war immerhin tröstlich, dass er nur wenige Stunden lang damit durchgekommen war.

Isa riss die Tür zum Konferenzraum auf. Raimund Wecker saß am Ende eines langen Tisches, der zu beiden Seiten mit Journalistinnen und Journalisten von NUMMER EINS bevölkert war. Auf dem Tisch lagen Papiere und Kladden, Fotos, Kaffeetassen und das übliche Besprechungs-Sammelsurium. Der Chefredakteur starrte die Kriminalistin ungehalten an.

„Frau Boysen! Was soll das? Sind Sie wahnsinnig geworden?“

„Das glaube ich nicht, Herr Wecker“, antwortete Isa mit eisiger Stimme.

Sie ging an dem ganzen langen Tisch entlang, bis sie direkt neben dem Stuhl des Chefredakteurs stand.

„Im Mordfall Nora Fabian sind neue Beweise aufgetaucht“, sagte die Kriminalistin, jedes Wort betonend. Sie zog die Plastiktüte hervor. Aber sie hielt sie so, dass nur Wecker ihren Inhalt sehen konnte.

Die Tüte enthielt einen goldenen Manschettenknopf mit den Initialen R. W. Die Spurensicherer der Kripo Hamburg hatten den Gegenstand unter dem Bett der Ermordeten gefunden.


Drittes Kapitel

Raimund Weckers Gesicht nahm eine graue Farbe an.

„Die ... die Sitzung ist einstweilen vertagt. Jeder macht sich an ... an seine Arbeit. Wenn es noch Unklarheiten gibt, könnt ihr später einzeln mit mir sprechen. Aber jetzt muss ich erstmal die Kripo ... äh ... nun ja.“

Ein allgemeines Volksgemurmel erhob sich. Die Journalistinnen und Journalisten standen auf. Isa knöpfte wie zufällig ihr Jackett auf. Nun wurde ihre Dienstwaffe sichtbar, die sie in einem Clipholster am Rockgürtel trug. Sie schnitt ein so grimmiges Gesicht, als ob sie Raimund Wecker gleich mit vorgehaltener Pistole verhaften wollte. Und dazu hatte sie wirklich nicht übel Lust.

Der Konferenzraum leerte sich. Schließlich waren Isa und der Chefredakteur allein. Die Kriminalistin lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tisch. Sie hatte die Arme vor ihren Brüsten verschränkt und schaute Raimund Wecker direkt ins Gesicht.

„Ich warte.“

Der Chefredakteur rang die Hände. Deutlich konnte man seinen goldenen Ehering erkennen. Von seinem morgendlichen Selbstbewusstsein war nicht viel übrig geblieben.

„Wo ... wo haben Sie diesen Manschettenknopf gefunden, Frau Kommissarin?“

„Was glauben Sie, wo die Kriminalpolizei dieses Beweisstück sichergestellt hat?“, fragte Isa zurück. Sie hatte ihre Worte bewusst so gewählt. Der Chefredakteur sollte kapieren, dass er es nicht mit einer einzelnen Person zu tun hatte. Sondern dass Isa Boysen die Kripo Hamburg und damit letztlich die Justiz repräsentierte.

Wecker machte eine unbestimmte Handbewegung, fuhr sich durch sein grau meliertes Haar.

„Der Manschettenknopf wird irgendwo in Nora Fabians Wohnung herumgelegen haben. Aber das beweist noch gar nichts ...“

„Oh doch! Sie, Herr Wecker, haben heute Morgen mir gegenüber eine wissentliche Falschaussage gemacht. Ich fragte Sie, ob Sie etwas über Nora Fabians Beziehungen zu Männern wüssten. Sie behaupteten, dazu nichts sagen zu können. Und verschwiegen mir dabei, dass die Ermordete Ihre Geliebte war!“

„Meine Geliebte“, wiederholte der Chefredakteur und senkte den Blick. „Das können Sie mir nicht beweisen.“

„Verkaufen Sie mich nicht für dumm!“, sagte Isa scharf. „Das könnte Ihnen nämlich schlecht bekommen. Einer meiner Kollegen hat diesen Manschettenknopf unter dem Bett von Frau Fabian gefunden. Man benötigt nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie er dahin gekommen ist.“

„Verstehen Sie mich doch, Frau Kommissarin! Ich bin verheiratet ...“

„Das sind die meisten Männer, die sich eine Geliebte halten“, höhnte Isa.

„Jedenfalls konnten Nora und ich unsere ... Affäre bisher bei NUMMER EINS erfolgreich geheim halten. Da dachte ich, es wäre auch Ihnen gegenüber möglich. Aber ich habe die Kripo Hamburg offensichtlich unterschätzt.“

„Offensichtlich“, stimmte die Kriminalistin zu. „Warum war es Ihnen denn so wichtig, diese Liebschaft unter der Decke zu behalten? Viele Männer in Ihrem Alter brüsten sich doch förmlich damit, wenn sie eine so junge und schöne Geliebte haben wie Nora Fabian.“

„Männer in meinem Alter“, wiederholte Wecker gekränkt. „Wie das klingt ... Aber ich will Ihnen den Grund nennen, Frau Kommissarin. Die Mitarbeiter sollten nichts von Nora und mir erfahren, damit Noras berufliche Fähigkeiten nicht in den Schmutz gezogen wurden. Sie war nämlich wirklich eine Spitzenreporterin. Aber wenn unsere Affäre bekannt geworden wäre ...“

„Ich verstehe, Herr Wecker. Dann hätte es geheißen, dass Nora Fabian nur deshalb zur Starreporterin gemacht wurde, weil sie mit dem Chefredakteur ins Bett geht.“

„Genauso ist es, Frau Kommissarin. Und ein solches Urteil wäre einfach unfair für ,die Nachtigall’ gewesen.“

„Wie bitte?“

„Ach so, der Name kommt Ihnen seltsam vor. Nora wurde hier bei NUMMER EINS gerne ,die Nachtigall’ genannt. Ein sehr treffender Spitzname, wie ich finde.“

„Warum?“

„Nun, zunächst ist die Nachtigall ein schönes Tier. Und dieser Vogel kann herrlich singen. Gesungen hat Nora zwar nicht, aber sie verstand es hervorragend, Prominente in Interviews zum Singen zu bringen. Ihnen also Neuigkeiten zu entlocken.“

„Gut und schön, Herr Wecker. Aber es bleibt dabei, dass Sie bei einer Morduntersuchung falsche Angaben gemacht haben. Ich muss Sie daher bitten, mir zu sagen, wo Sie in der vergangenen Nacht zwischen drei und vier Uhr morgens gewesen sind.“

„In meinem Bett, nehme ich an.“

„Gibt es dafür Zeugen?“

„Ja, meine Frau. – Moment mal! Glauben Sie vielleicht, ich hätte Nora ...?“

„Ich glaube gar nichts, Herr Wecker. Aber Sie haben bereits in einer Morduntersuchung falsche Angaben gemacht. Außerdem geben Sie an, der Liebhaber von Nora Fabian gewesen zu sein. Also könnte es auch ein Motiv geben.“

„Ein Motiv für einen Mord?“

„Eifersucht, beispielsweise“, sagte Isa schulterzuckend. „Die Tote war zu Lebzeiten offenbar eine sehr attraktive Frau. Warum hätten Sie der einzige Mann in Noras Leben sein sollen?“

Der Chefredakteur schüttelte den Kopf.

„Ich hätte Nora niemals töten können. Ich habe sie geliebt.“

Isa glaubte ihm kein Wort. Aber andererseits hatte Raimund Wecker ein Alibi vorzuweisen. Zumindest theoretisch. Wenn seine Frau bestätigte, dass er zwischen drei und vier Uhr morgens zu Hause gewesen war, dann war er als Verdächtiger einstweilen aus dem Rennen.

Die Kriminalistin ließ sich seine Privatanschrift geben. Wecker wohnte in Övelgönne, einem feinen Elbvorort.

„Sie wollen doch nicht meine Frau in diese ... Angelegenheit hineinziehen, Frau Kommissarin?“

„Mir geht es nur um das Alibi, Herr Wecker. Wenn Sie unschuldig sind, haben Sie von der Polizei nichts zu befürchten. – Aber ich wiederhole meine Frage von heute Morgen. Gibt es ein Thema, mit dem sich Nora Fabian möglicherweise unbewusst in tödliche Gefahr gebracht hat?“

Isa überlegte, ob sie dem Chefredakteur von der Geheimstory erzählen sollte, die Jasmin Ehlers erwähnt hatte. Aber sie entschied sich einstweilen dagegen. Das konnte die Ermittlerin immer noch tun.

Raimund Wecker legte die Stirn in Falten. Er schien angestrengt nachzudenken. Nun, da er selbst mordverdächtig war, hatte er natürlich ein sehr großes Interesse daran, dass der wahre Täter gefasst wurde. Falls der Chefredakteur es nicht selbst getan hatte ...

„Ich bedaure, Frau Boysen“, sagte er schließlich. „Mir fällt nichts ein.“

Isa blieb hartnäckig.

„Nun gut. Aber was ist mit Kolleginnen und Kollegen hier im Haus? Ich habe Sie das zwar schon einmal gefragt, Herr Wecker, aber Sie verstehen sicher, dass Ihre Position sich inzwischen verschlechtert hat.“

Der Chefredakteur wand sich wie ein Aal.

„Das ist wirklich nicht ... aber wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Es gab hier schon öfter knallharte berufliche Eifersüchteleien. Ich habe immer versucht, den Streit zu schlichten. Allein schon, um Nora zu schützen. Aber ihre schärfste Konkurrentin hat wirklich Haare auf den Zähnen!“

Isa seufzte.

„Hat diese Dame auch einen Namen?“

„Laura Jandek. Sie ist Gesellschaftsreporterin, genau wie ,die Nachtigall’ es war. Und sie hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie Nora Fabian beruflich ausstechen will.“

Isa hatte schon längst ihr Notizbuch aus ihrer Umhängetasche gezogen. Sie notierte sich den Namen.

„Es gibt aber keinen Beweis dafür, dass Laura Nora ermordet hat!“, betonte der Chefredakteur.

„Jedenfalls existiert kein Beweis, den Sie kennen, Herr Wecker“, stellte Isa richtig. „Denn wenn Sie einen solchen Beweis vor mir verbergen würden, könnte ein Gericht das als Beihilfe zum Mord oder Vertuschen einer Straftat auffassen.“

Der Redaktionsleiter wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht.

„Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie knallhart sind, Frau Kommissarin?“

„Ich nehme das mal als Kompliment. Aber ich bin mit Ihnen noch nicht fertig, Herr Wecker. – Mich interessieren nämlich andere Männer in Nora Fabians Leben. Wenn Sie nichts von Liebhabern wissen oder wissen wollen, die Nora gleichzeitig mit Ihnen gehabt haben könnte, muss ich das hinnehmen. Aber Sie werden doch wenigstens über Ihren Vorgänger Bescheid wissen. – Oder wollen Sie mir erzählen, Nora Fabian sei noch Jungfrau gewesen, bevor sie mit Ihnen ... nun ja.“

Wecker warf Isa einen beinahe hasserfüllten Blick zu. Aber er traute sich nicht, aufzumucken.

„Sie wollen es wohl ganz genau wissen, wie? Ich hätte mir ja denken können, dass eine Morduntersuchung kein Zuckerschlecken ist. – Also gut, ihr früherer Freund heißt Peter Tillmann. Sie hat mit ihm im Sommer Schluss gemacht. Ungefähr um die Zeit, als sie mit mir zusammengekommen ist.“

„Dann kann man also sagen, dass Sie seit ungefähr einem halben Jahr eine Affäre mit Nora Fabian hatten“, sagte Isa. Der Chefredakteur nickte.

„Wissen Sie noch mehr über diesen Peter Tillmann? Beispielsweise seinen Beruf und seine Adresse?“

„Nein, Frau Kommissarin. Das interessiert mich ehrlich gesagt nicht. Ich war nur froh, dass Nora mit ihm Schluss gemacht hat, um mit mir zusammenzukommen.“

„Sie waren also der Grund für das Ende der Beziehung“, vergewisserte sich Isa. Wecker nickte abermals. Die Kriminalistin wollte diesem Ex-Freund der Ermordeten ebenfalls auf den Zahn fühlen. Vielleicht war er ja der Mann auf dem Polaroid, das am schwarzen Brett in Noras Küche gehangen hatte?

Isa wollte dieses Foto unbedingt haben, sobald die Kriminaltechnik es freigab. Aber zunächst musste sie selbst ihr Versprechen halten und den Kollegen von der Technischen Abteilung den Manschettenknopf zurückgeben.

Die Hauptkommissarin dachte einen Moment nach. Dann sagte sie: „Sie sind jetzt viel ehrlicher zu mir als heute Morgen, Herr Wecker. Darum möchte ich Ihnen noch einmal die ernsthafte Frage stellen, ob Sie Nora Fabian einen Selbstmord zutrauen.“

Die graue Gesichtsfarbe des Chefredakteurs wurde noch um einige Nuancen ungesünder. Isa musste ihm mit widerwilligem Respekt zugestehen, dass er sich gut im Griff hatte. Falls Wecker nicht der Mörder war, dann hatte für ihn der Arbeitstag mit der Nachricht begonnen, dass eine seiner besten Mitarbeiterinnen – und zudem noch seine Geliebte – mit aufgeschnittenen Pulsadern im Büro aufgefunden worden war. Diese Nachricht hätte einen schwächeren Mann glatt aus der Bahn geworfen. Doch allmählich ließ auch Raimund Wecker Federn. Isa musste keine Psychotante sein, um das zu erkennen.

Der Chefredakteur rang sichtbar um Fassung, als er antwortete.

„Ich habe mir diese Frage heute schon unendlich oft gestellt, Frau Boysen. Und ich kann mir einfach keine Ursache vorstellen, die eine so große Verzweiflung bei Nora ausgelöst haben könnte. Natürlich hatte sie auch einmal Stress oder war gelegentlich launisch. Aber sie war eine starke Frau, die mit dem anstrengenden Leben einer Starreporterin sehr gut zurechtgekommen ist. So würde ich das jedenfalls sehen.“

Isa klappte ihr Notizbuch zu.

„Das wäre alles für den Moment, Herr Wecker. – Wo kann ich Laura Jandek finden?“

„Sie hat hier im Haus einen Büroarbeitsplatz. Aber da trifft man sie nur selten an. Frau Jandek ist ständig bei Veranstaltungen und Empfängen, um etwas über interessante Leute zu erfahren.“

„Ich verstehe. Dann geben Sie mir bitte ihre Handynummer.“

Der Chefredakteur tat es. Isa steckte den Zettel in ihr Kostümjackett.

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Herr Wecker.“

Isas Gegenüber brachte ein halb komisches, halb verzweifeltes Grinsen zu Stande.

„Mir blieb wohl keine andere Wahl, Frau Boysen.“

„Nein, nicht wirklich. – Ich melde mich bei Ihnen, falls es noch weitere Fragen gibt.“

Isa verabschiedete sich mit einem Händedruck von dem Chefredakteur. Ihre Wut, die sie bei ihrem Eintreffen noch empfunden hatte, war inzwischen verraucht. Wecker war ihr nach wie vor nicht sympathisch. Aber Isa erwartete auch nicht, dass alle Menschen nett und freundlich waren. Sie zeigte sich schon zufrieden, wenn die Leute keine Morde begingen ...

Die Kriminalistin fuhr einstweilen mit der U-Bahn zurück ins Präsidium. Für ihre weiteren Aktivitäten an diesem Tag ließ sie sich unten in der zentralen Fahrbereitschaft einen Wagen geben. Es war ein unauffälliger Audi mit Polizei-Funkgerät.

Doch bevor Isa nun motorisiert erneut losdüste, überflog sie an ihrem Schreibtisch ihre eigenen Notizen.

Rätselhaft war das einzelne Babysöckchen. Isa beschloss, es kriminaltechnisch untersuchen zu lassen. Was hatte Nora mit dem Kinder-Kleidungsstück vorgehabt? Deutete es vielleicht auf ihre „Geheimstory“ hin, an der sie arbeitete? Isa geriet ins Grübeln. Dann griff sie zum Telefonhörer und wählte die Einsatzzentrale der Hamburger Polizei.

„Hier spricht Hauptkommissarin Boysen von der 3. Mordbereitschaft. Ich habe eine große Bitte an euch.“

„Was soll’s denn sein?“, fragte der Kollege.

„Könnt ihr mir Bescheid geben, wenn bei einem Einsatz Babys im Spiel sind? Also wenn beispielsweise Kleinkinder gefunden werden oder ...“

„Schon klar, Isa“, sagte der Polizeikollege in der Zentrale. „Ich gebe es auch an die anderen weiter. In Hamburg rückt kein Peterwagen aus, ohne dass wir Wind davon bekommen. – Sollen wir dann bei dir anrufen?“

„Ja, bitte. Wenn ich nicht im Präsidium bin, wird es ein Kollege entgegennehmen.“

Isa bedankte sich noch einmal und legte auf. Gleichzeitig fiel ihr wieder ein, wie ausgestorben die Abteilung doch wirkte. Nun, notfalls würde man das Gespräch zu Dr. Kranach durchstellen. Ihr Vorgesetzter wäre bestimmt begeistert davon, für Isa den Laufburschen spielen zu dürfen ...

Die Hauptkommissarin schaute noch in der Technischen Abteilung vorbei und gab das Babysöckchen dort ab. Isa hatte Glück. Sie durfte das Polaroid-Foto von dem jungen Mann im Smoking mitnehmen. Dort ließen sich keine verwertbaren Fingerabdrücke und auch sonst keine brauchbaren Spuren feststellen, wie sie erfuhr.

„Habt ihr eigentlich irgendwo in der Kleidung, am Arbeitsplatz oder in der Wohnung der Toten so einen Plastikschlüssel zum Türöffnen gefunden?“, wollte Isa wissen.

„Du meinst so ein Scheckkarten-Ding? Nein, Fehlanzeige“, lautete die Antwort.

Das war nur ein kleiner Hinweis, aber er untermauerte Isas These von einem Mord. Warum sollte Nora Fabian ausgerechnet kurz vor ihrem Tod den Plastikschlüssel verlieren? Viel einleuchtender war es, dass die Mörderin oder der Mörder ihn an sich genommen hatte. Um damit nämlich ungesehen das Gebäude verlassen zu können.

Isa dachte weiter über den Tathergang nach, während sie das Büro der 7. Mordbereitschaft verließ, in der Tiefgarage in den Audi stieg und Richtung Övelgönne brauste.

Für Isa stand längst fest, dass die Täterin oder der Täter sich bei NUMMER EINS gut ausgekannt haben musste. Aber traf das nicht auf alle bisherigen Verdächtigen zu? Der Chefredakteur Wecker war dort bekannt wie ein bunter Hund. Auch Noras Konkurrentin Laura Jandek war bei der Illustrierten angestellt. Peter Tillmann arbeitete zwar nicht bei NUMMER EINS. Doch wenn er länger mit Nora verbandelt gewesen war, würde der Wachmann ihn vielleicht ins Gebäude gelassen haben, ohne argwöhnisch zu werden. Das musste Isa noch checken.

Die Hauptkommissarin fand Weckers Adresse in Övelgönne auf Anhieb. Der Chefredakteur war nicht reich genug, um sich ein Haus mit Elbblick leisten zu können. Doch sein Einfamilienhaus befand sich trotzdem in einer Lage, um die ihn 99 Prozent der durchschnittlich verdienenden Hamburger beneidet hätten.

Isa läutete. Eine kleine, scheu dreinblickende Frau öffnete ihr.

„Polizei?“, hauchte Helga Wecker, als Isa ihren Dienstausweis präsentierte. Die Gattin des Chefredakteurs war einen Kopf kleiner als die 1,72 m messende Isa. Neben ihrem bulligen Ehemann musste Helga Wecker fast winzig wirken.

Isa ließ sich in den Salon führen und kam sofort zur Sache. Helga Wecker fiel aus allen Wolken. Oder sie war eine erstklassige Schauspielerin. Für eine solche hielt die Kriminalistin sie allerdings nicht. Isa hatte genügend Menschenkenntnis, um das beurteilen zu können.

„Nora Fabian, im Büro ermordet? Nein, wie schrecklich! Mein Mann hat immer so viel von ihren Fähigkeiten gehalten ...“

Isa kniff die Augen zusammen. Wusste Helga Wecker wirklich nicht, dass ihr Göttergatte sie mit seiner Starreporterin betrogen hatte? Momentan deutete nichts darauf hin. Auch Isas Frage nach Raimund Weckers Alibi wurde von dessen Frau arglos beantwortet.

„Raimund ist um sieben Uhr morgens aufgestanden, wie immer. Vorher bestimmt nicht. Oder nur, um zur Toilette zu gehen. Ich habe einen ganz leichten Schlaf, Frau Kommissarin. Ich hätte bestimmt gehört, wenn Raimund zwischen drei und vier Uhr morgens nicht im Bett gewesen wäre. Aber er war da.“

Isa hielt ihr Gegenüber für naiv, vielleicht sogar für etwas simpel gestrickt. Irgendwie passte es zu Raimund Wecker, mit einer solchen Partnerin verheiratet zu sein. Isa konnte sich lebhaft vorstellen, wie Helga zu ihrem Raimund aufschaute. Nicht nur, weil er körperlich so viel größer war als sie selbst. Auf diese Weise wurde Weckers Gattin zu einer lebenden Dauerbestätigung für seinen Ego-Trip. Nein, Wecker war wirklich kein sympathischer Mensch. Aber eben anscheinend auch kein Mörder ...

Für einen verrückten Moment dachte Isa sogar daran, ob nicht Helga Wecker als betrogene Ehefrau ihre Rivalin aus dem Weg geräumt hätte. Aber die Kriminalistin verwarf den Gedanken sofort wieder.

Erstens traute sie Helga Wecker nun wirklich keine Bluttat zu. Und zweitens war die Frau des Chefredakteurs klein, zierlich und zwanzig Jahre älter als Nora Fabian. Die jüngere Frau hätte sich körperlich leicht gegen Helga Wecker zur Wehr setzen können. Und zwar, ohne jemals eine einzige Stunde Kampfsporttraining hinter sich gebracht zu haben.

Als Isa das Haus des Chefredakteurs verließ, spürte sie ein hohles Gefühl in der Magengegend. Es war schlicht und einfach Hunger, denn sie hatte seit dem frühen Morgen außer einem Jogurt nichts gegessen. Auf jeden Fall war eine komplizierte Morduntersuchung wie der Fall Nora Fabian der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um eine Diät anzufangen. Das war jedenfalls Isas Meinung.

Sie steuerte den Audi wieder Richtung Innenstadt. Bald bemerkte sie, dass sie sich absichtlich oder unabsichtlich wieder der Umgebung der Mönckebergstraße näherte. Isa stellte den Audi auf dem Parkplatz Kattrepel ab. Sie überquerte die Steinstraße, ging an St. Jakobi vorbei und wurde von ihrem Appetit zur Spitalerstraße getrieben.

Dort betrat Isa eine traditionelle Fischbratküche, die sich als Touristenattraktion auch in der Zeit von Fastfood-Restaurants noch gehalten hatte. Bei einer großen Portion gebratenem Seelachsfilet mit Bratkartoffeln und Remouladensauce verliefen ihre Gedanken wieder in geordneten Bahnen.

Isa schlug ihr Notizbuch auf. Die drängendste Frage war für sie, warum es keinen Kampf gegeben hatte. Welcher Mensch lässt sich die Pulsadern aufschneiden, ohne sich verzweifelt zu wehren? Isa hatte durch ihre Arbeit immer wieder feststellen müssen, dass der Selbsterhaltungstrieb bei den meisten Menschen sehr stark ausgeprägt war. Das zeigte sich spätestens in Momenten, wo ihr Leben direkt bedroht ist ...

Isas Handy schrillte.

Die Kriminalistin beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie soeben aufgegessen hatte. Sie aktivierte das Mobiltelefon.

„Boysen.“

„Spreche ich mit Hauptkommissarin Isa Boysen von der 3. Mordbereitschaft?“

Isa vernahm eine junge Frauenstimme. Es klang, als ob die Frau geweint hätte und sich nun krampfhaft zusammenzunehmen versuchte.

„Ja, die bin ich.“

„Raimund Wecker hat mir Ihre Handynummer gegeben, Frau Boysen. Sie steht auf Ihrer Visitenkarte, die sie bei dem Chefredakteur hinterlassen haben. Sie leiten die Ermittlungen zum Tod von ... Nora Fabian?“

„So ist es. Mit wem spreche ich, bitte?“

„Mein Name ist Ines Bern. Ich habe gerade eben erst bei NUMMER EINS erfahren, dass Nora ... dass sie nicht mehr lebt. Ich kann Ihnen helfen, Frau Boysen. Ich glaube, ich weiß, warum Nora Fabian sterben musste.“


Viertes Kapitel

Isa brannte darauf, sich mit der besten Freundin der Toten zu treffen. Ines Bern hielt sich zurzeit noch bei NUMMER EINS auf. Dort wollte die Kriminalistin sich nicht mit ihr treffen. Und auch die gemütliche Fischbratküche an der Spitalerstraße schien Isa die denkbar unpassendste Umgebung für eine solche Befragung zu sein.

Die beiden Frauen verabredeten sich schließlich im Café im Levantehaus, ein traditionelles Hamburger Kontorhaus, aufwändig restauriert und mit einer exklusiven Einkaufspassage versehen. Es befand sich ungefähr auf halbem Weg zwischen Isas Standort und der NUMMER EINS-Redaktion.

Obwohl mehrere einzelne Frauen in dem Café saßen, erkannte die Kriminalistin Ines Bern sofort. Ihr Gesicht war bleich, die Augen gerötet und verquollen. Man sah ihr an, dass sie vor kurzem geweint hatte.

Isa näherte sich dem Cafétisch der Frau, die ihr rot gefärbtes Haar zu einer modischen Fransenfrisur hatte schneiden lassen.

„Frau Bern?“

Isa zeigte unauffällig ihren Dienstausweis. Die Freundin von Nora Fabian blickte auf. Ihre Augen waren grün. Sie lächelte freudlos.

„Hallo, Frau Kommissarin. Ich glaube immer noch, dass ich träume. Aber aus diesem Albtraum gibt es wohl kein Entrinnen.“

Isa zog die Augenbrauen zusammen.

„Vielleicht sollte sich zunächst ein Arzt um Sie kümmern.“

„Ich klappe schon nicht zusammen“, versicherte die Fotodesignerin rau. „Ich musste ja damit rechnen, dass Nora früher oder später in den Tod getrieben wird.“

Isa kniff die Augen zusammen.

„Können Sie das etwas genauer erklären, Frau Bern?“

Die Kripobeamtin und die Fotodesignerin saßen im Randbereich des halb leeren Cafés. Daher bestand nicht die Gefahr, dass ihr Gespräch von neugierigen Lauschern mitangehört werden konnte. Isa öffnete ihr Notizbuch. Ines Bern schaute nervös von ihrer Kaffeetasse hinüber zu den Auslagen der exklusiven Shops, in Isas Gesicht und dann wieder auf das weiße Porzellan vor ihr.

„Verflixt“, begann die Fotodesignerin mit brüchiger Stimme, „ich hätte nicht gedacht, dass das so schwer ist. Ich meine, ich habe schon einiges an Lebenserfahrung gesammelt. Und viel von der Welt gesehen. Aber der Tod meiner besten Freundin ... das kann ich nicht so einfach wegstecken.“

„Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen, Frau Bern.“

„Vielen Dank, Frau Kommissarin. Sie sind sehr freundlich. Ich will Ihnen helfen, so gut ich kann. Denn ich will, dass der Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen wird. Egal, ob er sie nun wirklich selbst getötet hat. Oder ob Nora keinen anderen Ausweg mehr sah, als ... na, Sie wissen schon.“

Isa nickte. Einen Moment lang sah es so aus, als ob Ines Bern in Tränen ausbrechen würde. Aber dann riss sie sich offenbar wieder zusammen. Eine kurze Pause entstand.

„Sagen Sie mir, wie alles anfing“, schlug Isa vor.

„Ja, das ist eine gute Idee. Es war vor ungefähr drei Monaten. Nora wurde immer nervöser. Das kannte ich gar nicht von ihr. Sicher, sie hatte einen stressigen Job. Aber den habe ich auch. Doch wenn wir uns trafen, blickte sie sich plötzlich grundlos um. So, als ob sie Angst vor einem Verfolger hätte.“

Isa machte sich fleißig Notizen.

„Ein Verfolger also.“

„Mehr als das, Frau Kommissarin. Ich sprach Nora eines Tages direkt darauf an. Da beichtete sie mir alles. Dieser Mann hat sie mit Psychoterror überzogen, Geld von ihr gefordert. Sie hat ihm wohl auch größere Summen gegeben. Außerdem bedrohte er ihr Leben. Ganz massiv. ,Ich mach’ dich alle!’, soll er mehrfach zu meiner Freundin gesagt haben. – Dieses feige Schwein!“

„Haben Sie einen konkreten Verdacht, Frau Bern?“

„Ich? Nein, aber ich kann Ihnen sagen, wen Nora Fabian selbst im Blickfeld hatte. Ich musste ihr zwar Verschwiegenheit versprechen, aber jetzt lebt sie nicht mehr. Da fühle ich mich nicht an mein Gelübde gebunden.“

„Wer ist es, Frau Bern?“, wollte Isa geduldig wissen.

„Peter Tillmann lautet sein Name. Er ist der Ex-Freund von Nora Fabian“, zischte Ines Bern. Ihre Stimme klang beinahe hasserfüllt.

„Weshalb hatte Nora ihren Ex-Freund im Visier? Hat sie ihn erkannt, wenn er ihr nachgeschlichen ist?“

„Das habe ich sie nicht gefragt, Frau Kommissarin. Ich weiß auch nicht, warum sie nicht zur Polizei gegangen ist. Es war ihr unangenehm genug, über diese Sache überhaupt zu reden. Ich weiß nicht, ob sie diesen Nervenkrieg anderen Menschen überhaupt anvertraut hat. Und dann war da ja immer noch die Hoffnung, dass er sich mit Geld zufrieden geben würde. ,Jetzt habe ich Peter ein hübsches Sümmchen in den Rachen geworfen’, hat Nora einmal zu mir gesagt. ,Nun wird er wohl Ruhe geben.’ Doch dieser Wunsch hat sich leider nicht erfüllt.“

„Wissen Sie zufällig, wo dieser Peter Tillmann wohnt?“

„In Eilbek, glaube ich. Aber die Straße kann ich Ihnen nicht nennen. Ehrlich gesagt war er mir immer unsympathisch. Schon zu der Zeit, als Nora noch mit ihm zusammen war. Deshalb habe ich versucht, ihn so wenig wie möglich zu treffen.“

„Gibt es für Ihre Abneigung einen bestimmten Grund, Frau Bern?“

Die Fotodesignerin zuckte mit den Schultern.

„Ich hielt Tillmann immer schon für hinterhältig. Ein Mensch, der einem ins Gesicht lächelt und gleichzeitig den Dolch in den Rücken stößt. Aber das habe ich damals natürlich nie gesagt. Ich wollte meine Freundschaft zu Nora nicht aufs Spiel setzen.“

Isa wechselte das Thema.

„Sie haben erst vor kurzem von Nora Fabians Tod erfahren?“

„Ja, vor“ – Ines Bern blickte auf ihre italienische Designer-Damenarmbanduhr – „einer Stunde. Ist das nicht irrsinnig? Ich kam gerade aus Brüssel zurück und bin sofort in die Redaktion gefahren, um mich mit Nora zu treffen. Und dann so etwas!“

„Sind Sie geflogen?“

„Natürlich, Frau Kommissarin. Kennen Sie den belgischen Autoverkehr? Ich war drei Tage in Brüssel, habe Fotos zur neuen Kollektion des dortigen Modeschöpfers Alain Dupont gemacht.“

Isa schrieb alles mit. Damit war auch die Frage beantwortet, wo sich Ines Bern zur Tatzeit aufgehalten hatte. Die Kriminalistin fragte sich, ob sie sich bei der Freundin der Toten nach der Geheimstory erkundigen sollte, mit der Nora angeblich beschäftigt war. Isa entschied sich aber dagegen. Sie musste gegenüber einer Zeugin ja nicht alle ihre Karten aufdecken. Außerdem hatte Ines Bern wertvolle Hinweise auf den möglichen Täter geliefert. Aber da gab es noch eine andere Sache, die Isa keine Ruhe ließ.

„Trauen Sie Nora Fabian auch zu, sich selbst das Leben genommen zu haben, Frau Bern?“

Die Angesprochene blickte nachdenklich auf die Tischplatte, während sie antwortete.

„Noch vor wenigen Monaten hätte ich diese Frage vehement verneint, Frau Kommissarin. Aber inzwischen ... Nora war richtig zermürbt durch den Psychoterror, dem sie ausgesetzt war. Also, heutzutage würde ich Ihre Frage bejahen.“

Isa klappte ihr Notizbuch zu.

„Frau Bern, Sie haben mir schon mit Ihren wenigen Angaben sehr geholfen. Es kann sehr gut sein, dass ich Sie noch einmal etwas über Nora Fabian fragen muss.“

„Ich bitte darum, Frau Kommissarin! Ich will ja auch, dass der ... der Verbrecher zur Rechenschaft gezogen wird, der Nora das angetan hat!“

Die beiden Frauen tauschten ihre Visitenkarten aus. Wenn man sie von weitem in diesem Café im Levantehaus sah, konnte man Isa und Ines Bern für erfolgreiche Geschäftsfrauen halten. Und nicht für zwei Menschen, die nur durch den gewaltsamen Tod einer Anderen miteinander zu tun hatten.

Isa verabschiedete sich und eilte zu ihrem Dienstwagen zurück. Sie fuhr zum Bezirksamt Hamburg-Mitte. Meist machte sie ihre Anfragen telefonisch. Doch das hatte den Nachteil, dass sie manchmal nicht durchkam. Vor allem nachmittags bei Behörden.

In der Einwohnermeldeabteilung nannte man der Kriminalistin Peter Tillmanns aktuelle Meldeadresse. Er lebte offenbar wirklich in Eilbek, und zwar am Holsteinischen Kamp. Isa fuhr gleich dorthin. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Das war ihre Devise. Dieser Peter Tillmann war bisher ihr vielversprechendster Verdächtiger, wenn Ines Berns Angaben stimmten. Und Isa hatte momentan keinen Grund, an den Worten der jungen Frau zu zweifeln.

Bei Raimund Wecker fehlte der Hauptkommissarin ein überzeugendes Motiv. Abgesehen davon, dass seine Frau ihm ein Alibi für die Tatzeit verschafft hatte. Helga Wecker hatte durchaus glaubhaft gewirkt. Isa hielt die Gattin des Chefredakteurs außerdem für zu naiv, um sich erfolgreich verstellen zu können.

Es war bereits dunkel, als Isa am Holsteinischen Kamp den Audi zum Stehen brachte. Das Haus, in dem Tillmann wohnen sollte, fand sie auf Anhieb. Doch an keinem der Klingelschilder befand sich sein Name.

Also versuchte Isa es mit der mühsamen Methode. Sie läutete bei irgendwelchen Mietern. Gleich mehrere Bewohner drückten auf den Summer. Isa betrat das Haus. Im Erdgeschoss wurde eine Tür einen Spalt weit geöffnet.

„Guten Tag. Ich bin von der Kripo Hamburg“, sagte Isa und hielt ihre Legitimation hoch. Daraufhin wurde die Tür ganz aufgemacht. Isa erblickte eine kleine Seniorin.

„Ich suche einen gewissen Peter Tillmann.“

„Polizei?“ Die ältere Dame bekam große Augen, als sie Isas Dienstausweis erblickte. „Zu dem Tillmann wollen Sie? Irgendwann musste es ja so kommen, dass die Polizei nach dem sucht!“

„Können wir das vielleicht in Ihrer Wohnung besprechen?“

„Oh ja, Entschuldigung. Kommen Sie doch herein, Frau Kommissarin.“

Isa folgte der älteren Dame in ihr Wohnzimmer. Es roch nach Bohnerwachs und Kernseife. Der Duft passte zu dem blitzsauberen Eindruck, den Isa von den Räumen hatte.

„Ich entnehme Ihren Worten, dass Peter Tillmann hier im Haus gewohnt hat, Frau Krüger.“

Den Namen der Mieterin hatte Isa an der Eingangstür gesehen. Frau Krüger nickte heftig.

„Ja, bis vor einem Monat. Aber der Eigentümer hat diesen Kerl an die frische Luft setzen lassen. Räumungsklage, verstehen Sie?“

Isa zückte ihr Notizbuch.

„Und warum?“

„Weil der Tillmann seine Miete nicht mehr gezahlt hat! Monatelang, das muss man sich mal vorstellen. Unangenehm geworden ist er allerdings nicht. Hat also niemals randaliert oder so etwas. Aber er stank nach Schnaps, hat wohl auch seine Wäsche nicht mehr gewechselt. Und Arbeit? Das war wohl bei Tillmann auch Fehlanzeige.“

„Wissen Sie zufällig, seit wann Herr Tillmann seine Miete nicht mehr gezahlt hat?“

„Warten Sie, Frau Kommissarin ... wir haben jetzt Dezember ... ungefähr seit Juli oder August, so weit ich weiß.“

Also seit dem Sommer, dachte Isa. Seit der Zeit, als Nora Fabian mit ihm Schluss gemacht hat. Doch bevor die Hauptkommissarin dieses Thema anschneiden konnte, ging die Zeugin von selbst darauf ein.

„Früher war der Tillmann ja richtig adrett. Das muss man ihm lassen. Er hatte eine Bekannte – also so eine hübsche und gepflegte junge Deern!“

„Sprechen Sie von dieser Frau?“

Isa hatte ein Portraitfoto von Nora Fabian aus ihrem Kostümjackett gezogen. Sie hatte es sich in der NUMMER EINS-Redaktion geben lassen.

„Da muss ich erstmal meine Brille aufsetzen.“

Die Seniorin tat es. Sie schaute sich die Aufnahme genau an und gab sie dann an Isa zurück.

„Ja, das war die Bekannte von dem Tillmann. Sie ist dann irgendwann im Sommer nicht mehr gekommen.“

Und danach ging es mit ihrem Ex-Freund bergab, dachte Isa. Aber sie sagte: „Wissen Sie zufällig, wo ich Peter Tillmann jetzt erreichen kann, Frau Krüger?“

Die Mieterin schüttelte den Kopf.

„Der Eigentümer wird es Ihnen sagen können. Das ist aber eine Firma. Ich weiß nicht, ob Sie dort heute noch jemanden erwischen.“

Isa blickte auf ihre Armbanduhr. Es war wirklich schon nach sechs Uhr nachmittags. Auf jeden Fall ließ sie sich von Frau Krüger die Telefonnummer der Immobiliengesellschaft geben.

Die Kriminalistin bedankte sich und ging. Natürlich hätte Isa auch eine Großfahndung nach Peter Tillmann veranlassen können. Aber sie wollte nicht die Pferde scheu machen. Falls er wirklich der Täter war, konnte sie besser versuchen, ihn in seiner neuen Behausung ausfindig zu machen.

Als sie im Auto saß, rief Isa bei den Eigentümern der ehemaligen Tillmann-Wohnung an. Wie erwartet lief im Büro der Wohnungsbaugesellschaft nur ein Anrufbeantworter. Die normalen Geschäftszeiten waren für diesen Tag verstrichen.

Isa wurde innerlich von einer unangenehmen Mischung aus Jagdfieber und Erschöpfung gebeutelt. Die Kriminalistin rang sich schließlich dazu durch, erst am nächsten Morgen ihre Suche fortzusetzen. Falls Peter Tillmann wirklich der Mörder seiner Ex-Freundin war, hatte er bereits mehr als genug Zeit für eine Flucht gehabt. Er konnte sich buchstäblich am anderen Ende der Welt befinden ...

Isa fuhr zum Präsidium zurück und gab den Audi in der Fahrbereitschaft ab. Die U-Bahn brachte sie heim in ihre Wohnung an der Hoheluftchaussee. Das Schneetreiben hatte inzwischen zugenommen. Aber es war noch nicht so stark, dass ein vollständiges Verkehrschaos entstand.

Die Kriminalistin machte es sich in ihrer Küche gemütlich, drehte die Heizung höher und schob ein Fertiggericht in die Mikrowelle. Isa goss sich ein Glas Weißwein ein. Sie bemühte sich beinahe krampfhaft, nicht an ihren aktuellen Fall zu denken. Aber es wollte nicht gelingen. Außerdem – wenn sie sich wirklich einmal innerlich von Nora Fabers Tod lösen konnte, dachte sie sofort an ihre Beziehung zu Arne. Und das wollte sie noch weniger.

Es war vertrackt. Nach dem Essen versuchte Isa, sich mit Hausarbeit abzulenken. Da sie das öfter tat, war ihre Wohnung stets blitzsauber. Aber das war momentan auch kein Trost.

Isa konnte es drehen oder wenden wie sie wollte. Dieses verflixte einzelne Babysöckchen passte überhaupt nicht zu ihren übrigen bisherigen Ermittlungsergebnissen. Oder doch? Gab es eine Verbindung, die sie einfach übersehen hatte?

Schließlich fiel die Hauptkommissarin erschöpft in ihr Bett. Sie hatte einen scheußlichen Albtraum, in dem sie von Raimund Wecker verfolgt wurde.

Der Chefredakteur war in dem Nachtmahr nur mit einer Windel, einer hellblauen Strickmütze und rosa Babysöckchen bekleidet ...


Fünftes Kapitel

Am nächsten Morgen fühlte sich Isa wie gerädert. Von einem erholsamen Nachtschlaf konnte jedenfalls keine Rede sein. Auch im Präsidium war die Stimmung ziemlich trübe. Bei der Morgenbesprechung der 3. Mordbereitschaft war es beinahe gespenstisch leer. Nur Isa selbst, Arne und Heiner Kuhn saßen an dem langen Konferenztisch. Und natürlich Dr. Kranach, der seine schlechte Laune angesichts des hohen Krankenstandes nicht zu verbergen versuchte.

„Guten Morgen, Herrschaften!“, bellte der Kriminaloberrat. Es klang eher nach einer Verwünschung als nach einem Gruß. „Wir sollten uns bei den Hamburger Verbrechern bedanken, dass sie bei diesem Wetter nicht so kriminell sind wie sonst. Noch einen weiteren Fall kann meine Abteilung jedenfalls nicht verkraften. – Herr Weger, was macht Ihr Raubmord?“

„Die Beute konnte bisher noch nicht sichergestellt werden, Herr Kriminaloberrat“, sagte Arne. Seine Stimme klang etwas rau. Ob er auch demnächst krank werden würde? Isa warf ihm einen besorgten Blick zu. Und zwar nicht, weil sie sich um die Funktionsfähigkeit der Abteilung Sorgen machte. Nein, Isa war verliebt in ihren langjährigen Kollegen. Wenn sie etwas anderes annahm, machte sie sich nur selbst etwas vor.

„Ich denke immer noch, dass der Weg zu Dettmers Mörder über den Hehler der Beute führt“, fuhr Arne fort und hustete. „Aber bei keinem unserer einschlägigen Bekannten sind die Schmuckstücke bisher aufgetaucht.“

„Soso. Dann machen Sie mal weiter, Herr Weger! Etwas anderes bleibt Ihnen wohl nicht übrig, wie?“

Nach diesem Einwurf wandte Dr. Kranach sich sogleich Isa zu. „Wie läuft es mit Ihrer toten Skandalreporterin, Frau Boysen? Ich soll nämlich heute Abend im Regionalfernsehen etwas dazu sagen. Es geht um die Frage, wie riskant das Leben eines Journalisten wirklich ist.“

Isa brach der kalte Schweiß aus. Ihre Ermittlungsergebnisse waren bisher mehr als kümmerlich. Das wollte sie ihrem Vorgesetzten natürlich nicht auf die Nase binden. Und dann wurde ihr plötzlich klar, dass dieses alberne Fernsehinterview eine Chance war, den Mörder aus der Reserve zu locken.

„Nun, Frau Boysen? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“, knurrte Dr. Kranach, nachdem Isa ein paar Minuten lang geschwiegen hatte.

„Das nicht, Herr Kriminaloberrat. Am Besten sagen Sie im Fernsehen, der Mord stünde kurz vor der Aufklärung. Wir würden den Täter kennen. Aber aus ermittlungstaktischen Gründen dürften keine weiteren Informationen an die Öffentlichkeit dringen.“

Dr. Kranachs schlechte Laune verschwand zusehends.

„Aus ermittlungstaktischen Gründen! Ja, das ist gut! Sie kennen den Täter doch wirklich, oder?“

„Selbstverständlich, Herr Kriminaloberrat“, log Isa. „Es ist eine Person, die der Toten sehr nahe gestanden hat.“

Die Kriminalistin hoffte, dass zumindest ihr letzter Satz der Wahrheit entsprach. Nora Fabian war bestimmt nicht von einem ihr völlig unbekannten Fremden getötet worden ...

Mit wachsender Panik sah Isa, wie Dr. Kranach ihre Aussagen mitschrieb. Sie redete sich um Kopf und Kragen. Aber nun gab es kein Zurück mehr.

„Und wann rechnen Sie mit einer Verhaftung, Frau Boysen?“

„Spätestens morgen, Herr Kriminaloberrat“, hauchte Isa. Sie nahm ihre Hände vom Tisch, damit es nicht so auffiel, wie sie zitterten.

„Einen Mörder zum Nikolaustag!“, lachte Isas Chef. „Das ist gut, Frau Boysen! Das ist wirklich gut! Geben Sie rechtzeitig Bescheid, falls Sie eine Spezialeinheit oder sonst etwas benötigen!“

Isa lächelte, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte. Soeben hatte sie sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Dr. Kranach würde es ihr gewiss nie verzeihen, wenn sie am folgenden Tag den Täter nicht dingfest machen konnte ...

Das hätte sie sich allerdings früher überlegen müssen. Nun gab es kein Zurück mehr. Isa hörte nicht mehr zu, was der Kriminaloberrat mit Heiner Kuhn zu besprechen hatte. Ihr fiel nur Arnes besorgter Blick auf.

Nach der Sitzung nahm der hochgewachsene Hauptkommissar Isa beiseite.

„Du siehst nicht so aus, als ob dir besonders wohl wäre, Isa. Hast du den Mörder wirklich schon im Visier?“

Die Kriminalistin schaute sich verstohlen um, bevor sie antwortete.

„Nein, ehrlich gesagt. Kannst du mir einen Gefallen tun? Ich würde den Fall gerne mit dir zusammen durchgehen. Ich bin inzwischen richtig betriebsblind, Arne. Es kommt mir vor, als würde ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.“

„Ja, kein Problem“, meinte Arne hilfsbereit. „Meine Hehler laufen mir nicht weg.“

„Ach, du bist lieb!“

Isa besorgte schnell Kaffee für sich und für ihren Dienstpartner. Ihre Schreibtische standen praktischerweise einander gegenüber. Isa legte los. Sie erzählte Arne davon, wie die Tote gefunden wurde. Zu jedem der Verdächtigen gab sie eine Kurzeinschätzung.

Der Hauptkommissar hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er starrte nachdenklich an die Decke. Endlich öffnete er den Mund.

„Tja, Isa. Da ist eine Sache, die mir überhaupt nicht einleuchtet.“

„Was denn?“, fragte die Kriminalistin atemlos.

„Welcher Mensch schaut seelenruhig zu, wenn ihm die Pulsadern von einem Mörder geöffnet werden? Nora muss entweder irgendwie betäubt oder gelähmt gewesen sein, als es geschah. Oder sie hat sich wirklich selbst das Leben genommen.“

Isa nickte grimmig. Dieser Widerspruch bereitete ihr ebenfalls Kopfzerbrechen.

„Ich hoffe auf das Obduktionsergebnis, Arne. Das könnte Klarheit schaffen, was den Mord angeht. Oder Nora hat sich wirklich selbst das Leben genommen. Wegen des Psychoterrors durch ihren Ex-Freund.“

„Und was ist mit dem Babysöckchen?“, warf der Hauptkommissar ein. „Was für eine Rolle soll das in deinem Fall spielen? Oder ist es Zufall, dass die Tote es in der Tasche hatte, wie du sagst?“

Isa schüttelte den Kopf.

„Du weißt doch, in einer Morduntersuchung gibt es keine Zufälle. – Jedenfalls war es gut, die Fakten einmal mit dir besprechen zu können.“

Arne lächelte ihr zu. Dann nieste er gleich zwei Mal hintereinander. Isa drohte scherzhaft mit dem Finger.

„Du weißt doch, wir können uns keine weiteren Kranken leisten.“

„Ist mir bekannt. Darum werde ich meine Erkältung auch nicht weiter beachten und mir jetzt ein paar Hehler zur Brust nehmen. – Bis später, Isa.“

„Bis später, Arne. Und – danke.“

Der Hauptkommissar schaute sich verstohlen um. Aber weder Heiner Kuhn noch Dr. Kranach waren zurzeit in dem wie ausgestorben wirkenden Großraumbüro. Arne strich kurz und zärtlich über Isas Wange.

„Für dich tue ich doch alles, das weißt du. Jetzt muss ich aber wirklich los.“

Mit diesen Worten ging Arne hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Isa schloss für einen Moment die Augen. Sie gönnte sich einen Moment lang den Luxus der schönen Gefühle, die durch Arnes Berührung in ihrem Inneren ausgelöst wurden. Dann machte die Kriminalistin sich mit Feuereifer wieder an die Arbeit.

Als Erstes nahm sie Kontakt mit der Verwaltungsgesellschaft auf, die Peter Tillmann aus seiner Wohnung geklagt hatte.

„Herr Tillmann war zuletzt mit fünf Monatsmieten im Rückstand“, wurde ihr gesagt. „Die Räumungsklage ging problemlos über die Bühne, zumal der Mieter die Wohnung auch sehr stark hat verkommen lassen. Herr Tillmann hat kein Einkommen. Er wurde in einer Notunterkunft für Obdachlose untergebracht.“

„Und wo? Wissen Sie das zufällig?“

„Am Sieldeich.“

Isa wusste natürlich, wo das war. Als waschechte Hamburgerin kannte sie ihre Geburtsstadt wie ihre Rocktasche. Sie ließ sich in der Fahrbereitschaft einen schäbigen VW Golf geben und fuhr los.

Ein solch unauffälliges Auto war genau richtig, um eine Gegend wie Veddel aufzusuchen. In diesen Stadtteil, eingeklemmt zwischen Autobahn und Hafenbecken, war der Wohlstand der Freien und Hansestadt Hamburg niemals vorgedrungen. Die Straße Sieldeich bildete da keine Ausnahme. Von den kleinen Fenstern der grauen Obdachlosenunterkunft hatte man einen Panoramablick auf den Autobahnzubringer sowie das ölige Wasser des Mügenburger Zollhafens. Nicht gerade die Schokoladenseite der Elbmetropole, wie Isa dachte.

Isa betrat das triste Gebäude.

Beim Anblick der brünetten Hauptkommissarin in ihrem schicken Geschäftskostüm kam Leben in die abgerissenen Gestalten, die im Eingangsbereich herumlungerten. Wie auf Kommando begannen sie zu pfeifen und zu grölen.

„Nun haltet mal eure Hormone im Zaum, Männer“, sagte Isa grinsend und präsentierte ihren Kripo-Ausweis nach allen Seiten. „Gibt es hier auch so was wie einen Verwalter?“

Der Anblick des polizeilichen Dokuments hatte die Wirkung eines Eimers mit kaltem Wasser. Einige der Typen deuteten stumm auf eine Art Pförtnerloge, deren Glasscheiben gelb von Nikotin waren.

Isa ging hinein, ohne anzuklopfen. Der Verwalter war ein dicker Mann mit schwerem Hamburger Dialekt. Die Ermittlerin stellte sich mit Namen und Dienstgrad vor. Dann nannte sie den Grund ihres Kommens.

„Peter Tillmann? Klar, an den erinner’ ich mich. Hat nicht lange hier gewohnt, der Knabe. Er war was Besseres, hatte studiert und so. Für solche Kerle ist es immer besonders hart, hier zu landen, Frau Kommissarin. Die meisten meiner Kunden sind auf der Schattenseite geboren, wenn man das so nennen will. Die kennen nix anderes. Aber Tillmann? Der ist ja wohl richtig abgestürzt.“

„Was war los mit ihm? Hat er getrunken?“, wollte Isa wissen.

Der Verwalter machte eine unbestimmte Handbewegung.

„Nich’ so richtig. Da gibt es andere, das sind richtige Schluckspechte. Nee, der Tillmann wollte sein Glück wenden, kapieren Sie? Er wollte wieder raus aus dem Sumpf. Aber nicht mit Arbeit.“

„Können Sie mal etwas direkter werden?“, fragte Isa leicht genervt. „Was soll das heißen? Hat Tillmann erklärt, dass er kriminell werden wollte?“

Der Dicke lachte.

„Nee, das nun auch gerade nicht. Er hat es mit Sportwetten versucht, Frau Kommissarin. Kennen Sie doch bestimmt, obwohl Frauen für so was normalerweise nicht zu haben sind. Sie wetten zum Beispiel bei einem Fußballspiel auf den HSV. Und wenn der gewinnt, dann sahnen Sie ab.“

„Und wenn der HSV verliert, bin ich mein Geld los“, ergänzte Isa trocken. „Das ist aber kein toller Zeitvertreib für jemanden, der kaum Geld hat.“

„Mir müssen Sie das nicht sagen. Ich werfe meine Mücken nicht für Sportwetten zum Fenster raus. Aber der Tillmann hat das getan. Wahrscheinlich macht er es immer noch. Habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen.“

„Haben Sie eine Idee, wo Tillmann sich jetzt rumtreiben könnte? Oder wo er wohnt?“

Der Dicke lachte, als ob Isa einen besonders guten Witz gemacht hätte.

„Rumtreiben wird er sich wohl in den Wettbüros. Gibt ja auch nur ein paar Hundert davon in unserer schönen Stadt. Wenn Sie suchen wollen, können Sie ja gleich dahinten am Veddeler Marktplatz anfangen.“

Sein Doppelkinn öffnete und schloss sich, als er in die Richtung deutete. Isa kam eine Idee. Sie fischte das Polaroid aus der Tasche, das sie von Nora Fabians Küchen-Pinnwand abgenommen hatte.

„Ist das eigentlich Peter Tillmann?“

Der Dicke kniff die Augen zusammen, als würde er in die Sonne starren.

„Hol’ mich der Henker, das ist er wirklich! Nicht wieder zu erkennen, der Knabe. Das Foto wurde eindeutig geknipst, bevor er in unserem Luxushotel hier abgestiegen ist!“

„Davon gehe ich auch aus“, sagte Isa. Nun wusste sie also, wer der Mann auf dem Foto war. Aber nun stand eine ganz andere Frage im Raum.

Warum hatte Nora Fabian nach Monaten mit härtestem Psychoterror immer noch ein Polaroid von ihrem Peiniger in der Küche hängen, wo sie es jeden Tag betrachten musste?

Da stimmte irgendetwas ganz gewaltig nicht. Isa seufzte. Sie klopfte dem Verwalter auf die runde Schulter.

„Sie haben mir jedenfalls ganz gewaltig weitergeholfen, Meister. Ich drücke Ihnen und Ihren Schützlingen die Daumen.“

„Danke, Frau Kommissarin“, entgegnete der Mann, nun plötzlich ernst geworden. „Das können wir brauchen.“

Isa stieg in den zerschrammten Golf und fuhr hoch zum Veddeler Marktplatz. Es war beinahe egal, in welcher der zahlreichen Hamburger Wettbuden sie mit ihrer Suche begann. Aber Isa dachte sich, dass dieser Laden vermutlich der nächste war, den man von der Obdachlosenunterkunft aus zu Fuß erreichen konnte. Ein U-Bahn-Ticket war verflixt teuer, wenn man von staatlicher Unterstützung leben musste.

Das Wettbüro war genauso verqualmt wie das Obdachlosenasyl. Auch die Anwesenden ähnelten einander, als ob sie alle auf eine seltsame Art miteinander verschwägert wären. Isa wandte sich sofort an den Besitzer und hielt ihm ihren Dienstausweis unter die Nase.

„Ach du Schande! Eine Bullette!“

„Ich bin sofort wieder weg, Chef“, sagte Isa. „Aber erst will ich wissen, ob du diesen Typen hier kennst.“

Unwillkürlich hatte Isa ihre Sprache der Umgebung angepasst. Sie zeigte dem Besitzer die Aufnahme von Tillmann.

„Ja, der kommt öfter her. – Hat er was ausgefressen? Dann kriegt er Hausverbot! Ich will keinen Ärger!“

„Immer mit der Ruhe, Chef. Ich brauche nur eine Zeugenaussage von ihm. Ich hab’ aber gehört, er würde keinen festen Wohnsitz haben.“

„Hat er auch nicht“, bestätigte der Mann aus dem Wettbüro. „Er pennt mal hier, mal da, so weit ich weiß. Bei Kumpels. Oder in einer Absteige.“

„Und wie sieht es mit seinem Wettglück aus?“

Der Chef grinste breit.

„Eine Villa in Blankenese hat er sich von seinen Gewinnen jedenfalls noch nicht kaufen können. Sonst würde er nicht jeden Tag herkommen. – Aber da ist er ja! Fragen Sie ihn doch selbst!“

Isa drehte sich langsam um. Konnte eine Kriminalistin auch einmal Glück haben? Sicher, warum nicht. Glück war für Isa meist nur eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ansonsten musste sich noch zeigen, ob Fortuna ihr wirklich zugelächelt hatte, indem die Glücksgöttin Isa diesen Peter Tillmann über den Weg laufen ließ ...

„Ey, die Bullette will was von dir!“, röhrte der Wettbüro-Chef so laut, dass alle Anwesenden ihn und Isa anstarrten. Das wäre die Gelegenheit für Tillmann gewesen, stiften zu gehen. Doch er starrte Isa nur mit glasigem Blick an. Der Ex-Freund von Nora Fabian kam auf Isa und den Boss des Ladens zu, einen Wettschein in der Hand.

„Was ist los?“, fragte Tillmann. Seine Stimme klang brüchig. Isa brauchte nicht mehr als ein paar Momente, um ihn einzuschätzen.

Sie hatte ganz offensichtlich Peter Tillmann vor sich. Doch von dem gut aussehenden lächelnden jungen Mann auf dem Polaroid-Foto war so gut wie nichts übrig geblieben. Tief lagen die Augen in den Höhlen. Das Haar war ungepflegt, strähnig und bereits von einzelnen grauen Strähnen durchzogen. Immerhin hatte es Tillmann geschafft, sich an diesem Morgen irgendwo zu rasieren. Dadurch wurde aber der Gesamteindruck kaum verbessert. Hose, Hemd und Jacke sowie die Schuhe des Mannes stammten ganz offensichtlich aus einer wohltätigen Kleidersammlung.

„Ich komme wegen Nora Fabian“, sagte Isa langsam. Sie ließ Peter Tillmann nicht aus den Augen, während sie sprach. Aber er zeigte keine nennenswerte Reaktion.

„Ist sie in Schwierigkeiten?“, fragte Tillmann nur. „Ich glaube nicht, dass ich ihr helfen kann.“

Das klang nicht so, als ob er schon vom Tod seiner Ex-Freundin wusste, fand Isa. Oder Tillmann war ein erstklassiger Schauspieler. Aber für einen solchen hielt sie den heruntergekommenen armen Teufel nicht.

„Jedenfalls möchte ich mit Ihnen über Nora Fabian sprechen. Mein Name ist übrigens Isa Boysen, und ich bin Kriminalhauptkommissarin. – Kommen Sie, ich lade Sie ein! Sie sehen nicht aus, als ob Sie heute schon gefrühstückt hätten.“

„Moment, ich muss erst noch meinen Wettschein abgeben.“

Isa verdrehte genervt die Augen, während Tillmann bei dem Buchmacher seinen Einsatz machte. Obwohl – war nicht der Eifer, mit dem Tillmann seine dämliche Wette platzierte, der beste Beweis für seine Unschuld? Möglicherweise. Aber das Ganze konnte auch nur Show sein, um Isa einzuseifen. Die Hauptkommissarin beschloss, misstrauisch zu bleiben.

Als Tillmann endlich fertig war, schleppte sie ihn in ein Stehcafé, das im Eingangsbereich eines benachbarten Supermarktes eingerichtet war. Isa kaufte für den Obdachlosen zwei belegte Brötchen, die dieser in erstaunlichem Tempo herunterschlang. Außerdem bekam Tillmann einen großen Becher Kaffee, genau wie Isa selbst.

Tillmann trank genießerisch einen Schluck von der heißen, belebenden Flüssigkeit. Nun kam etwas Leben in sein ungesundes Graubrotgesicht.

„Was wollen Sie denn nun eigentlich über Nora Fabian wissen, Frau Kommissarin?“

„Ich will vor allem erfahren, wer sie ermordet hat“, sagte Isa hart. Wieder beobachtete sie ihr Gegenüber genau.

Peter Tillmanns Kinnlade klappte herunter. Er wurde schlagartig weiß wie die Wand.

„Ermordet?“, krächzte er. „Nein ...!“

Die Beine versagten ihm den Dienst. Bevor Isa ihn halten konnte, krachte der Mann zu Boden. Und seinen Kaffeebecher riss er gleich mit. Das Porzellan zersprang in unzählige Stücke. Der heiße Kaffee ergoss sich teils auf den Boden, teils auf Tillmanns Kleidung und teils auf Isas Strumpfhose.

„So ein Schiet!“, schimpfte die dicke Frau in dem Uniformkittel der Bäckerei-Ladenkette. „Müssen Sie denn unbedingt einen dieser Tagediebe hier hereinschleppen, meine Dame? Die machen doch nur Ärger!“

„Halten Sie die Klappe!“, sagte Isa scharf. „Ich bin von der Polizei. Dieser Mann ist kollabiert. – Rufen Sie auf der Stelle einen Rettungswagen!“

Die Hauptkommissarin kniete sich neben den Zusammengebrochenen und drehte ihn in eine stabile Seitenlage. Sie tastete nach seinem Puls. Dieser ging äußerst unregelmäßig. Isa war keine Ärztin. Aber sie wusste, dass man solche Zustände unmöglich simulieren konnte. Natürlich musste man berücksichtigen, dass Tillman durch sein ungesundes Leben der vergangenen Monate gesundheitlich nicht auf der Höhe war. Da kollabierte man eben leichter ...

Die Sirene des Rettungswagens riss Isa aus ihren Überlegungen. Ein Notarzt und zwei Sanitäter mit Trage kamen in das Stehcafé gestürmt. Die Passanten draußen auf der Straße verwandelten sich in Schaulustige, die sich ihre Nasen an der Glasscheibe platt drückten. Aber an so etwas hatte sich Isa schon längst gewöhnt.

Der Notarzt untersuchte Peter Tillmann und zog eine Spritze auf.

„Wie ist das geschehen?“, fragte der Mediziner.

„Ich bin Kriminalbeamtin. Ich habe ihm eine Todesnachricht überbracht. Daraufhin ist er zusammengebrochen“, berichtete Isa wahrheitsgemäß.

„Verstehe.“ Der Notarzt gab dem Ohnmächtigen die Spritze. „Ich habe ihm jetzt ein Kreislauf stabilisierendes Mittel verabreicht, Frau Kommissarin. Wir nehmen ihn mit ins AKH Harburg. Vermutlich hat der Mann keinen festen Wohnsitz?“

„So ist es, Herr Doktor.“

Der Mediziner seufzte.

„Wir werden versuchen, ihn etwas aufzupäppeln, bevor wir ihn wieder auf die Straße schicken müssen.“

Isa bat darum, dass sie angerufen würde, sobald Peter Tillmann aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte. Jedenfalls hatte der Kreislaufzusammenbruch den Verdächtigen in Isas Augen entlastet. Sie hatte während ihrer Berufstätigkeit zwar schon erlebt, dass Frauen sozusagen auf Kommando Krokodilstränen hervorbringen konnten, aber ein simulierter Kollaps – das war ihr noch nicht untergekommen.

Entlastet war Peter Tillmann deswegen allerdings noch lange nicht. Da war ja auch noch der Psychoterror, mit dem er Nora Fabian vermutlich überzogen hatte. Aber es blieb die Frage, warum sein Opfer dann bis zu ihrem Todestag ein Foto von ihm an ihrer Pinnwand hängen ließ.

Plötzlich kam Isa eine Idee. Wenn Nora ihrem Ex-Freund Geld gegeben hatte, wie es in der Aussage von Ines Bern hieß, dann müsste sich das anhand von Kontobewegungen nachvollziehen lassen.

Nachdem der Krankenwagen Richtung Harburg verschwunden war, ging Isa zu ihrem Golf und fuhr ebenfalls weg. Sie steuerte direkt Noras Luxusapartment am Schwanenwik an. Die Schlüssel hatte Isa immer noch bei sich.

Der Gegensatz zu dem Obdachlosenasyl hätte nicht größer sein können. Aber das kümmerte Isa momentan nur am Rande. Sie zog sich wieder Plastik-Einweghandschuhe an, als sie die Wohnung betrat. Diesmal wusste Isa genau, wonach sie Ausschau halten wollte.

Die Kontoauszüge waren nicht schwer zu finden. Nora hatte sie in ihrem Schreibtisch aufbewahrt. Die Kriminalistin blätterte die Belege durch. Die Klatschjournalistin hatte gut verdient, sehr gut sogar. Aber es war nicht zu übersehen, dass sie in den vergangenen Monaten mehrmals größere Summen in bar abgehoben hatte. Einmal 2.000,00 Euro, bei einer anderen Gelegenheit 3.000,00 Euro. Wurde dadurch nicht Ines Berns Aussage bestätigt, dass Peter Tillmann seine Ex-Freundin erpresst hatte?

Das würde sich herausstellen. Isa notierte sich zunächst die Tage, an denen Nora Fabian diese Summen von der Bank geholt hatte. Danach kehrte sie ins Präsidium zurück. Eine vage Hoffnung hatte sich erfüllt. Denn auf ihrem Schreibtisch wartete bereits der vorläufige Autopsie-Bericht auf die Hauptkommissarin. Isa konnte ihre Ungeduld kaum bezwingen. Trotzdem holte sie sich erst einmal einen Kaffee. Bei dem miesen Wetter brauchte sie einfach etwas Warmes.

Die Kriminalistin setzte sich auf ihren Bürostuhl, streckte ihre langen Beine aus und begann zu lesen. Zunächst überflog sie die Seiten in dem Schnellhefter nur grob, danach ging sie noch einmal Satz für Satz durch.

Das Ergebnis der Leichenöffnung war ernüchternd. Im Grunde fand Isa ihren Fall hinterher rätselhafter als vorher. Und sie hatte so viel Hoffnung in die Obduktion gesetzt!

Offenbar waren im Körper keinerlei Rückstände gefunden worden, die auf irgendeine Art von Betäubung schließen ließen. Nora Fabian musste bei vollem Bewusstsein ausgeblutet sein. Aber sprach diese Tatsache nicht hundertprozentig für die Selbstmord-These?

Isa blätterte vor und zurück. Unter den Fingernägeln der Toten hatten sich keine Hautrückstände anderer Personen befunden, wie es zum Beispiel nach einem Kampf meist der Fall ist. Auch die Lage, in der Nora gefunden wurde, sprach nicht gerade für ein verzweifeltes Ringen mit einem mörderischen Gegner ...

„Isa“, sagte die Hauptkommissarin laut zu sich selbst, „du hast dich völlig verrannt!“

Und doch konnte sie einfach nicht glauben, dass Nora Fabian sich umgebracht hatte. Es passte überhaupt nicht zu allen anderen Dingen, die Isa Boysen über die Reporterin in Erfahrung gebracht hatte.

Verflixt!

Laut Obduktionsbericht hatte Nora Fabian in den letzten vierundzwanzig Stunden vor ihrem Tod keinen Geschlechtsverkehr gehabt. Diese Tatsache brachte Isa nicht weiter. Sie wurde dadurch höchstens an ihr eigenes kümmerliches Liebesleben erinnert. Bei Isa selbst war es schon weit länger her, seit ... aber sie konnte sich nun einmal nicht auf Kommando verlieben. Und wenn Isa ehrlich zu sich selbst war, dann wollte sie sowieso mit keinem anderen Mann als mit Arne schlafen ...

Die Hauptkommissarin riss sich aus ihren privaten Betrachtungen los. Sie musste sich an die Tatsachen halten, sonst würde sie diesen Fall niemals lösen. Nora war die Geliebte des Chefredakteurs gewesen, hatte sich allerdings kurz vor ihrem Tod nicht mit ihm beschäftigt. Jedenfalls nicht im Bett. Gab es dafür einen Grund – außer, dass sie vermutlich viel zu tun hatte? Das wollte Isa nachprüfen.

Und dann stieß sie plötzlich auf eine Kleinigkeit im Bericht, die sie bisher überlesen hatte.

Der Gerichtsmediziner Dr. Scholl hatte bei Nora Fabian im Bereich der Halswirbelsäule eine Quetschung festgestellt. Diese war vermutlich durch einen festen Handgriff entstanden. Isa wurde stutzig. Was hatte das zu bedeuten? An keiner anderen Stelle von Noras Körper waren Hämatome, also Blutergüsse, festgestellt worden.

Stand diese Quetschung im Zusammenhang mit Noras Tod? Oder hatte die Reporterin sich die Verletzung anderweitig zugezogen?

Jedenfalls stand nach der Obduktion nun hundertprozentig fest, dass Nora Fabian durch die Schnitte an ihren Handgelenken ums Leben gekommen war.

Aber was hatte diese Quetschung an der Halswirbelsäule zu bedeuten?

Isa dachte angestrengt nach, aber ihr fiel keine passende Lösung ein. Und dann war da ja auch immer noch dieses verflixte Babysöckchen, für das es keine einleuchtende Erklärung gab ...

Das Telefon schrillte und riss Isa aus ihren Grübeleien. Sie hob den Hörer ab.

„3. Mordbereitschaft, Boysen.“

Am anderen Ende der Leitung war eine Oberschwester aus dem AKH Harburg. Sie teilte Isa mit, dass Peter Tillmann nun aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht sei.

Isa bedankte sich und versprach, gleich zu kommen.


Sechstes Kapitel

Der Bezirk Harburg war früher eine eigenständige Stadt gewesen und erst durch das Großhamburggesetz in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein Teil der Metropole Hamburg geworden.

Isa kämpfte sich durch den vorweihnachtlichen Dauerstau auf den Elbbrücken. Im Hospital verschaffte sie sich mit ihrem Dienstausweis Zugang zu Peter Tillmanns Krankenzimmer.

Der Obdachlose lag in seinem Krankenbett. Er sah etwas besser aus als bei der ersten Begegnung mit Isa. Aber wie das blühende Leben wirkte er trotzdem nicht. Das war allerdings auch kein Wunder. Die Nachricht vom Tod seiner Ex-Freundin schien ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen zu haben.

Isa nahm sich einen der Plastikstühle und setzte sich neben sein Bett.

„Erinnern Sie sich an mich, Herr Tillmann?“

„Gewiss, Frau Kommissarin. Von Ihnen habe ich erfahren, dass Nora ... dass sie ...“

Die Kriminalistin befürchtete schon, dass Tillmann wieder schlappmachen würde. Aber er hatte offenbar Kreislauf stabilisierende Medikamente bekommen.

„Ja, Herr Tillmann. Ich wundere mich nur, dass Sie noch nichts von Nora Fabians Ende wussten. Die Hamburger Medien haben doch heute Morgen kein anderes Thema.“

Der Ex-Freund der Ermordeten grinste freudlos.

„Sehe ich aus wie ein fleißiger Zeitungsleser, Frau Kommissarin? Wenn ich mal eine Gazette in die Hand kriege, schaue ich mir höchstens mein Horoskop an. Und das auch nur dann, wenn es positiv ausfällt. Und ein Radio oder ein Fernseher zählen ebenfalls nicht zu meinen irdischen Besitztümern.“

„Können Sie sich denn noch erinnern, wo Sie am 4. Dezember zwischen drei und vier Uhr morgens waren?“, fragte Isa direkt.

„Am 4. ... ja, da muss ich mit dem Nachtbus nach Bergedorf unterwegs gewesen sein.“

„Was wollten Sie denn um diese Zeit in Bergedorf, Herr Tillmann?“

„Gar nichts, Frau Kommissarin. Ich bin nur mit dem Bus gefahren, um mich aufzuwärmen. Als ich in Bergedorf angekommen war, bin ich zum Rathausmarkt zurückgekehrt. Dort, wo sich die Nachtbuslinien kreuzen. Dann habe ich noch einen Ausflug nach Langenhorn gemacht.“

„Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie keine nächtliche Bleibe haben. Hätten Sie dann nicht besser in der Obdachlosen-Notunterkunft bleiben können?“

„Im Nachtbus holt man sich aber keine Läuse“, gab Tillmann trocken zurück. „Außerdem bin ich nicht jede Nacht draußen. Manchmal kann ich auch bei Freunden schlafen.“

Isa schrieb mit. Immerhin hatte Tillmann eine Art Alibi vorzuweisen. Es war sogar möglich, dass sich der Nachtbusfahrer an ihn erinnern konnte. Die Leute vom HVV (Hamburger Verkehrsverbund) hatten oftmals ein erstaunliches Personengedächtnis ...

„Warum wollten Sie denn wissen, was ich in der Nacht gemacht habe, Frau Kommissarin?“

„Weil in diesem Zeitraum Ihre Ex-Freundin getötet wurde“, gab Isa unumwunden zu. Sie wollte Tillmann nichts vormachen. Sonst würde sie nur unglaubwürdig erscheinen. Der Obdachlose starrte die Kriminalistin fassungslos an.

„Sie ... Sie trauen mir zu, dass ich Nora getötet haben könnte?“

Die Hauptkommissarin machte eine unbestimmte Handbewegung.

„Immerhin waren Sie einmal sehr eng mit ihr befreundet, Herr Tillmann. Außerdem haben wir Hinweise auf verschiedene Arten von Psychoterror, mit dem Sie Ihre Ex-Freundin in den vergangenen Monaten gequält haben.“

„Ich?“ Peter Tillmann wirkte weder verärgert noch schuldbewusst, sondern eher vollkommen verblüfft. „Ich soll Nora terrorisiert haben?“

„Sie leugnen es also?“

„Allerdings, Frau Kommissarin. Als Nora mit mir Schluss gemacht hat, bin ich sozusagen in ein tiefes Loch gefallen. Jedenfalls sehe ich das heute so. Der gesamte Spätsommer, Herbst und der bisherige Winter kommen mir vor wie ein einziger Albtraum. Ich wollte Nora überhaupt nicht mehr wieder sehen, glauben Sie mir. Das ist die einzige Möglichkeit, irgendwann über Nora hinwegzukommen. Deshalb vermeide ich alle Orte, an denen ich meiner Ex-Freundin noch einmal über den Weg laufen könnte.“

Das klang einleuchtend, wie Isa fand. In das schäbige Wettbüro am Veddeler Marktplatz hatte sich eine erfolgreiche Gesellschaftsjournalistin wie Nora Fabian gewiss niemals verirrt.

Isa dachte einen Augenblick lang über Tillmanns Worte nach. Angenommen, er sagte die Wahrheit. Wer sonst könnte einen Nervenkrieg gegen Nora angezettelt haben? Oder existierte dieser Terror vielleicht nur in der Fantasie von Ines Bern? Bisher hatte jedenfalls kein anderer Zeuge etwas davon erwähnt. Es konnte natürlich auch sein, dass Nora bei den Recherchen für ihre „Geheimstory“ sich mit Halsabschneidern angelegt hatte ...

Es war, als hätte Peter Tillmann Isas Gedanken gelesen. Er begann wieder zu sprechen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Seine Worte kamen langsam und zögerlich über seine Lippen. So, als würde ihm erst beim Reden einfallen, was er eigentlich sagen wollte.

„Ich habe Nora geliebt, Frau Kommissarin. Für mich war immer klar, dass ich sie eines Tages heiraten wollte. Vielleicht hätte ich ihr das deutlicher sagen sollen. Aber es hätte wohl auch nichts genutzt. Nora hat sozusagen für ihre Karriere gelebt. Es ist wohl auch kein Zufall, dass sie nach mir ausgerechnet mit ihrem Chefredakteur liiert war.“

„Sie wissen davon?“

„Ja, ich habe es erfahren. Immerhin war Nora so rücksichtsvoll, es mir nicht an den Kopf zu knallen.“

„Glauben Sie, Ihre Ex-Freundin war aus Berechnung mit Raimund Wecker zusammen?“

Der Mann im Krankenbett grinste verlegen, wurde dann aber wieder ernst.

„Also, das will ich ihr nicht unterstellen. Jedenfalls nicht bewusst. Aber so hat Nora nun einmal getickt, verstehen Sie? Ich weiß ja nicht, was innerlich bei ihr abgelaufen ist. Kann ja sein, dass sie sich wirklich in diesen Herrn Wecker verliebt hat.“

„Was haben Sie eigentlich früher beruflich gemacht, Herr Tillmann?“

„Ich war Architekt, Hoch- und Tiefbau. Und wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich ein solcher Verlierer werden könnte wie ich es jetzt bin, hätte ich es nie geglaubt.“

„Vielleicht sollten Sie Ihr Selbstmitleid aufgeben und sich mal wieder bewerben“, sagte Isa hart. „Ob Sie es glauben oder nicht – es gibt immer noch ein paar Arbeitgeber, bei denen man eine zweite Chance bekommt.“

Tillmann starrte die Kriminalistin an, als würde er einen Geist sehen. Dann nickte er langsam.

„Ja, ich verstehe, was Sie meinen. So merkwürdig es klingt, aber jetzt kann ich mir vorstellen, wieder in meinen alten Beruf zurückzukehren. – Ich meine, Nora ist nun leider tot. Ich muss meine Träume von einer gemeinsamen Zukunft endgültig begraben.“

Isa wollte etwas einwerfen, aber der Obdachlose redete schon weiter.

„Aber halten Sie bitte Nora Fabian nicht für eine eiskalte Karrierefrau, Frau Kommissarin. Das war sie nämlich nicht. Gewiss, sie hat immer ihre finanziell einträglichen Klatschgeschichten über Prominente gebracht. Davon hat sie sehr gut gelebt. Aber es gab auch ein Thema, das ihr wirklich am Herzen lag. Da hat sie monatelang recherchiert, ohne auch nur einen roten Cent dafür zu sehen. Nun ist Babyhandel ja auch wirklich kein Thema für eine bunte Illustrierte ...“

„Wie war das?“, unterbrach Isa den Ex-Freund der Ermordeten. Tillmann erschrak über die heftige Reaktion der Hauptkommissarin.

„I ... ich meinte nur, dass Nora keine eiskalte Karrierefrau gewesen ist und ...“

„Ich spreche von dem Babyhandel, Herr Tillmann! Was wissen Sie darüber?“

Der Mann hob abwehrend die Hände.

„Nichts, Frau Kommissarin. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Nora heimlich recherchiert hat zu dem Thema. Sie hat irgendwie Wind davon bekommen, dass eine große Organisation einen schwunghaften Handel mit osteuropäischen Babys betreibt. Hamburg ist sozusagen der Umschlagplatz, wenn man das so nennen will. Nora hat immer ein großes Geheimnis daraus gemacht, dass sie an dieser Story dran ist. Aber einmal hatte sie wohl einen Durchbruch. Da hat sie mir davon berichtet. Doch im gleichen Atemzug sagte sie auch, wie gefährlich diese Leute sind. – Meinen Sie, die haben Nora auf dem Gewissen?“

„Das kann ich Ihnen unmöglich sagen, Herr Tillmann“, erwiderte Isa. Sie dachte an das einzelne Babysöckchen. Plötzlich bekam dieser Gegenstand eine große Bedeutung. Und es erschien überhaupt nicht mehr sinnlos, dass Nora den kleinen Strumpf mit sich herumgetragen hatte ...

„Ich muss Sie dringend bitten, über diese Sache mit dem Babyhandel Stillschweigen zu bewahren, Herr Tillmann. In Ihrem eigenen Interesse.“

Isa war plötzlich wie elektrisiert. Sie sah nun den Tod „der Nachtigall“, wie Nora Fabian ja genannt wurde, in einem völlig anderen Licht. Raimund Wecker hatte Recht gehabt. Die amüsanten Klatschgeschichten, die Nora normalerweise verzapfte, waren kein Grund für einen kaltblütigen Mord.

Aber das Wissen über organisierten Kinderhandel schon!

Darum hatte also Nora Fabian auch gegenüber der Praktikantin Jasmin Ehlers nicht verlauten lassen, wovon ihre „Geheimstory“ handelte. „Die Nachtigall“ wollte ihre junge Mitarbeiterin schützen. Ob sie geahnt hatte, in welcher Gefahr sie schwebte ...?

Isa stand tatendurstig auf. Jetzt war sie endlich auf dem richtigen Weg bei ihren Ermittlungen.

„Herr Tillmann, ich bin keine Ärztin. Aber ich glaube, ein paar weitere Tage hier im Krankenhaus werden Ihnen gut tun. Kommen Sie also bitte nicht auf die Idee, sich selbst zu entlassen.“

Die Kriminalistin sprach so eindringlich, dass der Ex-Freund der Ermordeten nur ergeben nickte.

„Es kann sein, dass ich Sie schon bald wieder besuche.“

Mit diesen Worten stürmte Isa aus dem Krankenzimmer. Dann sprach sie mit dem Dienst habenden Arzt, nachdem sie sich ihm mit Namen und Dienstgrad vorgestellt hatte.

„Herr Tillmann sollte nicht so bald entlassen werden, Herr Doktor.“

„Darüber haben Sie nicht zu entscheiden“, entgegnete der Mediziner eingeschnappt.

„Nein, das habe ich nicht. Aber ich sage Ihnen, dass Peter Tillmann draußen in Lebensgefahr ist. Ich werde veranlassen, dass er durch Polizisten hier auf Ihrer Station bewacht wird. Es dauert vielleicht nur einen oder zwei Tage. Sie wissen, dass Herr Tillman obdachlos ist. Er wäre außerhalb des Krankenhauses seines Lebens nicht mehr sicher.“

Der Arzt gab schließlich klein bei. Wie so viele Menschen wollte er sich keinen unnötigen Ärger einhandeln. Isa telefonierte sofort mit der zuständigen Revierwache und bat darum, dass ständig ein uniformierter Polizeikollege vor dem Krankenzimmer von Peter Tillmann postiert wurde.

Dann raste die Hauptkommissarin zurück ins Präsidium. Isa war Mordspezialistin. Aber sie bildete sich nicht ein, eine Art Allround-Genie der Polizeiarbeit zu sein. Und speziell mit Babyhandel hatte sie selbst noch niemals zu tun gehabt. Deshalb wollte sie sich mit Kollegen kurzschließen, die mit solchen Delikten bewandert waren.

Isa hatte Glück. Sie traf Oberkommissarin Kerstin Schiller an ihrem Arbeitsplatz an. Die blonde Kriminalistin befasste sich seit Jahren mit Entführungen und Menschenraub. Inzwischen gehörte Kerstin auch zu einer Sonderkommission aus verschiedenen Abteilungen, die gezielt gegen Babyhandel vorging.

Isa steckte den Kopf durch die Bürotür.

„Hast du gerade mal Zeit, Kerstin?“

„Nicht mehr und nicht weniger als sonst“, erwiderte die Oberkommissarin lächelnd. „Was verschafft mir die Ehre deines Besuches? Wir sehen uns ja sonst eher selten, außer in der Kantine.“

„Stichwort Babyhandel, Kerstin. Ich habe den Verdacht, dass eine Journalistin ermordet wurde, weil sie in diesem Bereich etwas aufdecken wollte.“


„Eine deutsche Journalistin?“, fragte die Oberkommissarin zurück, während sie auf ihren Besucherstuhl deutete. Isa nahm Platz.

„Ja, eine gewisse Nora Fabian. Vielleicht hast du von ihrem Tod gehört. Sie ist normalerweise Klatschreporterin. Aber es war ihr wohl ein persönliches Anliegen, Fälle von Babyhandel aufzudecken.“

„Sie hätte bei ihrem Tratsch bleiben sollen“, meinte Kerstin Schiller trocken. „Tut mir Leid, das so brutal sagen zu müssen. Aber Babyhandel ist ein Geschäft des Organisierten Verbrechens, Isa. Diese Leute fackeln nicht lange. Und es sind schon mehrere Reporter spurlos verschwunden oder tot aufgefunden worden, weil sie sich zu sehr für dieses schmutzige Geschäft interessiert haben. Okay, die meisten hat es in Russland, Polen und der Ukraine erwischt. Diese Nora Fabian wäre also das erste deutsche Opfer unter den Journalisten.“

„Organisiertes Verbrechen.“ Isa wiederholte diese Worte ihrer Kollegin. „Ich kann dir leider nicht sagen, wie viel Nora Fabian vor ihrem Tod über den Babyhandel herausgefunden hat. Aber was wissen denn wir, die Kripo Hamburg, über diese illegalen Machenschaften?“

Kerstin Schiller seufzte.

„Zu wenig, fürchte ich. Wir kommen nicht an die Hintermänner heran, und es gibt kaum Zeugen, die aussagen wollen. Alle haben Angst. Hinzu kommt, dass wir uns an Recht und Gesetz halten müssen. Diese ermordete Reporterin hat das vielleicht nicht so eng gesehen, wenn du verstehst, was ich meine ...“

Isa verstand nur zu gut. Es war denkbar, dass Nora Fabian sich Insidertipps gekauft hatte. Und zwar von Verbrechern, die selbst in den Babyhandel verwickelt waren. Das wäre auch eine einleuchtende Erklärung für die hohen Barbeträge, die sie in den letzten Monaten von ihrem Konto abgehoben hatte.

Die Sache mit dem Psychoterror stellte Isa gedanklich einstweilen zurück.

„Weißt du überhaupt, wie dieser Babyhandel über die Bühne geht, Isa?“, fragte die Oberkommissarin.

„Nicht so richtig, ehrlich gesagt.“

„Zunächst muss man als Hintergrundinformation wissen, dass sehr viele Paare gern ein Kind adoptieren wollen“, begann Kerstin mit ihrer Erklärung. „Aber es gibt nicht annähernd so viele deutsche Babys und Kleinkinder, die zur Adoption freigegeben werden, wie entsprechend interessierte Paare. – Bei Auslandsadoptionen sieht das allerdings schon anders aus.“

„Vor allem, wenn die Kasse stimmt?“

Kerstin lachte freudlos auf.

„Schöner hätte ich es auch nicht ausdrücken können, Isa. Mit 20.000,00 Euro bist du dabei, wenn du ein Baby kaufen willst. Du kannst dir den Steckbrief des Kindes im Internet anschauen. Komplett mit Geburtsdatum, Gewicht, Größe und allem drum und dran.“

„Und wo kommen die Kinder her?“

„Die Hitliste der Auslandsadoptionen wird von Russland angeführt, gefolgt von China, Südkorea und Guatemala. Die asiatischen Länder haben natürlich den Nachteil, dass die von dort stammenden Babys nicht gerade europäisch aussehen. Da können sich die frisch gebackenen Adoptiveltern nicht in der Illusion wiegen, es wäre doch in Wahrheit ihr eigenes Kind.“

„Was ist mit den leiblichen Müttern?“

„Was soll mit ihnen sein, Isa? Oftmals sind es Teenager, die ungewollt schwanger geworden sind. Gerade in armen Ländern ist das eine Katastrophe. Vor allem, wenn kein Mann und Ernährer da ist. Was meinst du, wie froh diese armen Mädchen sind, wenn ihnen nach der Geburt ein netter Onkel 50 US-Dollar in die Hand drückt und dafür das Baby mitnimmt.“

„Für mich klingt das grausam.“

„Es ist grausam, kein Zweifel. Aber so einfach ist das nicht, Isa. Ehrlich gesagt: Dieses kleine Baby hat bei einem stolzen deutschen Mittelstands-Ehepaar unendlich viel bessere Überlebenschancen als in einer schäbigen Hütte in den Slums von Guatemala-City.“

„Aber illegal bleibt dieser Verkauf trotzdem.“

„Sicher, Isa. Ich wollte diese Praktiken auch nicht verteidigen. Ich wollte dir nur verdeutlichen, mit welchen Schwierigkeiten wir bei unseren Ermittlungen zu kämpfen haben.“

„Gut, das verstehe ich. Nehmen wir einmal an, Nora Fabian wurde wirklich wegen ihrer Recherchen zum Thema Babyhandel ermordet. Dann müsste die Mörderin oder der Mörder ebenfalls in das Organisierte Verbrechen verstrickt sein.“

Kerstin Schiller nickte.

„Es sei denn, der Mörder war ein Auftragskiller.“

Isa schüttelte den Kopf.

„Ich denke, dass die Reporterin ihren Mörder gekannt hat. Ich muss es nur noch beweisen.“

Isas Handy schrillte, bevor sie noch mehr sagen konnte.

Die Hauptkommissarin warf ihrer Kollegin einen entschuldigenden Blick zu und aktivierte das Mobiltelefon.

„Boysen.“

„Wo stecken Sie denn, Frau Boysen?“, bellte Dr. Kranach.

„Ich bin hier im Hause, Herr Kriminaloberrat. Im Präsidium, meine ich. Ich ...“

„An Ihrem Arbeitsplatz sind Sie jedenfalls nicht! Sitzen Sie in der Kantine? Ich musste gerade Herrn Weger nach Hause schicken, weil er vor Fieber schon geglüht hat. Aber deshalb rufe ich nicht an. – Sie, Frau Boysen, wollten informiert werden, wenn Polizeikollegen bei Ermittlungen mit Babys zu tun bekommen.“

Isas Puls beschleunigte sich.

„Ja, Herr Kriminaloberrat.“

„Nun, eine Fußstreife hat in Altona eine junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm in Gewahrsam genommen. Die Person macht einen verdächtigen Eindruck, spricht kein Deutsch und hat keine gültigen Ausweispapiere. – Mir ist zwar schleierhaft, was das mit dem Mordfall Nora Fabian zu tun haben soll ...“

„Vielleicht eine ganze Menge, Herr Dr. Kranach. – Wurde die Frau auf die Wache gebracht?“

„So ist es, Frau Boysen. Wegen dem Kind haben die Kollegen außerdem das Jugendamt eingeschaltet. Aber jetzt erklären Sie mir gefälligst ...“

„Nach meinem jetzigen Ermittlungsstand ist Nora Fabian wahrscheinlich dem Organisierten Verbrechen zum Opfer gefallen, der Russenmafia oder einer ähnlichen Vereinigung. Ich will jetzt nach Altona fahren und mir die Festgenommene selbst anschauen. Ich erkläre Ihnen alles Weitere später, Herr Kriminaloberrat.“

Isa schaltete ihr Handy ab. Sie war sicher, dass ihrem Vorgesetzten noch unzählige Fragen auf der Zunge lagen. Aber das musste warten. Auch Dr. Kranach wusste natürlich, dass Untaten des Organisierten Verbrechens besonders heikel aufzuklären waren. Denn Gangster gingen ohne Rücksicht auf Verluste vor und scherten sich nicht um Menschenleben ...

Isa fuhr in einem zivilen Opel Vectra Richtung Altona. Sie konnte sich nur schwer konzentrieren. Normalerweise setzte sie sich in diesem Zustand nicht gern ans Steuer. Aber die Kriminalistin wusste jetzt noch nicht, welche Aufgabe sie als Nächste erwartete. Da war es einfach praktischer, einen fahrbaren Untersatz zur Verfügung zu haben.

Wenig später betrat die Hauptkommissarin die Revierwache an der Kieler Straße. Isa hatte sich nicht telefonisch angemeldet. Sie wusste aus Erfahrung, dass die Beweisaufnahme mit Verdächtigen ohne Deutschkenntnisse im Schneckentempo vor sich ging.

„Hallo, Isa.“ Ein älterer grauhaariger Hauptwachtmeister in Uniform nickte ihr freundlich zu. Er hieß Harry Schulte und konnte nicht viel jünger als Isas Vater sein. Demnach stand seine Pensionierung vermutlich spätestens im nächsten Jahr an.

„Guten Tag, Harry. Ich komme wegen der Ausländerin mit Baby, die von euch aufgegriffen wurde.“

„Aufgegriffen ist der richtige Ausdruck.“ Der ältere Polizist lachte ohne Humor. „Die arme Deern wäre beinahe zusammengeklappt. Sie stand kurz vor einer Ohnmacht. Ob nun durch den Anblick der Polizeiuniformen, wegen Drogen oder sonst was – keine Ahnung. Jedenfalls wäre sie beinahe gestürzt und hätte fast das Kind fallen lassen.“

Harry schüttelte seinen grauen Kopf.

„Ihr habt sie doch ärztlich untersuchen lassen, oder?“

„Klar, für wen hältst du uns? Die Amtsärztin meint, sie wäre nicht krank. Nur ausgehungert und erschöpft. Sie schmort jetzt da in Monikas Dienstzimmer vor sich hin. Immerhin haben wir rausgekriegt, dass die Dame aus Polen stammen muss. Wir warten auf die Dolmetscherin, damit wir sie richtig ins Gebet nehmen können. Einstweilen hat sie einen riesigen Berg belegter Brote spendiert bekommen.“

Isa grinste.

„Ihr habt eben ein gutes Herz. Und was ist mit dem Baby?“

„Das schläft friedlich auf Monikas Schreibtisch in einem Kinder-Tragekorb, der hier noch rumstand. Du weißt ja: Ein Polizeirevier kann nie genug Ausrüstung haben, egal welcher Art.“

„Wahr gesprochen. Dann werde ich mal zu Monika rüber gehen. – Bis später, Harry.“

Isa kannte sich auf dieser Polizeiwache aus, wie auf den meisten größeren Revieren ihrer Heimatstadt. Das Büro von Kommissarin Monika Lohmeyer befand sich links am hinteren Ende eines Ganges, der vom großen Wachraum abzweigte. Die Kriminalistin klopfte an und trat ein.

Monika Lohmeyer blickte auf. Im Gegensatz zu Isa war sie in Uniform.

„Ach, du bist es, Isa. Ich warte eigentlich auf die Dolmetscherin.“

„Damit kann ich nicht dienen“, sagte die Hauptkommissarin und gab ihrer Kollegin die Hand. „Aber wenn du erlaubst, möchte ich an der Befragung teilnehmen.“

Die Kommissarin zuckte mit den Schultern.

„Von mir aus gerne. Wir müssen hier eigentlich sowieso nur die Personalien der Frau feststellen. Wenn sie keine gültigen Papiere hat, geht der Fall an die Ausländerbehörde.“

Das wusste Isa natürlich auch. Sie nickte der Polin zu, die den Wortwechsel zwischen den Beamtinnen mit wachsender Panik verfolgt hatte. Verstand sie wirklich kein Deutsch oder weigerte sie sich nur zu sprechen? Das konnte Isa unmöglich einschätzen. In dem Dienstzimmer herrschte eine gespannte Atmosphäre. Nur das Baby in dem Tragekorb schlief unbeeindruckt den Schlaf des Gerechten.

„Ich kann uns ja mal einen Kaffee holen“, schlug Isa vor, um die Situation zu entkrampfen. Immerhin hatte die Polin die Butterbrote aufgegessen. Dann würde sie wohl nicht so bald zusammenklappen.

Im Grunde empfand Isa tiefes Mitleid für die Frau. Es war bestimmt nicht gerade angenehm, allein in einem fremden Land mit einem Säugling auf dem Arm von der Polizei festgenommen zu werden. Aber von solchen Gefühlen durfte sich die Kriminalistin nicht leiten lassen. Sie hatte einen Mord aufzuklären. Es bestand immerhin die vage Chance, dass die Aussage der bisher namenlosen Polin ihr dabei helfen konnte.

Endlich traf die vereidigte Gerichtsdolmetscherin ein. Monika schaltete ihren Computer ein. Es war ohnehin Vorschrift, dass bei solchen Befragungen zwei Kriminalbeamtinnen oder Kriminalbeamten anwesend waren. Durch das Dolmetschen gab es natürlich immer wieder kurze Verzögerungen. Aber das störte Isa nicht. Sie war froh, dass die Frau aus Polen überhaupt aussagte. Die meisten Fragen wurden von Isa selbst gestellt.

„Wie heißen Sie?“

„Maria Kaminski.“

Isa musste unwillkürlich grinsen. Dieser Name war in Polen wahrscheinlich genauso häufig wie in Deutschland Angela Müller.

„Warum haben Sie keine Personalpapiere bei sich, Frau Kaminski?“

„Ich habe meinen Reisepass verloren.“

„Wie lautet der Name Ihres Kindes?“

„Andreas.“

Isa runzelte die Stirn.

„Das ist aber ungewöhnlich. Ich meine, er klingt nicht sehr polnisch. Wäre es nicht passender, Ihren Sohn Andrej zu nennen?“

„Ich finde Andreas aber schöner“, behauptete die angebliche Maria Kaminski.

„Ist es nicht vielmehr so, dass ein Baby mit einem deutschen Namen in Deutschland einfacher Adoptiveltern findet?“, sagte Isa der Polin auf den Kopf zu. Das entsetzte Gesicht ihres Gegenübers bewies ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war. Aber Maria leugnete immer noch.

„Ich weiß nichts von einer Adoption.“

„Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?“, fragte Isa.

„Ich ... ich wollte eine Freundin besuchen.“

„Sehr gut.“ Isa zog das Telefon zu sich heran. „Dann können wir Ihre Freundin gleich einmal anrufen, damit sie Sie und Ihr Baby später abholen kommt. Sie wollen doch nicht Ihre ganze Zeit in Deutschland auf der Polizeiwache verbringen, oder?“

„Nein.“ Maria Kaminski schlug die Augen nieder und wurde knallrot. Sie warf Isa dann und wann einen verstohlenen Blick zu.

„Ich habe den Zettel mit der Telefonnummer meiner Freundin verloren“, brachte die Polin schließlich hervor.

„Kein Problem.“ Isa ging zum Regal hinüber und klopfte auf die dicken gelben Bände des Hamburger Telefonbuchs. „Nennen Sie mir einfach den Namen Ihrer Freundin. Sie wird gewiss im Telefonbuch stehen.“

Maria Kaminski brach der Angstschweiß aus, nachdem die Dolmetscherin Isas Worte übersetzt hatte. Die nächste Äußerung kam allerdings von dem kleinen Andreas. Das Baby war aufgewacht und begann zu weinen. Maria Kaminski schaute unsicher die Polizistinnen und die Dolmetscherin an. Isa machte eine auffordernde Handbewegung, die international verständlich war.

Daraufhin nahm die junge Mutter ihren kleinen Sohn hoch, knöpfte ihre Bluse auf und legte ihn an die Brust. Maria säugte ihr Baby liebevoll. Es fiel der Kriminalistin schwer, sich vorzustellen, dass die Polin ihr Kind weggeben wollte. Aber andererseits sprach in diesem Fall alles für einen versuchten Babyverkauf.

Verflixt!

Als der kleine Andreas satt und zufrieden war, sprach Isa langsam und eindringlich auf die junge Mutter ein.

„Maria, lassen Sie uns mit offenen Karten spielen. Diese Geschichte von Ihrer Freundin glaube ich Ihnen nicht. Ich denke vielmehr, dass Sie Ihr Baby zur Adoption freigeben wollen. Und zwar deshalb, weil Sie Geld brauchen. Ich kann Sie verstehen, aber diese Art der Adoption verstößt gegen deutsche Gesetze. Außerdem würden Sie Ihr Kind niemals wieder sehen. Das hat man Ihnen wahrscheinlich nicht gesagt.“

Isa fand selbst, dass ihre Worte sehr hart klangen. Aber sie konnte die Wirklichkeit nun einmal nicht in Zuckerwatte packen. Auch wenn die Hauptkommissarin es manchmal gerne gewollt hätte.

Maria Kaminski – falls sie wirklich so hieß – begann prompt zu schluchzen. Sie hörte sich sehr verzweifelt an, wie Isa fand. Und während sie weinte, drückte sie ihr Baby an sich. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hätte.

Die Polin wandte sich direkt an Isa, als sie mit brüchiger Stimme das Wort ergriff.

„Ich danke Ihnen, Frau Kommissarin. Sie haben mir die Augen geöffnet. Ich hatte nämlich wirklich gedacht, dass ich meinen Andreas regelmäßig besuchen dürfte. Ich wollte doch nur, dass er es besser hat. Bei einer reichen Familie in Deutschland. Das war mein Traum. Ich bin allein, müssen Sie wissen. Marek, der Vater von Andreas, hat mich verlassen. Und dann habe ich eine Zeitungsanzeige gelesen ...“

„Wo und wann war das?“, hakte Isa nach.

„In Krakau, in einem kostenlosen Anzeigenblatt. Es wurden Mütter von gesunden Babys gesucht, die ihr Kind nach der Geburt in Deutschland zur Adoption freigeben wollten. 1.000,00 Euro Prämie sollte es geben. Über eine Telefonnummer konnte man Kontakt aufnehmen.“

„Und das haben Sie offenbar getan.“

„Ich war verzweifelt, Frau Kommissarin. 1.000,00 Euro sind in Polen viel Geld. Ich hätte Andreas und mich damit ziemlich lange über Wasser halten können.“

„Sie haben demnach noch kein Geld bekommen?“

„Nein, die Summe sollte ich erst bei Übergabe meines Kindes erhalten. Aber ich muss wohl irgendetwas falsch verstanden oder falsch gemacht haben. Ich kann ja leider auch kein Deutsch. Jedenfalls habe ich die Kontaktleute verpasst. Und dann bin ich Ihren Kollegen in die Hände gelaufen.“

„Wie sind Sie eigentlich ohne Ausweispapiere über die Grenze gekommen?“

„Ich hatte einen falschen deutschen Personalausweis“, gab die Polin freimütig zu. „Aber den hat mir einer von den Leuten gleich hinter der Grenze wieder abgenommen. Er meinte, da ich jetzt in Deutschland sei, könnte mir nicht mehr viel passieren.“

Da hat er sich getäuscht, dachte Isa grimmig. Aber sie sagte: „Erzählen Sie mir noch etwas von dem Treffen in Krakau. Sie riefen also die Telefonnummer an ...“

„Ja, genau. Eine Frau war am Apparat. Sie sprach Polnisch mit deutschem Akzent. Ich fand sie sofort sehr nett. Sie lud mich in ihr Büro ein. Das war in einem Gebäude in der Krakauer Altstadt.“

Isa kam plötzlich eine Idee. Es war mehr eine vage Hoffnung. Aber ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, dass bei der Polizeiarbeit alle denkbaren Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen.

„Könnten Sie mir diese Frau beschreiben? Damit wir ein Phantombild erstellen können?“ Noch bevor Maria Kaminski antworten konnte, wandte sich Isa an ihre Polizeikollegin: „Monika, du hast doch so ein Zeichenprogramm auf deinem Rechner?“

„Ja, habe ich.“

Die nächste Stunde verging mit konzentrierter Arbeit. Zum Glück hatte die Polin ein gutes Personengedächtnis. Natürlich hatte sich die Verbrecherin von der Kinderhändler-Mafia der jungen Mutter auch vorgestellt. Sie nannte sich Frau Dr. Graf. Ein Name, der sich für Isa mindestens ebenso falsch anhörte wie Maria Kaminski.

Allmählich gewann das Phantombild an Konturen. Die brünette Kriminalistin konnte ihren Blick nicht davon abwenden. Moderne Grafikprogramme zur Darstellung von Verdächtigen waren viel besser als die früheren Schablonenbilder, auf denen die Personen eher an Karikaturen erinnerten.

Und dann, von einem Moment zum nächsten, hatte Isa ganz klar den Mord an Nora Fabian vor ihrem geistigen Auge. Sie wusste nun, wer die Tat begangen hatte. Und es gab auch eine sehr wahrscheinliche Erklärung dafür, dass das Opfer bewegungslos und stumm sein eigenes Ausbluten miterleben musste. Ganz eindeutig war diese Möglichkeit allerdings noch nicht. Dafür musste Isa einen Experten zu Rate ziehen.

Und zwar Meister Chen, ihren chinesischen Kung-Fu-Lehrer!


Siebtes Kapitel

 

Kommissarin Monika Lohmeyer war etwas überrascht, weil Isa so hastig aufbrach. Schließlich hatte die Mordspezialistin den größten Teil der Befragung geführt.

„Tut mir Leid, wenn ich euch jetzt im Stich lasse“, rief Isa über die Schulter, während sie hinauseilte. „Aber ich kann es nicht riskieren, dass mir die Mörderin durch die Lappen geht.“

Die Hauptkommissarin sagte sich, dass Maria Kaminski und ihr Baby einstweilen ohnehin im Polizeigewahrsam bleiben würden. Vermutlich musste erst mit Hilfe der polnischen Botschaft die wahre Identität der Frau festgestellt werden. Aber darum konnte Isa sich später Gedanken machen.

Von Altona nach St. Pauli war es nicht weit. Vom vorweihnachtlichen Geschenkekäufer fehlte jede Spur in der tristen Seitenstraße der Reeperbahn, wo Meister Chen seine Kung-Fu-Schule „Yin und Yang“ schon seit vielen Jahren führte. Nur einzelne Männer hasteten vorbei. Die meisten von ihnen waren gewiss auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer mit einer der Bordsteinschwalben, die auf dem Straßenabschnitt in Hafennähe auf Kunden warteten.

Isa parkte ihr Dienstfahrzeug in der zweiten Reihe, schaltete die Warnblinkanlage ein und eilte in das Gebäude. Schon von weitem vernahm sie das dumpfe Geräusch, wenn Fäuste oder Füße gegen prallgefüllte Sandsäcke knallen. Außerdem das unterdrückte Keuchen, wenn Kampfsport-Schüler bei Partnerübungen sich gegenseitig zu Boden zu bringen versuchen. Das hier war Isas Welt, ihr geliebtes Hobby. Und doch war sie jetzt dienstlich hier ...

Um ein Haar hätte sie sogar den Dojo, die eigentliche Trainingshalle, mit Straßenschuhen betreten. Im letzten Moment bekam Isa noch die Kurve und streifte ihre Pumps ab. Auf Strumpfhosensohlen hüpfte sie in die mit Matten ausgelegte Halle.

Meister Chen war persönlich anwesend. Isa verbeugte sich tief, wobei sie die rechte Faust gegen die linke Handfläche presste. Der Chinese erwiderte den traditionellen Kämpfergruß seiner Heimat. Natürlich war ihm nicht entgangen, dass Isa Straßenkleidung trug. Normalerweise trainierten Meister Lis Schützlinge in schwarzen Tai-Chi-Hosen, weißen T-Shirts sowie Kung-Fu-Schuhen aus Stoff. Falls der Kampfsportlehrer erstaunt war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Isa, meine Tochter. Ich vermute, dass du heute nicht zum Lernen gekommen bist?“

„So ist es, Si-fu (Meister). Ich benötige eine dringende Auskunft.“

„Man sieht am Flackern deiner Augen, wie eilig es dir ist, meine Tochter“, schmunzelte der Chinese. Aber dann wurde er sofort wieder ernst. „Wir gehen in mein Büro.“

Isa folgte Meister Chen in den kleinen Raum, wo er die Verwaltungsarbeit seiner Schule verrichtete. Abgesehen von einem kleinen buddhistischen Altar und einem chinesischen Tierkreiszeichen-Kalender an der Wand unterschied sich das Büro nicht von anderen fensterlosen Räumen, die heillos mit Akten vollgeräumt waren. Immerhin fand noch ein Schreibtisch mit Computer seinen Platz.

Der Meister schaute die Hauptkommissarin auffordernd an. Isa fiel sofort mit der Tür ins Haus.

„Meister, gibt es einen Griff, den man hier anwenden kann?“

Während Isa diese Frage stellte, senkte sie ihren Kopf und deutete auf eine bestimmte Stelle an ihrer Halswirbelsäule. Genau dort, wo laut Obduktionsbefund die Quetschungen bei Nora Fabian festgestellt wurden. Isa hatte sich die Tatortfotos sehr genau angeschaut.

„Warum fragst du das?“, bellte Meister Chen. Isa hatte ihn noch niemals so zornig erlebt. Der Chinese war für sie immer der Inbegriff an Selbstbeherrschung gewesen.

Stockend erzählte sie von ihrem Kriminalfall, von dem vorgetäuschten Selbstmord, von den ungesühnten Verbrechen der Babyhändler.

Meister Chen nickte grimmig. Seine Stimme war nun wieder ruhiger, als er das Wort ergriff.

„Du hast Recht, meine Tochter. Es gibt einen solchen Griff. Er führt zum Verstummen und zur Lähmung des Gegners. Du weißt, dass man mit Kung Fu auch töten kann?“

„Ja, Si-fu.“

„Es gibt Techniken, die kein normaler Meister lehren würde“, fuhr Chen fort. „Ich selbst natürlich auch nicht. Du weißt, wo die Urzelle unseres Kampfstils liegt?“

„Im Shaolin-Kloster“, antwortete Isa.

„Ja, meine Tochter. Wir führen die Tradition von heiligen Männern fort. Die gefährlichsten Techniken bleiben den Schülern mit der höchsten inneren Reife vorbehalten. Und es wäre undenkbar, dass ein solcher Griff an eine verbrecherische Kreatur weitergegeben wird.“

Meister Chen las in Isas Augen die Frage und sprach weiter.

„Doch nicht alle Kämpfer besitzen dieses Gefühl für höchste Ehre und Anstand. Leider gibt es auch nichtswürdige Schufte, die gegen Bezahlung auch Kung-Fu-Techniken des Lähmens und Tötens weitergeben. Man findet diese bösen Meister natürlich bei den Triaden.“

„Du meinst die chinesische Mafia“, vergewisserte sich Isa.

„Wenn du es so nennen willst, Isa, meine Tochter. Obwohl es Vereinigungen wie den Weißen Lotos schon seit dem 13. Jahrhundert gibt. Und damit wesentlich länger als die so genannte Mafia.“

Isa hatte einstweilen genug gehört. Nun passten alle Puzzleteilchen zusammen, aus denen ihr Kriminalfall bisher bestanden hatte. Ihre Unruhe, die sich zeitweilig etwas gelegt hatte, flammte wieder auf. Meister Chen lächelte.

„Ich spüre, dass du fort willst, Isa. Dann gehe deinen Weg. Aber sei vorsichtig. Denn wer das Töten gelernt hat, der wird es auch tun.“

„Danke, Si-fu“, sagte Isa aus vollem Herzen. Sie verabschiedete sich wieder mit dem traditionellen Gruß und stürmte hinaus. Als Isa in ihren Dienstwagen stieg, dachte sie an ihren Vorgesetzten. Nachdem die Hauptkommissarin ihren Chef zuvor am Telefon so kurz abgefertigt hatte, sollte sie ihm nun aber dringend ihren Ermittlungsstand mitteilen.

Immerhin hatte Isa den Fall theoretisch gelöst. Jetzt musste sie nur noch die Mörderin verhaften ...

Als die Kriminalistin wenig später die Räume der 3. Mordbereitschaft betrat, war außer Dr. Kranach niemand mehr anwesend. Der Kriminaloberrat hockte an seinem Schreibtisch, über Akten gebeugt. Er blickte müde auf. Isa hatte soeben sein Büro betreten.

„Ach, Sie gibt es auch noch, Frau Boysen? Haben Sie Neuigkeiten im Fall Nora Fabian? Oder wollen Sie sich ebenfalls krankmelden?“

„Durchaus nicht, Herr Kriminaloberrat. Ich habe mich selten besser gefühlt. Denn jetzt weiß ich genau, dass Nora Fabian ermordet wurde. Es gibt ein überzeugendes Motiv. Und ich wette mit Ihnen, dass die Täterin für die Tatzeit kein überzeugendes Alibi hat.“

Dr. Kranach hob die Augenbrauen. Er machte einen angenehm überraschten Eindruck.

„Nun, dann lassen Sie einmal hören, Frau Boysen.“

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Vom Dienstzimmer des Kriminaloberrats aus konnte man die mächtigen Firmengebäude der City Nord am Überseering sehen. Isa musste plötzlich daran denken, dass manche Verbrecherorganisationen über mehr Macht und Einfluss verfügten als viele von den internationalen Unternehmen, die in den modernen Hochhäusern angesiedelt waren. Dieser Gedanke trug nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung zu heben.

Isa berichtete ihrem Vorgesetzten, wie sich der Mord an Nora Fabian ihrer Meinung nach abgespielt hatte. Dr. Kranach nickte gedankenverloren vor sich hin.

„Die Klatschjournalistin, diese so genannte ,Nachtigall’, musste also sterben, weil sie zu viel herausbekommen hatte?“

Isa nickte.

„Und unsere Kollegen von der Sonderkommission Babyhandel sind nicht in der Lage, diese Mafia-Strukturen aufzudecken?“

„Nein, Herr Kriminaloberrat. Denn wir als Polizeikräfte müssen uns an das Gesetz halten. Damit nahm es Nora Fabian offenbar nicht so genau. Sie hat sich wahrscheinlich mit Leuten eingelassen, die selbst bis über beide Ohren im Sumpf der Organisierten Kriminalität steckten.“

„Gut, das leuchtet mir ein. – Wo hält sich Ihre Mordverdächtige zurzeit auf?“

„Sie müsste noch in Hamburg sein. Sie fühlt sich sicher, jedenfalls glaube ich das.“

Dr. Kranach drohte mit dem Finger.

„Glauben können Sie in der Hauptkirche St. Michaelis, Frau Boysen. Erscheint Ihnen ein Zugriff noch heute Abend möglich?“

„Ja, Herr Kriminaloberrat. Ich habe jetzt alle Beweise zusammengetragen, um die Dame festzunageln.“

„Sehr schön, Frau Boysen. Aber diesmal will ich keine heldenhaften Einzelaktionen von Ihnen erleben. Sie sind schließlich Kriminalhauptkommissarin und kein Stuntgirl!“

Die blonde Kriminalistin nickte nur und sagte innerlich zu allem Ja und Amen. Ihr kam es nur darauf an, die Schuldige endlich ihrer gerechten Strafe zuzuführen ...

 

 

 

Achtes Kapitel

Mehrmals pro Woche verkehrt ein Fährschiff zwischen Hamburg und dem englischen Hafen Harwich, von wo aus die Reisenden per Bahn weiter nach London gelangen können. Die so genannte „Englandfähre“ benötigt etwas mehr als 20 Stunden für die Überfahrt.

Die Schiffe legten im Fähr- und Kreuzfahrtterminal des Hamburger Hafens ab. Das großzügig angelegte Gebäude war weniger als zehn Jahre alt und erinnerte selbst an einen Schiffsrumpf. Außerdem war der Terminal offenbar gut als Hintergrund für Modefotos zu verwenden.

Ines Bern jedenfalls arbeitete an diesem Abend mit einigen Fotomodellen, einem Assistenten, einer kompletten Kameraausrüstung sowie eigens installierten Jupiterleuchten unmittelbar am Fähranleger. Es war allerdings recht ruhig, weil vor dem nächsten Vormittag kein Schiff Richtung England auslaufen sollte.

Daher merkte die Fotodesignerin sofort, dass sie Besuch bekam.

„Frau Boysen!“ Ines Bern blickte auf und lächelte der Hauptkommissarin zu. „Was führt Sie zu mir? Hat man Ihnen in der Redaktion von NUMMER EINS gesagt, dass ich hier bin?“

„Ja, hat man.“ Isa lächelte nicht zurück. Sie hatte die Hände tief in den Taschen ihres Tweedkostüms vergraben. „Und was mich zu Ihnen führt? Das wissen Sie selbst am Besten, Frau Bern.“

Das Lächeln gefror auf den Lippen der jungen attraktiven Frau. Sie rief den Modellen und dem Assistenten zu: „Zwanzig Minuten Pause, Leute!“

Es dauerte nur wenige Minuten, dann waren die Kriminalistin und die Fotodesignerin allein an der windumtosten Anlegestelle. Auf der anderen Seite der Elbe konnte man die Lichter des Containerterminals Waltershof sehen. Ganz zu schweigen von den Positionslaternen der Seeschiffe, die auch spät am Abend noch zu ihren Verladekais bugsiert wurden. Im Hamburger Hafen herrschte rund um die Uhr Betrieb, an 365 Tagen im Jahr.

Ines Bern schaltete höchstpersönlich die mächtigen Beleuchtungskörper aus. Nun wurde der Fährterminal nur noch von den Neonröhren hoch über den beiden Frauen beleuchtet.

„Haben Sie Peter Tillmann verhaften können, Frau Kommissarin?“

Isa zuckte mit den Schultern.

„Er ist in Sicherheit, nennen wir es so. Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass er Nora Fabian getötet hat. – Und zu der Babyhändler-Mafia gehört er auch nicht!“

Ines Bern lachte gekünstelt. Aber ihre Augen lachten nicht mit. Sie blieben wachsam.

„Ich verstehe Sie nicht, Frau Kommissarin.“

Isa ging auf diese Bemerkung nicht ein. Stattdessen sprach sie weiter, als ob sie nur mit sich selbst reden würde.

„Nora Fabian ist nicht betäubt worden. Aber sie hat sich auch nicht selbst das Leben genommen. Warum hätte sie das tun sollen? Wegen dem Psychoterror? Dafür gibt es keinen Beweis. Wenn man einmal von Ihrer Aussage absieht, Frau Bern.“

„Glauben Sie mir etwa nicht?“, brauste die Fotodesignerin auf. Aber sie war nicht so empört, wie es eine unschuldige Frau vermutlich gewesen wäre.

Wieder ließ Isa die Frage in der nach Salz schmeckenden Luft stehen. Weiter elbabwärts ertönte das Nebelhorn eines Frachters. Es klang wie der Schrei eines Seeungeheuers. Jedenfalls für fantasiebegabte Menschen ....

„Es gab keinen Psychoterror gegen ,die Nachtigall’, jedenfalls nicht durch ihren Ex-Freund. Aber er hat mich auf die richtige Spur gebracht. Denn Peter Tillmann wusste von Noras geheimster Story: Der Kinderhändler-Mafia von Hamburg!“

Ines Bern biss sich auf die Unterlippe. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte sie sich wieder innerlich in der Gewalt. Aber Isa hatte die Reaktion trotzdem bemerkt.

„Das Organisierte Verbrechen geht über Leichen“, sagte die Hauptkommissarin. „Das wissen wir von der Kripo Hamburg am Besten. Mir war klar, dass Nora ihren Mörder oder ihre Mörderin gekannt haben musste. Es war jemand, der bei NUMMER EINS arbeitet. Entweder eine fest angestellte Person oder eine freie Mitarbeiterin – so wie Sie, Frau Bern!“

„Sie sind ja verrückt“, murmelte die Beschuldigte. Aber ihr Satz klang eher nach einer Floskel als nach ernsthaftem Leugnen.

„Bleibt die Frage offen, wie Sie den Selbstmord vortäuschen konnten, Frau Bern. Die Autopsie ergab keinerlei Betäubungsmittel, Gift oder Ähnliches im Körper des Opfers. Aber die Gerichtsmediziner bemerkten eine Quetschung an der Halswirbelsäule. Diese kann durch einen Kung-Fu-Griff verursacht werden, der den ganzen Körper inklusive der Stimmbänder lähmt. Und wo lernt man eine solche Technik?“

„Sie werden es mir bestimmt gleich sagen, Frau Kommissarin!“, höhnte Ines Bern.

„In Hongkong, beispielsweise“, meinte Isa unbeeindruckt. „Wir wissen, dass Sie dort waren. Schließlich haben Sie eine Postkarte an Nora Fabian geschrieben. Und ich vermute, Sie lassen sich auch öfter in Krakau sehen – unter dem Decknamen Frau Dr. Graf!“

„Sie haben wirklich eine blühende Fantasie, Frau Boysen“, sagte Ines Bern. Aber ihre Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen. Isa schüttelte den Kopf.

„Ich habe eine Zeugin, die bei einer Gegenüberstellung gewiss in Ihnen jene Adoptionsvermittlerin aus Krakau erkennen würde. Ihre Tätigkeit als internationale Fotodesignerin ist wirklich eine ideale Tarnung für Ihre Aktivitäten im Babyhandel.“

„Wenn ich diese verflixte Postkarte aus Hongkong nicht geschrieben hätte ...“

„ ... dann wären wir früher oder später trotzdem auf Sie gekommen, Frau Bern. Haben Sie eigentlich auch beim Babyexport aus China Ihre Hände im Spiel?“

„Das könnte ich Ihnen erzählen, Frau Boysen. – Aber sie würden Ihr Wissen mit ins Grab nehmen!“

Mit diesen Worten griff die Mörderin an. Isa verdankte es nur ihrer eigenen Reaktionsschnelligkeit, dass sie die folgende Minute überlebte. Trotzdem war die Attacke massiv. Isa riss ihre gekreuzten Unterarme zur Abwehr hoch. Ines Bern war kaum zu bremsen. Isas Kopf flog in den Nacken, Blut sickerte aus ihrer Nase. Die Hauptkommissarin taumelte rückwärts.

Ines Bern wollte ihr den Rest geben. Doch dann waren plötzlich die dunklen Schatten überall. Gestalten, die blitzschnell aus ihrer Deckung heraus Isa zu Hilfe eilten. Stiefeltritte und Rufe ertönten. Im Handumdrehen lag die Mörderin flach auf dem Bauch. Handschellen klickten. Auch ihre Fußgelenke wurden gefesselt.

Trotz des Schmerzes in ihrer Nase musste Isa grinsen. Drei vermummte Polizeikollegen in Einsatzoveralls und mit Helmen auf den Köpfen knieten auf der Täterin. Ines Bern mochte tödliche Kung-Fu-Techniken beherrschen. Aber gegen die erfahrenen Anti-Terror-Kämpfer vom Mobilen Einsatzkommando (MEK) der Hamburger Polizei kam sie dann doch nicht an.

Der Einsatzleiter kam auf Isa zu, half ihr auf die Beine.

„Du solltest dich besser von einem Doc untersuchen lassen, Isa. Manche Schläge sind tückischer, als es auf den ersten Blick aussieht. – Jedenfalls hast du die Zielperson gut eingewickelt. Sie hat offensichtlich überhaupt nicht gemerkt, dass wir uns angeschlichen haben.“

„So war es ja auch geplant“, erinnerte Isa den Anführer der Spezialeinheit. „Jedenfalls danke ich dir und deinen Männern von Herzen. Ohne euch wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.“


Neuntes Kapitel

An der Zerschlagung des Babyhändlerringes waren unterschiedliche Abteilungen der deutschen und polnischen Polizei beteiligt. Auch das Bundeskriminalamt wurde eingeschaltet.

Ines Bern erwies sich als eine Schlüsselfigur. Sie war zwar nicht die Chefin der Bande, aber doch ein sehr bedeutendes Mitglied. Ihre Verhaftung brachte das Gebäude aus halblegalen und völlig kriminellen Kleinstfirmen ins Wanken. Einige von Ines’ Bossen konnten sich rechtzeitig in Länder absetzen, die bei Wirtschaftsdelikten nicht an Deutschland ausliefern.

Trotzdem war der Polizei durch die Verhaftung der Mörderin ein wichtiger Schlag gegen die ganze Branche gelungen. In Ines Berns Wohnung fand sich haufenweise Belastungsmaterial.

Kerstin Schiller, die Babyhandels-Bekämpferin der Kripo Hamburg, kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus.

„Die Sichtung dieser Unterlagen wird Wochen in Anspruch nehmen, Isa. Aber es ist jetzt schon erschreckend, wer alles in dieses schmutzige Geschäft verwickelt ist. Offenbar haben auch in deutschen Amtsstuben einige Damen und Herren die Hand aufgehalten, um diese Verbrechen zu ermöglichen. Ich verstehe nur nicht, dass diese Ines Bern diese Beweise so sorglos bei sich zu Hause gelagert hat.“

„Ich schon“, erwiderte Isa. Ihre Nase war von einem Verband bedeckt, aber zum Glück nicht gebrochen. Bei aller Liebe zum Kampfsport wäre doch eine Boxernase nicht gerade nach Isas Geschmack gewesen.

„Ines Bern hält sich selbst für die Größte“, fuhr die Hauptkommissarin fort. „Inzwischen steht übrigens von ärztlicher Seite fest, dass sie kokainsüchtig ist. Ich hatte schon länger einen vagen Verdacht in der Richtung.“

„Alles klar“, erwiderte Oberkommissarin Kerstin Schiller. „Kokser sind immer mehr oder weniger größenwahnsinnig. Vor allem, wenn sie so viel Geld scheffeln wie diese Ines Bern.“

Isa nickte nur. Die brünette Kriminalistin fühlte sich erschöpft. Zwei Tage waren nun vergangen seit der Verhaftung von Ines Bern. Die Ermittlungsmaschinerie lief auf vollen Touren.

Die Mörderin war zunächst ins Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis gebracht worden. Von dort hatte man Ines Bern wegen ihrer Kokainabhängigkeit auf eine Suchtstation der Nervenklinik Ochsenzoll im Hamburger Norden geschafft.

Isa wartete immer noch darauf, dass die Ärzte grünes Licht für eine erste Befragung gaben. Natürlich stürzten sich auch die Medien auf diesen spektakulären Fall. Die Hauptkommissarin leitete alle Interviewanfragen der Presseabteilung sofort an Dr. Kranach weiter. Ihr Vorgesetzter war selig, wenn er im Fernsehen um einen fachmännischen Kommentar zum Problem des Babyhandels gebeten wurde. Isa hingegen freute sich, wenn sie sich mit der Journaille nicht abgeben musste.

Trotz der Erleichterung über Ines Berns Verhaftung war Isa alles andere als zufrieden mit sich. Ihre zurechtgestauchte Nase erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie auf eine ihr selbst überlegene Kampfsportlerin gestoßen war.

Isas Dank an die MEK-Beamten war keine leere Floskel gewesen. Um ein Haar hätte Ines Bern die Hauptkommissarin wirklich totgeschlagen. Und dieses Eingeständnis ihrer eigenen Niederlage kratzte natürlich an Isas Selbstbild. Sie war immer so stolz auf ihre Kung-Fu-Kenntnisse gewesen. Aber nun schien alles wertlos, was sie in den vergangenen sechs Jahren gelernt hatte ...

„Hallo? Ist jemand zu Hause?“

Isa blickte auf. Kerstin hatte sie angesprochen. Die Hauptkommissarin war so in ihre düsteren Überlegungen versunken gewesen, dass sie weder das klingelnde Telefon noch die Worte der Oberkommissarin richtig wahrgenommen hatte.

„Da hat gerade ein Arzt von der Suchtstation angerufen, Isa. Er sagte, wenn wir es auf eine Viertelstunde beschränken, können wir ein erstes Verhör mit Ines Bern führen.“

Diese Nachricht gab Isa sofort Auftrieb. Außerdem schimpfte sie wegen ihres Selbstmitleides innerlich mit sich. Gewiss, die Mörderin war ihr im Kampf überlegen gewesen. Aber warum? Weil sie Techniken kannte, die kein verantwortungsbewusster Meister weitergeben würde. Ines Bern hatte also unfair geschlagen, wie man es von einer Verbrecherin auch nicht anders erwarten konnte.

Schweigend fuhren die beiden Kripo-Beamtinnen in einem Dienstwagen Richtung Ochsenzoll. Es herrschte Schneeregen. Isa und Kerstin hingen beide ihren jeweils eigenen Gedanken nach. Auf der geschlossenen Suchtstation erblickten sie die üblichen armen Teufel, die mehr oder weniger regelmäßig unfreiwillige Gäste dieser Therapieeinrichtung waren.

Isa und Kerstin durchquerten die Männerstation, passierten eine doppelt gesicherte Tür und gelangten dann in den Frauentrakt. Ein gewisser Dr. Vollmer erwartete sie. Die Beamtinnen stellten sich noch einmal mit Namen und Dienstgrad vor.

„Wir haben miteinander telefoniert, Frau Schiller“, sagte der Mediziner zu Kerstin. „Ich bitte Sie, sich auf eine Viertelstunde Redezeit zu beschränken. Wir haben die Patientin zunächst ruhig gestellt. Die Entgiftung wird sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Die Patientin war sehr aggressiv.“

Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dachte Isa. Sie folgten dem Doktor zum Ende eines Ganges. Ein Pfleger öffnete eine Tür. Sie gehörte zu der Sorte, die auf der Innenseite keine Klinke haben. Man musste klopfen, um herausgelassen zu werden. Einstweilen durften die Kripo-Beamtinnen den Raum allerdings erst einmal betreten. Die Fenster waren vergittert und hatten ebenfalls keine Griffe.

Ines Bern lag auf einem Krankenbett. Ihre Hände waren mit Ledermanschetten an den Seiten des Bettgestells fixiert. Die Mörderin trug einen grauen Jogginganzug und war ungeschminkt. Als Isa sie am Fährterminal gesehen hatte, war sie perfekt gestylt gewesen. Ines Bern empfing die beiden Polizistinnen mit einem bösen Lächeln.

„Hat Ihre Nase Schaden genommen, Frau Boysen? Ich muss sagen, Ihre Abwehrreaktion war nicht übel. Wenn Sie nicht so schnell gewesen wären, hätte ich Ihnen die Nasenwurzel direkt ins Gehirn getrieben. Dann würden Sie jetzt nicht vor mir stehen.“

„Lassen Sie meine Nase nur meine Sorge sein“, sagte Isa kühl. „Ich bin heute gekommen, um mit Ihnen über die Nacht vom 3. auf den 4. Dezember zu sprechen. – Das ist übrigens meine Kollegin Oberkommissarin Kerstin Schiller.“

Die Mörderin warf der Babyhandel-Bekämpferin einen gleichgültigen Blick zu. Die Hauptkommissarin belehrte Ines Bern über ihre Rechte.

„Schon gut, ich werde aussagen“, meinte die Mörderin. „Wenn ich danach wieder meine Ruhe habe ...“

Falls die Entzugserscheinungen der Täterin Probleme machten, merkte man es ihr jedenfalls nicht an. Isa hatte schon oft genug mit Kokainsüchtigen zu tun gehabt, um das beurteilen zu können. Sie ärgerte sich nur über sich selbst, weil sie sich nicht schon früher über die Abhängigkeit der Fotodesignerin im Klaren gewesen war. Aber eine Kokserin konnte sich eben besser tarnen als ein heruntergekommener Heroinsüchtiger mit seiner ungesunden Hautfarbe und seinen zernarbten Armen ...

„Sie wollen also wissen, wie ich Nora Fabian getötet habe“, hakte die Mörderin nach. Isa nickte. Kerstin ließ einen mitgebrachten Kassettenrecorder mitlaufen. Die Polizistinnen hatten zuvor Ines Bern um ihr Einverständnis dazu gebeten.

„Dazu muss ich zunächst erklären, dass die gute Nora keine Ahnung hatte von meiner Kokserei. Und natürlich war ihr auch nichts von meinem schwunghaften Handel mit den kleinen Schreihälsen bekannt. Nora hatte nämlich noch ein Geheimnis, von dem kaum jemand etwas wusste. Sie war eine absolute Kindernärrin.“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, die meisten Frauen haben doch mehr oder weniger etwas für Kinder übrig, oder nicht? Aber bei Nora war das besonders ausgeprägt. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als eine eigene Familie. Jedenfalls glaube ich das. Deswegen war sie so geschockt, als sie durch einen Zufall Wind vom Babyhandel hier in Hamburg bekam.“

„Hat Nora auch gewusst, dass Sie in dieses Geschäft verwickelt sind, Frau Bern?“

„Selbstverständlich nicht, Frau Kommissarin! Sie hat mir als ihrer besten Freundin immer anvertraut, wenn sie mit ihren Schnüffeleien ein Stück weitergekommen war. Mit irgendwem musste sie ja darüber reden, nehme ich an. Denn ansonsten hat sie eine riesige Geheimniskrämerei aus diesem Thema gemacht. Mit Recht, würde ich sagen. Denn es kann tödlich enden, wenn man seine Nase zu tief in anderer Leute Angelegenheiten steckt.“

Ines Bern ließ ein eiskaltes Lachen hören. Isa fand die Selbstgefälligkeit der Mörderin zum Speien. Aber vom Standpunkt einer Kriminalistin aus war es natürlich gut, dass die Täterin so geständig war ...

„Kommen wir zurück zu der fraglichen Nacht, Frau Bern. Warum wollten Sie Nora Fabian ausgerechnet in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember töten?“

„Es war eine gute Gelegenheit. Nora hatte mir zuvor gesagt, dass sie an dem Abend sehr lange in der Redaktion sein würde. Sie hatte neues Belastungsmaterial aufgetan, die Gute. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis meine liebe Freundin auf meine Tätigkeit im Babyhandel stoßen würde. Dieser Artikel durfte also niemals geschrieben werden. Ich hielt es für clever, einen Selbstmord vorzutäuschen. Also beschaffte ich mir Rasierklingen. Den Kung-Fu-Griff, mit dem ich Nora lähmen konnte, hatte ich auf einer Hongkong-Reise einige Monate zuvor gelernt. Bei dieser Gelegenheit wollte ich ihn erstmals ausprobieren.“

„Wann trafen Sie bei NUMMER EINS ein?“

„Das muss kurz vor drei Uhr morgens gewesen sein. Ich kam einfach durch den Haupteingang und grüßte den Wachmann, der am Empfang saß. Er machte keine Schwierigkeiten, denn er kannte mich. Zunächst drückte ich mich noch ein wenig in der Redaktion herum. Ich wollte checken, wer außer Nora noch anwesend war. Aber das war kein Problem für mich. Ich kannte die Leute und konnte in etwa einschätzen, ob einer von denen meine Pläne durchkreuzen könnte.“

„Es war also von keinem der Bürokollegen zu erwarten, dass er während des Mordes beispielsweise hereinkam“, präzisierte Isa.

„Messerscharf kombiniert, Frau Kommissarin“, sagte die Mörderin ironisch. „Zugegeben, ganz ausschließen konnte ich das nicht. Aber vielleicht bestand ja gerade darin der Nervenkitzel ...“

Isa zog die Augenbrauen zusammen. Ines Bern redete über einen kaltblütigen Mord, als ginge es um touristisches Steilwandklettern in der Schwäbischen Alb. Aber es wäre wohl illusorisch gewesen, von einer Frau wie Ines Bern Reue oder gar Bedauern für ihr Opfer zu erwarten. In dieser Hinsicht machte Isa sich nichts vor.

„Wie ging es dann weiter, Frau Bern?“

„Ganz einfach. Ich vergewisserte mich noch einmal, dass die Luft rein war. Dann schlich ich mich in Noras Büro. Wie erwartet saß sie an ihrem Computer. Und stellen Sie sich vor, sie schrieb an einem Artikel über den Babyhandel! Ich kam also keine Minute zu früh, wie man so schön sagt. Interessanterweise hat Nora bis zuletzt wohl nicht geahnt, dass ich in dieses Geschäft verwickelt bin. Als sie es merkte, war es aber leider zu spät.“

Isa atmete tief durch, bevor sie weiter sprach.

„Sie haben also Nora Fabian erst mit diesem geheimen Kung-Fu-Griff gelähmt und ihr danach die Pulsadern aufgeschnitten?“

„So war es, Frau Kommissarin. Ich habe übrigens bei unserem kleinen Kampf bemerkt, dass Sie ebenfalls ein wenig mit dem chinesischen Boxen vertraut sind. Wenn Sie mir hier raus helfen, zeige ich Ihnen die geheimen Praktiken. Und ein hübsches Sümmchen fällt für Sie auch noch ab. Für Ihre Kollegin natürlich ebenfalls.“

Isa und Kerstin blickten einander in die Augen. Entweder war dieser Bestechungsversuch ein Scherz oder unglaublich dreist.

„Glauben Sie im Ernst, wir würden Sie laufen lassen?“, blaffte Isa. „Nach dem, was Sie getan haben?“

Das Gesicht der Mörderin nahm einen verächtlichen Ausdruck an.

„Was habe ich denn schon großartig getan? Wissen Sie, wie dreckig es den kleinen Schreihälsen in diesen Ländern dort teilweise geht? Wenn so ein Baby nach Deutschland kommt, dann ist das wie ein Sechser im Lotto. Zugegeben, wir nehmen auch etwas Geld für unsere Bemühungen. Aber letztlich klappt das alles nur, weil wir genug Kunden finden.“

„Und was ist mit dem Mord an Ihrer besten Freundin? Ist das in Ihren Augen auch ein Kavaliersdelikt?“

„Beste Freundin?“ Ines Bern lachte gekünstelt. „Das hat sich Nora wohl wirklich eingebildet. Ich habe sie in dem Glauben gelassen. Warum auch nicht? Aber letztlich hat sie sich ihr Grab selbst geschaufelt. Was musste sie ihre Nase auch in Dinge stecken, die sie nichts angehen?“

Isa hatte nicht vor, diese Frage zu beantworten. Die Anwesenheit von Ines Bern verursachte ihr inzwischen beinahe körperliche Übelkeit. Ein Seitenblick auf Kerstin Schiller bewies der Kriminalistin, dass es ihrer Polizeikollegin nicht anders ging. Es gab zum Glück nicht mehr viel, was zum Mordhergang geklärt werden musste.

„Also gab es keine Unterbrechung, während Ihr Opfer verblutete?“, fragte Isa mit erzwungener Ruhe.

„Nein, gab es nicht. Als Nora tot war, habe ich alles Belastungsmaterial in meine Umhängetasche gestopft und mitgenommen. Ich trug übrigens Handschuhe, falls ich das noch nicht erwähnt hatte. Natürlich habe ich auch die Datei nebst Sicherungskopien auf Noras Computer gelöscht. Ich nahm mir dann diesen komischen Kunststoffschlüssel, mit dem man die Hintertür aufmachen kann. Mich hat schätzungsweise niemand gesehen.“

„Was haben Sie dann getan, Frau Bern?“

„Ich bin gleich zu Noras Wohnung gefahren. Sie hatte mir nämlich einmal ihren Zweitschlüssel gegeben, für Notfälle. – Ist das nicht irrsinnig komisch? Ihr Tod war zweifellos ein Notfall. Ich habe dort noch etwas herumgeschnüffelt und weiteres Material zum Thema Babyhandel gefunden. Das habe ich dann sicherheitshalber auch beiseite geschafft.“

„Wirklich sehr clever!“, höhnte Isa. „Aber in Ihrer eigenen Wohnung lagen belastende Papiere gleich stapelweise herum!“

„Ich hätte eben nie geglaubt, dass die Kripo Hamburg mir auf die Schliche kommt“, meinte Ines Bern unbeeindruckt. „Angesichts der hohen Kriminalität in dieser Stadt habe ich Sie und Ihre Kollegen ehrlich gesagt für ziemlich unfähig gehalten.“

Bevor Isa antworten konnte, kam der Stationsarzt herein und deutete mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr.

„Das wäre für den Moment alles, Frau Bern“, sagte Isa zum Abschied. „Wir werden Ihnen eine schriftliche Ausfertigung des Verhörs zum Unterschreiben zukommen lassen. – Übrigens haben Sie einen Denkfehler gemacht. Wenn die Kripo Hamburg so unfähig wäre wie Sie glauben, dann stünde es um die Sicherheit in unserer Stadt noch viel, viel schlimmer.“

Bevor die Mörderin noch etwas darauf entgegnen konnte, standen die beiden Kripobeamtinnen auf dem Korridor. Der muskulöse Pfleger verschloss die Krankenzimmer-Tür wieder von außen. Isa und Kerstin bedankten sich bei dem Mediziner und versprachen, telefonisch in Kontakt zu bleiben. Es musste ja noch offiziell Anklage gegen Ines Bern erhoben werden.

„Was für eine widerliche Person!“, sagte Kerstin voller Überzeugung, als sie ins Auto stiegen.

„Ja“, stimmte Isa zu. „Ich bin froh, dass wir sie aus dem Verkehr gezogen haben.“


Epilog

 

An diesem Tag machte Isa recht früh Feierabend. Sie hatte noch viele Überstunden abzubummeln. Den Kampf gegen die Babyhandel-Mafia konnte sie getrost den Spezialisten wie Kerstin Schiller überlassen.

Eigentlich hätte Isa zufrieden sein sollen. Die Mörderin war in sicherem Gewahrsam, der Fall gelöst. Doch diese Sache mit dem Babyhandel hatte die Hauptkommissarin stärker aufgewühlt, als es ihr normalerweise bei ihrer üblichen Kripoarbeit passierte. Das lag vielleicht auch an ihrem eigenen Kinderwunsch, den sie immer wieder unterdrückte, wenn er in ihrer Seele an die Oberfläche kommen wollte.

Denn für Isa kam als zukünftiger Mann nur Arne Weger in Frage. Und der war nun einmal bedauerlicherweise bereits verheiratet. Obwohl – momentan befanden sich ja seine Frau und seine Tochter in Husum, wie die Kriminalistin wusste. Arne würde sich bestimmt einsam fühlen, wenn er allein und krank daheim war ...

Isa kämpfte kurz gegen ihre eigenen inneren Sehnsüchte an und verlor. Sie kaufte im Supermarkt ein Kilo helle Weintrauben, rief ein Taxi und fuhr hinaus nach Ahrensburg. Zu dem Reihenhaus, in dem Arne Weger mit seiner Frau und seiner Tochter wohnte.

Arne öffnete erst nach dem dritten Klingeln. Er trug einen Bademantel über dem Schlafanzug.

„Isa?“, krächzte er. „Was für eine nette Überraschung.“

„Ich wollte dich besuchen, habe dir Trauben mitgebracht“, sagte die Kriminalistin und hielt das Obst wie ein Beweisstück hoch. „Aber, du hast ja immer noch Fieber! Ab ins Bett mit dir!“

Isa sorgte dafür, dass der von Bronchitis geplagte Hauptkommissar sich wieder hinlegte.

„Ich mache dir eine heiße Zitrone!“, verkündete die Kriminalistin. Warum ist seine Frau jetzt nicht bei ihm?, dachte Isa. Arne könnte wirklich etwas Krankenpflege gebrauchen ...

Als das Zitronengetränk fertig war, brachte Isa es ins Schlafzimmer. Arne befand sich in einem Dämmerzustand. Sein Atem ging rasselnd. Er klapperte auch etwas mit den Zähnen.

Voller Liebe schaute Isa ihn an. Dann, ohne weiter nachzudenken, zog sie sich splitternackt aus und kroch zu Arne unter die Bettdecke.

Ich will ihn ja nur etwas wärmen, redete Isa sich ein. Aber als sie ihn intensiver berührte, da wusste sie, dass es nicht beim Wärmen bleiben würde.

Na und?, dachte Isa trotzig, ich will auch mal glücklich sein!

Und als sie wenig später Arnes heiße Lippen auf den ihren spürte, da konnte sie wirklich ihre Sorgen vergessen. Und sich ganz in den Schwindel erregenden Strudel ihrer schönen Gefühle fallen lassen.

 

 

ENDE

 

 

 

Leichenfeld - 1


„Hier spricht die Polizei!“

Die Worte drangen nicht wirklich zu mir durch. Der pochende Kopfschmerz brachte mich beinahe um. Blitze schienen durch mein Schädelinneres zu zucken. Es konnte auch ein Drillbohrer sein, der durch mein Hirn getrieben wurde.

Ich lag ganz ruhig auf einer weichen Unterlage, vermutlich meiner Matratze. Schnüffelnd steckte ich meine Nase in den weichen Frotteestoff. Ja, es roch nach dem Weichspüler, den ich immer verwende. Wahrscheinlich lag ich in meinem eigenen Bett. So genau wusste ich das nicht. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen war. Und noch wollte ich es nicht riskieren, die Augen zu öffnen. Bleigewichte schienen auf meinen Lidern zu liegen. Mein Brummschädel musste gewaltig groß sein.

Das Pochen hörte nicht auf, wurde zu einem lauten Klopfen. Ein irres Hämmern.

Erst allmählich begriff ich, dass dieses verflixte Geräusch nicht aus meinem Schädelinneren kam. Sondern von der Wohnungstür.

„Machen Sie sofort auf, Frau Kramer! Wir haben einen Haftbefehl!“

Ich hielt das für einen blöden Witz, ehrlich gesagt. Was hatte ich mit der Polizei zu schaffen? Ich bin keine Taschendiebin und keine Drogenkurierin, sondern Kunststudentin. Sicher, gelegentlich hat die Polizei schon mal meine Personalien kontrolliert. Aber das ist völlig normal, wenn man mit einer feierwütigen Partymeute am Wochenende auf dem Kiez unterwegs ist, oder? Und da kam nie was nach, denn ich bin ein braves Mädchen. Oder ich lasse mich wenigstens nicht erwischen.

Die Davidwache auf der Reeperbahn habe ich nur einmal von innen gesehen, als mir nämlich mein Handy geklaut wurde. Noch nicht mal einen Strafzettel für Falschparken kann ich vorweisen – allein schon, weil ich mir überhaupt kein Auto leisten kann.

Deshalb glaubte ich nicht wirklich, dass echte Ordnungshüter vor meiner Wohnungstür stehen würden. Ich meine, jeder Dummkopf kann doch rufen, dass er von der Polizei wäre. Leider kenne ich einige selbsternannte Stimmungskanonen, die zu jedem Blödsinn fähig sind. Also blieb ich einfach liegen und hoffte darauf, dass sie wieder weggehen würden.

Das war ein Fehler.

Wenig später vernahm ich ein lautes Krachen, Holz splitterte. Dann ertönten schwere schnelle Stiefeltritte. Nun öffnete ich endlich die Augen. Aber es kam mir vor, als würde ich gerade einen Alptraum erleben.

Schwarze Gestalten drangen in meine Wohnung ein. Es waren Polizisten in Kampfausrüstung, wie ich nun erst bemerkte. MEK – Mobiles Einsatzkommando. Die rücken in Hamburg sonst nur an, wenn schwerbewaffnete Drogengangster auf PCP überwältigt werden müssen.

Sie trugen Helme, schusssichere Westen und Handschuhe. Und sie hielten Maschinenpistolen in den Händen. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte einer von ihnen mir die Arme auf den Rücken gedreht und mir Handschellen angelegt. Der Beamte verströmte den Geruch eines Billig-Parfüms, wie man es bei Budni kriegt. Ich drehte den Kopf und sah, dass mich eine Polizistin verhaftet hatte. Ihr Griff war verflixt hart. Beim Armdrücken mit Arnold Schwarzenegger hätte sie bestimmt nicht den Kürzeren gezogen.

„Aua! Ey, was soll das? Verflixt, was läuft hier eigentlich?“

Die raue Stimme, mit der diese Fragen gestellt wurden, drang aus meinem Mund. Ich musste wirklich in der vergangenen Nacht heftigst gebechert haben. Ob ich etwa auch geraucht hatte? Oder gekifft? Mein Mund fühlte sich jedenfalls an, als ob ich in einen Pferdeapfel gebissen hätte. Das sprach wirklich für Nikotinmissbrauch oder Marihuana-Nirvana. Eigentlich hatte ich mir vor drei Monaten ja geschworen, für immer die Finger von den Kippen zu lassen.


Aber offenbar war einiges geschehen, woran ich mich nicht mehr erinnern konnte. Die Beamten hatten ja gewiss nicht grundlos meine Bude gestürmt. Es musste etwas passiert sein, von dem ich momentan keine Ahnung hatte. Was hatte ich nur angestellt? Ob sie bei mir Gras finden würden? Aber wegen ein paar Gramm Spaßkraut rückt doch nicht gleich das Mobile Einsatzkommando an. Oder?

Während mir diese Gedankenfetzen durch den Kopf schwirrten, stellten die Uniformierten alles auf den Kopf. Ich bin noch nie eine Ordnungsfanatikerin gewesen, aber nun wurden sämtliche Schubladen durchwühlt und alle Schränke geöffnet.

Ein breitschultriger Beamter mit Reibeisenstimme hielt mir ein sehr offiziell aussehendes Dokument vor die Nase.

„Frau Pia Kramer, wir haben einen Durchsuchungsbeschluss für Ihre Wohnung. Ein Haftbefehl liegt auch vor. Ich muss Sie darüber informieren, dass Sie Beschuldigte in einer Morduntersuchung sind. Wir haben uns gewaltsam Zugang verschafft, weil Gefahr im Verzug war. Wenn Sie noch weitere Messer haben, dann sagen Sie das besser gleich.“

Nur ganz allmählich drangen die Worte des Polizisten in mein Bewusstsein. Ich kriegte einen Panikflash, meine Hände begannen zu zittern. Zum Glück lag ich immer noch, sonst hätte ich jetzt den Klappmann gemacht.

Morduntersuchung? Ich wusste ja noch nicht einmal, wen ich umgebracht haben sollte. Was war eigentlich in der vergangenen Nacht passiert? Was, zum Henker, hatte ich getan?

Ich wollte mich erinnern – und musste zu meinem Schrecken feststellen, dass ich einen Filmriss hatte. Verfluchte Cocktails!

Ob ich wirklich jemanden getötet hatte? Aber wen?

Momentan war ich einfach nur sprachlos, obwohl ich normalerweise nicht auf den Mund gefallen bin. Da können Sie fragen, wen Sie wollen. Für meine große Klappe bin ich berüchtigt. Der Polizist schaute mich immer noch an, als ob er eine Antwort von mir erwartete.

„Ja, natürlich habe ich Messer. In der Küche, in der Besteckschublade.“

Das war vielleicht nicht die cleverste Aussage, die ich hätte machen können. Aber ich bemerkte nun, dass die MEK-Beamten mein Essbesteck ohnehin schon beschlagnahmt hatten. Die Messer landeten in Beweismitteltüten, wie ich sie bisher nur aus Fernsehkrimis kannte. Aber die Dinger sehen in Wirklichkeit genauso aus, das weiß ich nun. Doch auf diese Erfahrung hätte ich gern verzichten können.

„Ziehen Sie sich bitte etwas an, Frau Kramer. Wir nehmen Sie zum Verhör mit auf das Präsidium. Sie haben das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen.“

Ich schaute an mir herab. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nur mit einem Slip und einem lila Tanktop bekleidet war. Wie peinlich! Ich wollte den Polizisten fragen, wie ich mich mit Handschellen an den Gelenken anziehen sollte. Aber er nickte seiner Kollegin schon zu, die mir daraufhin die Fessel wieder löste. Doch sie blieb neben mir stehen und ließ mich nicht aus den Augen, während ich schnell in eine Jeans, einen Baumwollpullover und eine Windjacke schlüpfte. Naja, auf Socken und Tennisschuhe verzichtete ich ebenfalls nicht.

Während des hastigen Ankleidens erhaschte ich schnell einen Blick in meinen großen Wandspiegel.

Ich sah furchtbar aus. Meine Haare standen punkmäßig vom Kopf ab, mein Gesicht wirkte fahl und grau. Ich brauchte dringend Make-up, einen starken Kaffee und ungefähr dreißig Stunden Schlaf. Aber an nichts davon war momentan zu denken. Nachdem ich angezogen war, legte die Polizistin mir die Handschellen schnell wieder an. Zuvor waren natürlich auch noch die Taschen meiner Hose und Jacke durchsucht worden. Die Beamten überließen nichts dem Zufall. Verständlich, denn sie glaubten ja, eine Mörderin gefangen zu haben.

Ob das sogar stimmte?

Erst ganz allmählich begriff ich den Ernst meiner Lage. Noch nie zuvor in meinem zweiundzwanzigjährigen Leben hatte ich mich in so einer miserablen Situation befunden. Ich hätte vor Verzweiflung heulen können. Immerhin wirkte diese Erkenntnis ungeheuer ernüchternd auf mich. Die Mordanklage schraubte meinen Restalkoholgehalt im Blut schneller herunter als ein großes Glas Tomatensaft mit Tabasco. Oder ein saurer Hering oder was es sonst für Ausnüchterungs-Geheimrezepte gibt.

Wir verließen die Wohnung. Der Breitschultrige ging voran, während mich die Polizistin und einer ihrer Kollegen in die Mitte nahmen. Die übrigen Polizisten blieben in meiner Wohnung, weil sie vermutlich mit der Durchsuchung weitermachen wollten.

Auf der Straße standen jede Menge Gaffer, die von uniformierten Beamten zurückgehalten wurden. Einige Typen fotografierten oder filmten mich mit ihren Handykameras. Ich musste auf dem Rücksitz eines Streifenwagens Platz nehmen, eingerahmt von meinen beiden neuen MEK-Freunden.

Ich wohne nicht im schlimmsten Stadtteil von Hamburg. Uhlenhorst ist eigentlich eine ganz beschauliche Ecke. Verhaftungen gehören hier jedenfalls nicht zum täglichen Einerlei. Meine Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, dass ich eine Studentenbude in einer halbwegs zivilisierten Gegend beziehe. Schließlich komme ich aus der behüteten Welt eines emsländischen Kuhdorfs. Aber auch dort ist bekannt, was für üble Gegenden es in Hamburg gibt.

Für einen Moment dachte ich daran, Mama oder Papa anrufen zu lassen. Aber ich verwarf diesen Einfall sofort wieder. Falls ich das tat, konnte ich mein Studium endgültig knicken. Meinen Eltern war es sowieso nicht recht gewesen, dass ihr einziges Kind in einem „Sündenpfuhl“ wie Hamburg auf die Kunstakademie wollte. Deshalb hatte ich ihnen wohlweislich nicht erzählt, dass wir Studenten die Kunsthochschule Lerchenfeld unter uns nur Leichenfeld nannten. Das war nicht die Art von Humor, den meine Eltern schätzten.

Wenn sie jetzt auch noch erfuhren, dass ich unter Mordanklage stand, würden sie völlig ausrasten. Und dann konnte ich die monatliche Geldspritze von Zuhause vergessen. Zwar fiel sie nicht allzu üppig aus, aber wenigstens musste ich nicht jobben und konnte mich auf mein Studium konzentrieren. Aber damit war es jetzt wohl vorbei, wie mir nun klar wurde. Dieser Gedanke schockte mich.

Ich war doch unschuldig! Oder?

Sobald die Polizei den wahren Mörder verhaftet hatte, ließen sie mich gewiss wieder gehen. Dann würden die Stadt Hamburg mir auch meine kaputte Wohnungstür ersetzen müssen. Mit dieser Vorstellung beruhigte ich mich selbst auf dem Weg zum Präsidium. Das Gebäude in Alsterdorf sah aus wie eine futuristische Trutzburg.

Noch wusste ich ja gar nicht, wen ich um die Ecke gebracht haben sollte. Ich schaute in die verschlossenen Mienen der beiden Uniformierten links und rechts von mir. Sie sahen nicht so aus, als ob sie in Plauderlaune wären. Wer will sich auch schon mit einer Mörderin unterhalten?

Bevor ich mir weiter den Kopf über mein Schicksal zerbrechen konnte, hatten wir das Fahrtziel bereits erreicht. Die Uniformierten brachten mich danach in einen Verhörraum, dessen Einrichtung nur aus einem Kunststofftisch und einigen Stühlen bestand. Dort wurden mir immerhin die Handschellen wieder abgenommen.

„Die Ermittlungsbeamten kommen gleich“, sagte die Polizistin mit dem penetranten Parfüm. „Ich bringe Ihnen inzwischen einen Kaffee.“

Wenig später setzte sie ihr Versprechen in die Tat um. Als ich einige Schlucke von der heißen aromatischen Flüssigkeit genommen hatte, ging es mir sofort etwas besser. Ich zermarterte mir immer noch das Gehirn darüber, was in der vergangenen Nacht geschehen sein musste. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich mit meinen Freundinnen Rike und Svenja Party machen wollte. Das war doch immerhin schon mal etwas! Wenn die beiden Mädels bestätigten, dass ich die ganze Zeit mit ihnen zusammen gewesen war, konnte ich ja niemanden umgebracht haben. Meiner Meinung nach war das ein sehr gutes Alibi.

Nun betraten ein Mann und eine junge Frau in Zivil den Verhörraum. Der Mann war mittelgroß und erinnerte mich irgendwie an einen Uhu. Seine Begleiterin hingegen hatte ein sehr schmales Gesicht und sah unscheinbar aus, was zu ihrem mausgrauen Kostüm passte. Und sie war so blass, als ob sie seit Monaten kein Sonnenlicht gesehen hätte.

„Ich bin Hauptkommissar Walter Bergmann, das ist Kommissarin Andrea Lüder. – Sie sind Frau Pia Kramer?“

Bevor ich antworten konnte, ergriff die uniformierte Polizistin das Wort. Sie stand wie eine Leibwächterin einen Schritt hinter mir. Ich hockte am Tisch und hielt meinen Kaffeebecher umklammert.

„Das ist die Beschuldigte, Herr Bergmann. Wir haben ihre Personalpapiere bei ihr gefunden.“

Mit diesen Worten legte sie meinen Personalausweis auf den Tisch. Ich bemerkte erst jetzt, dass er beschlagnahmt worden war. Der Kriminalist bedankte sich mit einem Kopfnicken bei der Polizistin, dann war ich mit den beiden Zivilisten allein. Nur ein Hauch von dem penetranten Parfüm blieb zurück, nachdem die Uniformierte die Tür von außen hinter sich geschlossen hatte.

Bergmann richtete nun seine großen unergründlichen Eulenaugen auf mich.

„Sie wissen, dass Sie des Mordes angeklagt werden, Frau Kramer?“

„Ja, Herr Hauptkommissar. Allerdings hat man mir noch nicht gesagt, wen ich überhaupt umgebracht haben soll.“

„Das Opfer hieß Verena Prinz.“

Dieser einfache Satz brachte mich innerlich völlig durcheinander. Unbewusst hatte ich immer noch geglaubt, dass die ganze Geschichte nur ein fürchterlicher Irrtum wäre. Aber Verena kannte ich, schließlich war ich mit dieser arroganten Zimtzicke an der Kunstakademie immer wieder aneinander geraten. Und sie sollte nun tot sein? Obwohl ich Verena nie hatte ausstehen können, schockte mich diese Information.

Ein Mensch, den ich kannte, war ermordet worden. Das gönnte ich niemandem, noch nicht einmal dieser eingebildeten Pute. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ich Verena niemals hatte ausstehen können. Trotzdem traf mich die Nachricht von ihrem Tod – und das nicht nur, weil ich selbst unter Mordverdacht stand. Wie hatte es nur so weit kommen können?

„Frau Kramer, war Ihnen Verena Prinz bekannt?“

Die Frage des Hauptkommissars riss mich aus meinen depressiven Grübeleien. Ich durfte jetzt keinen Fehler machen. Wenn ich meinen Hals aus der Schlinge ziehen wollte, musste ich bei der Wahrheit bleiben. Jedenfalls durfte ich Verena nicht als meine beste Freundin darstellen, sonst würde ich mich nur noch verdächtiger machen. Es gab einfach zu viele Zeugen an der Uni, die mehr als einmal den Zoff zwischen Verena und mir miterlebt hatten.

„Ja, Verena Prinz und ich haben zusammen studiert. Aber ich kannte sie nur oberflächlich.“

„Wirklich?“

Andrea Lüder hakte nach. Die Kommissarin mochte klein und unauffällig sein. Aber ihre Worte waren hart und schneidend wie ein Butterfly-Messer. Falls Bergmann und sie das alte Spiel „good cop, bad cop“ aufführen wollten, dann hatte Andrea Lüder zweifellos die Schurkinnen-Rolle übernommen. Und das schien ihr auch zu gefallen. Ich musste die ganze Zeit daran denken, dass ihr Nachname ohne Umlaut Luder lautete. Das hätte ich unter anderen Umständen lustig gefunden, aber bei Andrea Lüders Worten blieb mir das Lachen im Hals stecken.

„Dafür, dass Sie das Opfer nur flüchtig gekannt haben wollen, sind Sie aber sehr oft mit Verena Prinz aneinander geraten. Oder wollen Sie das leugnen?“

Ich verteidigte mich, so gut es ging.

„Na ja, wir hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten …“

„Meinungsverschiedenheiten nennen Sie das? Eine Woche vor Verena Prinz‘ Ermordung haben Sie vor Zeugen wörtlich zu ihr gesagt: ‚Ich mache dich platt‘. So war es doch, oder?“


Ich presste die Lippen aufeinander. Offenbar hatte die Polizei schon mit einigen Leuten am Leichenfeld gesprochen. Naja, der Streit zwischen Verena und mir war ja auch nicht zu überhören gewesen. Immerhin hatten wir uns im Treppenhaus der Kunsthochschule angeschrien. Um ein Haar wären wir auch handgreiflich geworden. Diese Kuh hatte absichtlich meinen Modellentwurf für das City-Development-Projekt zerstört, an dem ich drei Monate lang gearbeitet hatte. Natürlich konnte ich es ihr nicht beweisen, aber sie war die Schuldige. Verena hatte es nie ertragen können, dass meine künstlerischen Ideen besser waren als ihre. Ich hielt sie für krankhaft ehrgeizig. Sie musste immer die Beste sein, und sie musste stets im Mittelpunkt stehen. Aber jetzt war sie tot.

„Hören Sie, Frau Kommissarin – ich war stinksauer, okay? Das wären Sie auch gewesen, wenn jemand Ihr mühevolles Werk von mehreren Monaten einfach zerstört hätte.“

„Mag sein. Für mich klingen Ihre an Verena Prinz gerichteten Worte jedenfalls nach einer direkten Morddrohung, Frau Kramer. Und ich bin nicht die einzige, die das so sieht.“


Bevor ich protestieren konnte, ergriff Walter Bergmann wieder das Wort. Irgendwie fand ich den Hauptkommissar sympathischer als seine junge Kollegin. Oder war das nur eine Taktik, um mich zu einem Geständnis zu bringen? Ich glaubte, bei Andrea Lüder eine gewisse Stutenbissigkeit mir gegenüber zu entdecken. Aber vielleicht bildete ich mir das nur ein.

Ich stand schließlich unter einem Wahnsinnsstress und war außerdem noch völlig verkatert. In einer solchen Zwickmühle hatte ich mich noch niemals befunden, selbst bei den härtesten Uni-Klausuren nicht. Denn hier ging es ja nicht um eine verpatzte Note, sondern um meine Zukunft hinter Gittern.

„Frau Kramer, sagt Ihnen die Adresse Kroosweg 8 etwas?“

„Nein, Herr Hauptkommissar. Warum fragen Sie?“

„Das ist eine Straße in Harburg, dort befindet sich die Pension einer gewissen Fatma Özcan. Pia Kramer wurde in einem Zimmer dieses Gästehauses tot aufgefunden. Sie sind also niemals dort gewesen?“

„Nein, bestimmt nicht“, rief ich eifrig. „Und es passte auch überhaupt nicht zu Verena, sich in einer Arbeitergegend wie Harburg herumzutreiben. Sie benahm sich immer wie ein It-Girl, dem nichts gut genug sein konnte. Verena war in Harburg ungefähr so passend wie ein Pinguin am Äquator!“

„Sie kannten die Ermordete ja offenbar wirklich gut“, meinte Kommissarin Lüder giftig und machte sich eine Notiz. Ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Hatte ich mich gerade um Kopf und Kragen geredet? Aber dann führte ich mir vor Augen, wie viele Kriminelle es in Harburg gab. Es war doch gewiss nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei den wahren Mörder dingfest machte.

Jedenfalls hoffte ich darauf, dass die Killersuche weiterging. Bis dahin musste ich es eben noch in diesem Verhörraum aushalten. Spätestens, wenn meine Freundinnen mir ein Alibi gaben, mussten die Polizisten mich gehen lassen.

Bergmann schaute in seine Unterlagen.

„Sie bleiben also bei Ihrer Aussage, noch nie in der Pension am Kroosweg gewesen zu sein?“

Ich nickte heftig, wodurch sich meine Kopfschmerzen noch verstärkten.

„Wir haben allerdings in Verena Prinz‘ Zimmer im Studentenwohnheim ihr Tagebuch gefunden. Darin schreibt sie, dass sie sich von Ihnen verfolgt gefühlt hat, Frau Kramer. Verena Prinz wollte umziehen, damit Sie ihr nicht mehr hinterher spionieren konnten. Das klingt für mich ganz nach Stalking, ehrlich gesagt. Dann verschwindet Verena Prinz spurlos, bis einige Tage später in einer billigen Pension ihre Leiche gefunden wird. Sie werden sicher verstehen, dass Sie unter diesen Umständen unsere Hauptverdächtige sind.“

„Ich habe Verena Prinz jedenfalls nicht getötet“, beharrte ich. Das mussten diese Kriminalisten doch endlich einsehen!

„Na schön, Frau Kramer. – Wo waren Sie gestern zwischen 22 Uhr und Mitternacht? Das ist nämlich der Zeitraum, in dem laut ersten gerichtsmedizinischen Erkenntnissen Ihre Feindin ermordet wurde. Eine genauere Obduktion wird im Lauf des Tages vorgenommen werden.“

Feindin? Ja, der Hauptkommissar hatte recht. Irgendwie war Verena wirklich meine Feindin gewesen. Sie hatte mir seit dem ersten Tag am Leichenfeld das Leben unnötig schwer gemacht. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gibt. Abscheu auf den ersten Blick existierte auf jeden Fall, und zwar zwischen Verena und mir. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt, und eigentlich war ich sogar über meine eigenen Gefühle erschrocken gewesen.

Normalerweise komme ich mit den meisten Menschen gut aus, selbst wenn sie nicht zu meinem Fanclub gehören. Aber mit Verena Prinz war das einfach nicht möglich. Ich konnte nur versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen. Aber das gelingt eben nicht immer, wenn man an der gleichen Uni studiert. Nachvollziehbar, oder?

„Ich bin gestern Abend feiern gegangen, und zwar mit meinen Freundinnen Ulrike Saalbach und Svenja Drechsler. Ich war die ganze Zeit mit ihnen zusammen.“

Eigentlich wusste ich gar nicht mehr genau, was in der vergangenen Nacht alles passiert war. Aber das musste ich ja den Polizisten nicht auf die Nase binden. Ich versuchte, mein Alibi so selbstsicher und überzeugend wie möglich zu präsentieren. Insgeheim hoffte ich, dass Rike und Svenja genauere Angaben machen konnten. Ich musste jedenfalls passen, als der Hauptkommissar mich nach den Bars und Discos fragte, in denen wir gewesen waren. Immerhin hatte er sich die Telefonnummern meiner Freundinnen notiert.

„Wir werden Ihre Angaben überprüfen, Frau Kramer. Während das geschieht, wird Frau Lüder Sie zur erkennungsdienstlichen Behandlung begleiten. Das ist in solchen Fällen üblich.“


Ich war immer noch überzeugt davon, niemals in Verenas merkwürdigem Pensionszimmer gewesen zu sein. Was sie wohl in Harburg gewollt hatte? Das ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Aber wenn sich dort nirgendwo meine Fingerabdrücke fanden, konnte das für mich ja nur gut sein.

Also ließ ich es geduldig über mich ergehen, dass meine Fingerabdrücke genommen und Fotos von mir gemacht wurden. Außerdem wurden meine Größe und mein Gewicht gemessen. Auch eine Blutprobe wurde mir entnommen. Eine DNA-Speichelprobe war freiwillig, aber auch die gab ich ab. Die Polizei sollte sehen, dass ich nichts zu verbergen hatte. Ich wollte kooperativ sein und spielte das brave Mädchen. Dann durfte ich auch eine Pause machen und bekam sogar einen Kaffee und ein vertrocknetes Mettwurstbrötchen. Ich konnte mir ein schöneres Frühstück vorstellen, aber ich fühlte mich nun etwas besser.

Doch als ich eine Stunde später mit Andrea Lüder in den Verhörraum zurückkehrte, spürte ich sofort, dass etwas Entscheidendes geschehen war.

Der Hauptkommissar zog unheilverkündend die Augenbrauen zusammen, als er mir direkt ins Gesicht schaute. Zuvor hatte ich noch geglaubt, dass er mir positiv gegenüberstand. Aber diese Hoffnung löste sich nun in Nichts auf.

„Sie haben uns angelogen, Frau Kramer. Ihre Freundinnen sagen übereinstimmend aus, dass Sie gestern nicht mit Ihnen zusammen gewesen sind.“









2


Ich fühlte mich, als ob Bergmann mir mit einer Schaufel vor die Stirn geschlagen hätte. Aber das war nicht geschehen. Er hatte mir auch nicht den Boden unter den Füßen weggezogen, obwohl es mir so vorkam. Die Worte des Kriminalbeamten hatten völlig ausgereicht, um mich aus der Bahn zu werfen. Mir blieb der Mund vor Entsetzen und Verblüffung offen stehen. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Sprache wiederfand.


„Aber – das kann doch nicht sein! Sind Sie sicher, dass Sie mit den richtigen Frauen gesprochen haben? Rike, äh, Ulrike Saalbach und Svenja Drechsler lauten die Namen. Sie studieren beide hier in Hamburg Kunst, und zwar am Leichen-, äh, Lerchenfeld.“

Ich kam mir kreuzdämlich vor, weil ich versehentlich beinahe den Spitznamen der Uni genannt hätte. Bergmann musste doch denken, ich würde die Mordanklage überhaupt nicht ernst nehmen.

Aber er nickte nur bedeutungsschwanger.

„Wir haben die Personalien der Zeuginnen überprüft, die Angaben stimmen überein. Aber sowohl Frau Saalbach als auch Frau Drechsler sagen aus, dass sie in der vorigen Nacht nicht mit Ihnen zusammen gewesen sind.“

„Dann müssen diese Knalltüten sich irren! Lassen Sie mich mit ihnen reden, ich …“

Der Hauptkommissar unterbrach mich mit einer abrupten Handbewegung. Ich spürte, dass er nun seinen entscheidenden Trumpf ausspielen würde. Und so war es auch. In der kurzen Zeit hatte ich erstaunlich viel über polizeiliche Verhörmethoden gelernt Erst jetzt bemerkte ich eine Plastiktüte für Beweisstücke, die er vor mir auf den Tisch legte. Sie enthielt ein Messer.

Mir wurde plötzlich ganz flau im Magen, mein Kreislauf spielte verrückt. Bergmann sprach langsam und ließ mich nicht aus den Augen, während er seine nächste Frage stellte. Kommissarin Andrea Lüder beobachtete mich von der Seite. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwa Hämisches an sich, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.

„Kennen Sie diese Waffe, Frau Kramer?“

Irgendwie schaffte ich es, eine halbwegs verständliche Antwort von mir zu geben. Und das, obwohl das Blut in meinen Ohren rauschte.

„D-das ist keine Waffe, sondern ein Arbeitsmesser aus der Kunstakademie. Man benötigt es, um Stücke von Modellierton abzuschneiden. Sehen Sie, da ist ja noch ein wenig getrockneter Ton am Griff.“

„Es mag sein, dass dieses Messer ursprünglich wirklich nur als Werkzeug gedacht war. Aber es wurde als Mordwaffe benutzt, Frau Kramer. Durch diese Klinge hier musste Verena Prinz sterben. Und am Griff befinden sich Ihre Fingerabdrücke! Wir haben soeben einen Abgleich vorgenommen.“

Bevor ich antworten konnte, musste auch noch Andrea Lüder ihren Senf dazugeben.

„Warum gestehen Sie nicht endlich, Frau Kramer? Wir sehen Ihnen doch an, dass Sie Ihre Tat schon bereuen. Wahrscheinlich haben Sie einfach nur einen Moment lang die Nerven verloren. Sie machen auf uns nicht den Eindruck einer eiskalten Mörderin.“

„Ich war es ja auch nicht!“, rief ich unter Tränen. „Ich habe Verena nicht abgestochen, das müssen Sie mir glauben. Ich bin auch noch nie in dieser verflixten Pension in Harburg gewesen!“

Hauptkommissar Bergmann klappte seinen Schnellhefter zu.

„Ich schlage vor, dass wir das Verhör zunächst unterbrechen. Unsere Kollegen von der Spurensicherung sind noch mit der Beweisaufnahme beschäftigt, außerdem werden noch weitere Zeugen gehört. Am besten machen wir morgen weiter.“

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Momentan gelang es mir halbwegs, mich zusammenzureißen. Irgendwie konnte ich immer noch nicht begreifen, was mit mir geschah. War das hier vielleicht nur ein zweitklassiger TV-Krimi? War ich vor der Glotze eingepennt und würde gleich endlich aufwachen? Doch das war nur ein Wunschtraum, das wusste ich selbst.

Andrea Lüder machte eine auffordernde Handbewegung.

„Kommen Sie mit mir, Frau Kramer. Ich bringe Sie in eine Arrestzelle. Morgen früh schaffen meine Kollegen Sie ins Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis. Nachmittags ist dann vor Gericht Ihr Haftprüfungstermin. Der Richter wird entscheiden, ob Sie in Untersuchungshaft bleiben. Wenn Sie einen Rechtsanwalt einschalten wollen, ist jetzt der beste Zeitpunkt dafür.“

„Ich kenne keine Juristen“, sagte ich mit tonloser Stimme. Plötzlich wurde ich von einer gewaltigen Erschöpfung überwältigt.

„Dann sorge ich dafür, dass Ihnen ein Pflichtverteidiger zugeteilt wird.“

Das war vermutlich nett gemeint von der Kriminalistin, aber so richtig freuen konnte ich mich darüber nicht. Ich hatte eigentlich angenommen, dass Andrea Lüder etwas gegen mich hätte. Aber letztlich machte sie nur ihren Job, genau wie Hauptkommissar Bergmann. Ich versuchte, mich in die Polizisten hineinzuversetzen. Das war der beste Weg, um sie zu verstehen. Ich führte mir die Argumente vor Augen, die gegen mich sprachen.

Es gab keine Entlastungszeugen, die für mich aussagten. Die Rivalität zwischen Verena und mir war so gut wie jedem an der Kunsthochschule Leichenfeld bekannt. Und – auf der Mordwaffe waren meine Fingerabdrücke! Hinzu kam, dass ich zur Tatzeit mehr oder weniger stark betrunken gewesen war. Ich wäre nicht die erste Person in Hamburg, die unter Alkoholeinfluss ein brutales Verbrechen beging. Auf dem Kiez waren Messerstechereien und Schlägereien an der Tagesordnung, besonders am Wochenende. Nicht umsonst gab es auf St. Pauli in bestimmten Bereichen ein generelles Waffenverbot – was allerdings nicht viel nützte.

Was hätte also ich gedacht, wenn ich anstelle der Kriminalbeamten gewesen wäre?

Andrea Lüder führte mich in eine Zelle und schloss die Tür von außen. Der Raum roch nach Desinfektionsmitteln. Es gab eine Pritsche mit Matratze, Kopfkissen und Wolldecke, außerdem Toilette und Waschbecken aus Edelstahl und einen in der Wand verankerten Hocker sowie ein ebenfalls befestigtes Tischchen. Das war alles. Durch ein vergittertes Fenster von Schulheftgröße drang fahles Tageslicht herein. Ansonsten sorgte eine Neonröhre an der Zellendecke für Beleuchtung. Man konnte sie innerhalb der Zelle weder an- noch ausstellen. Jedenfalls gab es keinen Lichtschalter.

Es war der trostloseste Ort, an dem ich jemals gewesen bin.

Ich warf mich auf das Bett und gab mich völlig meiner Trauer und Verzweiflung hin. Normalerweise habe ich nicht so nahe am Wasser gebaut, aber in diesen elend langen Momenten wollten meiner Tränen gar nicht mehr versiegen. Meine Schultern zuckten, meine Finger krampften sich in die Wolldecke. Und je länger ich heulte, desto mehr gute Gründe fielen mir dafür ein.

Es kam mir so vor, als ob die ganze Welt mich verlassen und sich gegen mich verschworen hätte. Warum sagten Rike und Svenja gegen mich aus? War in der vorigen Nacht etwas passiert, das meine Freundinnen gegen mich aufgebracht hatte? Wollten sie mir einen bösen Streich spielen, um mir eine Lektion zu erteilen? Würden sie später ihre Aussagen widerrufen, um meine Entlassung zu ermöglichen?

Und – wenn sie nun gar nicht logen, sondern die Wahrheit sagten?

Ich drückte mein heißes Gesicht gegen die muffige Zellenmatratze. Hatte ich wirklich Verena Prinz in einem Anfall von Jähzorn erstochen? Nie hätte ich gedacht, dass ich zu einer solchen Tat fähig sein könnte. Aber nach einigen Cocktails …

Nein, das war einfach unmöglich. Ich wusste doch, wie Alkohol auf mich wirkte. Normalerweise wurde ich durch hochprozentige Drinks einfach nur albern und später dann hundemüde. Aber aggressiv war ich noch niemals geworden. Allerdings fand ich es beunruhigend, dass ich mich nicht mehr an die vergangene Nacht erinnern konnte. Hatte ich wirklich so viel getankt – oder war mir eine andere Substanz ins Getränk gemischt worden? In letzter Zeit hatte es in Hamburg immer wieder Fälle gegeben, wo ein Mädchen mit K.O. Tropfen gefügig gemacht worden und aus einem Club abgeschleppt worden war.

Dieses Schicksal war mir zum Glück erspart geblieben. Denn wenn mich jemand vergewaltigt haben sollte, dann müssten davon ja Spuren an meinem Körper zurückgeblieben sein. Aber mir fehlte körperlich nichts, wenn man von dem gewaltigen Kater absah. Ich zog mich sicherheitshalber noch einmal aus und nahm mich selbst genau in Augenschein. Aber ich hatte keine einzige Schramme und keinen blauen Fleck, von Abschürfungen und Blutergüssen ganz zu schweigen. Es fühlte sich auch nicht so an, als ob ich Sex gehabt hätte, weder freiwillig noch unfreiwillig.

Mir blieb nichts anderes übrig als mein Gedächtnis zu durchforsten.

Ich schloss die Augen. Um 20 Uhr hatten Rike und Svenja mich abgeholt. Wir wollten Party machen, weil wir eine Klausur bestanden hatten. Zunächst waren wir bei einem Poetry Slam gelandet. Dort war es sehr voll gewesen, und Rike hatte mit einem der jungen schönen Dichter geflirtet, die ihre Werke vorgetragen hatten. Svenja und ich waren hingegen von zwei strohblonden norwegischen Touristen zu Cocktails eingeladen worden.

Es war ein gutes Gefühl, dass die Erinnerung allmählich zurückkehrte. Aber lückenhaft war sie immer noch. Ich konnte mich noch nicht einmal an die Namen der Norweger erinnern. Außerdem musste man damit rechnen, dass sie nicht mehr lange in Hamburg bleiben würden. Als Entlastungszeugen kamen sie wohl weniger in Frage. Ehrlich gesagt hätte ich sie noch nicht einmal genau beschreiben können. Und eigentlich war ich mir auch nicht wirklich sicher, dass diese Typen Norweger gewesen waren. Es hätten genauso gut auch Schweden oder Isländer sein können.

Hatte ich mich denn wirklich später von meinen Freundinnen getrennt?

Ich glaubte, dass wir noch gemeinsam in eine In-Disco wollten, wo wir stundenlang auf Einlass warten mussten. Aber sicher war ich mir nicht. Da hatte es doch diesen riesigen afrikanischen Türsteher gegeben. Wenn ich mir nur sicher gewesen wäre, dass wir dort nicht schon eine Woche früher aufgekreuzt waren. Der Laden hieß jedenfalls Colombo Club, aber das half nicht wirklich weiter. Und der Muskelmann würde gewiss nicht mehr sagen können, wann genau ihm drei Studentinnen in Feierlaune unter die Augen getreten waren. Oder?

Meine Gedanken drehten sich im Kreis. So sehr ich mich auch bemühte – mir fielen keine weiteren Einzelheiten zu den Erlebnissen der vorigen Nacht ein. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit wurde die Zellentür aufgeschlossen.

Ein schlaksiger Typ mit Aktentasche kam herein. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

„Frau Pia Kramer? Ich bin Michael Schneider, Ihr Verteidiger.“

Ich nickte nur und schaute mir den Rechtsanwalt genauer an, während er auf dem Hocker Platz nahm und seine Aktentasche öffnete. Er wirkte jung, konnte kaum ein paar Jahre älter als ich selbst sein. Aber vielleicht war Michael Schneider auch schon weit über dreißig. Er wirkte auf mich wie ein netter Milchbubi. Einer von der Sorte, die mich stotternd und errötend ins Kino einladen wollte. Ich hatte mich auf solche Dates niemals eingelassen, um den Typen keine falschen Hoffnungen zu machen. Als Mann war er überhaupt nicht mein Fall, aber das störte mich überhaupt nicht.

Denn momentan war dieser „Milchbubi“ mein einziger Verbündeter.

Ich schüttete Michael Schneider mein Herz aus. Er hörte sich geduldig alles an und machte sich Notizen. Ich bin nicht katholisch, aber er hätte gewiss einen guten Beichtvater abgegeben. Endlich versiegte mein Redefluss. Michael Schneider schaute er mir direkt in die Augen.

„Die entscheidende Frage ist für mich, ob Sie das Opfer wirklich getötet haben, Frau Kramer. Ich bin Ihr Anwalt, mir können Sie die Wahrheit sagen. Ich muss es wissen, um meine Verteidigungsstrategie darauf aufbauen zu können.“

„Sehe ich aus wie eine Mörderin?“, fragte ich fassungslos.

Der junge oder jung aussehende Jurist schüttelte den Kopf.

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Ich weiß es einfach nicht, okay?“, platzte ich heraus. „Ich war vorige Nacht nicht ganz nüchtern, ehrlich gesagt. Ich habe Gedächtnislücken. Ich würde alles dafür geben, wenn ich Ihnen sagen könnte, was geschehen ist.“

„Wurde Ihnen eine Blutprobe entnommen?“

„Ja. Ich hatte vorhin noch einen Restalkoholgehalt von 1,55 Promille. Aber inzwischen fühle ich mich wieder völlig nüchtern.“

„Das spielt keine Rolle, wichtig ist Ihre Trunkenheit zur Tatzeit. Wir können jetzt beweisen, dass Sie zwischen 22 Uhr und Mitternacht höchstwahrscheinlich unter Alkoholeinfluss gestanden haben. Daraus können sich mildernde Umstände für Sie ergeben.“

„Sie halten mich auch für eine Mörderin, nicht wahr?“, flüsterte ich niedergeschlagen. Noch nicht einmal mein Verteidiger glaubte an meine Unschuld. Das war so niederschmetternd.


„Ich denke eher, dass Sie einen Totschlag im Affekt begangen haben, Frau Kramer. Außerdem müssen wir die vollständige Obduktion von Verena Prinz abwarten. Wissen Sie noch, ob es zwischen Ihnen und ihr einen Kampf gegeben hat? Vielleicht finden sich Hautpartikel von Ihnen unter den Fingernägeln des Opfers. Alles in allem sind unsere Chancen auf ein mildes Urteil gar nicht mal so schlecht. Nur einen Freispruch werden wir nicht erreichen können, da sollten Sie sich keine falschen Hoffnungen machen. – Gibt es vielleicht erbliche Geisteskrankheiten in Ihrer Familie? Falls ja, dann könnten wir ein psychiatrisches Gutachten beantragen.“

Geisteskrankheiten? Ich hatte meine Familie immer als fast beängstigend normal empfunden. Mir fiel absolut niemand ein, der verrückt gewesen wäre.

„Ich habe Verena Prinz aber nicht erstochen“, beharrte ich. Doch Michael Schneiders Gesichtsausdruck sah nicht so aus, als ob er mir glauben würde.

„Wir müssen uns an die Fakten halten, Frau Kramer. – Ich werde jetzt zunächst die Ermittlungsakte der Polizei anfordern. Ansonsten sehen wir uns morgen bei Ihrem Haftprüfungstermin. Nur Mut.“

Wenig später war ich wieder allein in meiner Zelle. Nur ein Hauch von einem Allerwelts-Rasierwasser bewies mir, dass ich Besuch bekommen hatte. Ich zermarterte mir weiterhin das Gehirn, kam aber zu keinem Ergebnis. Der Streit mit Verena wegen meinem zerstörten Projekt lag nun schon eine Woche zurück. War es wirklich vorstellbar, dass ich deswegen mit einem Messer auf sie losgegangen war? Oder hatte dieses Biest mir noch etwas anderes angetan, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte oder wollte? Waren meine Gedächtnislücken vielleicht auf einen Schock zurückzuführen? Und warum hätte ich dieses verfluchte Arbeitsmesser aus der Uni klauen sollen? Es war als Mordwaffe nicht besonders gut geeignet, mein eigenes Brotmesser beispielsweise war länger und bestimmt auch schärfer.

Aber auf dem Arbeitsmesser waren meine Fingerabdrücke!

Jeder Student und jeder Professor vom Leichenfeld hätte dieses Werkzeug mitgehen lassen können. Auch der Hausmeister oder eine Putzfrau, wenn es danach ging. Es war auch kein Geheimnis, dass ich den Modellierkurs von Professor Kuntze besuchte. Es stand sogar im Internet, welche Studenten an dieser Übung teilnahmen. In dem Werksaal hatte ich dieses Messer für meine Tonarbeiten benutzt. Und dann hatte es jemand an sich genommen, um mir den Mord in die Schuhe zu schieben. Eine andere Erklärung gab es nicht.

Ich hatte nämlich noch nie etwas aus der Uni mitgenommen, noch nicht mal ein Stück Würfelzucker aus der Cafeteria. Was hätte ich mit dem schmutzigen alten Modelliermesser auch zu Hause anfangen sollen?

Nein, jemand wollte mich unbedingt wegen Mordes ins Gefängnis bringen. Das wurde mir nun so richtig bewusst.

Was für Feinde hatte ich eigentlich, von der toten Verena Prinz einmal abgesehen?

Ich dachte sofort an meinen Ex Tobias, der mich nach unserer Trennung noch wochenlang genervt hatte. Aber nun war er schon seit einem halben Jahr mit dieser dämlichen Beatrix Jablonski zusammen. Für die beiden schien es wirklich die große Liebe zu sein. Man sah Tobias und Beatrix am Leichenfeld nur noch zusammen, wie ein zweiköpfiges Wundertier. Sie hatten sogar die gleichen Kurse belegt, um möglichst viel Zeit miteinander zu verbringen. Auf mich wirkten sie total glücklich, wie ich mir eingestehen musste.

Warum hätte Tobias mir jetzt auf einmal schaden wollen? Seit er mit Beatrix zusammen war, beachtete er mich überhaupt nicht mehr. Und gegen Verena Prinz hatte er auch nie etwas gehabt, soweit ich wusste. Nein, das ergab keinen Sinn.

Und wenn nun ein Psychopath an der Kunsthochschule sein Unwesen trieb?

Jemand, der sowohl mich als auch Verena Prinz hasste? Durch seine teuflische Falle hatte er jedenfalls zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Das eine Opfer war tot, das andere würde für sehr lange Zeit hinter Gittern landen.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass es auch mich hätte treffen können. Diese Vorstellung ließ mir kalte Schauer über den Rücken laufen. War es vielleicht nur purer Zufall, dass nicht ich erstochen worden war? Wenn ich tot in meinem Blut gelegen hätte, wäre Verena Prinz die Hauptverdächtige gewesen. Und dann würde sie jetzt hier in dieser Zelle sitzen und nicht ich.

Verdankte ich mein Leben nur der Willkür eines Geisteskranken?

Jedenfalls war ich jetzt fast erleichtert, mich im Polizeigewahrsam zu befinden. Hier drin würde mir dieser Irre jedenfalls nichts tun können. Aber wie sollte ich jemals beweisen, dass Verena und ich die Opfer einer hinterhältigen Intrige geworden waren?

Plötzlich fühlte ich mich der Toten auf eine seltsame Art verbunden. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich einmal etwas mit Verena Prinz gemeinsam haben könnte. Und doch war es so. Höchstwahrscheinlich waren wir beide die Opfer eines irren Killers, der uns wie Marionetten in seinem kranken Spiel benutzt hatte.

Als das Abendessen gebracht wurde, grübelte ich immer noch darüber nach, wer etwas gegen Verena und mich hatte. Eigentlich glaubte ich nicht, etwas herunterkriegen zu können. Das Essen bestand aus zwei Scheiben trockenem Graubrot, dazu jeweils ein Klacks Marmelade und Honig sowie künstlich schmeckende Margarine. Außerdem gab es lauwarmen Pfefferminztee. Doch allmählich merkte ich, dass ich Hunger hatte. Daher schmeckte das Essen auch nicht so schlecht, wie es aussah. Ich musste schließlich bei Kräften bleiben. Wenn ich zusammenklappte, war damit niemandem gedient. Und wenn niemand an meine Unschuld glaubte, musste ich mir eben selber helfen.

Später lag ich unter der kratzigen Wolldecke. An Schlaf war nicht zu denken. Ich fühlte mich sehr einsam und verlassen. Ich verstand immer noch nicht, dass Rike und Svenja gegen mich ausgesagt hatten. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass wir wenigstens die ersten Stunden des Tatabends miteinander verbracht hatten. Aber offenbar hatten meine Freundinnen sogar das geleugnet. Sie hatten die Polizei bewusst angelogen. Weshalb nur?

Warum hatte ich keinen Freund, der mich in diesem Moment einfach nur in den Arm nehmen konnte? Eigentlich war Tobias doch gar nicht so übel, sagte ich mir mit einer Anwandlung von Sentimentalität. Beatrix wurde von ihm offenbar auf Händen getragen. Das hätte jetzt ich an ihrer Stelle haben können. Bei diesem Gedanken kamen mir wieder die Tränen, obwohl ich wirklich nicht mehr in diesen Egoisten verliebt war.

Ob meine Eltern schon wussten, dass ich verhaftet worden war? Jedenfalls musste ich damit rechnen, dass die Polizei auch mit ihnen Kontakt aufnehmen würde. Und das war mir gar nicht recht. Mein Papa durfte sich nicht aufregen, er hatte ein schwaches Herz. Wie würde er auf die Nachricht reagieren, dass seine einzige Tochter eine Mörderin sein sollte?

Trotz meiner Sorgen und Ängste fielen mir irgendwann vor lauter Erschöpfung die Augen zu. In meinen Alpträumen wimmelte es von finsteren Messermördern, die mal mich, mal Verena Prinz verfolgten. Irgendwann legte ein Henker mit einer schwarzen Kapuze einen Strick um meinen Hals, und ich wachte schreiend auf.

Nur langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück. Natürlich wusste ich, dass die Todesstrafe in Deutschland schon vor vielen Jahren abgeschafft worden war. Aber ich fühlte mich trotzdem ziemlich mies. Unter erholsamem Schlaf verstehe ich jedenfalls etwas anderes. Ich versuchte eine Katzenwäsche an dem winzigen Waschbecken, worauf sich mein Zustand wenigstens etwas besserte.

Nach einem Frühstück, das aus dünnem Kaffee und Marmeladenbrot bestand, wurde ich aus dem Zellentrakt des Polizeipräsidiums fortgeschafft. Hauptkommissar Bergmann hatte mir ja schon angekündigt, dass ich ins Untersuchungsgefängnis überstellt werden sollte.

Im Hof des Gebäudes schob mich eine uniformierte Beamtin in einen Gefangenentransporter mit vergitterten Fenstern. Früher hießen solche Fahrzeuge Grüne Minna, aber inzwischen sind sie von blauer Farbe. Für die Fahrt waren mir Handschellen angelegt worden, diesmal aber wenigstens vor dem Oberkörper und nicht hinter dem Rücken. So konnte ich mich etwas besser bewegen.

In dem Transporter hockten bereits zwei andere Frauen, die ebenfalls gefesselt waren. Sie starrten mich neugierig an.

Die ältere von ihnen war mager und bleich. Sie roch wie ein seit Tagen nicht geleerter Aschenbecher. Die jüngere war fett, hatte blau gefärbte Haare und gehörte zu einer berüchtigten Harburger Gang, wenn man ihren Unterarm-Tattoos glauben konnte. Die Tätowierung zeigte einen großen roten Blutstropfen, darin ein schlecht gezeichneter Diamant. Das Symbol der Blood Diamonds. Diese Gang terrorisierte vorzugsweise die Hochhaussiedlungen von Kirchdorf-Süd, jedenfalls hatte ich das mal in einem Nachrichtenportal gelesen.

„Hast du eine Kippe, Schwester?“, fragte mich die Nikotin-Freundin mit Reibeisenstimme.

Ich schüttelte den Kopf. Mit dem Rauchen hatte ich schon vor Jahren aufgehört. Und falls ich in jener Unglücksnacht wieder gequalmt hatte, dann waren meine restlichen Zigaretten jedenfalls ebenso verschwunden wie meine Erinnerung an die Ereignisse.

Die Dicke lachte höhnisch.

„Glaubst du, dieses Modepüppchen raucht Zigaretten, Tamara? Sieh dir doch die eingebildete Schnepfe nur mal genau an, das ist doch eine Bonzentochter. Die denkt doch, sie sei was Besseres. – Weswegen haben die Bullen dich überhaupt eingebuchtet, Süße?“

Die Frage war an mich gerichtet. Und ich hielt es für besser, meine zukünftige Mitgefangene nicht zu verärgern. Also sagte ich die Wahrheit.

„Mord.“

„Mord?“, wiederholte die übergewichtige Gang-Tussi. Es klang so empört, als ob ich sie beleidigt hätte. „Glaubst du, wir lassen uns von dir verarschen?“

„Schluss mit dem Streit, Mädels“, sagte die uniformierte Polizistin, die im Gefangenentransporter mitfuhr. Sie schloss die Tür von innen, dann setzte sie sich neben mich und klopfte mit der flachen Hand gegen die Trennwand zur Fahrerkabine. Daraufhin setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Aber die Dicke gab keine Ruhe.

„Dieses Miststück lügt uns an, Frau Wachtmeister“, meinte die Wuchtbrumme. „Das ist doch keine Art, oder? Die ist doch nie und nimmer eine Mörderin!“

Die Polizistin warf einen Blick auf ihre Liste, die sie an einem Clipboard befestigt hatte.

„Also, hier steht auch: Pia Kramer, Mordverdacht. Dann wird es wohl stimmen, oder? Und nun gib endlich Ruhe, Suzie.“

Die mit Suzie angesprochene Gefangene und ihre Freundin sagten nun wirklich nichts mehr. Aber mir fiel auf, dass sie mich jetzt respektvoll und auch ein wenig ängstlich betrachteten. In der Gefängnis-Hackordnung würde ich vermutlich ganz oben stehen. Ich hatte mal gelesen, dass hinter Gittern Mörder die größte Anerkennung genießen und Sexstrolche die geringste.


Aber auf den Respekt dieser Knasthühner hätte ich gern verzichten können. Doch momentan musste ich mich ganz darauf konzentrieren, nicht vom Sitz zu rutschen. Die Fahrt durch die Stadt verlief nämlich nicht gerade angenehm. Immer wieder legte sich der Gefangenentransporter scharf in die Kurven. Man musste die Beine gegen den Boden stemmen und sich mit den Händen am Rand der Sitzbank festhalten. Von draußen hörte man wilde Chorgesänge, Autohupen und das Klirren von zerbrechenden Flaschen. Erkennen konnten wir nichts, denn die kleinen Lichtschlitze des vergitterten Fahrzeugs befanden sich weit über unseren Köpfen.

„Was ist denn da los?“, fragte ich.

„Lokalderby, HSV gegen St. Pauli“, gab die Polizistin zurück. „In der Stadt geht es rund. Aber die Kollegen versuchen, einen Umweg zu fahren.“

Das wunderte mich nicht. Ein Fußballspiel bedeutete in der nördlichen Metropole mehr oder weniger Bürgerkrieg, daran hatte ich mich schon gewöhnt. Immerhin lebte ich schon fast zwei Jahre in Hamburg. Aber bisher hatte ich es immer verstanden, am Wochenende nicht in die Nähe eines Stadions zu kommen. Daher glaubte ich, dass auch der Polizist am Lenkrad schon die richtige Route wählen würde. Gerade die Ordnungshüter mussten doch am besten wissen, wie heftig die Fights zwischen den verfeindeten Fans ausgetragen wurden. Soweit ich wusste, verabredeten sich die Hooligans ja per Handy und Internet regelrecht zu ihren Massenschlägereien. Ich stellte mich also auf eine etwas längere Fahrt in dem unbequemen Fahrzeug ein.


Doch wenig später stoppte der Gefangenentransporter. Der Fahrer betätigte langanhaltend die Hupe. Aber es nützte offenbar nichts. Und dann ertönten dumpfe Geräusche. Es klang, als würden hunderte von Fäusten gegen das Stahlblech unseres Fahrzeugs trommeln. Wahrscheinlich war das auch so.

„Das sind Ultras!“, rief Suzie. „Mann, diese Jungs sind völlig durchgeknallt. Ich war mal mit einem von ihnen zusammen!“

In diesem Moment war mir das Liebesleben meiner übergewichtigen Mitgefangenen herzlich egal. Ich musste mich nämlich noch stärker festhalten, um nicht von der Bank zu fliegen. Die Kerle gaben sich nämlich nicht mehr damit zufrieden, wie die Irren gegen die Außenwände unseres Gefangenentransporters zu hämmern. Sie begannen nun damit, das Fahrzeug hin und her zu schaukeln. Das war eine beachtliche Leistung, denn der gepanzerte Wagen war gewiss kein Leichtgewicht. Es mussten dutzende von Männern sein, die sich an dem Auto vergriffen. Die begleitende Polizistin hatte schon längst zu ihrem Sprechfunkgerät gegriffen und sprach aufgeregt mit ihrer Leitzentrale. Allerdings konnte ich sie nicht verstehen, obwohl ich unmittelbar neben ihr saß. Die wüsten Fangesänge, die von draußen hereindrangen, waren einfach zu laut.

Suzie rutschte von der Sitzbank und krachte mit ihrem Kopf gegen meine Schulter. Es tat weh, aber es war auszuhalten. Im nächsten Moment bekamen wir ganz andere Probleme.

Denn nun kippte der Gefangenentransporter um!

Es kam mir vor, als ob ich alles in Zeitlupe miterleben würde. Ich wurde vorwärts und gleichzeitig nach oben geschleudert, während sich das behäbige Fahrzeug drehte wie ein sterbender Wal. Es krachte entsetzlich, als der Wagen auf der Seite landete. Die Hintertür am Heck sprang auf.

Mein Knie tat weh, aber ich konnte gehen. Meine Knochen waren durchgeschüttelt worden, aber ansonsten fehlte mir nichts. Ich schaute mich um. Die Polizistin und Suzie waren bewusstlos, die ältere Drogentante wirkte zumindest benommen. Sie stöhnte vor sich hin.

Und durch die offenstehende Doppeltür glotzte ein Haufen Typen mit St. Pauli-Schals und –Shirts in den kaputten Gefangenentransporter. Ich begriff, dass ich nun die einmalige Chance zur Flucht hatte. Diese Kerle würden mich gewiss nicht daran hindern. Wer einen Gefangenentransporter umkippt, ist in meinen Augen jedenfalls kein gesetzestreuer Bürger, der die Flucht einer Strafgefangenen vereitelt.

Außerdem kriegten die Ultras nun selbst Probleme.

Ich hörte das näherkommende Geräusch von Polizeisirenen, außerdem das Getrappel von zahlreichen Pferdehufen. Während ich aus dem umgekippten Fahrzeug krabbelte, befand ich mich mitten in einem unglaublichen Chaos.

Mehrere geparkte Autos brannten, Fensterscheiben von Geschäften waren eingeschlagen worden. Überall roch es nach Benzin und Alkohol. Links und rechts von mir standen hunderte von Fans. Sie skandierten immer noch ihre Parolen, einige von ihnen filmten sich selbst mit Handy-Kameras. Viele von ihnen waren vermummt. Aus Richtung Süden rückte nun die berittene Polizei an. Steine flogen, ein paar Tränengasgranaten explodierten zwischen den Fußballrowdys. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis die Ordnungskräfte und ihre Herausforderer zusammenknallen würden.

Doch da hatte ich schon die Beine in die Hand genommen. Ich duckte mich, schlug ein paar Haken und rannte in eine ruhige Seitenstraße. Ich lief weiter, bis ich Seitenstechen bekam. Wieder und wieder warf ich einen Blick nach hinten. Jeden Moment erwartete ich, einen Polizisten hoch zu Ross zu erblicken. Oder einen Streifenwagen, vielleicht sogar einen Polizeihubschrauber.

Aber niemand verfolgte mich. Ich war frei!







3


Ich stand wegen meiner geglückten Flucht immer noch völlig unter Strom. Es kam mir so vor, als würden mich alle Menschen anstarren. Zum Glück waren nur wenige Passanten unterwegs. Das war auch kein Wunder, denn der Lärm von der Straßenschlacht zwischen rivalisierenden Hooligans und der Polizei war nicht zu überhören. Wer nicht unbedingt nach draußen musste, blieb lieber daheim. Zu groß war die Gefahr, als Unbeteiligter eins über den Schädel zu kriegen.

Ich trabte nun langsam durch die Semperstraße, die sich in der Nähe des Stadtparks befindet. Das penetrante Jaulen der Polizeisirenen bewies mir, dass der Großeinsatz wegen dem Fußballspiel immer noch in vollem Gang war. Noch hatten die Beamten alle Hände voll zu tun, um mit den Ultras fertigzuwerden. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis man meine Flucht bemerken würde.

Ob diese beiden Knasthühner ebenfalls entkommen waren? Ehrlich gesagt war es mir egal. Ich wusste nicht, was Suzie und ihre Drogenfreundin ausgefressen hatten. Für mich stand fest, dass ich Verena Prinz nicht ermordet hatte. Aber wie sollte ich das jemals beweisen?

So gesehen hatte ich mir durch mein spontanes Verschwinden nicht wirklich einen Gefallen getan. War meine Flucht nicht der beste Beweis für meine Schuld? Würde die Polizei sich jetzt nicht erst recht auf mich als Hauptverdächtige konzentrieren?

Aber darüber wollte ich mir keine Gedanken machen, nicht in diesem Moment. Meine Beine bewegten sich automatisch, als ob ich eine Roboterin wäre. Eine ältere Frau, die mir entgegen kam, starrte mich entsetzt an. Natürlich hatte sie die Handschellen bemerkt, mit denen meine Gelenke vor meinem Körper gefesselt waren. Damit zog ich alle Blicke auf mich, und das konnte ich nun gar nicht gebrauchen. Wenn auch nur einer dieser Zeugen die Ordnungshüter rief, dann war ich geliefert.

Doch plötzlich hatte ich zum zweiten Mal an diesem Tag Glück.

Neben den Pfandkistenstapeln des Barmbeker Getränkemarktes sah ich einen Kapuzenpullover liegen!

Ich überlegte nicht lange, wem der Hoodie gehören könnte. Stattdessen hob ich das Kleidungsstück auf und drapierte es über die Handschellen. Niemand hatte auf mich geachtet oder den Diebstahl bemerkt.

Nun konnte man mir wenigstens nicht auf den ersten Blick anmerken, dass ich eine entflohene Strafgefangene war. Meine Lage hatte sich dadurch allerdings nicht dramatisch verbessert. Ich hatte weder Geld noch Handy oder Schlüssel bei mir. Das war mir bei meiner Verhaftung ja alles abgenommen worden. Und wohin sollte ich auch gehen?

In meiner Wohnung würden mich die Polizisten gewiss zuerst suchen. Aus demselben Grund konnte ich auch nicht in mein Heimatdorf zu meinen Eltern fahren. Ganz abgesehen davon, dass ich das Bahnticket nicht hätte bezahlen können. Einen Freund, bei dem ich mich verstecken konnte, hatte ich leider auch nicht. Und meine sogenannten Freundinnen Rike und Svenja hatten mich bekanntlich ans Messer geliefert.

Ziellos lief ich durch die Winterhuder Straßen, während sich allmählich Hunger und Durst bemerkbar machten. Das Frühstück in der Arrestzelle war ja nicht gerade üppig gewesen, und inzwischen war längst Nachmittag. Ich fragte mich, ob die Polizei schon eine Großfahndung ausgelöst hatte. Einmal kam mir ein Streifenwagen entgegen. Mir blieb beinahe das Herz stehen. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht sofort loszurennen. Aber entweder suchten die Polizisten nicht nach mir oder sie hatten gerade etwas anderes zu erledigen. Jedenfalls wurden sie nicht auf mich aufmerksam. Das Einsatzfahrzeug bog um die Ecke, ohne dass die Beamten von mir Notiz genommen hätten.

Was sollte ich nur tun? Mit jeder Minute, die verstrich, wurde ich erschöpfter und mutloser. Doch plötzlich kam mir der rettende Einfall.

Ich würde zu Heinrich Berner gehen!

Das war ein alter Bildhauer, der sein Atelier auf einem Hausboot im Hafen hatte, am anderen Elbufer. Bei ihm hatte ich im ersten Studienjahr ein Praktikum gemacht. Heinrich war ein verschrobener Sonderling, der hoffentlich Verständnis für mich hatte und nicht sofort die Polizei alarmieren würde. Vor allem aber machte er tolle Kunstwerke aus Schrott und anderen wertlosen Metallgegenständen. Der Bildhauer hatte also gewiss das passende Werkzeug, um mich von den Handschellen zu befreien. Ich selber musste ja auch mit Stahlsägen und Blechscheren hantieren, als ich bei ihm im Praktikum gewesen war.

Mein Vorhaben gab mir neue Hoffnung.

Aber zunächst hatte ich einen langen Fußmarsch vor mir. Es war verflucht weit von Winterhude bis hinunter zur Elbe. Aber ich konnte nicht die U-Bahn oder einen Bus nehmen, denn ich musste dort mit Kontrollen rechnen. Ich war nicht aus einer Grünen Minna entkommen, um mich von irgendwelchen HVV-Leuten wieder einfangen zu lassen. Und da ich kein Geld hatte, fiel auch ein Taxi flach.

Also marschierte ich zähneknirschend die Rothenbaumchaussee hinunter Richtung Süden. Mein Magen knurrte, als ich am Cafè Funk-Eck vorbeieilte. Meine Füße brannten, normalerweise legte ich längere Strecken immer nur mit der U-Bahn zurück. Aber ich kannte mich inzwischen in Hamburg gut genug aus, um irgendwann den Hafen zu erreichen.

Mein Herz klopfte laut, als ich auf der Billhorner Brückenstraße die Elbe überquerte. Zum Glück trug ich wenigstens keine Gefängniskleidung. In Jeans und Retro-Windjacke sah ich aus wie unzählige andere Hamburger Mädels in meinem Alter. Diese Unauffälligkeit war meine beste Tarnung.

Heinrich Berners Hausboot war am Guanofleet fest vertäut. Hier am Kleinen Grasbrook gab es nur Gewerbestraßen, wo sich ausschließlich Containerplätze, Lagerhäuser und Parkplätze befanden. Dort störte es niemanden, wenn er bei seinen Metallarbeiten einen Höllenlärm veranstaltete. Natürlich hauste der Alte auch in dem Boot, das eher einem schwimmenden Schrottplatz glich. Er hatte zwei kleine Zimmer achtern für Wohnzwecke eingerichtet. Ein besseres Versteck konnte man sich kaum vorstellen.

Ich war fast am Ende meiner Kräfte, als ich endlich die Kaimauer hinter der Reiherstraße erreichte. Immerhin bewies mir ein rhythmisches Metallklirren, dass der Bildhauer daheim sein musste.

Und so war es auch. Meine Knie waren butterweich, als ich über einen schmalen Steg an Bord ging. Die Tür zu Heinrichs Werkstatt/seinem Atelier stand halb offen. Ich ging hinein und entdeckte ihn sofort. Heinrich Berner hatte mir den Rücken zugekehrt und bearbeitete mit einer Metallsäge eine verrostete alte Motorhaube. Er wirkte in seinem blauen Overall weniger wie ein Künstler als wie ein Mechaniker. Seine grauen Haare und der struppige Bart waren ungepflegt wie eh und je.

Aber Heinrichs wasserblaue Augen leuchteten, als ich ihn umrundet hatte und mich verkrampft lächelnd in sein Gesichtsfeld schob. Er ließ sofort sein Werkzeug sinken und machte einen Schritt in meine Richtung.

„Pia, das ist aber eine nette Überraschung.“

Der alte Bildhauer freute sich offenbar wirklich, mich zu sehen. Ich brach vor Erleichterung schon wieder in Tränen aus. Aber ich hatte jetzt endlich das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Heinrich legte die zersägte Motorhaube zur Seite und nahm mich in die Arme. Er roch nach Schmieröl und starken Zigaretten, aber das war mir so was von egal. Meine Schultern zuckten, ich war total von der Rolle.

„Beruhige dich doch, habe ich etwas Falsches gesagt? – Nein, du steckst offenbar in Schwierigkeiten.“

Heinrich hatte seine Frage selbst beantwortet, denn plötzlich rutschte der Kapuzenpullover von meinen Unterarmen und der alte Mann erblickte meine Handschellen. Aber er reagierte genau so, wie ich es mir von ihm erhofft hatte. Heinrich blinzelte mir verschwörerisch zu und griff wieder zu seiner Metallsäge.

„Na, dann werde ich dich mal von diesem unfreiwilligen Körperschmuck befreien, was? Ich wette, dass eine junge Künstlerin wie du viel lieber andere Armbänder trägt.“

Der trockene Humor des Bildhauers brachte mich zum Grinsen, ich hatte mit dem Weinen schon wieder aufgehört. Es waren ohnehin nur Tränen der Erleichterung gewesen. Denn traurig war ich nicht. Genau genommen erlebte ich gerade die glücklichsten Momente seit meiner Verhaftung. Heinrich benötigte nicht länger als eine Viertelstunde, bis die auf gesägten Handschellen auf den schmutzigen Holzboden seines Ateliers fielen. Nun fühlte ich mich wirklich frei.

Ich schaute mich neugierig um, weil ich mich von meinen Sorgen ablenken wollte. Heinrich schweißte und hämmerte die absonderlichsten Fabelwesen aus Metallschrott. Seit ich bei ihm mein Praktikum gemacht hatte, waren noch einige neue Skulpturen hinzugekommen, andere waren verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sie verkauft, obwohl Heinrich kein guter Geschäftsmann war. Soweit ich wusste, lebte er von der Hand in den Mund. Aber das schien ihn nicht besonders zu stören.

Heinrich betrachtete zufrieden die Überreste der kaputten stählernen Handfesseln.

„So, das wäre erledigt. – Du siehst mir ganz so aus, als ob du einen Tee vertragen könntest.“


Ich nickte dankbar und folgte dem Bildhauer in seine chaotische gemütliche Küche, die sich direkt hinter dem Atelier befand. Dort hingen Poster von Jim Morrison, Janis Joplin und anderen Rockgrößen längst vergangener Zeiten an den Wänden. Heinrichs Musikgeschmack war von vorgestern, aber er hatte mehr Power und Energie als so mancher Typ in meinem Alter. Das ständige Arbeiten mit schwerem Metall war schließlich kein Job für Schwächlinge.


Der alte Bildhauer braute für uns eine Kanne mit extra starkem Darjeeling-Tee. Außerdem bereitete er mir einen Haufen Butterbrote mit Käse und Aldi-Salami zu. Vermutlich ahnte er, wie hungrig ich war. Heinrich drehte sich eine Zigarette und schaute mir schmunzelnd beim Essen und Trinken zu. Er rauchte, während allmählich meine Lebensgeister zurückkehrten. Das Wasser zwischen Hausboot und Kaimauer gluckste leise, es war richtig gemütlich.

Nun erzählte ich ihm unaufgefordert alles, was passiert war. Heinrich konnte gut zuhören. Ich hatte das Gefühl, er würde meinen Worten konzentriert lauschen. Er öffnete erst wieder den Mund, als mir nichts mehr einfiel und ich verstummte.

„Tja, meine Lieblingspraktikantin steckt offenbar in großen Schwierigkeiten. Das tut mir sehr leid für dich, Pia. Wenn du meine Meinung hören willst: Du hast diese Verena nicht getötet.“

„Danke, Onkel Heinrich“, platzte ich heraus. So hatte ich ihn schon während des Praktikums genannt. „Danke, dass wenigstens du an mich glaubst. Ich fürchte, sogar mein eigener Anwalt hält mich für schuldig.“

Heinrich machte eine zustimmende Kopfbewegung und drückte seine Zigarettenkippe im Aschenbecher aus.

„Du darfst das der Polizei und der Justiz nicht übel nehmen, Pia. Das sind brave, aber furchtbar fantasielose Leute. Sie sehen nur das, was man ihnen als scheinbare Fakten unter die Nase reibt. Und die Falle, in die du getappt bist, ist leider ziemlich ausweglos.“

„Dann glaubst du also auch, dass man mir eine Falle stellen wollte?“

„Ja, man will dir den Mord in die Schuhe schieben, Pia. Und daran hat sich wahrscheinlich auch das Opfer selbst beteiligt.“

„Verena? Wie kommst du denn darauf? Sie konnte mich nicht ausstehen, zugegeben. Aber sie wird sich doch nicht selbst umbringen lassen, nur um mich hinter Gitter zu bringen!“

„Nein, das nicht. Vielleicht ist die Sache ja aus dem Ruder gelaufen. Es wäre vorstellbar, dass ihr Komplize plötzlich den Plan geändert hat. – Denk nur an das Tagebuch, von dem dieser Hauptkommissar dir gegenüber gesprochen hat. Darin hat Verena geschrieben, dass du sie verfolgen würdest.“

„So etwas habe ich nie getan. Ich war froh, wenn ich sie mal nicht sehen musste. Ich habe Besseres zu tun, als ihr in meiner Freizeit nachzusteigen. Ich bin doch keine bescheuerte Stalkerin.“

„Das glaube ich dir, Pia. Also gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat Verena die Tagebucheintragungen selbst gemacht, um dich zu belasten. Oder jemand hat ihre Handschrift gefälscht, um den gleichen Effekt zu erreichen. Doch die zweite Variante wäre riskanter, weil die Polizei imitierte Handschriften durch Vergleichsverfahren leicht nachweisen kann. So etwas weiß ich als alter Krimileser. Also war Verena zumindest in die Verschwörung gegen dich verwickelt.“

Ja, Heinrichs Überlegungen leuchteten mir ein. Vielleicht hatte ja jemand ein doppeltes Spiel gespielt? Eine Person, die sowohl Verena als auch mich beseitigen wollte? Wenn das so war, dann hatte dieser Jemand ganze Arbeit geleistet. Verena war tot, und ich würde lebenslänglich hinter Gittern verschwinden, sobald die Polizei mich wieder aufgriff. Aber wer hasste uns beide so abgrundtief?

Während ich noch darüber nachgrübelte, ertönten plötzlich Schritte auf der Gangway und wenig später auf dem Hausboot selbst. Eine Gestalt wurde schemenhaft im Eingangsbereich sichtbar. Ich wollte erschrocken aufspringen und mich irgendwo verstecken, aber der alte Bildhauer legte mir beruhigend seine Hand auf den Unterarm.

„Nur keine Panik, das ist mein Neffe. – Lars, wir sind hier in der Küche!“

Ich bekam beinahe einen Herzkasper, und das aus verschiedenen Gründen. Ich meine, Heinrich Berner vertraute ich sozusagen blind. Aber das musste ja nicht gleichermaßen für seinen Verwandten gelten, oder?

Dieser Lars betrat grinsend die Küche, wobei er die Überreste meiner Handschellen zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Er wusste oder ahnte nun also, dass ich eine geflohene Strafgefangene war. Doch auch diese Erkenntnis machte mich nicht wirklich unruhig.

Vielmehr wurde mir bewusst, dass ich Lars kannte.

Er war nämlich eines der männlichen Modelle aus dem Aktzeichenkurs von Professor Breithofen!

Ich hatte im letzten Semester viel Zeit damit verbracht, jeden Quadratzentimeter seines Körpers anzuschauen und möglichst naturgetreu auf die Leinwand zu bannen. Und dieser Typ ist ein richtiger Hingucker, ehrlich gesagt. Lars hatte nicht nur ein markantes männliches Gesicht, sondern auch einen athletischen durchtrainierten Körper. Und er war in jeder Hinsicht gut gebaut, wenn Sie verstehen …

Jedenfalls wurde ich knallrot, als ich ihn nun wieder vor mir sah. Bei unseren letzten Begegnungen war er splitternackt gewesen, und die Erinnerung an seinen Body hatte mir so manche unruhige Nacht beschert.

Seine grünen Augen blitzten auf, er fuhr sich mit der linken Hand durch sein wuscheliges kastanienbraunes Haar. Offenbar hatte er mich auch wiedererkannt.

„Du warst doch in dem Aktzeichenkurs von Professor Breithofen, nicht wahr? Hast du jetzt umgesattelt? Bist du neuerdings Entfesselungskünstlerin?“

Mir blieb die Luft weg. Sollte ich mich über seine Lockerheit freuen oder über seine Unverschämtheit ärgern? Bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, ergriff Heinrich das Wort.

„Lars, Pia kann jetzt keine blöden Sprüche gebrauchen. Sie steckt schuldlos in Schwierigkeiten und benötigt unsere Hilfe.“

Nach dieser klaren Ansage schilderte der Bildhauer seinem Neffen noch die wichtigsten Fakten über den Mord, meine Verhaftung und meine Flucht. Er ließ kein Detail aus, offenbar hatte Heinrich mir wirklich gut zugehört. Lars wurde sofort ernst wie ein Sargträger. Er setzte sich neben mich auf die Küchenbank und legte mir sanft seine große Hand mit den langen kräftigen Fingern auf die Schulter. Und ich musste mir eingestehen, dass mir diese einfache Berührung sehr gut tat.

„Sorry, Pia. Ich kann manchmal einfach meine große Klappe nicht halten. Das ist wohl auch der Grund, warum ich es in keinem Job sehr lange aushalte.“

Ich lächelte.

„Arbeitest du deshalb nicht mehr als Aktmodell?“

„Nein, mir gefällt das stundenlange Stillsitzen nicht. Da hätte ich ja gleich Beamter werden können.“

„Als Beamter würdest du aber nicht nackt im Büro sitzen.“

Ich war froh, dass ich inzwischen wieder einigermaßen schlagfertig sein konnte. Lars sollte nicht denken, dass ich eine schüchterne Provinztrulla wäre, die sich von seinem umwerfenden Aussehen so einfach blenden ließ. Immerhin war er kein Angeber, sondern benahm sich ganz locker. In seiner zerschlissenen Jeans und seinem schwarzen Sweatshirt sah er jedenfalls nicht aus wie eines dieser blasierten Bübchen aus reichem Elternhaus, von denen es an der Kunstakademie reichlich viele gab.

Heinrich ließ durchblicken, dass sich sein Neffe mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlug. Für einen Karrieristen hatte ich Lars auch nicht gehalten, sein beruflicher Background war mir egal. Das spielte für mich wirklich keine große Rolle. In diesem Moment war ich einfach nur froh, dass er auch bei mir war.

Ich fühlte mich momentan richtig gut. Aber das änderte sich schnell, als der Bildhauer sein Küchenradio anstellte. Es liefen gerade Lokalnachrichten auf Radio Hamburg.

„ … wurden insgesamt 33 Fans vom 1. FC St. Pauli und vom HSV vorübergehend festgenommen. – Und hier noch eine dringende Fahndungsmeldung der Polizei Hamburg. Gesucht wird die zweiundzwanzigjährige Studentin Pia Kramer. Sie hat braunes schulterlanges Haar und dunkle Augen. Pia Kramer ist 166 cm groß und wiegt 60 kg. Bekleidet war sie zuletzt mit einer blauen Jeans und einer dunklen Windjacke. Die Verdächtige ist aus dem Polizeigewahrsam geflohen und gilt als sehr gefährlich. Möglicherweise ist sie bewaffnet.“









4


Ich fühlte mich, als hätte man mich in eine Kältekammer gesperrt. Schlagartig konnte ich keinen Finger mehr rühren. Lars legte einen Arm um meine Schultern.

„Hey, du bist ja plötzlich totenbleich geworden. Ist alles okay mit dir?“

„Du traust dich ja was“, meinte ich voller Galgenhumor. „Du sitzt direkt neben einer blutrünstigen Mörderin, ist dir das eigentlich klar?“

„Für eine Killerin siehst du immer noch ziemlich harmlos aus, finde ich. Und hübsch dazu.“


War das ein unbeholfenes Kompliment? Doch so richtig konnte ich mich darüber nicht freuen. Ich fragte mich, wie viele Passanten sich an die Begegnung mit mir erinnern würden. Wahrscheinlich war in den TV-Nachrichten bald auch mein Foto zu sehen. Dann konnte es nicht mehr lange dauern, bis mich jemand entdecken und verraten würde.

Es war, als ob Heinrich meine Gedanken gelesen hätte.

„Mach dich nicht selbst verrückt, Pia. Wir brauchen jetzt einen Plan. Für mich steht fest, dass der wahre Mörder an der Kunsthochschule Lerchenfeld zu suchen ist. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Der Killer muss sowohl Verena als auch dich kennen. Also wird er ein Student, ein Professor oder ein Angestellter sein.“

Heinrichs Ruhe färbte ein wenig auf mich ab. Und die körperliche Nähe zu Lars trug sicher auch dazu bei, dass es mir schon bald wieder etwas besser ging. Doch es blieb die nüchterne Erkenntnis, dass ich für die Polizei offenbar momentan die einzige Verdächtige in dem Mordfall war.

„Ich bin zwar nicht als Student eingeschrieben, aber ich kenne eine Menge Leute an der Uni“, sagte Lars. „Ich kann mich ja mal unauffällig umhören. Niemand weiß, dass wir uns kennen, wenn man mal von der kurzen Begegnung im Aktzeichenkurs absieht. Daher wird sich niemand etwas dabei denken, wenn ich auf den Busch klopfe. Vielleicht finde ich ja heraus, wer etwas gegen dich und gegen diese Verena hatte.“

„Und ich werde mit einigen Professoren und Leuten aus der Verwaltung reden“, kündigte Heinrich an. „Schließlich war ich mal Gastdozent für Bildhauerei an der Kunsthochschule Lerchenfeld. Ich werde so tun, als wollte ich mich wieder bewerben. Und bei der Gelegenheit werde ich meine Nase in die Gerüchteküche stecken. Denn bekanntlich wird an Universitäten unheimlich gerne getratscht. So wie überall, wo sich viele Menschen zusammenfinden.“


„Was kann ich selbst denn tun?“, fragte ich. „Ich will hier nicht so nutzlos herumsitzen, sonst kriege ich noch die Krise.“

Es war total toll, dass Heinrich und Lars sich so für mich einsetzten. Vor allem der alte Bildhauer riskierte einiges, indem er mich versteckte. Wenn mich die Polizei in seinem Atelier fand, dann würde man ihn wegen Beihilfe oder ähnlichem anklagen. Darüber machte ich mir keine Illusionen. Und gerade deshalb wollte ich ihm irgendwie meine Dankbarkeit zeigen.

Heinrich stand auf.

„Es ist für dich am besten, wenn du momentan deine Nase nicht vor die Tür hältst, Pia. Du kannst hier für Ordnung sorgen, falls du Lust dazu hast. An Bord meines Seelenverkäufers fehlt die weibliche Hand, das wirst du schon bemerkt haben. Ansonsten denkst du vielleicht nochmal intensiv darüber nach, wer dir etwas Böses antun würde. Aber wenn du dich einfach nur ausruhen willst, dann ist das für mich auch okay. Ich kann mir vorstellen, dass du ziemlich erschöpft bist nach den Aufregungen der letzten Zeit. Lars und ich werden so schnell wie möglich zurück sein. – Ach ja, und wenn es klopft, dann darfst du auf keinen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 18.04.2023
ISBN: 978-3-7554-3931-8

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