Die dunkelste Zeit in Heike Steins Leben begann mit einem Blumenstrauß.
Die Kriminalhauptkommissarin war gerade erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Heike erwartete keinen Besuch. Aber da sie Geburtstag hatte, würde vermutlich ein Paketzusteller oder Bote vor der Tür stehen. Und so war es auch.
Als Heike öffnete, erblickte sie zunächst nur einen riesigen Strauß roter Rosen.
„Eine Blumensendung für Frau Stein“, sagte eine Männerstimme. Der Unbekannte hielt ihr das in Cellophan eingewickelte Bukett entgegen. Es war so voluminös, dass Heike es mit beiden Händen ergreifen musste.
Im nächsten Moment spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrem linken Unterarm. Augenblicklich spürte sie die Gefahr. Die Kommissarin taumelte einen Schritt zurück. Der Bote folgte ihr in die Wohnung. Er roch nach einem teuren Herrenparfüm, das sich kein Mindestlohnarbeiter leisten konnte. Sein Gesicht hatte sie noch niemals zuvor gesehen, obwohl er ihr auf seltsame Weise bekannt vorkam. Aber allzu viel war davon ohnehin nicht zu erkennen. Heike ließ den Blumenstrauß zu Boden fallen, um sich verteidigen zu können.
Aber dazu kam es nicht mehr. Das Bild des Unbekannten verschwamm vor ihren Augen, als ob sie ihn durch eine Milchglasscheibe sehen würde. Die Kommissarin begriff, dass ein Betäubungsmittel die Kontrolle über ihren Körper erlangte. Heike wollte einen Schrei ausstoßen, aber sie hatte weder Kontrolle über ihre Zunge noch über ihre Stimmbänder. Obwohl es draußen noch heller Tag war, schien es um sie herum immer dunkler zu werden. Heike sammelte ihre Kräfte, um sich auf den Beinen halten zu können. Es gelang ihr nicht.
Sie stürzte der Länge nach zu Boden.
„Jetzt gehören Sie mir, Frau Kriminalhauptkommissarin Stein.“
Diesen Satz hörte Heike noch, bevor sie ohnmächtig wurde. Tintenschwarze Dunkelheit umhüllte sie. Der Täter machte die Tür zu und schloss von innen ab.
„Wo bleibt denn das Geburtstagskind?“
Ruth Volkmann warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Heike Steins beste Freundin saß bei ihrem Stammitaliener Palazzo an der Rothenbaumchaussee. Es war ein milder schöner Abend, der die Hektik der Millionenstadt vergessen ließ. Ihr gegenüber hatten Kommissarin Melanie Russ und Vera Langer Platz genommen, die ebenfalls mit der Kriminalistin gut bekannt waren. Heike hatte Vera vor einem Jahr aus der Gewalt eines Psychopathen befreit. Damals war zwischen den Frauen eine Freundschaft entstanden.
„Heike hat heute ausnahmsweise im Präsidium pünktlich Feierabend gemacht“, berichtete Melanie. „Sie wollte nur kurz nach Hause, um sich umzuziehen. Es ist nicht ihre Art, sich zu verspäten. Wir hatten den Tisch für 19 Uhr reserviert. Zu Fuß benötigt sie keine Viertelstunde, um von der Isestraße aus hierherzukommen. Und mit dem Fahrrad ist sie innerhalb von fünf Minuten hier.“
Sobald jemand das Restaurant betrat, richteten sich die Blicke der Frauen zum Eingang. Kurz hintereinander erschienen mehrere Pärchen sowie eine größere Gruppe, offensichtlich Arbeitskollegen. Das Palazzo war gut gefüllt, ohne Reservierung konnte man an diesem Tag dort nicht landen. Nur Heike Stein war immer noch nicht erschienen.
„Ich glaube nicht, dass Heike sich heute auf ihr Mountainbike schwingt“, meinte Vera. „Wir wollten schließlich auf sie anstoßen, das war zumindest der Plan.“
„Es könnte ihr aber auch etwas dazwischengekommen sein“, sagte Ruth. „Oder jemand, besser gesagt.“
Sie warf einen vielsagenden Blick in die festlich gekleidete Frauenrunde. Inzwischen war Heike seit 41 Minuten überfällig. Der dunkelgelockte Kellner hatte schon mehrfach den rot gestrichenen Gastraum durchquert und nach den Wünschen der Damen gefragt. Der Prosecco stand schon bereit, aber eigentlich sollte ja auf Heikes Wohl getrunken werden. Aber sie glänzte durch Abwesenheit.
„Zwischen Heike und Ben ist es aus“, stellte Melanie fest. „Deine Anspielung bezieht sich doch auf ihn, oder?“
Ihre Stimme klang gereizt. Ruth hob die Schultern. Sie stellte sich gern in den Vordergrund, was Melanie auf den Wecker ging. Vor allem an diesem Abend. Ruth machte sich gern wichtig, sie spielte sich als große Durchblickerin auf. Melanie konnte nicht verstehen, was Heike an dieser Schreckschraube fand.
„Ich als Heikes beste Freundin sollte eigentlich über ihr Gefühlsleben Bescheid wissen“, sagte Ruth gönnerhaft. „Auch mir gegenüber hat sie immer wieder beteuert, dass sie ihre Kurzzeitaffäre mit ihrem Dienstpartner zutiefst bereut hat und seine Ehe nicht gefährden will.“
„Na, also“, warf Vera ein. Sie war offensichtlich ebenfalls genervt. „Du hörtest dich gerade so an, als ob du Heike nicht geglaubt hättest.“
„Ich bin überzeugt davon, dass unsere gemeinsame Freundin Ben immer noch liebt.“
Nachdem Ruth diesen Satz ausgesprochen hatte, herrschte einige Minuten lang Stille am Tisch. Obwohl es ein Dienstagabend war, konnte sich der Restaurantinhaber nicht über mangelnden Gästezuspruch beklagen. Wer nicht reserviert hatte, musste sich auf Wartezeiten einstellen. Das Servicepersonal bediente fleißig die anderen Gäste. Ruth, Melanie und Vera hielten sich an ihrem Mineralwasser fest. Melanie trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Mit jeder Minute, die verging, schwand die Hoffnung auf Heikes Erscheinen. Ruth versuchte noch dreimal vergeblich, die Hauptkommissarin zu erreichen. Heikes Handy war ausgeschaltet.
Melanie erhob sich.
„Mir reicht es, ich fahre jetzt zu ihr. Da muss etwas passiert sein.“
„Ganz gewiss ist Ben bei ihr, und du störst die traute Zweisamkeit“, sagte Ruth augenzwinkernd.
Die Kommissarin warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
„Hältst du Heike wirklich für so ein notgeiles Flittchen, dass sie an ihrem Geburtstag ihre besten Freundinnen wegen eines Schäferstündchens sitzenlässt?“
Ruth kräuselte ihre Unterlippe und hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen.
„So hätte ich es nicht ausgedrückt. Aber im Kern gebe ich dir recht. Heike hat mir einmal anvertraut, dass Ben die Liebe ihres Lebens sei. Würdest du nicht auch für einen solchen Mann alles stehen und liegen lassen und alle Verabredungen vergessen?“
Vera schaltete sich in den Zwist zwischen Ruth und Melanie ein.
„Warum versuchen wir nicht einfach, Ben zu erreichen? Wenn er daheim ist, dann sind wir mit unseren Überlegungen schon einen Schritt weiter.“
„Das ist ein vernünftiger Vorschlag“, sagte Ruth. „Aber Melanie soll mit ihm telefonieren. Sie ist schließlich eine Arbeitskollegin von Ben. Es ist am unverfänglichsten, wenn sie bei ihm anruft.“
Melanie hatte gestanden, nun setzte sie sich seufzend wieder hin.
„Also gut. Aber wenn Heike nicht bei ihm ist, dann müssen wir wirklich etwas unternehmen.“
Die Kommissarin schaltete den Lautsprecher ihres Smartphones ein, sodass die anderen Frauen mithören konnten. Sie rief die Festnetznummer von Ben Wilken an. Der Hauptkommissar bewohnte mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter ein Reihenhaus in Ahrensburg. Nach dem dritten Klingeln ertönte seine dunkle Stimme.
„Wilken.“
„Hier spricht Melanie Russ. – Ben, ist Heike zufällig bei euch?“
Im Hintergrund ertönte helles Kinderlachen, außerdem die typischen Fernsehgeräusche einer Zeichentricksendung.
„Nein, wir haben gerade Abendbrot gegessen. Maja und ich versuchen mit vereinten Kräften, Pia ins Bett zu bringen. – Warum fragst du, Melanie? Ist etwas mit Heike geschehen?“
Bevor die Kommissarin antworten konnte, hörte sie eine zornige Frauenstimme im Hintergrund.
„Geht es schon wieder um Heike? Haben wir denn nie unsere Ruhe?“
„Wir waren mit Heike verabredet, weil sie doch heute Geburtstag hat, Ben.“
„Ich weiß.“ Ben Wilken dämpfte seine Stimme. „Allerdings habe ich ihr nichts geschenkt. Sie wollte es ausdrücklich nicht, nach dem, … was geschehen ist.“
„Wahrscheinlich gibt es eine ganz harmlose Erklärung dafür, dass Heike sich verspätet hat“, sagte Melanie mit einer Leichtigkeit, die sie nicht wirklich empfand. „Es tut mir leid, dass ich euch gestört habe. Wir sprechen dann morgen im Präsidium weiter, okay? Einen schönen Abend noch.“
Die Kommissarin beendete das Gespräch. Nun machte Melanie sich wirklich Sorgen. Und ein Blick auf die Gesichter von Ruth und Vera bewies ihr, dass es Heikes anderen Freundinnen genauso erging.
Der Mörder ließ sich Zeit.
Sein zukünftiges Opfer schlenderte arglos durch die Abenddämmerung. Sie war eine junge Asiatin, vielleicht aus China oder Vietnam. In Hamburg befinden sich die Deutschland-Zentralen von mehreren hundert Unternehmen aus dem Reich der Mitte, aber bei dieser Frau schien es sich um eine Touristin zu handeln.
Büroangestellte strebten nämlich meist auf dem kürzesten Weg zur nächsten U-Bahn-Station, wenn sie Feierabend hatten. Außerdem waren sie konservativer gekleidet als die zierliche Schwarzhaarige. Sie trug knielange Shorts, Sneakers, eine Windjacke und einen Rucksack. Nicht gerade ein aufreizendes Outfit, aber darauf kam es dem Verbrecher auch gar nicht an.
Hätten Opfer in nuttiger Aufmachung seinem Beuteschema entsprochen, dann wäre er auf St. Pauli oder im Bahnhofsviertel St. Georg fündig geworden. Dort gab es solche Frauen im Dutzend billiger. Nein, das interessierte ihn nicht.
Sailor Moon war ideal für ihn. Schon beim ersten Augenkontakt hatte er ihr einen Spitznamen verpasst. Sie hatte zwar nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit mit der Hauptfigur aus Naoko Takeuchis Manga, aber was spielte das für eine Rolle? Der Killer wollte seinen Opfern ein Gesicht geben. So fiel es ihm leichter, eine imaginäre Beziehung zu ihnen aufzubauen.
Und wenig später ihr Leben auszulöschen.
Chinesin oder Japanerin? Darüber war sich der Verbrecher noch unschlüssig. Aus der Nähe hätte er vermutlich erkennen können, aus welchem Land die junge Frau stammte. Aber einstweilen beobachtete er sie nur mit einem entsprechenden Sicherheitsabstand. Sailor Moon hatte die restaurierten roten Backsteinhäuser der Speicherstadt fotografiert und bewegte sich nun über die Brooksbrücke in Richtung Innenstadt. Noch hatte sie ihren Verfolger nicht bemerkt. Das wunderte ihn nicht. Der Killer gehörte zu den Männern, die von Frauen üblicherweise übersehen wurden. Das hatte ihn früher gestört, inzwischen aber nicht mehr. Er hatte jetzt eine andere Methode gefunden, um seine Ziele zu erreichen.
An diesem schönen Spätsommerabend waren viele Menschen unterwegs. Die Anwesenheit von möglichen Zeugen gefiel dem Täter. Der Reiz des Risikos verschaffte ihm einen Extra-Kick. Und das, ohne dafür auch nur einen einzigen Cent ausgeben zu müssen.
Die Anschaffung seines Messers hatte sich schon lange bezahlt gemacht.
Es war ein Qualitätsprodukt, weder chinesischen noch japanischen Ursprungs. Seine Hand in der Jackentasche schloss sich um den Griff der Stichwaffe aus Solingen. Sailor Moon bog jetzt in die Straße ein, die Cremon heißt. Der Killer schnaubte ironisch. Ja, natürlich! Kaum ein Tourist, der an den aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammenden Speicherhäusern vorbeikam. Auf eine Asiatin mussten die alten Fassaden ganz besonders exotisch wirken. Auch hier machte die junge Frau wieder fleißig von der Kamerafunktion ihres Smartphones Gebrauch.
Die Vorfreude des Killers steigerte sich. Es war, als ob er die Nähe eines Fleets körperlich spüren könnte. Das war natürlich Unsinn, aber schon bei der ersten Bluttat hatte er so empfunden. Ein schneller, chirurgisch anmutender Stich – und dann das ungeheure Machtgefühl, wenn er sein noch blutendes Opfer in das Wasser des Fleets beförderte. Noch hatte keine der Frauen seine Blitzattacken überlebt. Und so würde es diesmal wieder sein.
Sailor Moon spazierte nichtsahnend ins Verderben.
Es gab einen spannenden Moment, als sie sich plötzlich umdrehte und auf den Mörder zukam. Damit hatte er nicht gerechnet, und er glaubte sich schon enttarnt. Ob die Asiatin ein Lockvogel der Hamburger Polizei war, die seit Wochen mit immer größerer Verzweiflung den Serienkiller zu stellen versuchte?
Nein, das war unmöglich. Der Verbrecher hatte einen sechsten Sinn für Polizisten beiderlei Geschlechts. Heike Stein beispielsweise konnte er schon an der Nasenspitze ansehen, dass sie eine Udel war – wie die Ordnungshüter in Hamburg traditionell genannt wurden. Aber über die Hauptkommissarin konnte er sich später noch den Kopf zerbrechen. Jetzt musste der Täter zunächst seine selbstgestellte Aufgabe erfüllen.
Und sein Opfer tat unbewusst genau das, was er wollte.
Sailor Moon bewegte sich auf die Trostbrücke zu. Dort sollte es also passieren. Der Pulsschlag des Killers beschleunigte sich noch weiter. Schauer der Vorfreude rannen ihm über den Rücken. Das hier war für ihn besser als Sex. Manchmal bemerkten die Frauen, dass sie verfolgt wurden. Dann konnte er sich zusätzlich an ihrer Furcht weiden. Die Asiatin hingegen war völlig arglos, aber man konnte eben nicht alles haben. Der Verbrecher wollte nicht unbescheiden sein. Sie war trotzdem bestens geeignet.
Der Mörder war jetzt nur noch zehn Meter hinter ihr. Er wurde von einem Radfahrer überholt. Das kümmerte den Killer nicht. Aber auf dem gegenüberliegenden Gehweg näherte sich aus Richtung Patriotischer Gesellschaft ein eng umschlungenes Pärchen. Auch dadurch ließ sich der Kriminelle nicht abschrecken. Paare machten keine Probleme. Wenn sie Tatzeugen wurden, bekam die Frau einen hysterischen Anfall und der Mann hatte nur das Wohlergehen seiner eigenen Gefährtin im Kopf. So war es jedenfalls vor zwei Wochen gewesen, als der Mörder die Dunkelhaarige am Mönkedammfleet abgestochen hatte. Auch dort hatte ein Pärchen die Tat mit angesehen. Hatte das der Polizei etwa genutzt?
Offensichtlich nicht!
Der richtige Moment ergab sich, als Sailor Moon die Brücke ungefähr zur Hälfte überquert hatte. Der Killer kam so schnell und unerwartet wie ein Blitzschlag über sie. Er beschleunigte seine Schritte, schloss zu ihr auf. Als er auf einer Höhe mit ihr war, zog er sein Messer.
Sie blickte ihn aus schönen dunkelbraunen Augen an. Nun war er sicher, eine Chinesin vor sich zu haben. Er musste einen Moment lang an fernöstliche Begräbnisrituale denken, denn er war nicht ungebildet.
Dann stach er zu.
Es reichte vollkommen, das Messer einmal in ihren Brustkorb zu treiben. Das warme Blut spritzte hervor. Sailor Moon schrie, und die Frau auf dem anderen Gehweg begann hemmungslos zu kreischen. Genauso hatte der Mörder es sich vorgestellt.
Er steckte das Messer wieder ein, packte die Sterbende und warf sie in das Fleet. Dann rannte er davon. Fünf Minuten später traf der erste Streifenwagen am Tatort ein. Aber trotz einer sofort ausgelösten Nahbereichsfahndung gelang es nicht, den Killer zu fassen.
Wieder einmal.
Kriminalrat Dr. Clemens Magnussen hatte fürchterlich schlechte Laune.
Er saß am Kopfende des Konferenztischs der Sonderkommission Mord im Hamburger Polizeipräsidium, wobei er seine Untergebenen der Reihe nach vernichtend anstarrte. Melanie Russ empfand dieses Verhalten ihres Chefs als reichlich unfair, denn schließlich gaben sich ihre Kollegen und sie selbst die allergrößte Mühe bei den Ermittlungen. Sicher, der Kriminalrat stand unter medialem Dauerbeschuss, seit die Mordserie des sogenannten Fleetenkillers begonnen hatte. Aber die Polizei konnte sich doch ihre Arbeitsweise nicht von den Pressegeiern diktieren lassen!
„Ergebnisse, Herrschaften, Ergebnisse! Ich muss wohl nicht betonen, wie unzufrieden ich mit Ihren Leistungen bin.“
Dr. Magnussen grub seine Zähne tief in den Stiel seiner Tabakspfeife, dann fuhr er fort: „Wann bequemt sich eigentlich Frau Stein einmal hierher? Die Dienstbesprechung war für neun Uhr angesetzt und jetzt ist es bereits 9:11 Uhr. Mir ist bekannt, dass sie gestern Geburtstag hatte. Aber das ist noch lange kein Grund …“
„Frau Stein meldet sich nicht, Herr Kriminalrat.“ Melanie Russ fiel ihrem Chef ins Wort. „Wir waren gestern Abend mit ihr verabredet, aber sie geht nicht an ihr Smartphone. Auf dem Festnetzanschluss habe ich ebenfalls vergeblich versucht, sie zu erreichen. Dann habe ich sogar an ihrer Wohnungstür geklingelt. Aber bei Frau Stein brannte kein Licht, es kam kein Lebenszeichen von ihr. Allmählich mache ich mir Sorgen um sie.“
Dr. Magnussen konnte es nicht ausstehen, wenn er unterbrochen wurde. Er nahm die Pfeife aus dem Mund – vermutlich, um Melanie besser anraunzen zu können. Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür. Die Köpfe aller Anwesenden drehten sich in die Richtung. Vermutlich hoffte nicht nur Melanie, dass nun Heike Stein mit hängender Zunge und einer Entschuldigung auf den Lippen den Raum betreten würde.
Stattdessen trat Dr. Laura Brink ein.
„Was wollen Sie denn hier?“, blaffte der Chef sie an. „Sie können es wohl nicht abwarten, meine Nachfolge anzutreten?“
Dr. Laura Brink nahm auf einem freien Stuhl Platz. Sie war groß und schlank, mit Modelfigur. Melanie nannte die Kriminalrätin wegen ihrer kühlen und dominanten Art innerlich gern „Wikingerkönigin“.
„Hier geht es nicht um meine Wünsche, Magnussen. Ich habe eine klare Dienstanweisung vom Präsidenten bekommen, Sie schon ab heute zu unterstützen. Sie werden zwar erst in einer Woche pensioniert, aber Ihre Zeit bei der Hamburger Polizei ist in meinen Augen schon längst abgelaufen.“
Im Raum herrschte plötzlich Totenstille.
Wie würde Dr. Magnussen auf diesen offenen Affront reagieren? Diese Frage stellte sich vermutlich nicht nur Melanie, obwohl ihr das Gefühlsleben ihres Vorgesetzten in diesem Moment herzlich egal war. Sie rätselte immer noch, was wohl mit Heike Stein geschehen sein mochte.
Der Kriminalrat starrte die „Wikingerkönigin“ vernichtend an.
„Wenn der Polizeipräsident Ihnen diese Anweisung erteilt hat, müssen Sie sich wohl fügen“, brachte er schließlich hervor. „Wir hatten gerade begonnen, die aktuellen Entwicklungen im Fleetenkiller-Fall zu erörtern.“
Frau Dr. Brink nickte.
„Das neueste Opfer heißt Yuki Hasegawa. Es handelt sich um eine zweiundzwanzigjährige Studentin aus Osaka, Japan. Sie wurde gestern Abend gegen 20 Uhr auf der Trostbrücke das Opfer einer Messerattacke. Noch ist nicht hundertprozentig sicher, dass es sich um den gleichen Täter handelt wie bei den vier vorherigen Fällen. Aber die Vorgehensweise des Mörders war dieselbe wie bei den anderen Fleetenmorden.“
„Woher kennen Sie den aktuellen Ermittlungsstand?“, blaffte Dr. Magnussen. „Herr Engel hat aus dem Nähkästchen geplaudert, nicht wahr? Er hatte jedenfalls heute Nacht Tatortdienst.“
Der erwähnte Kollege senkte verlegen den Kopf.
„Frau Dr. Brink bat mich schon vor Tagen, sie über unsere Fortschritte auf dem Laufenden zu halten.“
Der Chef warf dem Kommissar einen unheilverkündenden Blick zu.
„Darüber sprechen wir noch einmal ausführlich unter vier Augen, Herr Engel.“
Nun schaltete sich Hauptkommissar Ben Wilken in den Wortwechsel ein. Das war umso ungewöhnlicher, da er normalerweise eher ein ruhiger Typ war. Er redete lieber dann, wenn er unmittelbar angesprochen wurde.
„Was werden wir wegen Frau Steins Verschwinden unternehmen? Es ist absolut nicht ihre Art, sang- und klanglos abzutauchen. Womöglich ist ihr etwas zugestoßen.“
Die Kriminalrätin verzog ihren Mund zu einem süffisanten Lächeln.
„Sie müssen es ja wissen, Herr Wilken. Wie man hört, sind Sie mit Frau Stein privat äußerst … gut bekannt.“
Der Hauptkommissar schnappte nach Luft. Melanie bemerkte, dass Ben kaum noch an sich halten konnte. Dennoch schaffte er es, seine Beherrschung nicht zu verlieren.
„Das tut jetzt nichts zur Sache. Eine Kollegin ist verschwunden, das sollte uns alle interessieren.“
Frau Dr. Brink zuckte mit den Schultern.
„Da gebe ich Ihnen recht, zumal jeder Einzelne von uns gebraucht wird. – Frau Russ, Sie gehen noch einmal zu Frau Steins Wohnung. Beauftragen Sie notfalls einen Schlüsseldienst, wenn Ihnen die Lage verdächtig vorkommt. Und nehmen Sie Ihren neuen Dienstpartner mit.“
Die Kriminalrätin meinte Kommissar Rüdiger Koslowski, der neben Melanie saß. Er stammte aus Dortmund und arbeitete erst seit wenigen Tagen in der Sonderkommission Mord.
„Das hier ist immer noch meine Abteilung!“, begehrte Dr. Magnussen auf. „Und ich gebe hier die Anweisungen!“
„Aber nicht mehr lange“, murmelte Frau Dr. Brink. Obwohl sie leise sprach, konnte jeder am Tisch ihre Worte verstehen. Das traf auch auf den Kriminalrat zu, dessen Ohren jetzt so rot wurden wie die Backbordlaternen eines Schiffs.
Erneut wurde es so still, dass man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können.
„Erscheint Ihnen mein Vorschlag nicht sinnvoll zu sein, Herr Kollege? Dann bin ich für andere Ideen völlig offen.“
„Schauen Sie in Gottes Namen nach, wo die Stein steckt“, knurrte Dr. Magnussen in Melanies und Rüdigers Richtung. „Aber fahren Sie danach sofort zum Nikolaifleet, um Ihre Kollegen zu unterstützen. Wir müssen diesen Fall so schnell wie möglich erfolgreich abschließen.“
Heikes Mund fühlte sich staubtrocken an.
Sie schlug die Augen auf und stellte sofort fest, dass sie nicht mehr in ihrer Wohnung war. Die Kommissarin befand sich in einem fensterlosen Raum. Es roch nach feuchten Tapeten und Staub. Die hohe stuckverzierte Decke gehörte vermutlich zu einer großbürgerlichen Hamburger Patriziervilla. Und die zugemauerte Wandöffnung deutete darauf hin, dass es in früheren Zeiten ein Fenster gegeben hatte. Ansonsten existierte eine Tür, die offenbar aus massivem Eichenholz bestand. Nachträglich war ein Spion darin eingebaut worden.
Wurde Heike Stein beobachtet?
Sie blickte an sich hinab. Zu ihrer großen Erleichterung war sie nicht ausgezogen worden. Sie trug immer noch dieselbe Kleidung wie zu dem Zeitpunkt, als sie diesen verflixten Rosenstrauß entgegennehmen wollte: Jeans, Rollkragenpulli, Espadrilles. Die Kommissarin lag auf einer Matratze, jemand hatte eine Wolldecke über sie gezogen.
Ein fürsorglicher Kidnapper, dachte Heike grimmig. Er sorgt dafür, dass ich mich nicht erkälte. Der hofft wohl auf mildernde Umstände, wenn er verhaftet wird!
Sie richtete sich aus ihrer liegenden Position auf, wurde aber sofort von einem heftigen Schwindelanfall heimgesucht. Eine Welle der Übelkeit schwappte über die Kommissarin hinweg. Heike zwang sich dazu, mehrere Male hintereinander tief durchzuatmen. Danach fühlte sie sich etwas besser. Sie schob ihren Ärmel hoch und entdeckte die kleine Einstichstelle, wo sie mit einer Injektionsnadel getroffen worden war. Das starke Betäubungsmittel hatte sie im Handumdrehen flachgelegt.
Heike musste dem Täter zugestehen, dass er sehr planvoll und umsichtig vorgegangen war. Offensichtlich war es ihm gelungen, sein Opfer unbemerkt von der Isestraße an diesen unbekannten Ort zu schaffen.
Opfer? Nein, ich will kein Opfer sein!
Dieser Gedanke brannte sich in ihre Seele. Heike horchte. Im Haus selbst waren momentan keine Geräusche zu hören. Aber weiter entfernt vernahm sie den permanenten Straßenlärm einer vielbefahrenen Trasse als ein anhaltendes Grundrauschen. Also befand sich die Kommissarin immer noch auf Hamburger Stadtgebiet, nicht irgendwo auf dem flachen Land. Beruhigen konnte sie diese Tatsache allerdings trotzdem nicht, denn auch mitten in der Metropole gab es einsame Flecken, wo kein Mensch auf Hilfe hoffen konnte.
Aber ihre Kollegen und Freundinnen würden sie vermissen. Wenn eine Kriminalbeamtin plötzlich verschwand, dann setzte die Hamburger Polizei gewiss alle Hebel zu ihrer Rettung in Bewegung. Aber am allerliebsten hätte sich Heike selbst aus ihrer misslichen Lage befreit. Dazu musste sie allerdings zunächst einmal die Kontrolle über ihren Körper zurückerlangen.
Heike hatte keine Uhr und kein Smartphone. Daher konnte sie nicht einschätzen, wie viel Zeit seit ihrer Entführung vergangen war. Ob man bereits eine Großfahndung nach ihr ausgelöst hatte? Jedenfalls musste die Wirkung dieser elenden Betäubungssubstanz doch irgendwann einmal nachlassen. Heike ließ sich vorsichtig zurück auf die Matratze gleiten und schloss die Augen. Im Handumdrehen war sie wieder eingeschlafen.
Als sie das nächste Mal erwachte, fühlte sie sich schon fitter. Jetzt konnte sie sich erheben und hinstellen, ohne sofort von einem Schwindelanfall zu Boden gestreckt zu werden. Heike legte sich einen Plan zurecht. Eine Waffe hatte sie nicht bei sich. Und es gab auch nichts, was man als eine solche zweckentfremden konnte. Ihr Gefängnis wies keine Einrichtungsgegenstände auf, wenn man von der Matratze absah. Ansonsten gab es noch die Wolldecke. Frischluft wurde durch eine in die Wand eingelassene moderne Klimaanlage fast geräuschlos in den Raum ventiliert.
Der Entführer – oder wem immer dieses Haus gehörte – musste vermögend sein. Eine solche Air Condition war nicht gerade ein Baumarkt-Standardmodell. Heike stellte sich direkt vor die Tür.
„Hallo? Ist da jemand?“
Sie erschrak über sich selbst, weil ihre Stimme so brüchig und schwach klang. Dabei fühlte Heike sich inzwischen schon wieder richtig gut. Im Schlaf hatte sie Kraft tanken können. Ob der Kidnapper wusste, dass er es mit einer durchtrainierten Kung-Fu-Kämpferin zu tun hatte? Die Kommissarin wollte ihn überwältigen und fesseln, sobald er hereinkam. Dann konnte sie in aller Ruhe ihre Kollegen alarmieren.
Aber ihr Ruf blieb unbeantwortet. Da kein Tageslicht in ihr Verlies fiel, wusste sie auch nicht, wie spät es war. Die Geräusche von der Durchgangsstraße ließen auch keine Rückschlüsse zu. Auf solchen Haupttrassen wie der Ost-West-Straße oder der Kieler Straße strömten die Fahrzeuge bei Nacht kaum weniger als tagsüber. Womöglich schlief der Entführer gerade irgendwo den Schlaf des Ungerechten.
Und wenn er sie nun hier einfach verhungern ließ?
Kaum war Heike dieser Einfall gekommen, als ihr Magen auch schon zu knurren begann. Sie wusste wirklich nicht, wie lange ihre letzte Mahlzeit her war. Im Polizeipräsidium hatte Heike nur mittags einen Schokoriegel verdrückt, um sich den Appetit für das abendliche Essen mit ihren Freundinnen nicht zu verderben.
Ruth Volkmann, Melanie Russ und Vera Langer. Die Mädels waren bestimmt sauer geworden und hatten dauernd versucht, sie zu erreichen. Was wohl Vera sagen würde, wenn sie von Heikes momentaner Lage wüsste?
Die Kommissarin hatte ihre neue Freundin vor einiger Zeit aus einer ganz ähnlichen Gefangenschaft befreit. Allerdings war Vera damals ein psychisches Wrack gewesen. Doch immerhin hatte der irre Täter es nicht vollständig geschafft, sie zu brechen. Eigentlich trennte Heike normalerweise scharf zwischen Beruf und Privatleben. Doch als die Ermittlungen abgeschlossen gewesen waren, hatte sie sich mehrfach mit Vera getroffen. Die beiden Frauen entdeckten Gemeinsamkeiten, und so entstand allmählich eine Freundschaft. Daher hatte Heike Vera Langer auch zu ihrem Geburtstag eingeladen.
Die Kommissarin bemerkte, dass sie unruhig wurde. Das durfte nicht geschehen. Wenn Heike die Nerven verlor, dann hatte ihr unbekannter Peiniger schon gewonnen.
Aber – handelte es sich wirklich um einen Fremden?
Heike nahm im Schneidersitz auf der Matratze Platz. Sie versuchte, sich an jedes Detail der kurzen Begegnung zu erinnern. Was war mit der Visage des Täters? Sie hatte so gut wie nichts von seinem Gesicht erkennen können. Aber er hatte es auch geschickt verstanden, sich hinter dem riesigen Blumenbukett zu verbergen. Heike hatte seinen Körper als schlank wahrgenommen, außerdem war er ungefähr einen halben Kopf größer als sie selbst. Und seine Hautfarbe war weiß gewesen. Aber schon beim Alter musste sie passen. Allerdings ging sie davon aus, es mit einem fitten Verbrecher zu tun zu haben. Sonst hätte er sie wohl kaum unbemerkt aus dem Haus schaffen können.
Aber vielleicht gab es ja mindestens einen Komplizen?
„Die Brink hat Haare auf den Zähnen, was?“
Koslowski gab diese Worte mit einem Augenzwinkern von sich, während er zusammen mit Melanie in den BMW-Dienstwagen ohne Polizeimarkierung stieg. Die Kommissarin warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu. Sie konnte den neuen Kollegen aus dem Ruhrgebiet noch nicht richtig einschätzen, denn schließlich arbeitete sie erst seit einigen Tagen mit ihm zusammen.
Koslowski war groß und hager, sein Blick hatte stets etwas Träumerisches. Melanie hoffte nur, dass er sich im Einsatz nicht als Trantüte erweisen würde. Da brauchte sie einen Dienstpartner, auf den sie sich hundertprozentig verlassen konnte.
Und was sollte jetzt diese Bemerkung über Frau Dr. Brink? War Koslowski ein Querulant, der sich unbedingt mit der Chefin anlegen wollte? Obwohl sie zugeben musste, dass ihr die „Neue“ auch nicht gerade sympathisch war.
Wahrscheinlich hatte Melanie zu lange mit ihrer Antwort gezögert. Jedenfalls setzte der Kommissar ein jungenhaftes Grinsen auf und fuhr fort: „Bin ich in ein Fettnäpfchen getreten? Bist du vielleicht sogar die Musterschülerin des eiskalten Drachens?“
Melanie startete den Motor und runzelte die Stirn.
„Wie kommst du denn darauf? Sehe ich wie eine Streberin aus?“
„Nee, das nicht. Obwohl, brav wirkst du irgendwie schon. So, wie ich mir die Betschwester einer Freikirche vorstelle.“
„Bist du enttäuscht, weil ich keine Netzstrumpfhose trage? Ich besitze so ein Teil, stell dir vor. Aber ich werde sie nicht für dich anziehen. Strafe muss sein.“
„Dann werde ich mich eben in mein Schwert stürzen, wie es einem guten Samurai würdig ist.“
Melanie schaute Koslowski abermals an, während sie das Auto Richtung Isestraße lenkte. Aber diesmal musste sie grinsen. Der Kommissar fuhr fort: „Ich finde es gut, dass man mit dir herumalbern kann, Melanie. Und das, obwohl du dir so große Sorgen um Heike machst.“
Melanie hob die Augenbrauen.
„Bist du jetzt nicht nur Samurai, sondern auch noch Hobbypsychologe? Merkt man mir wirklich so stark an, wie sehr mich Heikes Schicksal beschäftigt?“
„Man muss kein Seelenklempner sein, um das beurteilen zu können. Heike hat dich schließlich zu ihrem Geburtstag eingeladen. Das hätte sie nicht getan, wenn ihr euch spinnefeind wärt.“
Melanie nickte. Vom Polizeipräsidium bis zu Heikes Wohnung waren es nur knapp fünf Kilometer. Sie parkte nun direkt vor dem weiß getünchten Gründerzeit-Mietshaus, in dem Heike wohnte. Koslowski stieg aus und schaute an der liebevoll restaurierten Fassade hoch.
„Nobel, nobel.“
„In Hamburg zahlst du selbst für eine Bruchbude astronomische Preise. So gesehen hat Heike mit ihrer Wohnung großes Glück gehabt. Apropos: Wo bist du eigentlich untergekommen?“
„Warum willst du das wissen? Besuchst du mich dann, in deiner Netzstrumpfhose?“
„Träum weiter“, entgegnete Melanie und drückte mit der flachen Hand auf alle Klingelknöpfe gleichzeitig. Sie war Koslowski im Grunde dankbar für seine lockeren Sprüche. Insgeheim fürchtete sie sich nämlich vor der Wahrheit, die vermutlich hinter Heike Steins Wohnungstür auf sie warten würde.
Einige Nachbarn waren daheim und betätigten fast gleichzeitig ihre Türsummer. Die beiden Ermittler gelangten ins Haus. Sie zeigten an mehreren Türen ihre Kripo-Ausweise und erkundigen sich nach Heike Stein. Aber kein Zeuge wollte die Hauptkommissarin während der letzten Tage gesehen haben.
Melanies Knie waren butterweich, als sie schließlich vor Heikes Wohnungstür stand. Sie klingelte Sturm.
„Heike? Hier ist Melanie, verflixt noch mal!“
Es drang kein Geräusch nach draußen.
„Schlüsseldienst“, sagte Koslowski lakonisch und griff zu seinem Smartphone, um den Auftrag zu erteilen. Dann setzten er und Melanie sich auf eine Treppenstufe. Der Kommissar hielt seiner Dienstpartnerin eine offene Kaugummipackung hin.
„Hier, nimm eins. Das beruhigt.“
Melanie zögerte kurz, dann griff sie zu.
„Solange ich keine Blasen machen muss ...“
„Nicht, solange du keine Netzstrumpfhose trägst.“
Sie warteten schweigend und kaugummikauend auf den Handwerker. Schließlich hielt Koslowski die Stille nicht mehr aus.
„Melanie, ich kenne Heike so gut wie überhaupt nicht. Aber nach allem, was ich über sie gehört habe, muss sie eine verdammt gute Polizistin sein. Sie weiß, wie riskant unser Job ist. Und sie ist zu clever, um sich in eine Falle locken zu lassen.“
Die Kommissarin schenkte ihrem Dienstpartner ein trauriges Lächeln.
„Netter Versuch, Rüdiger. Aber du bist überzeugender, wenn du über meine Netzstrumpfhose fantasierst.“
„Hey, du hast mich eben zum ersten Mal beim Vornamen genannt. Ist das vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?“
Bevor Melanie etwas entgegnen konnte, erschien der Mann vom Schlüsseldienst auf der Bildfläche. Sie zeigten ihre Legitimierungen, der Spezialist griff zum Werkzeug und im Handumdrehen war Heike Steins Wohnungstür offen. Die beiden Ermittler zogen ihre Pistolen.
Sie drangen lautlos in die Räume ein. Melanie achtete auf jedes Detail. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Das Wohnzimmer war aufgeräumt, im Schlafzimmer war das Bett gemacht. In der Küche stand kein schmutziges Geschirr. Auch im Bad gab es auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Nur von Heike Stein fehlte jede Spur. Man konnte auch nicht erkennen, ob jemand bei ihr gewesen war. Koslowski holsterte seine Pistole.
„So sauber und aufgeräumt war es bei mir noch nie. Heike hatte doch Geburtstag, nicht wahr? Da hätte ich zumindest irgendwo Kuchenreste, Sektgläser oder Blumen erwartet.“
Er zog Latexhandschuhe über und öffnete den Kühlschrank.
„Da haben wir es: Nichts drin außer Mineralwasser und Joghurt. Typisch Frau.“
„Das will ich überhört haben“, erwiderte Melanie und legte ebenfalls Einweghandschuhe an. Die Spurensicherung würde garantiert mehr finden als Koslowski und sie selbst. Aber - warum sollte die Kriminaltechnik die Wohnung überhaupt auf den Kopf stellen? Noch gab es keine Indizien, die Schlussfolgerungen in Richtung eines Verbrechens zuließen.
Ob es doch eine harmlose Erklärung für Heikes Verschwinden gab? Diese Frage stellte sich Melanie wieder und wieder. Aber dann entdeckte die Kommissarin plötzlich einige Rosenblätter. Sie lagen unter der Flurgarderobe, die sich unmittelbar neben der Wohnungstür befand.
Melanie ging in die Hocke, um sich die Pflanzenreste näher anzuschauen.
„Rüdiger!“
Er kam sofort, nachdem sie ihn gerufen hatte. Melanie deutete auf die Blätter, Aber Koslowski zuckte nur mit den Schultern.
„Na und? Dann hat eben Miss Proper beim wöchentlichen Saubermachen ein paar Blätter übersehen.“
„Das sind nicht irgendwelche Blätter, sie stammen von einer Rose. Siehst du hier irgendwo einen Rosenstrauß? Ich nicht.“
„Und was soll daran verdächtig sein? Dann waren die Blumen eben schon verwelkt und Heike hat sie weggeworfen“, meinte der Kommissar. Doch weder im Biomüll noch im Hausmüll fanden sich Blumenreste, wie sie wenig später feststellten.
„Die Blätter sind noch sehr frisch, Rüdiger. Vermutlich stammen sie von einem Strauß, den Heike direkt an ihrem Geburtstag bekommen hat.“
„Und dann ist der Rosenkavalier gleich wieder verschwunden und hat nicht nur die Blumen, sondern auch Heike mitgenommen?“
Koslowskis Stimme verriet deutlich seine Skepsis. Aber Melanie hatte nun endlich einen Ermittlungsansatz.
„So könnte es zumindest gewesen sein. Da wir keine Kampfspuren gefunden haben, wird der Täter unsere Kollegin irgendwie betäubt haben.“
„Oder Heike hat ihm vertraut und ist deshalb mit ihm gegangen“, schlug der Kommissar vor.
„Einverstanden, das wäre möglich. Aber warum hat sie dann die Rosen nicht in ihrer Wohnung gelassen? Wenn ich Blumen geschenkt bekomme, dann stelle ich sie sofort in eine Vase. Aber ich entdecke hier nirgendwo Schnittblumen, auch kein Einwickelpapier.“
Während Melanie und Koslowski miteinander sprachen, streiften sie weiterhin suchend durch die leeren Räume. Der Kommissar öffnete die Balkontür und trat nach draußen. Der Balkon befand sich unmittelbar über dem Isebekkanal.
„Was ist los, Rüdiger? Genießt du eine Aussicht, die dir Dortmund nicht bieten konnte?“
Koslowski ging auf den Scherz nicht ein. Stattdessen sagte er: „Komm mal her, Melanie.“
Sie folgte ihm. Der Ermittler deutete auf das Balkongitter.
„Heike ist zum Glück nicht so ein Putzteufel, wenn es um dieses Geländer geht. Es ist nur an zwei Stellen sauber, nämlich hier und hier.“
„Das sehe ich auch, Rüdiger. Und was schlussfolgerst du daraus?“
„Ich denke, dass unsere Kollegin wirklich entführt wurde. Und an diesen beiden Stellen haben die Seile den Schmutz abgerieben. Jene Seile nämlich, mit denen man Heike hinunter in ein Boot geschafft hat.“
Im ersten Moment dachte Melanie, dass Rüdiger sie auf den Arm nehmen wollte. Er hatte schließlich schon bewiesen, dass er einen seltsamen Humor besaß. Aber jetzt wirkte sein Gesicht ernsthaft und angespannt.
Sie schaute hinunter auf das Wasser des Kanals. Für ein Schlauchboot oder ein anderes Fahrzeug mit niedrigem Tiefgang war der Wasserlauf gewiss schiffbar. Der Isebekkanal mündete in die Alster. Aber es gab auch schon auf dem Weg dorthin etliche Möglichkeiten, eine bewusstlose Frau unentdeckt an Land zu bringen.
„So könnte es wirklich gewesen sein, Rüdiger. Und der Entführer musste einfach nur den idealen Zeitpunkt abpassen. Er konnte in aller Ruhe darauf warten, dass im Haus Stille einkehrte. Dann hat er die bewusstlose Heike abgeseilt und ist verschwunden.“
„Und wo soll er die Seile gelassen haben?“
Melanie zuckte mit den Schultern.
„Der Kidnapper könnte einen oder mehrere Komplizen im Boot gehabt haben. Sie nahmen Heike in Empfang, während der Haupttäter sich mitsamt seinen Seilen durch die Wohnungstür aus dem Staub machte. - Das sind alles Detailfragen, die wir später klären können.“
Koslowski war wieder hineingegangen und durchsuchte den Papierkorb neben dem Schreibtisch. Dort fand der Ermittler einen zusammengeknüllten Zettel, den er nun auf der Schreibtischunterlage glatt strich. Melanie bemerkte seine Tätigkeit. Sie kam zu ihm und schaute ihm über die Schulter. Auf dem Blatt Papier stand eine Botschaft:
„Liebste Heike, ich kann nicht ohne dich sein. Ab heute wirst du ganz allein mir gehören. B.“
Melanie fühlte, dass ihr vor Aufregung schwindlig wurde. Sie musste sich innerlich sammeln, bevor sie sprechen konnte.
„Ich glaube, das ist die Handschrift von Ben Wilken.“
Das Telefon des Killers klingelte. Sein Anwalt war am Apparat.
„Wann stoßen Sie Ihre Immobilie endlich ab?“
„Ich wünsche Ihnen auch einen schönen guten Tag, Herr Dr. Dreyer.“
„Sie haben den Ernst Ihrer Lage anscheinend immer noch nicht erkannt“, sagte der Jurist zu dem Kriminellen. „Wenn es hart auf hart kommt, dann müssen Sie sich auf eine Anklage wegen Konkursverschleppung einstellen.“
„Konkursverschleppung“, wiederholte der mehrfache Mörder. „Das ist ja wirklich ein abscheuliches Verbrechen.“
Er konnte hören, wie sein Anwalt am Telefon um Fassung rang. Dr. Lorenz Dreyer war alte Schule, er hatte schon den Vater des Killers beraten. Das traditionsreiche Unternehmen gehörte seit Jahrhunderten als ein fester Bestandteil zur Hamburger Geschäftswelt. Doch wenn sich nicht bald etwas änderte, würde das Kontor für immer schließen müssen.
„Ich bitte Sie inständig, einen Immobilienmakler zu beauftragen“, sagte der Jurist beschwörend. „Es ist nackter Wahnsinn, ein solches Filetstück in Top-Lage ungenutzt leer stehen zu lassen.“
„Vielleicht steht es gar nicht leer, Herr Dr. Dreyer. Haben Sie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ich eine Polizistin gekidnappt haben könnte und sie dort als Geisel gefangen halte?“
Dr. Dreyer schnappte nach Luft.
„Ich bewundere Sie dafür, dass Sie in Ihrer Lage Ihren Humor noch nicht verloren haben. Übrigens hatte ich gestern eine sehr unangenehme Unterredung mit Ihrem Chefbuchhalter. Es sieht momentan nicht danach aus, dass Sie im nächsten Monat Ihren Angestellten noch ihre Gehälter zahlen können.“
„‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.‘ So steht es im Matthäus-Evangelium geschrieben, Herr Dr. Dreyer. Ich finde es sehr anständig von Ihnen, dass Sie sich um das Schicksal meiner Mitarbeiter Sorgen machen. Aber ich kann Sie beruhigen. Die aktuellen Probleme werden sich schon bald in Wohlgefallen auflösen.“
„Dann haben Sie also bereits einen Makler beauftragt?“ Dr. Dreyer konnte seine Erleichterung nicht verbergen. „Meiner Meinung nach müssten Sie für Ihre leer stehende Villa mindestens zwei Millionen Euro erzielen können. Teilt er diese Einschätzung?“
„Wie gesagt: Es wird sich alles zum Guten wenden. Ich habe jetzt einen wichtigen Termin. Leben Sie wohl, Herr Dr. Dreyer.“
Der Mörder beendete das Telefonat. Es klopfte an seiner Bürotür. Er konnte gerade noch die Pistole in der Schreibtischschublade verschwinden lassen, bevor seine Sekretärin den Raum betrat.
Ich sollte mir wirklich abgewöhnen, eine Schusswaffe als Briefbeschwerer zu benutzen, dachte er, während Tina Hinrichs ihm die Unterschriftenmappe vorlegte. Sie war jung, blond, hübsch und aufgeweckt. Und er hasste diese mitleidigen Blicke, die sie ihm zuwarf.
Natürlich ließ er sich nichts anmerken.
„Haben Sie die Blumen für meine Frau besorgt, Tina?“
„Ja, natürlich.“ Die Sekretärin vermied es, ihn anzuschauen. „Sie müssten heute zugestellt worden sein.“
„Sehr gut.“ Der Killer schaute auf die Uhr. „Sie können jetzt auch Feierabend machen. Aber dass Sie mir nicht an einem Fleet spazieren gehen.“
Er drohte Tina Hinrichs scherzhaft mit dem Finger. Sie seufzte.
„Ich frage mich wirklich, wie lange dieser unheimliche Killer noch frei herumläuft.“
Der Mann hinter dem Chef-Schreibtisch erhob sich.
„Ja, und die Polizei tappt nach wie vor im Dunkeln. Praktisch jeder könnte der Täter sein. Vielleicht bin ich es ja, wer weiß?“
Die Sekretärin lächelte, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte.
„Ich finde es wirklich ganz toll, dass Sie immer noch zu Scherzen aufgelegt sind. Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.“
Mit diesen Worten ging Tina Hinrichs hüftenschwingend hinaus und schloss die Tür hinter sich. Der Hass des Mörders wuchs ins Unermessliche. Wie sehr er es doch verabscheute, wenn die Menschen ihn bemitleideten! Seine Angestellten waren keine Dummköpfe. Die meisten von ihnen mussten inzwischen begriffen haben, wie es um die Firma stand. Und Tina hatte womöglich sogar den Zustand seiner Ehe mitbekommen. Sie war gelegentlich bei ihm daheim gewesen und hatte das zweifelhafte Vergnügen gehabt, seine Frau kennenzulernen.
Das Herz des Mörders raste. Er nahm eine Tablette und spülte sie mit Mineralwasser hinunter. Eigentlich war er topfit, jedenfalls fühlte er sich so. Doch sein Kardiologe war anderer Meinung. Der Verbrecher schnaubte verächtlich. Was dieser Quacksalber wohl zu der Tatsache gesagt hätte, dass sein Patient bereits mehrfach zu Fuß oder auf dem Fahrrad der Hamburger Polizei entkommen war?
Dann konnte doch seine Pumpe nicht in so einem miesen Zustand sein, wie es der Mediziner behauptete! Nachdem eine halbe Stunde vergangen war, fühlte er sich besser. Der Killer schloss das Büro ab und stieg in seinen Bentley, den er in einem nahegelegenen Parkhaus abgestellt hatte. Sein Unternehmen befand sich mitten im Kontorhausviertel, wie es sich für einen echten Hamburger „Pfeffersack“ gehörte.
Auf der Fahrt zu seiner Villa in Blankenese gingen dem Verbrecher verschiedene Dinge durch den Kopf. Seine wirren Pläne nahmen immer genauere Gestalt an, die Einzelteile des Puzzles fügten sich zu einem Ganzen.
Als der Mörder die Tür aufschloss, wurde er von süßlichem Duft empfangen. Der Blumenstrauß stand im Salon auf dem Couchtisch, doch seine Frau suchte er dort vergeblich. Er fand sie nackt im Schlafzimmer, auf dem Bett liegend. Das zerwühlte und fleckige Laken zeugte davon, dass sie sich in seiner Abwesenheit nicht gelangweilt hatte. Und dass sie nicht allein gewesen war.
Der Killer musterte seine Gattin mit einem sezierenden Blick. Silke sah immer noch gut aus, obwohl ihr vierzigster Geburtstag schon vor einigen Jahren stattgefunden hatte. Ihre üppigen Formen betörten so manchen jüngeren Mann.
„Wie gefallen dir die Blumen? Hast du den Boten gleich gevögelt?“
Silke grinste provozierend, nachdem ihr Mann ihr diese Frage gestellt hatte.
„Nein, der sah mir zu minderjährig aus. Für wen hältst du mich? Außerdem hatte ich Besuch. Claudio war bei mir. Claudio ist einfach der Beste.“
„Du musst es ja wissen, du hast schließlich genügend Vergleichsmöglichkeiten“, entgegnete der Mörder trocken. „Ich bin in meinem Arbeitszimmer, falls du etwas von mir willst.“
Die Ehefrau machte eine abwehrende Handbewegung.
„Von dir will ich nichts, das weißt du genau. Du bringst es doch schon lange nicht mehr.“
Die Tablette tat immer noch ihre Wirkung, deshalb blieb der Killer gelassen. Er drehte sich um, ohne Silke einer Antwort zu würdigen.
Es wurde Zeit, dass die Hamburger Polizei einen Fahndungserfolg vorweisen konnte. Vielleicht konnte er die Ordnungsmacht noch mehr dabei unterstützen. Und ein brauchbarer Verdächtiger im Fall „Sailor Moon“ konnte sicher nichts schaden.
Ob die Beamten schon in Heike Steins Wohnung gewesen waren?
Ben Wilken musste fast unentwegt an Heike denken. Er konnte sich kaum auf den Straßenverkehr konzentrieren, als er von Ahrensburg aus morgens zum Polizeipräsidium fuhr. In der vorherigen Nacht hatte er lange wachgelegen, erst in den frühen Morgenstunden war er kurz eingenickt.
Prompt war er von einem Alptraum heimgesucht worden: Heike Stein war tot, ermordet mit 23 Messerstichen.
Der Hauptkommissar fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht, während sein Auto im Stau steckte. Nein, er durfte sich jetzt nicht selbst verrückt machen. Noch gab es nicht den geringsten Beweis dafür, dass seine Dienstpartnerin nicht mehr am Leben war.
Dienstpartnerin?
Ben liebte Heike, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Dass er verheiratet war und seine Ehefrau ebenfalls liebte, machte die Sache nicht einfacher. Doch momentan ging es nicht um seine Gefühle, sondern um nüchterne Fakten. Ben konnte Heike nur helfen, wenn er das Rätsel ihres Verschwindens löste.
Aber wie sollte das funktionieren? Am Vortag waren Melanie und Rüdiger in Heikes Wohnung gewesen. Ben hatte nur kurz mitbekommen, dass dort Indizien gefunden worden waren. Er hatte nicht mit den Kollegen sprechen können, weil er selbst sich mit dem Fleetenkiller-Fall beschäftigen musste. Außerdem kam es ihm so vor, als ob Melanie ihm ausweichen würde. Ben hatte sie abends heimlich angerufen, aber sie hatte das Gespräch weggedrückt. Und Rüdiger? Koslowski war „der Neue“. Ben verfügte zwar über seine Mobilnummer, aber er hatte noch kein persönliches Verhältnis zu ihm aufgebaut. Wenn er den Dortmunder hinten herum fragte, was sie in Heikes Wohnung gefunden hatten, würde das einen seltsamen Eindruck hinterlassen.
Zumal ohnehin das halbe Präsidium wusste, dass Ben und Heike miteinander geschlafen hatten.
Ob sich ein Verbrecher an der Hauptkommissarin rächen wollte? Das war auf den ersten Blick der plausibelste Grund für Heikes Verschwinden. Aber wenn sie tot wäre, hätte man die Leiche bestimmt schon gefunden.
Oder?
Vielleicht war sie aber auch nur entführt worden. Das hoffte Ben jedenfalls sehr. Dann bestand immer noch die Chance auf eine Befreiung. Aber Kidnapper stellten üblicherweise Forderungen, es sei denn …
Der Hauptkommissar musste sich dazu zwingen, diesen Gedanken zu Ende zu führen.
Es sei denn, wir haben es wieder mit einem kranken Sadisten wie Plessner zu tun. Aber der sitzt in der geschlossenen Psychiatrie und kann Heike nichts mehr tun.
Und wenn er nun ausgebrochen war? Aber dann hätte die Anstalt doch gewiss die Polizei informiert, – falls sie nicht ihren eigenen Fehler vertuschen wollten. Ähnliche Fälle hatte es in Hamburg bereits gegeben.
Ben merkte selbst, wie paranoid seine Überlegungen waren. Aber die Sorge um Heike machte ihn eben krank. Immerhin gelang es ihm, auf den Präsidiumsparkplatz zu gelangen, ohne einen Unfall zu bauen.
Als er die Räume der Sonderkommission Mord betrat, wurde Ben von seinem Kollegen Bernd Engel begrüßt.
„Moin, du sollst sofort zur Chefin kommen.“
„Ich dachte, momentan hat Dr. Magnussen noch das Sagen.“
Bernd Engel zuckte mit den Schultern.
„Ich gebe nur weiter, was Frau Dr. Brink mir aufgetragen hat.“
Ben nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Da die neue Vorgesetzte bisher nicht offiziell die Leitung übernommen hatte, residierte sie noch in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Der Hauptkommissar klopfte an ihre Bürotür und trat gleich darauf ein.
„Sie wollten mich sprechen?“
Dr. Laura Brink trug an diesem Morgen einen taubengrauen Hosenanzug mit hochgeschlossener weißer Bluse. Sie warf Ben einen undefinierbaren Blick zu, als sie von ihrem Schnellhefter aufschaute.
„Nehmen Sie bitte Platz, Herr Wilken.“
Ben setzte sich auf ihren Besucherstuhl.
„Sind Sie nervös?“
Der Hauptkommissar atmete tief durch, bevor er antwortete.
„Wie könnte ich nicht unruhig sein? Immerhin ist eine unserer Kolleginnen spurlos verschwunden.“
„Nicht völlig spurlos, Herr Wilken.“
„Wie meinen Sie das? Sind Hinweise auf Frau Steins Aufenthaltsort aufgetaucht?“
Frau Dr. Brink ging auf die Fragen nicht ein.
„Ich kann Ihre Nervosität nachvollziehen, zumal Frau Stein für Sie ja mehr ist als nur eine Kollegin.“
Die Kriminalrätin malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, während sie das letzte Wort ganz besonders betonte. Ben musste an sich halten.
„Wollen Sie schon wieder auf etwas Bestimmtes hinaus? Ich kann diese Andeutungen nicht ausstehen, ich mag kein Katz-und-Maus-Spiel.“
„Also gut.“ Frau Dr. Brinks Stimme war plötzlich hart und schneidend wie eine Messerklinge. „Ich glaube, dass Sie sehr gut wissen, wo sich Heike Stein aufhält.“
Mit diesen Worten zog sie eine Plastiktüte für Beweismittel hervor und knallte sie auf den Tisch. Darin befand sich ein Zettel. Ben beugte sich vor und überflog den Satz, der auf dem Papier stand.
„Was ist das?“
„Ein Beweisstück, das von Frau Russ und Herrn Koslowski in Frau Steins Wohnung sichergestellt wurde. Und wie ich höre, ist das hier Ihre Handschrift, Herr Wilken.“
„Wie bitte?! Da ist eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, zugegeben. Aber ich habe diesen Zettel niemals geschrieben!“
„Ach, ist das so?“ Die Kriminalrätin schnaubte ironisch. „Aber dieses Beweisstück würde das Verschwinden von Frau Stein erklären.“
„Höchstens, indem der wahre Täter den Verdacht auf mich lenken will.“
„Wenn Sie unschuldig sind, haben Sie gewiss nichts gegen ein forensisches Schriftgutachten einzuwenden, Herr Wilken.“
„Ich bitte sogar darum! Dann werden Sie nämlich feststellen, dass dieser Zettel nicht von mir stammt.“
„Nun gut, ich werde es veranlassen. – Ich hoffe für Sie, dass Sie wirklich nicht in die Angelegenheit verwickelt sind. Haben Sie denn eine Theorie, weshalb Frau Stein nicht auffindbar ist?“
„Der Täter muss zumindest gewusst haben, dass Frau Stein und ich … uns auch privat kennen. Sonst wäre er wohl nicht auf die Idee gekommen, mich als Sündenbock benutzen zu wollen.“
Frau Dr. Brink hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen.
„Aber weshalb sollte er das tun?“
„Um Zeit zu gewinnen! Während Sie mich verdächtigen, kann der wahre Entführer mit Frau Stein anstellen, was ihm beliebt. Dieser Gedanke ist für mich beinahe unerträglich.“
„Davon bin ich überzeugt“, gab die Kriminalrätin trocken zurück.
Ben wurde wütend.
„Und was ist mit Ihnen, Frau Dr. Brink? Ist es Ihnen gleichgültig, ob eine Polizeikollegin lebt oder stirbt?“
„Selbstverständlich nicht, Herr Wilken. Ich bin aber der Meinung, dass man Beruf und Privatleben strikt trennen sollte. Frau Stein hat sich angreifbar gemacht, indem sie eine Affäre mit Ihnen angefangen hat. Das war ein Fehler, den sie möglicherweise schon zutiefst bereut.“
Heike ist eben auch nur ein Mensch mit Gefühlen und mit Schwächen. Deshalb liebe ich sie ja so sehr.
Das dachte Ben, aber er sprach es nicht aus.
Heikes Lippen waren rau wie Sandpapier.
Wollte dieser Mistkerl sie verdursten lassen? Wie lange konnte ein Mensch ohne Flüssigkeit leben? Drei Tage? Oder vier? Die Kommissarin verfluchte sich selbst dafür, dass sie keine Armbanduhr mehr trug. Sie verließ sich seit längerer Zeit auf die Uhrfunktion ihres Smartphones. Das lag aber auf dem Couchtisch in ihrer Wohnung.
Hunger hatte Heike auch, aber das war nicht so schlimm. Den Durst empfand sie als wirklich quälend. Sie begann, über Getränke zu fantasieren. Wasser, Limonade, Cola, alkoholfreies Bier, normales Bier, Orangensaft, Apfelschorle, Eistee … Sie zwang sich dazu, den Gedankengang abzubrechen. Wenn der Entführer sie durch Flüssigkeitsentzug kleinkriegen wollte, durfte ihm das nicht gelingen. Sie musste ihren Geist anderweitig beschäftigen. Am besten damit, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
Aber wie sollte sie ihren Bewacher überwältigen, wenn er gar nicht auftauchte?
Wenn Heike jetzt in ihrem Gefängnis randalierte, würde er das womöglich mitbekommen. Ob Mikrofone oder Mini-Kameras irgendwo versteckt waren? Die Kommissarin wusste, dass moderne Überwachungstechnik so gut wie unsichtbar war, wenn sie nur richtig angebracht wurde. Sie würde nicht den Fehler begehen, wie eine Besessene die Wände abzutasten. Denn wenn sie das tat, hatte der Kerl schon halb gewonnen.
Heike musste ihre Selbstbeherrschung bewahren. Also nahm sie erneut im Schneidersitz auf ihrer Matratze Platz. Es wirkte auf einen Außenstehenden wahrscheinlich so, als ob sie meditieren würde. In Wirklichkeit beschäftigte sich ihr Verstand ausschließlich mit dem Blumenboten. Sie rief sich jedes Detail der kurzen Begegnung ins Gedächtnis zurück.
Die Stimme des Fremden war ihr irgendwie bekannt vorgekommen. Aber woher? In ihrem Beruf lernte Heike ständig neue Menschen kennen, und auf ihr Personengedächtnis konnte sie sich normalerweise verlassen. In diesem Fall war es schwierig, weil der Kopf des Mannes größtenteils hinter dem verflixten Rosenstrauß verborgen gewesen war.
Jedenfalls war die Kommissarin sicher, dass sie mit dem Mann schon beruflich zu tun gehabt hatte. Ein Polizeikollege war er auf keinen Fall, das konnte sie sich nicht vorstellen. Also ein Täter, ein Zeuge oder ein Verdächtiger. Andere Möglichkeiten gab es nicht. Heike war ihrem Kidnapper jedenfalls nicht privat über den Weg gelaufen. Er konnte also kein Nachbar, Supermarktkassierer oder Bankangestellter sein.
Die Kommissarin hatte während der vergangenen Jahre sehr viele Fälle bearbeitet. Trotzdem glaubte sie, dass die Begegnung noch nicht lange zurückliegen konnte. War sie ihrem jetzigen Entführer vielleicht bei den Ermittlungen im Fall Plessner begegnet?
Der Psychopath, aus dessen Gewalt sie Vera Langer befreit hatte, saß in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung des Klinikums Ochsenzoll. Plessner selbst konnte unmöglich der Täter sein. Außerdem unterschied sich seine gedrungene Gestalt von der schlanken Figur des Blumenboten. Ganz abgesehen davon, dass Plessner ganz anders redete. Heike glaubte nicht, dass er seine Stimme so sehr verstellen konnte.
Plötzlich ging das Licht aus.
Die Kommissarin zuckte zusammen. Damit hatte sie nicht gerechnet. In dem Raum war kein Lichtschalter vorhanden, das hatte sie schon registriert. Nun herrschte also tintenschwarze Dunkelheit. Da es kein Fenster gab, konnte man noch nicht einmal die buchstäbliche Hand vor Augen sehen. Was bezweckte der Verbrecher damit? Glaubte er, in der Finsternis leichter über sein Opfer herfallen zu können? Aber wenn sich der Kerl an Heike hätte vergehen wollen, dann wäre dazu schon während ihrer Ohnmacht Gelegenheit gewesen. Oder gehörte er zu den Perversen, die sich am Weinen und Flehen der Frauen hochziehen wollten?
Heike ballte die Fäuste und presste entschlossen ihre ausgetrockneten Lippen aufeinander. Das sollte ihm bei ihr nicht gelingen! Sie hatte in ihrem Kampfsporttraining nicht nur Schlag- und Tritttechniken, sondern vor allem Selbstbeherrschung gelernt. Ihre Sinne waren geschärfter als die einer Normalbürgerin.
Daher konnte sie jetzt auch hören, dass sich jemand auf dem Flur leise ihrem Zimmer näherte. Heike stand auf. Wenn sie ihren Peiniger anspringen wollte, dann musste sie jetzt schon in Kampfposition gehen. Schnelligkeit war wichtiger als pure Körperkraft und das Überraschungsmoment durfte man nicht unterschätzen. Wahrscheinlich baute der Kriminelle darauf, dass er Heike durch den Flüssigkeitsentzug schon weichgekocht hätte. Aber diese Annahme würde sich als verhängnisvoller Irrtum herausstellen.
Nun wurde ein Riegel zurückgeschoben und ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Geräusche waren eindeutig.
Heikes Herz raste. Das Adrenalin jagte durch ihren Körper. Licht fiel vom gut ausgeleuchteten Korridor in ihr Verlies.
„Möchtest du etwas trinken?“
Die Kommissarin wurde gleich doppelt überrascht. Erstens durch dieses Angebot, mit dem sie nun wirklich nicht gerechnet hatte. Und zweitens dadurch, dass ein junges Mädchen sie angesprochen hatte.
Heike kniff die Augen zusammen. Aber sie war keiner Halluzination aufgesessen, dafür war die schmale Gestalt einfach zu real und lebendig. Die Kommissarin konnte sogar das Parfüm riechen, mit dem sich ihr Gegenüber eingedieselt hatte. Die Marke war bei weiblichen Teenagern sehr beliebt.
Momentan galt Heikes ganze Aufmerksamkeit allerdings der Mineralwasserflasche, die ihre Besucherin in der Hand hielt. Sie vergaß jede Vorsicht und eilte auf die jüngere Frau zu.
„Ja, ein kleiner Schluck wäre nicht übel“, krächzte Heike.
Dann riss sie dem Teenager die Flasche förmlich aus der Hand, drehte den Verschluss auf und begann gierig zu trinken. Sie hörte erst auf, als das Behältnis halb leer war.
„Ich heiße Kati. Und wer bist du?“
„Heike. Wie lange bist du schon hier, Kati?“
Nun, da der schlimmste Durst gestillt war, schaute sie sich das Mädchen genauer an. Nach Schätzung der Kommissarin konnte Kati nicht älter als 18 Jahre sein. Sie war dünn, wirkte aber nicht unterernährt oder magersüchtig. Ihre Haut war sehr blass. Sie trug Jeans und einen Kapuzenpullover. Heike fragte sich insgeheim, wie lange diese junge Frau schon hier gefangen gehalten wurde.
Auf jeden Fall war momentan heller Tag. Am Ende des Korridors gab es nämlich ein kleines Fenster, vor dem ein Baum stand. Vögel zwitscherten und schufen dadurch die Atmosphäre einer trügerischen Idylle.
„Ich war schon immer hier“, entgegnete das junge Mädchen. Diese Aussage schockierte Heike, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Hatte Kati niemals versucht, aus diesem Gebäude zu fliehen? Wurde sie von dem Kidnapper psychisch so manipuliert, dass sie diese Möglichkeit gar nicht erst in Betracht zog?
Immerhin hatte Kati Menschlichkeit bewiesen, indem sie Heike das Wasser gebracht hatte. Die Kommissarin fühlte sich jetzt schon etwas besser. Sie musste nun auch die Verantwortung für das zweite Opfer übernehmen, das war ihre Aufgabe als Polizistin.
Sie schaute Kati direkt ins Gesicht und redete beschwörend auf sie ein.
„Wir müssen hier sofort verschwinden, hörst du? Ist die Tür nach draußen besonders gesichert? Weißt du, wann der Irre zurückkommt?“
Kati warf Heike einen bösen Blick zu.
„Mein Vater ist kein Irrer.“
Zu spät bemerkte die Kommissarin den Elektroschocker, den das Mädchen in der linken Hand hatte. Kati hielt das Gerät gegen Heikes Oberkörper. Die Hauptkommissarin fühlte sich, als ob sie innerlich zerrissen wurde. Wild zuckend ging sie zu Boden.
„Wir haben also bisher nichts?“
Diese Frage stellte Koslowski, während er von Melanie weiterhin in den Fleetenkiller-Fall eingearbeitet wurde. Die meisten Morde hatten bereits stattgefunden, bevor er seine neue Stelle bei der Hamburger Kripo angetreten hatte. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, so kann man das nicht sehen. Die Tatorte lassen sich auf ungefähr drei Quadratkilometer eingrenzen, der Täter hat also einen sehr eingeschränkten Aktionsradius.“
„Und wieso ist es bisher nicht gelungen, ihn zu fassen? Und das, obwohl Einsatzkräfte stets schnell vor Ort waren? Es ist kein Wunder, dass die Pressegeier eine Lachnummer aus uns machen.“
Melanie zog die Augenbrauen zusammen.
„Du musst nicht Salz in unsere eigenen Wunden streuen, Rüdiger. Ich weiß selbst, dass die Ermittlungen bisher nicht optimal gelaufen sind. Aber man kann den Streifenwagenbesatzungen keinen Vorwurf machen. Die Beschreibungen des Verdächtigen sind einfach zu widersprüchlich. Im Grunde können wir noch nicht einmal sicher sein, dass es sich um einen Mann handelt.“
„Und wir wissen auch nicht, warum er die Frauen tötet und in die Fleete wirft.“
„Du sagst es. Wir sprechen übrigens vom Nikolaifleet, vom Mönkedammfleet, vom Alsterfleet und vom Herrengrabenfleet. Das sind alles verschiedene Tatorte, aber die Vorgehensweise war bisher stets dieselbe.“
„Es handelt sich also nicht um einen Haupttäter, der mehrere Trittbrettfahrer oder kranke Fans nach sich gezogen hat?“
Melanie schüttelte den Kopf.
„Das können wir ausschließen. Es wurde stets dieselbe Mordwaffe verwendet, das lässt sich aufgrund der Wundkanäle nachweisen. Der Killer hat jedes Mal nur einen oder zwei Stiche benötigt, um die Frauen umzubringen. Daher gehen wir davon aus, dass der Täter über anatomische Kenntnisse verfügt.“
„Das hat man bei Jack the Ripper auch vermutet“, bemerkte Koslowski und gähnte. „Und was bringt diese Erkenntnis? Erwischt hat man ihn trotzdem nie.“
„Du kannst einem richtig Mut machen“, fauchte die Kommissarin. „Und komm bloß nicht auf die Idee, deinen schrägen Jack-the-Ripper-Vergleich irgendwo in der Öffentlichkeit herauszuposaunen. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist eine allgemeine Hysterie. Die Stimmung ist sowieso schon aufgeheizt genug.“
Koslowski hob abwehrend die Hände.
„Schon gut, meine Lippen sind versiegelt.“
„Jedenfalls liegen uns bisher 92 ausgewertete Zeugenaussagen vor“, fuhr Melanie fort. „An drei Leichen konnte Fremd-DNA nachgewiesen werden, die wir allerdings bisher nicht im System haben. Sie stimmt auch nicht untereinander überein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie vom Täter stammt, ist also gering.“
„Wir haben nichts“, stellte der Kommissar aus dem Ruhrgebiet fest.
„Wurdest du als Ermittler oder als Miesmacher engagiert, Rüdiger? Es ist schon schlimm genug, dass Heike momentan nicht da ist. Ich bin sicher, dass sie und Ben den Fall im Handumdrehen gelöst hätten.“
Koslowski zuckte mit den Schultern.
„Das kann ich nicht beurteilen. Tatsache ist, dass Heike offenbar entführt wurde und Ben selbst in Schwierigkeiten steckt. Also muss Frau Dr. Brink auf die Netzstrumpfhosenträgerin und auf meine Wenigkeit vertrauen, um den Killer zu verhaften.“
„Du solltest dir mal einen neuen Witz einfallen lassen, Rüdiger. Und wie kommst du darauf, dass Ben Ärger hat?“
„Weil ich ihn vorhin gesehen habe, wie er in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität verschwunden ist. Dort schwingt die Brink momentan noch das Zepter, richtig? Und als Ben zurückkehrte, trug er eine üble Leichenbittermiene zur Schau.“
Falls Koslowskis Gefasel einen wahren Kern enthielt, dann konnte es natürlich die unterschiedlichsten Gründe für den ernsten Gesichtsausdruck des Hauptkommissars geben. Ob vielleicht Heikes Leiche gefunden worden war? Melanie weigerte sich, diesen Gedanken zuzulassen. Denn falls das wirklich geschehen sein sollte, würde man diese Neuigkeit doch der gesamten Sonderkommission Mord vortragen.
Oder?
Bevor die Kommissarin noch weiter diesen trüben Gedanken nachhängen konnte, klingelte ihr Telefon. Sie meldete sich mit ihrem Namen. Frau Dr. Brink war am Apparat. Melanies Herz drohte zu vereisen, jedenfalls fühlte es sich so an.
„Frau Russ, ich habe eine heikle Aufgabe für Sie.“
„Ja?“
Bitte nicht Heikes sterbliche Überreste identifizieren müssen! Kann das nicht jemand anders erledigen? Ich glaube nicht, dass ich es aushalte.
Dieser Gedanke schoss Melanie durch den Kopf, während die Kriminalrätin weiterredete.
„Am Empfang hat sich ein Angehöriger des letzten Opfers gemeldet, ein Herr Takeo Hasegawa aus Tokio. Er ist extra angereist, um sich nach unserem Ermittlungsstand zu erkundigen. Wie ich den Personalbögen entnehme, verfügen Sie über die besten Englischkenntnisse innerhalb der Sonderkommission Mord.“
„Ja, ich bin ein halbes Jahr lang für eine Qualifizierungsmaßnahme bei New Scotland Yard in London gewesen.“
Melanie war erleichtert, weil ihre „heikle Aufgabe“ offenbar nur in einer Unterredung mit dem englischsprachigen Japaner bestand. Alles war besser als von Heikes Tod zu erfahren.
„Diese Information habe ich bereits meinen Unterlagen entnommen“, erwiderte Frau Dr. Brink arrogant. „Also, beruhigen Sie den Mann und geben Sie dabei keine Details preis, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.“
„Das kriege ich hin, lassen Sie ihn raufschicken.“
Die Kriminalrätin legte wortlos auf. Da der Lautsprecher eingeschaltet gewesen war, hatte Koslowski alles mitbekommen.
„Die Brink ist hier im Präsidium gut vernetzt, findest du nicht? Eigentlich liegt die Leitung unserer Abteilung doch noch in den Händen des Pfeifenopas. Trotzdem rufen die Kollegen vom Empfang bei dem Eisdrachen an, wenn sich dort ein Angehöriger meldet.“
„Du solltest dir lieber einen Knoten in die Zunge machen, Rüdiger. Du kannst in Teufels Küche kommen, wenn du dir dauernd blöde Spitznamen für unsere Vorgesetzten ausdenkst.“
Der Kommissar schüttelte den Kopf.
„Da sehe ich keine Gefahr. Ich halte dich zwar für eine Streberin, aber nicht für eine Petze.“
Melanie streckte ihm die Zunge heraus.
„Charmant wie immer.“
Bevor sie ihr Geplänkel fortsetzen konnten, wurde der Besucher von einem uniformierten Kollegen zu ihren Schreibtischen im Großraumbüro der Sonderkommission geführt. Takeo Hasegawa war ein schlanker Mann Anfang dreißig, der einen dunklen Maßanzug trug. Ein Trauerflor im Knopfloch war der einzige Hinweis darauf, dass er eine nahe Angehörige verloren hatte. Ansonsten glich sein Gesicht einer starren Maske, das keine menschliche Regung zeigte.
Der Japaner begrüßte die beiden Ermittler, indem er sich in der Hüfte einknickend verbeugte. Melanie stellte Koslowski und sich selbst vor, dann deutete
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2023
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