Der Stein war groß wie die Welt und schwarz wie der Tod.
Tatjana sah ihn auf sich zu rasen. Er wurde immer größer, wuchs scheinbar riesenfach vor der Windschutzscheibe ihres Autos. Tatjanas Herz schien sich in einen Eisklotz zu verwandeln, während das Blut heiß wie Lava durch ihren Körper jagte. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war plötzlich staubtrocken geworden.
Sie dachte an Boris und an ihre bevorstehende Hochzeit, während sie verzweifelt das Lenkrad herumriss. Aber Tatjanas Überlebensinstinkt versagte gegenüber der Mordwaffe. Der Stein war schneller als die Ausweichbewegung des PKWs.
Und dann kam der Schmerz – ein Blitz, der den Leib und die Seele gleichermaßen zerriss. Ein Gefühl, das alle anderen Empfindungen hinweg spülte, und zwar für immer. Als Tatjanas Wagen gegen die Leitplanke knallte und einige hundert Meter weiter endlich zum Stehen kam, war die Fahrerin bereits nicht mehr am Leben.
Saskia Koch ahnte nichts Gutes, als sie die beiden Männer in die Arztpraxis kommen sah. Sie kannte nur einen von ihnen, nämlich Polizeiobermeister Lothar Schlösser. Er gehörte zu den wenigen Beamten, die auf der kleinen Revierwache von Löhrfelden Dienst taten. Sein Begleiter war in Zivil. Aber er hatte ebenfalls das, was Saskia insgeheim den „Polizistenblick“ nannte. Die Beiden sahen so ernst wie Sargträger bei einer Beerdigung aus. Und sie wandten sich direkt an Saskia, nicht etwa an eine ihrer Kolleginnen.
„Wir müssen dringend mit Ihrem Bruder sprechen, Frau Koch.“
Mit diesen Worten wandte sich Schlösser an Saskia. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Es war jetzt vermutlich fast so weiß wie ihre Arzthelferin-Montur.
Was hat denn Julian jetzt schon wieder angestellt? Dachte sie grimmig. Es ist elf Uhr, um diese Zeit pennt der Blödmann doch normalerweise noch.
Es war nicht das erste Mal, dass Saskia wegen ihrem Bruder mit der Polizei zu tun hatte. Allerdings kamen die Beamten normalerweise zu ihr nach Hause, wenn wieder einmal eine Ruhestörung, ein Diebstahl oder ein BTM-Delikt angezeigt worden war. Die Polizisten wussten, wo sie das schwarze Schaf von Löhrfelden zu suchen hatten. Es war nach Saskias Meinung kein gutes Zeichen, dass die Beamten an ihrem Arbeitsplatz aufkreuzten.
Sie atmete tief durch, bevor sie antwortete. Und sie versuchte, ihre professionelle Höflichkeit beizubehalten.
„Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wo sich mein Bruder momentan aufhält, Herr Schlösser. Haben Sie es noch nicht bei uns daheim versucht?“
„Selbstverständlich haben wir das!“
Diese Worte kamen nicht aus dem Mund des Polizeiobermeisters. Es war sein Kollege, der gesprochen hatte. Und seine tiefe Stimme hörte sich sehr ungeduldig an. Saskia blickte zu ihm auf und schaute in graue Augen. Sie konnte die mühsam unterdrückte Wut dieses Mannes förmlich spüren. Beklemmung machte sich in ihrem Inneren breit.
Der Unbekannte fuhr fort: „Ich bin Oberkommissar Frank Lehmann von der Kriminalpolizei. Es geht um ein Tötungsdelikt, das sich heute auf der Autobahn südlich der Auffahrt Löhrfelden-Dreikirch ereignet hat. Wenn Sie uns etwas verschweigen, dann machen Sie sich der Beihilfe zum Mord schuldig, Frau Koch.“
Die Sätze des Kommissars trafen Saskia wie Hammerschläge. Ihr Kreislauf spielte plötzlich verrückt, was sie nicht verwunderte. Julian hatte ja schon eine Menge Unsinn verzapft, und bei einer einzigen Jugendstrafe war es bisher leider nicht geblieben. Zweifellos war ihr Bruder der größte Tunichtgut in Löhrfelden und Umgebung. Aber sie konnte sich Julian beim besten Willen nicht als Mörder vorstellen.
Saskia nahm ihren ganzen Mut zusammen, als sie antwortete.
„Ich verschweige Ihnen nichts. Um acht Uhr ist hier in der Arztpraxis Arbeitsbeginn. Seitdem bin ich hier, das können Ihnen meine Kolleginnen, Dr. Bruckner sowie zahlreiche Patienten betätigen. Als ich unser Haus um 7.30 Uhr verließ, war Julian womöglich noch in seinem Zimmer. Ich weiß es nicht, da ich mich von ihm nicht verabschiedet habe. Er schläft morgens gern länger, ich wollte ihn nicht stören.“
Weil er die halbe Nacht vor dem Computer zockt, fügte sie in Gedanken hinzu. Der Polizeiobermeister sprach nun wieder, und er klang etwas freundlicher als sein Kripo-Kollege.
„Wir waren bereits bei Ihnen zu Hause, Frau Koch. Ihre Großeltern waren anwesend und sagten aus, dass sie Ihren Bruder heute früh noch nicht gesehen hätten. Ihre Eltern halten sich momentan offenbar in den USA auf. Ihr Großvater erlaubte uns, einen Blick in Julians Zimmer zu werfen. Es war leer.“
„Und sein Mountainbike befand sich nicht im Schuppen“, ergänzte Lehmann. „Der Mistkerl, der den Stein von der Brücke geworfen hat, hinterließ dort einen deutlich erkennbaren Reifenabdruck eines 29 x 2,0 Fahrradreifens.“
„Es gibt aber noch mehr Mountainbikes in Löhrfelden“, brachte Saskia schüchtern hervor. „Und außerdem könnte der Täter auch aus einem anderen Dorf gekommen sein.“
„Überlassen Sie die Ermittlungen bitte uns“, sagte der Oberkommissar ruppig. „Wissen Sie nun, wo Ihr Bruder ist oder nicht?“
„Ich kann Ihnen seine Mobilfunknummer geben“, bot Saskia an. Ihre Hand zitterte, als sie ihr Smartphone aus ihrer Tasche holte. Die beiden Polizisten notierten sich die Zahlenfolge. Schlösser versuchte sofort, Julian anzurufen. Aber das Gerät war ausgeschaltet.
Lehmann knallte seine Visitenkarte auf den Tresen.
„Bitte melden Sie sich sofort bei uns, wenn Ihr Bruder Kontakt zu Ihnen aufnimmt oder falls Ihnen noch etwas einfällt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
Die Beamten drehten sich um und eilten grußlos davon. Saskia wagte kaum, aufzublicken. Sie spürte, dass sie sowohl von ihren Kolleginnen Melanie und Birgit als auch von sämtlichen Patienten angestarrt wurde. Die Tür zum Wartezimmer war offen gewesen, so dass mindestens ein halbes Dutzend Dorfbewohner den Auftritt der Polizisten mitbekommen hatten. In spätestens einer Stunde würde ganz Löhrfelden wissen, dass Julian Koch von der Polizei als ein mörderischer Steinwerfer gesucht wurde.
„Und Sie sind sicher, dass dieser Julian Koch der Täter ist?“
Diese Frage stellte Oberkommissar Lehmann seinem einheimischen Kollegen, nachdem sie in die Polizeistation von Löhrfelden zurückgekehrt waren. Lothar Schlösser machte eine unbestimmte Handbewegung.
„Zumindest ist er mein Hauptverdächtiger. Wir waren uns ja einig, dass die Mountainbike-Spuren auf einen Jugendlichen hindeuten. Ich kenne die Altersgruppe gut, unser Dorf hat ja kaum zweitausend Einwohner. Die meisten Kids machen entweder eine Berufsausbildung oder besuchen das Gymnasium in der Kreisstadt. Es gibt eigentlich nur eine junge Person, die für die Tatzeit kein Alibi hat und der ich so eine Irrsinnstat zutrauen würde. Wie Sie wissen, ist Julian Koch kein unbeschriebenes Blatt.“
Lehmann nickte grimmig.
„Ich schlage vor, dass Sie eine Nahbereichsfahndung einleiten. Brauchen Sie Verstärkung?“
„Das wäre nicht schlecht, Herr Oberkommissar. Ich kenne zwar die Umgebung wie meine Westentasche, aber der Nationalpark bietet zahlreiche Versteckmöglichkeiten.“
„Gut, dann schicke ich Ihnen eine Einsatzhundertschaft von der Landesbereitschaftspolizei. Wir müssen davon ausgehen, dass Julian Koch seine Flucht fortsetzt. Ich werde bundesweit nach ihm fahnden lassen, wir sollten auch die Medien einschalten. Immerhin haben mir die Großeltern seine Kontoverbindung verraten. Sobald er irgendwo Geld abzuheben versucht, kriegen wir ihn.“
Schlösser verzog den Mund.
„Julian wird nicht weit kommen, denke ich. Er ist kein besonders raffinierter Krimineller, eher ein Tollpatsch ohne Unrechtsbewusstsein.“
„Er hat eine junge Frau auf dem Gewissen“, stellte der Oberkommissar klar. „Wie schätzen Sie seine Schwester ein? Wird sie versuchen, ihm zu helfen?“
„Die Frage lässt sich schwer beantworten. Saskia Koch ist ein braves Mädchen, eine graue Maus. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hat sie niemals Mist gebaut, soweit mir bekannt ist. Saskia hat nach der Schule sofort eine Ausbildung als Arzthelferin gemacht und arbeitet seitdem in der Praxis von Dr. Bruckner. Ich kann mir schon vorstellen, dass sie ihren Bruder zu kontaktieren versucht. Aber sie wird ihm nicht bei der Flucht helfen, sondern ihn zum Aufgeben bewegen. Im Gegensatz zu Julian ist Saskia die Tragweite seines Handelns bekannt.“
Lehmann stieß ein heiseres Lachen aus, das eher an das Bellen einer Hyäne erinnerte. Es klang jedenfalls nicht amüsiert. Der Polizeiobermeister kniff die Augen zusammen.
„Habe ich etwas Komisches oder Unpassendes gesagt?“
Der Oberkommissar schüttelte den Kopf.
„Nein, überhaupt nicht. Es ist nur so, dass Sie nicht wissen, mit wem das Opfer verlobt gewesen ist. – Sagt Ihnen der Name Boris Dupic etwas?“
Der Dorfpolizist schüttelte den Kopf. Lehmann sprach nun langsamer, betonte jedes Wort.
„Dupic arbeitet für das organisierte Verbrechen. Er hat mindestens zwei Männer gefoltert und getötet, aber wir können ihm nicht das Geringste nachweisen. Dupic ist so clever, dass er sich noch nicht mal beim Falschparken erwischen lässt. Er gehört zu den gefährlichsten Verbrechern, die ich kenne.“
Die Wirkung dieser Information bliebe bei dem Polizeiobermeister nicht aus. Seine Lider begannen nervös zu flattern. Schlösser stieß langsam die Luft aus den Lungen.
„Sie meinen – dieser Mann wird nach Löhrfelden kommen und die Sache auf seine Art regeln wollen?“
„Falls das geschieht, dann Gnade uns Gott. – Ich habe jetzt zunächst das zweifelhafte Vergnügen, ihm die Todesnachricht zu überbringen. Wir müssen im engen Kontakt bleiben, Herr Schlösser. Ich weiß nicht, ob sich ein Blutbad wirklich vermeiden lässt. Aber wir sollten es um jeden Preis versuchen.“
Die beiden Beamten verabschiedeten sich mit Handschlag voneinander. Lehmann stieg in seinen Dienstwagen und kehrte nach Köln zurück. Er musste eine Umleitung nehmen. An der Stelle, wo dieser verfluchte Steinwerfer zugeschlagen hatte, war die Autobahn immer noch gesperrt. Die Spurensicherung arbeitete mit Hochdruck. Der Oberkommissar fragte sich, ob Dupic nicht schon längst Bescheid wusste. Er hielt den Verbrecher eigentlich nicht für einen Mann, der den ganzen Tag lang den Verkehrsfunk hörte. Aber wenn Tatjana mit ihrem Verlobten verabredet gewesen war, dann würde er sie allmählich vermissen. Oder?
Lehmann führte sich vor Augen, dass Tatjanas Auto sich von der Großstadt weg bewegt hatte. Was war ihr Fahrtziel gewesen? Der Oberkommissar begab sich zunächst zum Präsidium und erstattete seinem Vorgesetzten Bericht. Kriminalrat Degenhardt zog seine Augenbrauen zusammen.
„Das ist eine üble Sache. Ich werde mich um die Suchmannschaften für Löhrfelden kümmern. Nehmen Sie Frau Teich mit, wenn Sie Ihren Kondolenzbesuch bei Dupic machen.“
„Wieso das denn, Herr Kriminalrat? Glauben Sie, Dupic reagiert wie ein antiker Herrscher, der den Überbringer der schlechten Botschaft töten lässt?“
„Ich meine, dass dieser Kriminelle völlig unberechenbar ist. Am liebsten würde ich das SEK zu ihm schicken. Aber Erstens liegt absolut nichts gegen ihn vor, und Zweitens wäre eine solche Aktion ein gefundenes Fressen für seine Staranwälte und ihre Pressekontakte. ‚Bewaffnete Spezialeinheit drangsaliert trauernden Witwer‘ – ich kann mir die Schlagzeilen schon lebhaft vorstellen.“
„Okay, ich nehme die Teich mit.“ Lehmann erhob sich von seinem Stuhl. „Und Sie haben recht, Herr Kriminalrat. Dupic ist absolut unberechenbar. Wenn er in der richtigen Stimmung ist, wird er auch zwei Kriminalbeamte töten. Aber nach unseren Leichen müssen Sie dann nicht suchen lassen, denn die wird man niemals finden.“
„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand. Wir setzen jetzt alles daran, diesen Julian Koch aufzustöbern – und zwar, bevor Dupic es tut.“
Lehmann nickte und verließ das Büro seines Vorgesetzten. Er fand die junge blonde Kommissarin an ihrem Arbeitsplatz, wo sie fleißig auf der PC-Tastatur tippte.
„Kleben Sie sich Ihr Kaugummi hinters Ohr, Eva. Es geht in den Außeneinsatz. Sie haben nicht zufällig ein schwarzes Kleidungsstück dabei?“
„Nee, das kleine Schwarze wollte ich zum Dienst nicht anziehen“, erwiderte Eva Teich frech. „Worum geht es denn?“
Der Oberkommissar brachte sie mit wenigen Sätzen auf den neuesten Stand. Daraufhin verging ihr das Scherzen. Eva Teich hatte eines der mutmaßlichen Folteropfer von Dupic gesehen und war danach nächtelang von Alpträumen geplagt worden.
„Wir müssten Dupic eigentlich rund um die Uhr observieren, damit er keinen Unsinn macht“, murmelte Eva Teich, während sie gemeinsam mit Lehmann ins Bahnhofsviertel fuhr.
„Was Sie nicht sagen!“, gab der Oberkommissar schlecht gelaunt zurück. „Und woher soll ich die Beamten für diese Maßnahme nehmen? Außerdem nützt es nichts, das wissen Sie genauso gut wie ich. Dupic hat gewiss einen Freund oder Kumpel, der diesen verfluchten Julian Koch liebend gern in Streifen schneidet, während Dupic mit angesehenen Bürgern Skat spielt oder sich ein anderes bombensicheres Alibi verschafft.“
„Dann gibt es also nichts, was wir tun können?“
„Doch. Wir verbinden unseren Kondolenzbesuch mit einer möglichst taktvollen Gefährderansprache.“
Sie verließen das Präsidium und stiegen in den Dienstwagen. Die sonst so lockere und quirlige Eva Teich war schweigsam. Sie hatte die Lippen zusammengekniffen, so dass ihr Mund einem roten Strich ähnelte. Lehmann warf ihr einen Seitenblick zu.
„Haben Sie Angst?“
Die Kommissarin nickte.
„Ich auch“, räumte Lehmann ein. Das hatte er noch niemals zuvor getan, jedenfalls nicht in einem Einsatz. „Wenn wir reingehen, bleiben Sie einen Schritt hinter mir. Sie dürfen Ihre Waffe natürlich noch nicht ziehen. Aber es wäre gut, wenn Sie die Pistole möglichst schnell aus dem Holster holen könnten.“
„Meinen Sie wirklich, dass Dupic uns niedermetzelt?“
Die Frage blieb zunächst unbeantwortet. Lehmann starrte nachdenklich auf die Fahrbahn, während er das Auto durch das Bahnhofsviertel lenkte.
„Wir werden es wohl darauf ankommen lassen müssen“, sagte er schließlich.
Der Kriminalbeamte parkte neben dem Handyladen, der Dupic als Tarnexistenz diente. Der Killer stand hinter der Verkaufstheke und strahlte die Polizisten an. Aber Lehmann und Eva Teich fielen auf seine falsche Freundlichkeit nicht herein. Sie wussten zu viel über diesen Mann.
Dupic war groß und athletisch. Sein Schädel war rasiert, der schwarze Vollbart kurz und gepflegt.
„Was kann ich für Sie tun, Herr Oberkommissar? Benötigen Sie oder Ihre charmante Kollegin ein neues Smartphone?“
„Wir sind leider dienstlich hier, Herr Dupic.“
Lehmann schaffte es immerhin, dass seine Stimme nicht zitterte. Eva befand sich momentan nicht in seinem Gesichtsfeld. Er hoffte einfach darauf, dass sie wirklich zurückschießen würde, wenn der Killer ausrastete. Doch Lehmann selbst würde zunächst als Kugelfang dienen müssen.
Dupic griente. Er schien immer noch nicht zu ahnen, worum es ging. Umso größer würde der Schock für ihn sein.
„Was soll ich denn angestellt haben, Herr Oberkommissar? Hat mich wieder so ein Dreckskerl verleumdet? Muss ich Dr. Zacharias anrufen?“
Dr. Zacharias war ein Staranwalt, der Dupic schon öfter aus der Klemme geholfen hatte. Lehmann schüttelte den Kopf.
„Das wird nicht nötig sein. Sie werden keiner Straftat beschuldigt, Herr Dupic. Wir sind gekommen, um Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen. Es geht um Tatjana Keller, sie …“
„Was ist mit ihr?“
Dupic unterbrach den Kriminalisten, schrie ihn an. Zwischen den beiden Männern befand sich die Verkaufstheke. Aber das war keine Barriere, die einen Mann wie Dupic hätte aufhalten können. Er hob seinen rechten Arm, wollte den Oberkommissar am Kragen packen. Doch er beherrschte sich. Die Frage war nur, wie lange sich Dupic noch zusammenreißen konnte.
Lehmann wäre am liebsten einen Schritt zurückgewichen. Aber das war keine gute Idee. Nun war er seinem Vorgesetzten doch dankbar. Immerhin hatte der Oberkommissar Eva Teich als Rückendeckung. Aber ob das etwas nützen würde?
„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Tatjana Keller heute gegen 11 Uhr bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.“
Dupics Gesicht verzog sich zu einer Fratze des Schmerzes. Es fiel Lehmann schwer, für diesen eiskalten Mörder Mitleid zu empfinden. Aber in diesem Moment gab es für den Oberkommissar keinen Zweifel daran, dass Dupic Tatjana geliebt hatte. Falls dieser Mann überhaupt zu solchen Gefühlen fähig war. Die Augen des Killers schimmerten feucht. Lehmann konnte sich nicht vorstellen, dass Dupic weinen würde. Und wenn doch, dann keinesfalls vor den beiden Beamten.
Lehmann und seine Kollegin warteten schweigend, während Dupic um Fassung rang. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Seine Unterlippe zitterte. Die Hände hatte er um die Kante der Ladentheke gekrampft. Seine Knöchel traten weiß hervor, so fest packte er zu.
Es vergingen Minuten, bis Dupic wieder sprechen konnte. Seine Stimme bebte.
„Moment mal … da kam doch vorhin eine Radiomeldung … Eine junge Frau sei gestorben, nachdem ein Steinwerfer auf der Autobahnbrücke … sprechen Sie von diesem Unfall? War Tatjana das Opfer?“
„Unsere Ermittlungen dauern an“, erwiderte der Oberkommissar. Ihm war selbst klar, wie dämlich diese Phrase für Dupic klingen musste.
„Es war also der Steinwerfer!“
Der Killer sprach diesen Satz aus, als ob er ihn in Granit meißeln wollte.
„Wir haben großes Verständnis für Ihre Trauer, Herr Dupic. Aber ich muss Sie bitten, sich in unsere Ermittlungen nicht einzumischen. Ich gehe davon aus, dass wir den Täter verhaften und seiner gerechten Strafe zuführen können.“
„Wer war es?“
„Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben, das wissen Sie. Außerdem haben wir bisher nur Verdachtsmomente, die …“
„Raus!“, brüllte Dupic. „Verschwinden Sie, bevor ich mich vergesse!“
„Sie sind jedenfalls gewarnt, kommen Sie der Polizei nicht in die Quere.“
Lehmanns Satz klang in seinen eigenen Ohren mehr als lahm. Er wagte es auch nicht, dem Killer den Rücken zuzukehren. Dupic war es ohne Weiteres zuzutrauen, den Oberkommissar von hinten zu erschießen.
Aber der Oberkommissar und die Kommissarin gelangten unangefochten nach draußen und stiegen in ihren Wagen.
„Unsere Gefährderansprache scheint Dupic nicht besonders beeindruckt zu haben“, bemerkte Eva Teich trocken.
„Immerhin leben wir noch“, gab Lehmann zurück. „Für diesen Steinwerfer sehe ich allerdings schwarz, wenn wir kein Überwachungsteam genehmigt bekommen.“
Nachdem die Beamten gegangen waren, eilte Saskia in den Pausenraum und rief sofort daheim an. Als sie die vertraute Stimme ihrer Oma hörte, ging es ihr sofort etwas besser.
„Die Polizei war gerade hier!“, sprudelte es aus Saskia hervor. Sie berichtete ihre älteren Verwandten, was sich ereignet hatte.
„Uns bleibt wohl nichts Anderes übrig, als für deinen Bruder einen guten Anwalt zu beauftragen“, sagte Marlies Koch. Sie hörte sich beherrschter an als ihre Enkelin. Dennoch war Saskia sicher, dass auch ihre Großmutter sich Sorgen machte.
„Wie konnte Julian nur so etwas Schreckliches tun, Oma?“
„Die Frage lässt sich nicht beantworten, mein Kind. Noch steht ja gar nicht fest, dass er wirklich der Täter ist. Du musst dich beruhigen.“
„Das sagt sich so leicht!“ Saskia konnte ihr Schluchzen nicht unterdrücken. „Alle starren mich an, als ob ich selbst einen Menschen auf dem Gewissen hätte!“
„Kannst du den Doktor nicht fragen, ob er dir frei gibt?“
Die Frage ihrer Großmutter drang wie aus weiter Ferne zu Saskia durch. Mit tränenerstickter Stimme antwortete sie: „Nein, das will ich auf keinen Fall. Ich muss den heutigen Arbeitstag irgendwie durchstehen.“
Sie beendete das Telefonat mit ihrer Oma und versprach, so bald wie möglich nach Hause zu kommen. Dann flitzte sie ins Bad und versuchte, ihr Äußeres halbwegs in Ordnung zu bringen. Aber man konnte ihr immer noch auf drei Kilometer gegen den Wind ansehen, dass sie geweint hatte.
Als Saskia wieder an ihrem Arbeitsplatz erschien, nahm Birgit sie schwesterlich in die Arme.
„Geht es wieder einigermaßen, Süße? Der Chef möchte mit dir sprechen.“
Saskia nickte ihrer Kollegin zu. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Dr. Bruckner von dem Polizeibesuch in seiner Praxis erfahren hatte. Sie ging ins Behandlungszimmer und kam sich dabei vor wie auf dem Weg zum Schafott.
Der Arzt erhob sich hinter seinem Schreibtisch, sobald Saskia den Raum betrat. Dr. Bruckner war ein sechzigjähriger magerer Mann mit schlohweißem Haar.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Koch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wir waren alle sehr bestürzt. Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?“
Saskia ließ sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch plumpsen. Ihre Knie waren weich wie Pudding.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll, Herr Doktor. Ich schwöre Ihnen, dass ich nichts von Julians Irrsinnstat geahnt habe. Sonst hätte ich ihn mit allen Mitteln davon abgehalten.“
Kaum hatte Saskia diese Worte ausgesprochen, als sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Denn sie gab durch ihre Aussage zu, dass sie ihren Bruder für den Mörder hielt.
Und wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, dann hatte sie das vom ersten Moment an getan.
Der Arzt machte eine hilflose Geste.
„Wenn Sie Zeit für sich und Ihre Familie benötigen, dann gebe ich Ihnen frei.“
Genau das, was Oma vorgeschlagen hat, dachte Saskia. Aber sie schüttelte heftig den Kopf.
„Nein danke, Herr Doktor. Daheim fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich will versuchen, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Vielleicht kann die Polizei Julian bald verhaften, damit dieser Alptraum ein Ende hat.“
Dr. Bruckner nickte.
„Sie sind eine tapfere junge Frau. Wir werden Ihnen den Rücken stärken, das verspreche ich. Und nun würde ich gern Ihren Blutdruck messen.“
Saskia ließ die Prozedur über sich ergehen. Sie wusste selbst, dass ihr Kreislauf verrückt spielte. Der Arzt gab ihr ein leichtes pflanzliches Beruhigungsmittel. Danach fühlte sie sich wirklich etwas besser.
Den Rest des Arbeitstages funktionierte Saskia wie eine Roboterin. Ihre Kolleginnen und ihr Chef behandelten sie wie ein rohes Ei, aber dadurch ging es ihr nicht besser. Immerhin bewirkte die Medizin, dass sie sich durch ihre Sorgen nicht völlig aus der Bahn werfen ließ. Außerdem war Melanie so rücksichtsvoll gewesen, das Radio im Pausenraum auszuschalten. Saskia wollte nicht stündlich in den Nachrichten hören, dass eine junge Frau getötet worden war. Ihrer Meinung nach war es nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Welt den Täter kennen würde. Wie sollte es dann weitergehen? Wie sollte Saskia in Löhrfelden leben, wo sie jeder kannte? Würden die Menschen mit dem Finger auf sie zeigen, sie die Mörderschwester nennen? Musste sie sich auf Psychoterror einstellen?
Endlich konnte sie ihre weiße Kluft mit ihrer Alltagskleidung vertauschen. Birgit berührte sie zum Abschied leicht am Oberarm.
„Nimm‘ dir die Sache nicht so zu Herzen, Süße. Vielleicht hat Julian es ja gar nicht getan.“
Aber es hörte sich nicht so an, als ob ihre Arbeitskollegin wirklich daran glauben würde. Und Saskia selbst tat es auch nicht.
„Ja, vielleicht“, murmelte sie höflichkeitshalber. „Danke, Birgit. Ich wünsche dir einen schönen Feierabend, wir sehen uns dann morgen.“
Saskia schloss ihr Fahrrad auf und schwang sich in den Sattel. Sie wohnte gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem verfluchten Bruder in der geräumigen weitläufigen Villa ihrer Großeltern, die sich am Waldrand befand. Das Haus war seit vielen Generationen in Familienbesitz. Saskias Ururgroßvater hatte einst eine Fabrik besessen, die aber schon vor dem Zweiten Weltkrieg in Konkurs gegangen war. Unternehmer waren die Kochs schon lange nicht mehr, Aber aus dieser Zeit stammte die Villa, die eigentlich für eine normale Familie viel zu groß war. Doch ihr Opa sah es als seine Aufgabe an, die geerbte Immobilie in Schuss zu halten und zu restaurieren. Deshalb bastelte er meist irgendwo herum, denn etwas von der alten Bausubstanz bröckelte ständig ab.
Saskia fuhr auf der Umgehungsstraße, als plötzlich ihr Smartphone klingelte. Automatisch nahm sie das Gespräch an, obwohl das Display eine unbekannte Nummer zeigte.
„Hallo?“
Einen Moment lang herrschte Stille, man hörte nur ein Rauschen. Saskia glaubte schon, einen Perversen in der Leitung zu haben. Da ertönte eine wohlbekannte Stimme.
„Ich bin es.“
Saskia wäre vor Schreck beinahe in den Straßengraben gefahren. Das war auch kein Wunder, denn ihr Bruder rief sie gerade an! Sie bremste, ihre Knie waren wieder butterweich. Saskias Herz raste, und sie konnte kaum einen Ton herausbringen.
„Julian! Wo bist du? Alle suchen dich.“
„Glaubst du, das weiß ich nicht? Was meinst du, weshalb ich mir ein neues Billighandy besorgt habe? Mit meinem Smartphone kann ich nicht mehr telefonieren. Die Bullen würden es sofort orten, wenn ich es einschalte.“
Daran hatte Saskia noch gar nicht gedacht. Sie war verblüfft darüber, dass ihr Bruder zu so einer vorausschauenden Überlegung fähig war. Aber dann überlagerte ihre heiße Wut jedes andere Gefühl.
„Du bist ja so clever!“, schrie sie ins Telefon. „Warum warst du nicht so klug, bevor du einen unschuldigen Menschen getötet hast?“
Für einen Moment herrschte wieder Schweigen. Saskia hörte nur, wie ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschte. Dann meldete sich ihr Bruder wieder zu Wort.
„Ist der echt tot?“
„Sie, Julian! Du hast eine junge Frau getötet, falls es dich interessiert. Warum hast du das nur getan?“
„Keine Ahnung. – Hör‘ zu, du musst mir helfen …“
Keine Ahnung. Das war genau die Antwort, die Saskia von ihrem Bruder erwartete. Er schaltete nie das Gehirn ein, bevor er etwas tat. So war es schon immer gewesen. Sie hätte nicht sagen können, weshalb er so viel anders tickte als sie selbst. Gewiss, Menschen waren nun einmal unterschiedlich.
Aber die Meisten wurden niemals zu Mördern.
„Nein, ich werde dir nicht helfen. Du musst dich der Polizei stellen, Julian. Sonst machst du alles nur noch schlimmer.“
Es war, als ob er nicht zugehört hätte. Aber auch das war nichts Neues für Saskia.
„Ich bin dein Bruder, okay? Du kannst mich doch nicht einfach hängenlassen. Außerdem war Andi auch dabei. Ich muss untertauchen, ich brauche mindestens 1.000 Euro.“
„Soll ich dir jetzt auch noch Geld dafür geben, dass du Mist gebaut hast?“
„Ich kann nicht in den Knast gehen, Saskia. Da gehe ich kaputt. Bringst du mir die Kohle um Mitternacht in die Tannenschonung? Ich warte dort auf der Lichtung.“
Saskia gab es ungern zu, aber in gewisser Weise hatte Julian recht. Er war eine Memme, ein Schwächling. Wenn die Zustände in den Gefängnissen wirklich so schlimm waren, wie man sagte, würde Saskias Bruder dort sehr leicht zum Opfer werden. Wollte sie das wirklich?
Julian spürte wahrscheinlich, dass sie weich wurde. So war es bisher immer gewesen.
„Du bist die Einzige, der ich vertraue. Kein Wort zu den Bullen, okay? Wir sehen uns dann um Mitternacht.“
Saskias Bruder beendete das Telefonat und ließ sie mit einem fürchterlichen Gewissenskonflikt zurück. Sie zog die Visitenkarte von Oberkommissar Lehmann aus der Tasche, drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern. Sie konnte den Kriminalisten einfach anrufen und die Polizei dann zum Treffpunkt führen. Julian würde buchstäblich ins offene Messer laufen, er hätte keine Chance.
Aber – wenn er es nun doch nicht gewesen war? Saskias Bruder hatte von Andi geredet. Damit konnte nur Andi Brauer gemeint gewesen sein. Dieser Typ war ein Sonderling, der in einem ausrangierten Bauwagen mitten im Wald lebte. Er war rund zehn Jahre älter als Julian. Saskia wusste nicht, was die beiden verband, wenn man von einer Vorliebe für Drogen absah. Andi war einmal in der Arztpraxis gewesen, weil er sich beim Holzhacken verletzt hatte. Saskia mochte den Kerl nicht, sie verabscheute seinen lauernden Blick und seine schleimige Art. Sie traute es auch Andi zu, einen Stein von der Autobahnbrücke zu werfen. Wieso war sie noch nicht früher darauf gekommen?
Ob sie Oberkommissar Lehmann einen Tipp geben sollte? Aber dann würde der Kriminalist wissen wollen, wie sie auf Andi kam. Und wenn dieser Freak nach seiner Verhaftung die ganze Schuld auf ihren Bruder abwälzte, sich vielleicht sogar als Tatzeuge aufspielte?
Nein, das war keine gute Idee. Nachdem sie eine Weile mit sich selbst gekämpft hatte, steckte Saskia die Visitenkarte wieder ein. Sie wendete ihr Fahrrad, kehrte in den Ortskern zurück und hob am Geldautomaten 1.000 Euro ab. Dafür musste sie tief in den Dispo tauchen, aber normalerweise machte sie ja keinen Schulden.
Als sie die Banknoten in ihre Tasche schob, fiel ihr ein, dass die Polizei womöglich schon ihr Konto überwachte. Oder sah sie jetzt schon Gespenster? Durften die Behörden das so einfach machen? Saskia wusste es nicht. Obwohl ihr Bruder schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, kannte sie sich mit den Rechten und Pflichten der Familienangehörigen von Straftätern nicht besonders gut aus. Saskia hatte immer versucht, ihre Augen vor diesem Teil der Wirklichkeit zu verschließen. Und sie hoffte, dass Julian irgendwann einmal zur Vernunft kommen würde.
Aber momentan sah es absolut nicht danach aus. Saskia verdrängte den Gedanken. Sie wollte jetzt nur noch nach Hause und sich am liebsten die Bettdecke über den Kopf ziehen. Doch als sie ihr Rad im Schuppen abgestellt hatte und die Villa durch die Vordertür betrat, wurde sie sofort von ihren Großeltern bestürmt.
Ihre Oma umarmte sie, und auch ihr Opa zog sie an sich, obwohl Kurt Koch normalerweise kein besonders gefühlsbetonter Mann war. Aber sie befanden sich eben alle in einer Ausnahmesituation.
Saskias Großmutter war zwar genau wie ihr Ehemann über siebzig Jahre alt, sah aber jünger aus. Marlies arbeitete ständig im Garten, das hielt sie offenbar fit. Sie schaute Saskia forschend an.
„Du bist ganz schön tapfer, Kleines. Es war gewiss nicht leicht, den heutigen Arbeitstag durchzustehen.“
„Die Leute müssen sich eben immer ihre Mäuler über ihre Mitmenschen zerreißen“, sagte Opa grimmig. „Dabei steht noch gar nicht fest, ob Julian wirklich für diese Abscheulichkeit verantwortlich ist. Es wäre am besten, wenn er bei den Behörden eine Aussage machen würde. Hast du etwas von ihm gehört?“
Die Frage war an Saskia gerichtet. Sie fühlte sich miserabel, weil sie ihren Großvater anlügen musste. Also beließ sie es bei einem energischen Kopfschütteln.
„Warum sollte sich Julian denn auch bei seiner Schwester melden?“, fragte Oma. „Er kann sich doch denken, dass die Polizei schon Kontakt zu uns aufgenommen hat.“
Saskia versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Wissen Mama und Papa eigentlich schon Bescheid?“
Kurt Koch nickte.
„Ich habe vorhin bei Manfred angerufen und ihm von dem … Verdacht erzählt. Jutta und mein Sohn wollen so schnell wie möglich zurückkehren. Wenn sie noch einen Flug erwischen, sind sie vielleicht morgen schon wieder in Löhrfelden. Das erfahren wir dann aber rechtzeitig.“
„Du musst jetzt etwas essen“, entschied Oma, während sie sich wieder an ihre Enkelin wandte. „Gerade in solchen Zeiten ist es wichtig, bei Kräften zu bleiben.“
Saskia protestierte nicht, obwohl sie überhaupt keinen Appetit hatte. Aber als sie dann in der Küche saß und Marlies ihre legendäre Gulaschsuppe servierte, langte Saskia doch zu. Nachdem sie ihren Teller brav leergegessen hatte, durfte sie auf ihr Zimmer gehen.
Saskia hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als ihr die Tränen kamen. Sie warf sich auf das Bett und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Dabei konnte sie gar nicht so genau sagen, was sie überhaupt traurig machte.
Eine junge Frau war gewaltsam und sinnlos ums Leben gekommen, so viel stand fest. Aber Saskia hatte das Opfer überhaupt nicht gekannt. Darum blieb ihr Bedauern abstrakt. Bei Julian lag die Sache anders. Er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass er jetzt in der Klemme steckte. Dabei spielte es eigentlich keine Rolle, ob nun Saskias Bruder oder dieser verflixte Andi den Stein geworfen hatte. Auf jeden Fall war der zweite Mann ein Mittäter. Man musste nicht Jura studiert haben, um diese Tatsache zu begreifen.
Saskia verachtete sich selbst dafür, dass sie ihrem Bruder helfen wollte. Weshalb war sie nur so weich? Warum konnte sie nicht Nein sagen, obwohl er durch seine eigene Schuld in der Tinte saß?
Saskia wollte über diese Frage nicht nachdenken. Sie schob sich ihre Ohrstöpsel ein und schaffte es einige Stunden lang, Musik zu hören. Ihre Gedanken ähnelten einem Ameisenhaufen. Kopfschmerzen stellten sich ein. Endlich war es beinahe Mitternacht. Die Tannenschonung befand sich keine zehn Minuten Fußweg von Saskias Elternhaus entfernt. Mit dem Fahrrad konnte man nicht gut dorthin gelangen, jedenfalls nicht in der Dunkelheit.
Saskia trug Jeans und ein blaues T-Shirt. Sie zog sich Tennisschuhe und einen dunklen Kapuzenpullover über. Leise öffnete sie ihre Zimmertür und lauschte. Nein, von ihren Großeltern war nichts mehr zu hören. Wahrscheinlich hatten sie sich schon in ihr Schlafgemach begeben. Ob sie noch wach waren?
Sie schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. So ein altes Haus „arbeitete“ eigentlich ständig. Als Teenager hatte Saskia eine Zeitlang gerne Horrorstories gelesen und sich in dem verwinkelten Gebäude entsprechend gefürchtet. Aber irgendwann hatte sie begriffen, dass ihr von dem Haus keine Gefahr drohen würde.
Nur von Menschen.
Saskia kannte sich bestens aus und konnte sich auch in der Dunkelheit fast geräuschlos bewegen. Sie schlüpfte durch die Hintertür nach draußen. Die kalte Nachtluft tat ihr gut. Hier am Ortsrand gab es keine Straßenbeleuchtung. Die Sterne am tintenschwarzen Nachthimmel blinkten nur umso heller.
Eine Taschenlampe hatte sie trotzdem mitgenommen. Saskia stieg über den Gartenzaun und verschwand wenig später im Unterholz. Ihr Orientierungssinn funktionierte bestens, aber dieser Wald war ihr auch fast so vertraut wie die Villa. In ihrer Kindheit hatte er für Saskia und Julian als Abenteuerspielplatz gedient.
Sie musste die Taschenlampe nur dann und wann aufblitzen lassen, während sie sich zwischen den Bäumen auf ihr Ziel zu bewegte. Obwohl Saskia sich selbst für einen Angsthasen hielt, fürchtete sie sich nicht nachts allein in dem dunklen Gehölz. Menschen versetzten sie in Panik, aber nicht die Natur.
Saskia atmete flacher, als sie die Lichtung betrat. Sie schaltete ihre Lampe nur ganz kurz an. Wenn Julian hier war, dann würde er jetzt wissen, dass sie gekommen war. Das Display ihres Smartphones zeigte 0.01 Uhr an. Sie war sehr pünktlich.
Aber ob ihr Bruder auch kommen würde? Sie hoffte nur, dass er diesen Andi nicht im Schlepptau hatte. In Gegenwart dieses Kerls fühlte Saskia sich immer unwohl. Und sie hoffte insgeheim, dass der Freak den Stein geworfen hatte.
Es raschelte im Gebüsch. Saskia führte sich vor Augen, dass auch jemand anders sich hier aufhalten konnte. Ein Triebtäter, beispielsweise. Und wenn so ein Sexmonster sich auf sie stürzte, dann waren zwar theoretisch ihre Schreie noch bis zu ihrem Elternhaus zu hören. Doch bis dann Hilfe eintraf, konnte ein Perverser sie in aller Ruhe vergewaltigen und umbringen.
Saskia begann zu zittern, als sie die Umrisse einer Gestalt im fahlen Mondlicht vor sich erblickte. Aber gleich darauf hörte sie Julians Stimme.
„Ich wusste, dass du kommen würdest.“
„Bilde dir bloß nichts ein!“, antwortete sie patzig. „Ist dir überhaupt klar, was ihr angerichtet habt?“
Saskia sagte nicht du, sondern ihr. Es fiel ihr leichter, die Schuld am Tod der jungen Frau auf zwei Personen zu verteilen. Es war, als ob die Verantwortung ihres Bruders dadurch geschmälert wurde. Aber im nächsten Moment erkannte Saskia, dass sie damit nur sich selbst etwas vormachte.
Julian druckste herum, er wollte offenbar nicht antworten. Sie zog das Geld hervor und drückte es ihm in die Hand.
„Danke.“ Dieses Wort quetschte er sich ab. „Ich wollte nicht, dass es so krass abgeht, echt.“
„Was dachtest du denn, was geschehen würde, wenn man einen Stein von einer Autobahnbrücke schmeißt?“
Diese Frage schwebte weiterhin im Raum, denn Julian reagierte nun nicht mehr. Saskia kannte ihn besser als die meisten Menschen auf der Welt. Und obwohl sie ihn nicht verstehen konnte, wusste sie doch genau, wie er tickte. Ihr Bruder dachte nicht nach, machte Unsinn, verwischte dann seine Spuren und versuchte, die Schuld auf andere abzuwälzen. So war es bisher immer gewesen.
„Ich mach‘ den langen Schuh“, sagte er schließlich. „Ich tauche erst mal in Frankreich oder Belgien unter, bis sich die Sache abgekühlt hat.“
„Wovon redest du überhaupt?“, fragte sie entgeistert. „Was für eine Sache, Julian? Sprichst du von dem Tod der jungen Frau? Mord verjährt nicht, dafür kann man dich auch in vierzig oder fünfzig Jahren noch belangen.“
„Echt?“
Saskias Ansage schien ihren Bruder zu überraschen. Aber es verwunderte sie nicht, dass er sich darüber keine Gedanken gemacht hatte. Julian war es egal, was übermorgen passierte. Warum sollte er sich dann über einen Zeitraum von fünfzig Jahren den Kopf zerbrechen?
„Hör‘ zu, ich bin dann mal weg. Ich melde mich bei dir, wenn ich in Sicherheit bin. Du bist echt cool, große Schwester.“
Mit diesen Worten drücke Julian sie kurz an sich, dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand in der Finsternis. Saskia blickte ihm nach. Sie war völlig sprachlos. Nicht ein einziges Wort des Bedauerns oder der Reue war über seine Lippen gekommen. Sollte ihr Bruder wirklich so ein gefühlloser Dreckskerl sein, der andere Menschen ohne Gewissensbisse töten konnte?
Saskia fühlte sich schrecklich, weil sie ihm auch noch Geld gegeben hatte. Wie sollte es nun weitergehen? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass man sie jetzt als Komplizin oder Mitwisserin ansehen konnte. Wäre es nicht das Beste, zur Polizei zu gehen und reinen Tisch zu machen?
Einige Momente lang blieb Saskia unschlüssig auf der Lichtung stehen, dann ging sie zu ihrem Elternhaus zurück. Inzwischen zweifelte sie nicht mehr daran, dass ihr Bruder der Mörder war.
„Julian! Julian war es!!!“
Der Schrei aus Andi Brauers Mund ging in einem Winseln unter, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Julian Kochs Kumpan saß auf einem Stuhl, konnte sich aber kaum rühren. Seine Arme und Beine waren mit Panzerband an dem Möbelstück fixiert worden. Und obwohl Andi soeben sehr laut gewesen war, konnte ihn kein Unbeteiligter hören. Der Stuhl stand nämlich in einem ehemaligen Lagerhaus, das sich inmitten einer Industriebrache befand.
Andi war hier allein mit Boris Dupic und dessen Freunden Gregor und Eric.
Das Blut tropfte von Andis gebrochenen Fingern auf den Boden. Dupic schwenkte die schwere Zange, die er in der Hand hielt, spielerisch hin und her. Der Killer konnte keine Genugtuung empfinden, obwohl es ein Kinderspiel gewesen war, diesen Versager zu kidnappen.
Dupic hatte mit Hilfe seiner Freunde nur wenige Stunden benötigt, um zumindest einen der beiden Täter einzufangen und zu verschleppen. In der Nähe dieser verfluchten Autobahnbrücke gab es nur ein Dorf, nämlich Löhrfelden. Dupic kannte den Dealer, der in diesem öden Landstrich der Hauptlieferant für Drogen aller Art war. Der Killer hatte ihn einfach nur nach seiner Meinung gefragt.
„Du kennst doch jede Menschenseele in diesem Kaff. Wem würdest du zutrauen, einen Stein von der Brücke zu schmeißen?“
Der Dealer hatte nicht lange überlegen müssen: „Die meisten Typen dort sind total bieder und haben Schiss vor den Bullen. Für mich kommen eigentlich nur Andi und Julian in Frage. Der Eine ist ein durchgeknallter Waldschrat, der Andere ein Vollpfosten, der nichts auf die Kette kriegt.“
Gregor und Eric hatten Andi gefunden und in diesen Unterschlupf von Dupic geschleift. Der Killer hatte sich auf seiner Fahrt hierher vergewissert, dass er nicht von der Polizei verfolgt wurde. Auch seine beiden Freunde hatten keine Aktivität der Ordnungsmacht feststellen können. Also gab es keine Hilfe, auf die der Freak hoffen konnte.
Dupic baute sich breitbeinig vor ihm auf. Dieses Wrack zitterte am ganzen Leib. Andi starrte auf die Zange, mit der Dupic ihm schon so viel Schmerz zugefügt hatte. Und er ahnte wahrscheinlich, dass seine Qualen noch nicht beendet waren.
„So, dann hat also dein Freund Julian den Stein geworfen?“
Andi nickte eifrig, antwortete mit krächzender Stimme.
„Ja, es war Julian. Das schwöre ich!“
„Und wo finde ich diesen Hurensohn?“
„Das weiß ich nicht, ich …“
Dupic ließ Andi nicht ausreden, sondern schlug ihm die schwere Zange ins Gesicht. Es knackte laut, als die Nase des Freaks brach. Nun floss das Blut nicht nur von seinen Händen aus auf den Boden, sondern sickerte auch aus seiner Nase auf sein Sweatshirt. Dupic zog unheilverkündend die Augenbrauen zusammen.
„Wir sind hier nicht in Disneyland! Glaubst du, ich lasse den Dreckskerl entkommen, der meine Braut getötet hat? Weißt du, warum Tatjana mit dem Wagen unterwegs war? Sie wollte ihr Kleid anprobieren, das sie für unsere Hochzeit ausgesucht hatte. Ich durfte es noch nicht sehen, es sollte eine Überraschung für mich werden. Sie sagte, es brächte Unglück, wenn ich es vor unserer Eheschließung anschaue. Unglück …“
Dupic ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Dann schlug er noch einmal zu.
„Es tut mir leid!“, jaulte Andi.
Der Killer grinste freudlos und wandte sich an seine Freunde.
„So, es tut ihm leid. Na, wenn das so ist, dann müssen wir ihn wohl gehen lassen. Oder was meint ihr?“
Gregor zuckte mit den Schultern.
„Es ist deine Show, Boris.“
„Ja, damit liegst du wohl richtig“, bestätigte Dupic.
„Julian wollte abhauen, wegen der Bullen“, sprudelte es aus Andi hervor. „Aber vielleicht hat er mich ja angelogen, keine Ahnung. Ich kann euch sagen, wo seine Familie lebt. Die Adresse ist Ahornweg 1 in Löhrfelden. Das Haus steht ganz dicht am Waldrand, da gibt es keine Nachbarn in der Nähe. Womöglich hat sich Julian dort im Keller verkrochen. Oder in einem Schuppen.“
„Soso, im Keller. Da sollten wir doch gleich mal nachschauen. Oder was meint ihr, Männer?“
Gregor nickte.
„Klingt nach einer guten Idee.“
„Und was machen wir mit dem Bastard?“, wollte Eric wissen.
„Ich werde dichthalten, darauf könnt ihr euch verlassen“, beteuerte Andi. Seine aufgeplatzte Unterlippe bebte, seine Augen waren blutunterlaufen.“
„Ja, du wirst dichthalten“, bestätigte Dupic. Dann zog er seine Pistole und erschoss den Gefesselten. Die Kugel drang in die Stirn. Andi kippte mitsamt dem Stuhl um. Der Killer wandte sich an seine Freunde.
„Ihr lasst die Leiche verschwinden, kapiert? Mit ein paar Gewichten an den Füßen wird sich der Wichser problemlos bei Nacht im Rhein versenken lassen.“
„Wird erledigt“, versicherte Gregor. „Und was machst du, Boris?“
Dupic schob die Pistole ins Clipholster am Gürtel zurück und reckte sich.
„Ich brauche dringend etwas Luftveränderung, mir ist nach einer kleinen Landpartie zumute. Löhrfelden soll ja sehr schön sein, wie man hört.“
Am nächsten Morgen wurde Saskia von Pressegeiern belästigt, als sie vor der Arztpraxis vom Fahrrad stieg. Irgendwie mussten die Sensationsjournalisten herausbekommen haben, dass einer der Hauptverdächtigen ihr Bruder war.
Immerhin hatte der Oberkommissar sie am Vortag in Anwesenheit von etlichen Patienten und ihren Kolleginnen nach Julian gefragt. Wenn auch nur einer von ihnen gegenüber den Medien geplaudert hatte, war dieser Auftrieb nur allzu nachvollziehbar.
„Wie fühlt man sich als Schwester eines Mörders?“
„Wo versteckt sich der Brückenteufel?“
„Was sagen Sie zu den Vorwürfen der Polizei?“
Die Fragen der Medienmeute prasselten auf Saskia herab. Die Worte trafen sie so hart wie Keulenschläge. Aber der Mob gab keine Ruhe. Sie presste die Fäuste gegen ihre Ohren und floh förmlich in die Praxisräume. Die Journaille wollte ihr folgen, aber Dr. Bruckner stellte sich den Reportern entgegen.
„Meine Praxis ist meinen Patienten und meinen Mitarbeitern vorbehalten. Sie haben hier nichts verloren. Gehen Sie bitte, oder ich rufe die Polizei.“
Die ruhige und bestimmte Art des Mediziners vertrieb die Sensationsjournalisten einstweilen. Saskia benötigte einige Minuten, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte.
„Wir wissen es zu schätzen, dass Sie trotz Ihrer schwierigen Situation Ihre Pflicht erfüllen“, sagte der Arzt zu ihr, und die Kolleginnen nickten zustimmend. „Wir werden alles tun, um wieder Normalität in Löhrfelden einziehen zu lassen.“
Saskia nickte und versuchte ein tapferes Lächeln, das aber wahrscheinlich eher einer Grimasse glich. Jedenfalls kam es ihr selbst so vor. Ja, auch sie wünschte sich nichts sehnlicher herbei als den ganz normalen Alltag. Aber momentan schien dieses Ziel in weite Ferne gerückt zu sein.
Nachdem Saskia noch einmal das Beruhigungsmittel bekommen hatte, konnte sie sich während der folgenden zwei Stunden halbwegs auf ihre Arbeit konzentrieren. Die neugierigen Blicke und geflüsterten Bemerkungen der Patienten überhörte sie einfach. Sie wünschte sich Scheuklappen, so wie Turnierpferde sie trugen.
Saskias Herz blieb beinahe stehen, als Oberkommissar Lehmann erneut die Praxis betrat. Diesmal wurde er nicht von Polizeiobermeister Schlösser begleitet. Der Kriminalist schaute sie forschend an und kam sofort zur Sache.
„Kannte Ihr Bruder einen gewissen Andreas Brauer?“
Saskia musste einen Moment lang nachdenken. Dann wurde ihr klar, dass Lehmann von Andi sprach.
„Sie meinen Andi, der in dem Bauwagen im Wald lebt? Ja, Julian kannte ihn. Aber das trifft auch auf mich zu, und auf alle anderen Löhrfeldener. Andi ist ein Einsiedler, ich weiß nicht viel über ihn. Aber warum sprechen Sie in der Vergangenheitsform von ihm?“
„Ich habe vorhin seine Behausung aufgesucht. Es gibt dort Hinweise auf einen Kampf, außerdem konnten wir Blutspuren entdecken. Wissen Sie, ob Ihr Bruder öfter mit Andreas Brauer Kontakt hatte? Gab es möglicherweise Streit zwischen den beiden Männern? Es könnte um Rauschgift gegangen sein. Betäubungsmittel sind ja Julian nicht völlig unbekannt, oder?“
Für Saskia wurde immer deutlicher, dass sich der Oberkommissar auf Julian als Täter eingeschossen hatte. Aber obwohl sie ebenfalls von dessen Schuld überzeugt war, glaubte sie, ihren Bruder verteidigen zu müssen.
„Warum suchen Sie Andi nicht? Er kann Ihnen Ihre Fragen bestimmt selbst beantworten. Ich habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Es können manchmal Monate vergehen, ohne dass man ihm in Löhrfelden begegnet.“
„Wir fahnden bereits nach Andreas Brauer, da können Sie unbesorgt sein, Frau Koch. Sie hatten nicht zufällig Kontakt zu Ihrem Bruder?“
Lehmann stellte die Frage mit einem so lauernden Unterton, dass Saskia sofort das Herz in die Hose rutschte. Ob die Polizei Julian observiert hatte und von dem Treffen im Wald wusste? Nein, das war unmöglich. Die Behörden suchten fieberhaft nach ihrem Bruder und hätten ihn gewiss längst verhaftet, wenn ihnen sein Aufenthaltsort bekannt gewesen wäre.
„Nein, ich weiß nicht, wo Julian sich aufhält.“
Und diese Aussage von Saskia war noch nicht einmal gelogen. Sie hätte natürlich dem Oberkommissar mitteilen können, dass sich ihr Bruder nach Frankreich oder Belgien absetzen wollte. Aber dann wäre sie sich wie eine Verräterin vorgekommen.
Lehmann wirkte ohnehin nicht so, als ob er ihr glauben würde.
„Nun gut, Frau Koch. Sie müssen wissen, was Sie tun. Ich bin sicher, dass wir sowohl Ihren Bruder als auch Andreas Brauer bald finden werden.“
Der Kriminalist drehte sich um und ging grußlos heraus. Die Information, die er hinterlassen hatte, trug allerdings nicht zu Saskias Beruhigung bei. Was hatten die Spuren in Andis Bauwagen zu bedeuten? Ob Julian auch den Freak umgebracht und die Leiche dann beseitigt hatte? Wollte er sich einen unliebsamen Mitwisser vom Hals schaffen?
Kaum waren Saskia diese Überlegungen in den Sinn gekommen, als sie sich selbst stoppte. Sie traute es ihrem Bruder durchaus zu, aus purer Dämlichkeit eine Frau durch einen Steinwurf zu töten. Das war eine Tat, die bestens zu Julians leichtfertigem Charakter passte. Aber ein eiskalter geplanter Mord an einem Freund oder Kumpel? Das war schon eine andere Hausnummer.
Doch wenn Julian Andi nicht getötet oder verletzt hatte, wer war es dann gewesen? Würde sich diese Person auch gegen ihren Bruder wenden?
Oder gegen Saskia selbst oder ihre Familie?
Auch dieser Horror-Arbeitstag ging irgendwann zu Ende.
Zu Saskias größter Erleichterung war die Medienmeute abgezogen, als sie nach Feierabend die Arztpraxis wieder verließ. Sie erwartete, dass die Journaille vor ihrem Elternhaus lauern würde. Aber zum Glück fehlte der Mob auch dort.
Saskias Oma hatte eine einleuchtende Erklärung dafür.
„Die Reporter haben uns tagsüber auch belagert. Kurt wollte schon mit dem Jagdgewehr nach draußen, ich konnte ihn gerade noch davon abhalten. Aber am frühen Nachmittag sind sie dann alle wie auf Kommando abgezogen. Die Erklärung hörten wir dann später im Radio. Ein Zeuge will Julian in einer Pension unweit der Grenze bei Aachen erkannt haben. Daraufhin hat sich die Karawane in die Richtung aufgemacht. Aber in den 18-Uhr-Nachrichten kam die Meldung, dass sich dieser Verdacht nicht bestätigt hätte. Womöglich haben wir die Bagage also morgen wieder am Hals.“
„Dann werden diese Dreckskerle schon eine passende Antwort von mir bekommen“, stieß Saskias Opa grollend hervor. „Was für eine Unverschämtheit, unschuldige Menschen zu belästigen.“
Da erklang plötzlich eine unbekannte Männerstimme.
„Unschuldig? Sie haben ein Monster großgezogen.“
Saskia erschrak beinahe zu Tode. Der Fremde musste durch die Tür aus Richtung Garten hereingekommen sein. Sie war meist unverschlossen, was sich nun als Fehler erwies. Der Mann hatte einen rasierten Schädel und einen dunklen Vollbart. Er trug Jeans und Lederjacke. Und obwohl er keine drohende Haltung einnahm, wirkte er auf Saskia unheimlich. Diese Reporter waren einfach nur lästig gewesen. Dieser Kerl kam ihr hingegen sehr gefährlich vor.
Auch ihre Großeltern waren von dem unerwünschten Besuch völlig überrascht worden. Kurt Koch sprach den Bärtigen an: „Was fällt Ihnen ein, so einfach in ein fremdes Haus einzudringen?“
Saskias Opa zeigte keine Angst, was sie beeindruckend fand. Ihrer Oma hingegen stand die Furcht ins Gesicht geschrieben, und ihr selbst ging es gewiss nicht anders. Darüber machte sich Saskia keine Illusionen.
Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Zugegeben, ich hätte nicht einfach hereinkommen sollen. Aber ich bezweifele, ob Sie mich in Ihr Haus gebeten hätten. Ich heiße Boris Dupic. Und ich bin der Verlobte von Tatjana Keller. Falls Ihnen der Name nichts sagt: So hieß die Frau, der von Ihrem Enkel der Schädel zertrümmert wurde.“
Ein leiser Schmerzenslaut drang aus Großmutters Kehle. In ihren Augen glänzten Tränen. Und auch Saskia fühlte sich miserabel. Sie empfand einerseits Mitleid, doch andererseits versetzte die pure Anwesenheit Dupics sie in Panik. Er sprach wie ein Roboter in einem Science-Fiction-Film. Sie hätte diesen Mann besser ertragen können, wenn er irgendeine Art von Gefühl gezeigt hätte. Es kam Saskia so vor, als ob bei ihm jede Empfindung abgestorben sei. Vor ihr stand jemand, der buchstäblich nichts mehr zu verlieren hat.
Opa atmete tief durch.
„Wir bedauern zutiefst, was geschehen ist. Aber noch gibt es keinen Beweis dafür, dass Julian etwas mit diesem schrecklichen Unglück zu tun hat.“
Dupic schüttelte den Kopf.
„Sie sprechen von einem Unglück, für die Polizei ist es Mord. Und wenn Ihr Enkel so unschuldig ist, dann kann er mir ja ins Gesicht sagen, was für eine Rolle er gespielt hat. Wo ist der Chorknabe? Haben Sie ihn vielleicht im Keller versteckt?“
Tatjana Kellers Verlobter drehte seinen mächtigen Schädel langsam hin und her, als ob er mit Röntgenblicken durch die Wände schauen könne.
„Nein, Julian hält sich nicht hier im Haus auf. Wir kennen seinen Aufenthaltsort nicht. Und ich muss Sie nun bitten, zu gehen“, sagte Kurt Koch. Aber es war, als ob Dupic nicht zugehört hätte. Er wandte sich nun an Saskia.
„Stimmt es, was dein Großvater sagt, Saskia? Hast du auch keine Ahnung, wo sich dein Bruder verkrochen hat? Hilfst du ihm vielleicht heimlich? Oder triffst du ihn auf dem Weg von deinem Zuhause zur Praxis von Dr. Bruckner? Ich weiß nämlich, wo du arbeitest. Und ich kenne auch die Namen und Adressen deiner Freundinnen.“
Es kam Saskia so vor, als ob plötzlich die Zeit stillstehen würde. Und einen verrückten Moment lang fragte sie sich, ob Dupic sie durchschaut hatte. Aber er konnte doch unmöglich wissen, dass sie sich mit Julian getroffen hatte! Oder?
Opas Stimme riss Saskia aus ihren Grübeleien.
„Sie drohen meiner Enkelin nicht, kapiert? Gehen Sie jetzt endlich, oder ich rufe die Polizei!“
Dupic hob beschwichtigend die Handflächen und grinste breit.
„Schon gut, ich verschwinde. Aber Sie sollten mir nicht drohen. Wenn Sie einen Verbrecher decken, machen Sie sich nämlich mitschuldig.“
Der unheimliche Kerl drehte sich um und verließ das Haus. Saskia fand es bemerkenswert, dass ein so großer und schwerer Mann sich fast lautlos bewegen konnte. Wenn er sich einmal an sie heranschleichen sollte, würde sie ihn wahrscheinlich nicht rechtzeitig hören.
Sie schüttelte sich, um diesen Gedankengang abzustreifen.
„Warst du nicht zu hart, Kurt?“, fragte Oma, die sichtlich um Fassung rang. „Immerhin hat der Ärmste seine Braut verloren. Er ist gewiss vor lauter Leid und Schmerz außer sich.“
„Das gibt ihm aber noch lange nicht das Recht, uns zu bedrohen!“, betonte Großvater. „Glaub‘ mir, ich kenne die Sorte. Dupic ist ein Gewaltmensch, der darauf baut, seine Umgebung einzuschüchtern. Ich hatte solche Typen auch in meiner Einheit. Man darf sich gar nicht erst von ihnen das Handeln diktieren lassen, sonst hat man verloren. Bei uns kamen diese Kerle schon bei der kleinsten Verfehlung vor ein Truppendienstgericht. Das hat immer geholfen.“
Opa war vor seiner Pensionierung Oberst bei der Bundeswehr gewesen. Es beruhigte Saskia, ihn in ihrer Nähe zu haben. Auf einen anderen Schutz konnte sie sich offenbar nicht verlassen. Ihr Blick schweifte zu Rowdy, dem irischen Wolfshund der Familie. Er hatte Dupics Besuch aus sicherer Entfernung verfolgt, während er weiterhin in seiner gewohnten Ecke lag und noch nicht einmal angeschlagen hatte.
Es war, als ob ihr Großvater Saskias Gedanken gelesen hätte.
„Rowdy ist kein Hund, sondern ein Teddybär. Ich fürchte, für die Bewachung unseres Hauses ist er denkbar ungeeignet. Bitte schließt ab sofort alle Türen ab und lasst kein Fenster unbeaufsichtigt offenstehen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Dupic nicht so leicht aufgeben wird.“
Saskia begriff allmählich, was Opas Worte zu bedeuten hatten. Und sie spürte, dass ihre Angst allmählich durch Zorn überlagert wurde. Das war ein sehr gutes Gefühl.
„Also müssen wir uns vor Dupic verkriechen? Und wie lange soll das so weitergehen? Wir können uns nicht darauf verlassen, dass Julian irgendwann wieder auftaucht.“
„Der kommt schon zurück“, meinte Kurt Koch. „Er hat schließlich kein Geld.“
Saskia lag die Bemerkung auf der Zunge, dass man sich mit 1.000 Euro schon einige Zeit über Wasser halten konnte. Aber sie konnte sich gerade noch rechtzeitig zurückhalten, bevor ihr dieser Satz herausrutschte.
„Wir müssen die Polizei benachrichtigen“, entschied Großvater. „Die Beamten sollten wissen, dass wir von diesem Dupic belästigt wurden.“
„Ist das denn wirklich notwendig?“, fragte Oma. Sie zauderte. „Der Mann ist doch schon gestraft genug dadurch, dass seine Braut … verstorben ist.“
Opa schüttelte den Kopf, während er seine Schuhe anzog.
„Es ist eine Frage des Prinzips, Marlies. Wenn du solchen Menschen gegenüber eine Schwäche zeigst, hast du keine Chance mehr. Dupic muss verstehen, dass wir uns von ihm nicht terrorisieren lassen.“
„Ich habe aber Angst, wenn du fortgehst!“, platzte Oma heraus.
„Aber es dauert nur ein paar Minuten, und Saskia bleibt doch daheim, nicht wahr? Und dann ist da auch noch Rowdy.“
Allerdings waren weder Kurt Kochs Enkelin noch der lammfromme Wolfshund im Ernstfall ein brauchbarer Schutz. Das musste auch Saskias Opa klargeworden sein, noch während er sprach.
Da ergriff Saskia die Initiative.
„Ich könnte zur Polizeistation fahren“, bot sie an.
„Und wenn wir einfach nur dort anrufen?“, wandte ihre Großmutter ein.
„Das funktioniert nicht“, erklärte Opa. „Wenn wir Dupic wegen Hausfriedensbruch anzeigen, dann muss man die Strafanzeige auch unterschreiben.“
Über diese Konsequenz hatte sich Saskia noch gar keine Gedanken gemacht. Wenn dieser unheimliche Gewaltmensch erfuhr, dass sie ihn bei den Behörden angeschwärzt hatte, dann würde sie noch mehr von seinem Hass auf sich ziehen. Falls das überhaupt möglich war. Aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.
Obwohl Saskia von dem Besuch des Schwarzbarts immer noch weiche Knie hatte, griff sie zu ihrer Jacke.
„Ich erzähle den Polizisten, was geschehen ist und kehre gleich zurück.“
„Sei vorsichtig, Kind“, mahnte ihre Oma. Dann trat Saskia durch die Vordertür in den großen unübersichtlichen Garten. Sie zögerte einen Moment lang. Wenn sich nun Dupic hinter einem der großen Apfelbäume verbarg, um ihr den Hals umzudrehen?
Es dämmerte bereits, die Schatten wurden länger. Hatte sich gerade jemand hinter die Zierhecke an der westlichen Gartenseite geduckt? Saskia erkannte, dass sie hysterisch zu werden drohte. Sie zwang sich dazu, einfach nur ihr Fahrrad aus dem Schuppen zu holen. Dann aktivierte sie die Fahrradlampe und trat kräftig in die Pedale. Auf der schmalen Asphaltstraße am Ortsrand war sie zunächst ganz allein. Nur ihr Radlicht bewegte sich wie ein fahler heller Balken vor ihr her.
Es waren mit dem Rad höchstens sechs oder sieben Minuten bis zur Polizeistation. An der Kreuzung mit dem Adenauerring bog plötzlich ein Auto hinter ihr ab. Saskia warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Sie hatte den Wagen noch nie zuvor gesehen. Es war ein fetter dunkler SUV mit getönten Scheiben. Genau so ein Auto passte ihrer Meinung nach zu Dupic. Ob der Mann wirklich hinter dem Lenkrad saß? Erkennen konnte sie nichts. Es wäre sehr einfach, Saskia zu rammen und zu überfahren. Weit und breit war keine Hilfe in Sicht.
Saskia wurde schneller, trat aus Leibeskräften. Aber gegen die PS-starke Maschine hatte sie keine Chance. Der Motor heulte auf, die SUV-Scheinwerfer ließen Saskias Umgebung plötzlich taghell erscheinen. Das Licht blendete sie. Es war viel heller als das ihrer Radleuchte.
Sie presste die Lippen aufeinander, erwartete den Zusammenstoß, den unvermeidlichen Schmerz.
Aber das geschah nicht. Stattdessen überholte der SUV sie mit dem vorschriftsmäßigen Sicherheitsabstand. Der Fahrer setzte den Blinker und bog bei der Tankstelle an der Rheingaustraße nach links ab. Wenig später war das Auto verschwunden wie ein böser Traum.
Saskias Hände schmerzten, weil sie ihre Finger so fest um den Lenker gekrampft hatte. Ihr Herz raste, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie führte sich vor Augen, dass es nicht den geringsten Beweis dafür gab, dass Dupic in dem SUV gesessen hatte. Das Nummernschild war nicht zu erkennen gewesen, der Überholvorgang hatte ja nur wenige Sekunden gedauert.
Mach dich nicht verrückt! Sagte sie zu sich selbst. Saskia beobachtete ihre Umgebung genau. Aber sie konnte das Fahrzeug nirgendwo mehr entdecken. Wenig später hatte sie endlich die kleine Polizeistation von Löhrfelden erreicht.
Als Saskia das Wachlokal betrat, erblickte sie sofort Polizeiobermeister Schlösser. Er nickte und warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Guten Abend, Frau Koch. Haben Sie etwas von Ihrem Bruder gehört?“
Sie schüttelte den Kopf. Nach wie vor hatte sie ein mulmiges Gefühl dabei, die Ordnungsmacht zu belügen. Aber wenn sie die Wahrheit sagte, konnte sie sich auf eine Anklage wegen Beihilfe gefasst machen.
„Nein. Aber ich möchte jemanden wegen Hausfriedensbruchs anzeigen“, erwiderte sie mit fester Stimme. Dann berichtete sie dem Beamten von dem unerwünschten Besuch durch Dupic. Schlösser schrieb mit.
„So, dann hat sich also Dupic bei Ihnen gemeldet …“
Saskias Herzschlag beschleunigte sich noch weiter.
„Dieser Name sagt Ihnen etwas, nicht wahr? Ist dieser Mann gefährlich? Hat er Vorstrafen?“
„Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Ich habe die Anzeige aufgenommen, Frau Koch. Lesen Sie sich bitte die Angaben noch einmal durch und unterschreiben Sie dann dort unten.“
Saskia überflog die Zeilen und versah das Blatt Papier schließlich mit ihrem Namen. Dabei fühlte sie sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Und sie wunderte sich auch nicht darüber, dass ihre Hand zitterte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Wie geht es jetzt weiter, Herr Schlösser?“
„Da Boris Dupic in Köln wohnhaft ist, werde ich mich mit den dortigen Kollegen in Verbindung setzen. Dann bekommt der Beschuldigte Post von der Staatsanwaltschaft und wird zur Vernehmung aufs Präsidium vorgeladen.“
„Das ist alles?“ Saskia konnte es nicht glauben. „Dieser Mann hat uns bedroht! Bekommen wir keinen Polizeischutz?“
„Hat Boris Dupic eine konkrete Morddrohung gegen Sie oder Ihre Verwandten ausgesprochen? Wurde er gewalttätig, nachdem Ihr Großvater ihn des Hauses verwiesen hat?“
„Das nicht, aber …“
Saskia wollte sagen, dass ihr allein schon die Anwesenheit von Dupic Übelkeit verursacht hatte. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Polizeiobermeister sich von solchen Gefühlen beeindrucken ließ. Außerdem musste sie einräumen, dass er nur seinen Job machte. Objektiv gesehen wäre es völlig übertrieben gewesen, die Villa durch mehrere bewaffnete Beamte schützen zu lassen. Und doch hatte sich Saskia genau das gewünscht.
Sie hatte ihren Satz nicht beendet und bemerkte, dass der Dorfpolizist sie immer noch forschend anschaute.
„Es wäre am besten, wenn sich Julian stellen würde, nicht wahr?“
„Sie sagen es, Frau Koch. Ich kenne Sie und Ihren Bruder jetzt schon seit vielen Jahren. Sie waren immer die Vernünftige und Julian der Traumtänzer. Sie haben doch gewiss noch Einfluss auf ihn, immerhin sind Sie seine große Schwester. Bewegen Sie ihn bitte zum Aufgeben, falls er Kontakt mit Ihnen aufnimmt. Je länger Julian sich der Festnahme entzieht, desto schlimmer wird seine Situation.“ Schlösser machte eine kurze Pause, bevor er weiterredete: „Und in der Untersuchungshaft können wir Ihren Bruder vor Dupic schützen. Das ist nicht möglich, wenn er auf sich allein gestellt durch die Welt geistert.“
Saskias Kehle fühlte sich völlig ausgetrocknet an. Dennoch schaffte sie es, einen Satz hervorzubringen.
„Dupic will Julian töten, nicht wahr?“
„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Oberkommissar Lehmann kennt den Bräutigam des Opfers viel besser als ich. Aber er hält Dupic ganz gewiss nicht für einen unschuldigen Chorknaben.“
Darüber hätte sich Saskia auch sehr gewundert. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig als sich zu bedanken und nach Hause zurückzukehren. Auf dem kurzen Weg zur Villa drehte sie sich mindestens ein Dutzend Mal um.
Saskia berichtete ihren Großeltern von dem Besuch auf der Polizeiwache. Dabei versuchte sie, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Immerhin hatte sie sich getraut, die Anzeige aufzugeben. Deshalb war sie ein wenig stolz auf sich. Die Frage war nur, ob es überhaupt etwas nutzen würde.
Plötzlich wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit übermannt. Der Psychostress forderte nun in Form von körperlicher Erschöpfung seinen Tribut.
„Ich haue mich aufs Ohr, ich wünsche euch eine gute Nacht“, sagte sie zu Oma und Opa. Marlies versuchte, Saskia zu einem späten Abendessen zu überreden, aber sie lehnte dankend ab. Saskia bekam jetzt wirklich keinen Bissen mehr herunter. Sie wollte nur noch die Augen schließen und die bedrohliche Welt um sie herum für einige Stunden vergessen.
Nachdem sie sich ausgezogen und nachtfertig gemacht hatte, löschte sie die Lampe neben ihm Bett und zog sich die Zudecke bis an die Kinnspitze.
Aber der ersehnte Schlaf blieb zunächst aus.
Leise TV-Geräusche zeugten davon, dass die Großeltern sich noch im Wohnzimmer aufhielten. Sie würden vermutlich die Nachrichten schauen. Ob die Kriege, Krisen und Konflikte aus aller Welt sie von den eigenen Sorgen und Problemen ablenken konnten? Saskia hatte daran ihre Zweifel. Und sie war hundertprozentig sicher, dass es für kaum einen Menschen auf der Welt etwas Dringenderes gab als den Schutz der eigenen Familie vor Bedrohungen.
Und zu dieser Familie zählte in ihrem Fall Julian. Auch, wenn sie es eigentlich nicht wahrhaben wollte. Immer wieder grübelte sie über die Frage nach, warum er den Stein geworfen hatte. Aber eigentlich war es Zeitverschwendung, solche Überlegungen anzustellen. Julian tat viele Dinge, die er selbst nicht überzeugend erklären konnte.
Das war ja das Grundproblem seines Lebens, und er …
Ein seltsamer Ton unterbrach Saskias Gedankengang. Er kam von irgendwo her, aber nicht aus dem Wohnzimmer. Sie lebte in einem großen und unübersichtlichen Haus. Höchstens die Hälfte der Räume wurde überhaupt von Saskia und ihrer Familie regelmäßig benutzt. Das kam ihr nun wie ein großer Fehler vor, der sich rächen konnte.
Für einen Menschen mit großer krimineller Energie war es ein Leichtes, in diese uralte und verschachtelt gebaute Villa einzudringen. Dann konnte der Verbrecher sich in aller Ruhe in einem der unbewohnten Zimmer verbergen. Und zwar so lange, bis alle Hausbewohner ihre Tiefschlafphase hatten und völlig hilflos waren. Das war dann für den Eindringling der beste Zeitpunkt, um aktiv zu werden. Er konnte aufbrechen und mit seinem Messer …
Saskia versuchte, nicht in Panik zu geraten. Es gab keinen Beweis dafür, dass sich jetzt überhaupt ein Fremder in ihrem Elternhaus herumtrieb. Sicher, Dupics plötzliches Auftauchen hatte sie durcheinander gebracht. Und dann dieser dunkle SUV, der sie scheinbar verfolgte. Saskia war froh, dass sie ihren Großeltern nichts von dem Fahrzeug erzählt hatte. Sie wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Es reichte schon, wenn ihre eigenen Nerven blank lagen. Saskia drehte sich auf die andere Seite. Sie zwang sich zu ruhigem Atmen. Und wirklich gelang es ihr, nach einiger Zeit einzuschlafen.
Als sie aus dem Schlaf schreckte, war das Gefühl von Beklemmung nur noch größer geworden. Nun herrschte Totenstille im Haus, aber das fand Saskia keineswegs beruhigend. Es kam ihr so vor, als ob sie die einzige lebende Person innerhalb dieser vier Wände wäre. Sie hatte schlecht geträumt, konnte sich aber nur noch bruchstückhaft daran erinnern. Es hatte in ihrem Nachtmahr Marmorsäulen gegeben, so wie in der griechischen oder römischen Antike. Und eine dieser Säulen war aus irgendeinem Grund umgestürzt. Quälend langsam war der mächtige Steinzylinder umgefallen. Saskia hatte in ihrem Traum weglaufen wollen, aber es gab keine Chance für sie. Wie gelähmt hatte sie zusehen müssen, wie die Säule auf sie stürzte, um sie zu zermalmen.
Aber jetzt war Saskia wach. Sollte sie sich wirklich darüber freuen? Sie horchte konzentriert, und schließlich glaubte sie, ein regelmäßiges Geräusch vernehmen zu können. Schritte. Im ersten Moment hoffte Saskia, dass ihre eigene Einbildungskraft ihr einen Streich spielen würde. Außerdem klopfte ihr Herz so laut, dass ihr Urteilsvermögen durch diese Töne beeinträchtigt wurde.
Nein, es war keine Illusion.
Das leise Knistern des Kokosläufers auf dem Korridor war unverkennbar. Es entstand immer dann, wenn sich jemand den Flur entlang bewegte. Saskia schaute zu ihrer Zimmertür. Wenn das Licht nachts draußen eingeschaltet wurde, war ein schmaler heller Balken unter der Tür zu sehen. Aber jetzt konnte sie nichts dergleichen erkennen. Wer immer über den Korridor schlich, tat es in absoluter Finsternis.
Aber wer braucht schon heutzutage eine Lampe, sagte sich Saskia. Wozu gibt es Nachtsichtgeräte?
Wer allerdings mit einem solchen Apparat vor den Augen durch ein fremdes Haus ging, führte gewiss nichts Gutes im Schild. Wer benutzte denn schließlich diese Vorrichtungen? Die Polizei, Jäger – und Verbrecher.
Saskia konnte sich lebhaft vorstellen, wer sich momentan in ihrem Elternhaus zu schaffen machte. Dupic musste zurückgekehrt sein. Er hatte ja schon einmal bewiesen, dass er keine Hemmungen hatte, in fremde Räume einzudringen. Und dass alle Türen und Fenster sorgfältig verschlossen worden waren, konnte Saskia auch nicht wirklich trösten. Sie glaubte nicht, dass sich ein Mann wie Dupic dadurch stoppen ließ.
Was sollte sie nur tun?
Zum Glück hatte sie ihr Smartphone bei sich, und es war aufgeladen. Sie konnte im Handumdrehen die Notrufnummer wählen, dann würde die Polizei anrücken.
Wirklich?
Trotz ihrer immer größer werdenden Angst zwang sich Saskia zu einer genauen Überlegung. Was würde geschehen? Die Polizeistation von Löhrfelden war nachts unbesetzt, wie es in vielen kleinen Gemeinden der Fall war. Also musste der Streifenwagen aus der Kreisstadt anrücken, wo sich die nächste größere Revierwache befand. Das konnte dauern. Saskia erinnerte sich mit Schaudern an eine Massenschlägerei, die es beim Schützenfest im vorigen Jahr gegeben hatte. Damals hatte es zwanzig Minuten gedauert, bis die Beamten angerückt waren und die Streithähne trennen konnten. Und da war es nur um ein paar betrunkene Jugendliche gegangen.
Und nicht um einen Mann von Dupics Kaliber.
Saskia erkannte, dass ein Notruf keine wirkliche Hilfe versprach. Im Gegenteil. Wenn der Eindringling mitbekam, dass die Polizei verständigt wurde, geriet er womöglich in Stress. Und dann tötete er die Großeltern und Saskia …
An dieser Stelle brach ihr gruseliges Kopfkino ab. Es war ja auch möglich, dass Oma und Opa schon tot waren. Jetzt blieb nur noch sie selbst übrig, dann hatte Dupic ganze Arbeit geleistet.
Ein lautes Klingeln durchbrach die Stille.
Saskias Herz blieb beinahe stehen. Es war ihr eigenes Smartphone, das sich lautstark bemerkbar machte. Der Fremde auf dem Flur konnte es unmöglich überhört haben. Mit zitternden Fingern griff Saskia nach dem Gerät, nahm das Gespräch an.
„Hey, Schwesterherz. Sorry, dass ich mich nicht früher melden konnte.“
„Julian!“ Saskia flüsterte den Namen. „Du musst dich unbedingt stellen. Wegen dir sind wir in akuter Lebensgefahr!“
„Chill mal, Saskia. Was stresst du denn so herum? Haben die Bullen dich durch die Mangel gedreht?“
„Nein, die Polizei ist mein geringstes Problem.“ Saskia versuchte, so leise wie möglich zu sprechen. „Die Frau, die du umgebracht hast – ihr Verlobter war hier. Er hat uns gedroht.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Im Hintergrund war ein unbestimmbares Rauschen zu hören. Ob es von dem vorbeifließenden Verkehr einer Autobahn stammte? Saskia wusste es nicht.
„Kannst du nicht etwas lauter sprechen? Ich verstehe dich kaum, Schwesterherz.“
„Nein, das kann ich nicht. Dieser Typ – er heißt Dupic – ist wahrscheinlich gerade hier im Haus, um uns allen die Kehlen durchzuschneiden.“
Trotz ihrer Panik begriff Saskia, dass sie sich sehr hysterisch anhören musste. Aber das war auch kein Wunder, wie sie selbst fand. Sie rechnete jeden Moment damit, dass Dupic in ihr Zimmer stürmte. Momentan war von ihm allerdings noch nichts zu sehen. Wahrscheinlich presste er sein Ohr von außen gegen das Türholz, damit ihm kein einziges Wort entging.
„Du drehst echt am Rad, oder? Ich kann nicht zu den Bullen gehen, ich will nicht in den Knast. Keinen Schimmer, wie es weitergehen soll. Kannst du mir nicht noch ein bisschen mehr Kohle rüberwachsen lassen?“
„Nein, das kann ich nicht!“, zischte Saskia wütend. „Du hast Mist gebaut, und wir müssen es ausbaden! Vielen Dank auch!“
Sie drückte das Gespräch weg. Ihr Herz raste, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Eigentlich war Saskia die Ruhe selbst. In ihrem Job hatte sie es oft mit schwierigen Patienten zu tun, da durfte sie nicht so leicht die Nerven verlieren. Und das tat sie auch nicht. Wegen ihres freundlichen und mitfühlenden Wesens war sie in der Praxis von Dr. Bruckner sehr beliebt.
Aber in diesem Moment hatte der Groll Saskia fest im Griff. Sie hätte ihrem Bruder den Hals umdrehen können. Julian zeigte kein Schuldbewusstsein und dachte nur daran, wie er seinen eigenen Hals aus der Schlinge ziehen konnte. Was für ein mieser Egoist!
Nun bereute Saskia, dass sie sich wieder einmal hatte breitschlagen lassen. Die tausend Euro würde sie sowieso nie wiedersehen. Aber das war jetzt nicht so schlimm. Viel ernster war die Bedrohung durch …
Saskia hob den Kopf und horchte erneut. Während des Telefonats mit Julian hatte sie nicht mehr auf Geräusche im Haus achten können. Nun hörte sie nichts mehr vor ihrer Tür. Trotzdem war sie nicht beruhigt.
Ob sie es riskieren sollte, hinaus auf den Flur zu gehen? Wenn sie es nicht tat, würde sie die ganze Nacht lang kein Auge zutun können. Und wenn Dupic wirklich in die Villa eingedrungen war, dann hätte er schon längst zugeschlagen. Sie musste sich einfach vergewissern.
Saskia erhob sich von der Bettkante und schlich auf leisen Sohlen zur Zimmertür. Sie hatte sich getraut, ihre Nachttischlampe einzuschalten. Einen Moment lang zögerte sie noch, dann riss sie die Tür auf.
Ein Lichtbalken fiel aus ihrem Zimmer nach draußen.
Aber dort war niemand zu sehen. Und es deutete auch nichts darauf hin, dass jemand im Haus gewesen war. Oder? Saskia schnüffelte. Sie glaubte, ein teures Herren-Parfüm zu riechen. Opa benutzte einen solchen Duft nicht. Doch selbst wenn er das getan hätte – Kurt Koch würde sich gewiss nicht eindieseln, um nachts durch das Haus zu laufen.
Saskia war inzwischen so durcheinander, dass sie sich noch nicht einmal mehr auf ihren eigenen Geruchssinn verließ. Sie hatte sich den Einbruch gewiss nur eingebildet. Das redete sie sich zumindest ein.
Doch Julians Anruf war nur allzu real gewesen.
Saskia kehrte in ihr Zimmer und ihr Bett zurück. Irgendwie gelang es ihr, wieder einzuschlafen. Am nächsten Morgen wurde sie durch ihren Wecker aus dem Tiefschlaf gerissen. Sie wachte mit leichten Kopfschmerzen auf, aber nach einer Dusche fühlte sie sich besser. Saskia stellte die Kaffeemaschine an und ging hinaus, um mit Rowdy eine kleine Runde zu drehen. Das Gassigehen gehörte zu ihren Morgenritualen, die sie bei Wind und Wetter beibehielt.
Normalerweise wartete der Hund schon in der Diele auf sie. Aber an diesem Tag nicht.
„Rowdy!“, rief sie und schlug mit der flachen Hand gegen ihren Oberschenkel. „Wo bist du, Tollpatsch?“
Es kam keine Antwort. Saskias unbestimmtes Bedrohungsgefühl kehrte zurück. Sie riss die Haustür auf, sprang die drei Steinstufen hinab in den großen unübersichtlichen Garten. Sie musste nicht lange suchen, um den Hund zu finden.
Rowdy lag an der hinteren Schmalseite des Gartenzauns inmitten einer getrockneten Blutlache. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.
Saskia befand sich in einem Schockzustand. Zum Glück kam Opa wenig später zu ihr. Als er sie ansprach, fand sie allmählich in die Wirklichkeit zurück. Sie konnte sich von dem Anblick des toten Rowdy lösen. Nun erst spürte sie, dass Tränen über ihre Wangen rannen.
„Wer immer das getan hat, wird dafür bezahlen!“, sagte Kurt Koch mit harter Stimme. „Komm‘ erst mal rein und trink einen Kaffee, mein Kind. Du bist ja völlig außer dir.“
„Rowdy …“, stammelte Saskia. „Wir können ihn doch nicht einfach hier so liegenlassen.“
„Doch, jedenfalls einstweilen. Die Polizei muss Spuren sichern, verstehst du?“
Saskia war nicht sicher, ob sie irgendetwas begriff. Abgesehen von der Tatsache, dass Rowdy tot war. Die Sanftmütigkeit des großen Hundes war ihm offenbar zum Verhängnis geworden. Ein Mastiff, Pitbull oder Ridgeback hätte sich vermutlich nicht ohne Gegenwehr abschlachten lassen. Aber vielleicht war das Tier auch nur völlig überrumpelt worden.
Opa kehrte ins Haus zurück. Wenig später ertönte ein qualvoller Schrei aus Omas Kehle. Offenbar hatte er seiner Frau gesagt, was geschehen war. Saskia stand immer noch auf demselben Fleck, als ihr Großvater zurückkehrte. Sie war unfähig, sich zu rühren.
„Die Polizei ist auf dem Weg. Außerdem habe ich mir erlaubt, in der Praxis anzurufen. Dr. Bruckner lässt dir ausrichten, dass er dir frei gibt, bis sich die Wogen geglättet haben. Und er wünscht dir und uns allen viel Kraft in dieser schweren Zeit.“
Saskia war Kurt Koch insgeheim dankbar dafür, dass er die Initiative ergriffen hatte. Sie selbst hätte sich nicht getraut, einfach um Urlaubstage zu bitten. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie jetzt wirklich nicht die nötige Konzentration aufbringen konnte. Wie sollte sie sich um Patientenakten und Blutbilder kümmern, wenn das Leben ihrer Familie und ihr eigenes bedroht wurden?
Dupic hatte sich nachts im Haus umgesehen. Das stand für Saskia fest. Die Frage war nur, weshalb er sich noch nicht an ihr und ihren Großeltern vergriffen hatte. Sollte das Massaker an Rowdy nur als eine düstere Warnung dienen? Oder hatte der Killer nach Julian gesucht? Diese Erklärung kam ihr viel einleuchtender vor. Dupic wollte sich vor allem ihren Bruder vorknöpfen, der Rest ihrer Familie interessierte ihn wahrscheinlich weniger. Schließlich waren es nicht Oma, Opa oder Saskia gewesen, die den verfluchten Stein von der Brücke geworfen hatten.
Sie presste ihre Fäuste gegen die Schläfen. Warum hatte Julian nur diesen tödlichen Unsinn verzapft? Saskia wurde wirklich nicht schlau aus ihm. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit kam der Streifenwagen. Polizeiobermeister Schlösser und Polizeimeisterin Anja Köhler redeten zunächst mit Opa. Saskia war ein Stück weit weggegangen, sie wollte einen Moment Ruhe haben. Unschlüssig zupfte sie an den Heckenrosen herum, bis sie Schritte hörte. Anja Köhler kam auf sie zu. Saskia kannte die junge Polizistin seit Jahren, sie war im Nachbarort aufgewachsen. Daher duzten sich die beiden Frauen.
„Wir haben die Anzeige aufgenommen, Saskia. Hast du jemanden um euer Haus herumschleichen sehen? Gibt es einen Verdacht, wer euren Hund getötet haben könnte?“
„Es war Dupic, wer soll es denn sonst gewesen sein?“, platzte Saskia gereizt heraus. Anja Köhler hakte nach.
„Hast du diesen Mann in der Nähe bemerkt? Oder hat er damit gedroht, euren Hund umzubringen?“
Saskia ließ die Schultern hängen und schüttelte den Kopf.
„Nein, aber – er brennt auf Rache. Dupic weiß, dass Julian … er macht meinen Bruder für diesen schrecklichen Unfall verantwortlich. Habt ihr schon eine Spur von Julian?“
„Darüber darf ich dir keine Auskunft geben.“
Saskia musste sich eine patzige Antwort verkneifen. Ihr war ja bewusst, dass Anja Köhler und ihre Kollegen nur ihren Job machten. Aber es war ein beklemmendes Gefühl, von der Polizei nicht richtig beschützt werden zu können. Saskia fasste sich ein Herz und erzählte Anja Köhler von den nächtlichen Geräuschen im Haus. Die Polizistin horchte auf. Sie ging zu Schlösser hinüber. Daraufhin begannen die beiden Beamten, die Türen und Fenster der Villa genau zu untersuchen. Schließlich schüttelte der Polizeiobermeister den Kopf.
„Es lassen sich nirgendwo Einbruchspuren erkennen.“
Darüber wunderte sich Saskia überhaupt nicht. Wer so raffiniert vorging wie Dupic, der würde gewiss nicht mit einem Brecheisen arbeiten. Und wahrscheinlich hatte dieser Mann für die gesamte Nacht ein wasserdichtes Alibi.
„Ich muss mir wohl eingebildet haben, dass jemand in unserem Haus war“, brachte Saskia schließlich mit tonloser Stimme hervor. Ihr Großvater legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Was werden Sie unternehmen, damit wir nicht noch einmal von diesem Dupic belästigt werden? Er ist bereits einmal in unser Heim eingedrungen. Das können meine Frau und meine Enkelin bezeugen.“
„Wegen dieses Hausfriedensbruchs wird Herr Dupic Post von der Staatsanwaltschaft bekommen“, sagte Schlösser. Kurt Koch zog seine buschigen Augenbrauen zusammen.
„Und das ist alles? Glauben Sie, durch eine solche Maßnahme lässt sich ein Gewalttäter abschrecken?“
„Sie können jederzeit auf der Dienststelle anrufen, wenn Sie sich bedroht fühlen“, erwiderte Schlösser steif. „Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag.“
Mit diesen Worten stieg er gemeinsam mit Anja Köhler in den Streifenwagen und war wenig später wieder verschwunden.
Saskia konnte jetzt nicht im Haus oder im Garten bleiben. Sie musste fort, sonst würde sie noch durchdrehen. Wenn sie Julian finden und ihn dazu überreden konnte, sich zu stellen – würde dann alles wieder gut werden?
Nein, gewiss nicht. Der sinnlose Tod der Autofahrerin und das brutale Abschlachten eines harmlosen Hundes lagen wie Schatten über dem Dorf. Aber Saskia bildete sich ein, beim nächtlichen Telefonat mit Julian den Glockenschlag der Klosterkirche im Hintergrund gehört zu haben. Das Konvent befand sich wenige Kilometer außerhalb von Löhrfelden, mitten in der Einsamkeit des Naturschutzgebietes. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Bruder hinter Klostermauern Zuflucht gesucht hatte. Obwohl ihn dort garantiert niemand vermuten würde. Aber vielleicht gab es ja in der Umgebung einen Unterschlupf, von dem sie bisher noch nichts wusste?
Sie holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen.
„Ich kann momentan nicht länger hier sein“, sagte sie zu ihren Großeltern. Und das war nicht gelogen. Marlies blinzelte, ihr faltiges Gesicht drückte Besorgnis aus.
„Wo willst du denn hin, Kind?“
Saskia zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, nur ein wenig durch die Gegend fahren.“
Oma und Opa mussten nicht unbedingt erfahren, dass sie auf eigene Faust nach Julian suchte. Sie würden gewiss sagen, dass die Polizei sich darum kümmern sollte. Was ja eigentlich auch stimmte. Aber Saskia hatte jetzt einfach keine Lust auf Diskussionen.
„Wir können dich ja über dein Smartphone erreichen, nicht wahr?“
Saskia beantwortete die Frage ihrer Oma mit einem Nicken. Dann schwang sie sich in den Sattel ihres Rades.
„Ich werde ein Grab für Rowdy ausheben“, verkündete Opa. „Und zwar an einer schönen Stelle im Garten, wo wir ihn vom Haus aus sehen können.“
Saskia kämpfte bereits wieder mit den Tränen und war froh, die Villa einstweilen hinter sich lassen zu können. Ihr Großvater war ein Tatmensch, das untätige Herumsitzen gefiel ihm nicht. Diese Eigenschaft hatte Saskia wahrscheinlich von ihm geerbt. Nur Julian schien aus der Art geschlagen zu sein.
Sie fühlte sich etwas besser, als sie die Umgehungsstraße überquert hatte und ihr Rad langsam in den alten Ortskern von Löhrfelden rollen ließ. Die Fachwerkfassaden und das Kopfsteinpflaster gaukelten eine Idylle vor, die Saskia momentan nicht spüren konnte. Vielmehr kam es ihr so vor, als ob die Blicke aller Passanten ihr folgen würden. Ob es ein Fehler gewesen war, das Dorf zu durchqueren? Aber Saskia musste es tun, wenn sie das Kloster erreichen wollte.
„Hallo, Hallo!“
Saskia fuhr gerade am Schreinereibetrieb Menkhaus vorbei, als Leo sie begeistert begrüßte. Er war in ihrem Alter, aber viel mehr wusste sie nicht über ihn. Obwohl beide in Löhrfelden aufgewachsen waren, hatten sie keine gemeinsame Schule besucht. Leo hinkte nämlich in seiner geistigen Entwicklung hinterher und war auf einer Förderschule in der Kreisstadt gewesen. Für einige gemeine Dorfbewohner war er nur der „Spasti“. Umso höher rechnete Saskia es dem alten Menkhaus an, dass er Leo in seinem Betrieb beschäftigte. Momentan fegte er gerade den Hof, kam nun aber zum offenstehenden Tor geeilt.
Leos Augen leuchteten, als Saskia ihr Rad bremste und direkt neben ihm zu Stehen brachte. Er war bis über beide Ohren in sie verliebt, das hatte Saskia schon seit längerer Zeit bemerkt. Sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen und ging ihm daher möglichst oft aus dem Weg. Aber jetzt griff sie nach jedem Strohhalm, der sich ihr bot.
„Hallo, Leo. Wie geht es dir?“
„Gut. Du bist so schön, Saskia. Du wirst immer schöner.“
Seine unbeholfenen Komplimente machten sie verlegen. Leo krampfte seine großen starken Hände um den Besenstiel, als ob er ihn zerbrechen wollte. Und er konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden.
„Danke. – Du, Leo, ich suche ganz dringend meinen Bruder. Hast du ihn gesehen?“
Ihr Gegenüber fuhr sich durch seine blonden Zauselhaare. Leo war groß und gewiss kein Schwächling, aber sein Denken funktionierte langsam. Bei ihm musste man Geduld aufbringen, und gerade daran mangelte es bei Saskia zurzeit. Endlich antwortete er.
„Ja, ich hab Julian gesehen.“
Saskias Pulsschlag beschleunigte sich.
„Echt? Und – wann war das?“
„Gestern Abend. Oder Vorgestern. Weiß nicht mehr genau.“
Saskia hätte Leo am liebsten geschüttelt. Aber damit würde sie gar nichts erreichen. Sie nahm seine Hand und drückte sie eindringlich. Leo rang nach Atem. Eine solche Berührung durch seine Angebetete war vermutlich mehr, als er sich jemals erhofft hatte.
„Bitte versuche dich zu erinnern, Leo. Es ist sehr wichtig.“
Wieder kehrte Schweigen ein. Saskia hoffte, dass Leo sich wirklich anstrengte.
„Das war nach dem Training. Ich hab den Jungs zugesehen, aber Julian spielt ja nicht.“
Damit konnte nur das Fußballtraining der Ballsportfreunde Löhrfelden gemeint gewesen sein, und das hatte routinemäßig am Montag stattgefunden. Also war Julian am Vorabend noch in der Gegend gewesen! Vorausgesetzt, dass Leo sich nicht in der Woche geirrt hatte.
„Hast du mit Julian gesprochen, Leo? Wo wollte er denn hin?“
„Nee, er hat mich gar nicht gesehen. Und wo er hin wollte, weiß ich nicht. Er ist nicht zu eurem Haus gegangen, sondern da lang.“
Leo zeigte in die Richtung, wo es zum Kloster ging. Saskias Gedanken überschlugen sich. War ihr Bruder wirklich noch in der Nähe? Hatte er sich gar nicht Richtung Westen abgesetzt? Eigentlich wäre das sogar clever von ihm gewesen, denn er kannte die Umgebung genau.
Aber das traf auch auf Saskia zu.
Sie schenkte ihrem Verehrer ein Lächeln.
„Danke, Leo. Du hast mir sehr geholfen. Aber ich muss jetzt los.“
„Ich will mal mit dir ein Eis essen gehen, Saskia“, rief er ihr nach. Seine Annäherungsversuche rührten sie. Gleichzeitig wollte sie nicht mit seinen Gefühlen spielen, das wäre ihr schäbig vorgekommen. Saskia schob den Gedanken weg. Sie konzentrierte sich ganz auf die Suche.
Doch schon bei der Annäherung an das Kloster rutschte ihr das Herz in die Hose. Auf dem großen Wanderparkplatz am Nordrand des Naturschutzgebietes hielten mehrere Mannschaftswagen der Polizei. Einige Dutzend weibliche und männliche Beamten rückten bereits in einer langen Linie in den Wald vor, ein anderer Trupp wurde offenbar gerade von einem Vorgesetzten instruiert.
Saskia musste sich dazu zwingen, möglichst unauffällig an den Polizisten vorbeizufahren. Niemand beachtete sie, aber das war auch kein Trost. Denn die Ordnungshüter nahmen sich genau den Teil des Areals vor, in dem Saskia ihren Bruder vermutete.
Vielleicht hatte sie sich ja auch geirrt, und Julian war gar nicht in dieser Gegend? Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Wenig später hatte Saskia das Kloster erreicht. Die Mauern des altehrwürdigen Gebäudes standen seit dem Mittelalter. Den hellen Klang aus dem Glockenturm kannte Saskia von zahlreichen Ausflügen, die sie als Kind mit ihren Eltern und ihrem Bruder in der Nähe gemacht hatte. Das tiefe Dröhnen der Dorfkirchenglocke hörte sich ganz anders an.
Saskia stieg vom Rad und betätigte den Türklopfer an dem Tor. Wenig später wurde eine Pforte geöffnet.
„Was kann ich für dich tun, meine Tochter?“
Der alte bärtige Mönch schaute sie freundlich an, und für einen Moment beneidete sie ihn und seine Glaubensbrüder um ihr weltabgewandtes Dasein. Hier war man ganz weit entfernt von sinnlosen Morden und rachelüsternen Killern.
„Guten Tag. Können Sie mir sagen, ob seit Montag ein junger Mann bei Ihnen um Aufnahme gebeten hat? Sein Name ist Julian Koch.“
Der Klosterbruder musterte Saskias Gesicht. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass sie einen ziemlich angespannten Eindruck machte. Vermutlich merkte man ihr auf den ersten Blick an, dass ihre Nerven zerrüttet waren. Saskia hatte seit dem Morgen nicht in den Spiegel geschaut. Aber die unruhige Nacht und Rowdys blutiges Ende hatten gewiss Spuren bei ihr hinterlassen.
„Wenn jemand unser Konvent betritt, dann sucht er Frieden und die Zwiesprache mit Gott.“
„Ist er nun hier oder nicht?“
Saskia hatte den Mönch mit einem Verzweiflungsschrei unterbrochen. Sie hörte nun ein Bellen aus mehreren Hundekehlen, das vom Wanderparkplatz her herüber hallte. Das Geräusch erinnerte sie einerseits an Rowdy, andererseits wurde ihr bewusst, dass die Polizisten Hunde dabei hatten. Die gedrillten Spürnasen würden Julian vermutlich im Handumdrehen stellen.
Saskias Gegenüber schüttelte den Kopf.
„Nein, meine Tochter. Ich kann dir aufrichtig versichern, dass wir seit einigen Wochen keinen neuen Novizen aufgenommen haben. Und es gibt momentan auch keine Besucher in unserem Konvent.“
Saskia bedankte sich und fuhr weiter. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Mönch sie angelogen hatte. Außerdem passte es überhaupt nicht zu ihrem Bruder, einen solchen Ort aufzusuchen. Julian hatte sich über kirchliche Dinge stets lustig gemacht. Aber wäre nicht genau aus diesem Grund ein Kloster das ideale Versteck für ihn?
Nein, denn dort gab es keine Drogen und er würde sich der strengen Disziplin des Ordens unterwerfen müssen. Die Mönche ließen es gewiss nicht zu, dass er bis mittags im Bett lag. Selbst Opa, der immer viel auf Ordnung hielt, hatte sich an Julian die Zähne ausgebissen, wie sich Saskia vor Augen führte. Außerdem waren die Großeltern zu Recht der Meinung, für die Erziehung ihres Enkels nicht verantwortlich zu sein.
Und Mama und Papa? Die glänzten oft durch Abwesenheit, auch dann, wenn sie nicht gerade in Amerika waren. Ob Julian sich anders entwickelt hätte, wenn die Familie anders mit ihm umgegangen wäre?
Kaum war Saskia dieser Gedanke gekommen, als sie ihn auch schon wieder verwarf. Julian hatte keine grausame Kindheit gehabt, und wenn er seine Chancen nicht nutzte, dann war das letztlich sein Problem. Deshalb musste er aber noch lange nicht aus Langeweile Leute umbringen!
Saskia hatte kein Mountainbike, sondern ein normales Damenrad. Mit ihrem fahrbaren Untersatz blieb sie auf den Waldwegen, die das Naturschutzgebiet durchschnitten. Sie traute sich nicht, laut nach ihrem Bruder zu rufen. Sonst wurde noch die Polizei auf sie aufmerksam. Sie konnte unmöglich einschätzen, wie weit die Suchtrupps noch von ihr entfernt waren. Vielleicht einen oder zwei Kilometer?
Sie überlegte. Wenn in der vorigen Nacht die Klosterglocke im Hintergrund erklungen war, dann konnte sich Julian nicht allzu weit von dem Konvent entfernt aufgehalten haben. Oder verschwendete sie hier nur ihre Zeit, weil sie sich an einer Illusion festhielt?
Plötzlich erblickte sie einen Hochsitz.
Saskia ließ ihr Fahrrad zu Boden gleiten und musterte die hölzerne Kanzel. Dort konnte man zweifellos eine Nacht verbringen, wenn man keinen großen Wert auf Komfort legte. Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Saskia erklomm die hölzerne Leiter. Seltsamerweise empfand sie überhaupt keine Furcht, obwohl sie sich eigentlich für einen Angsthasen hielt. Aber die Aussicht, Julian endlich finden zu können, beflügelte sie. Er musste sich einfach der Polizei stellen, und dann …
Der Ansitz war leer.
So ganz stimmte das nicht, wie Saskia nach einem enttäuschten Rundblick feststellte. Dort oben lagen zwei leere Bierdosen sowie eine Packung Salzstangen, die nicht gänzlich leergefuttert worden war. Ein Kriminaltechniker hätte vermutlich feststellen können, wie lange die Nahrungsmittelreste sich schon dort befanden. Aber Saskia konnte das nicht. Enttäuschung machte sich in ihr breit, als ihr Smartphone klingelte.
Ihre Oma war am Apparat. Und sie konnte die Panik in der Stimme ihrer Großmutter hören.
„Du musst sofort heimkommen, Saskia. Dein Großvater wurde niedergeschossen!“
Saskia fühlte sich, als ob sie mit einer Schaufel vor den Kopf geschlagen worden wäre. Eine Momente lang hörte sie nur das Hämmern ihres eigenen Herzens. Dann brachte sie eine Antwort hervor.
„L-lebt Opa noch?“
„Ja, aber er hat viel Blut verloren. Komm‘ schnell heim!“
Das ließ sich Saskia nicht zweimal sagen. Sie trat kräftig in die Pedale. Während sie mit einem irrsinnigen Tempo ihr Elternhaus ansteuerte, wurde sie von Selbstvorwürfen gequält. Warum hatte sie unbedingt wegfahren müssen? Weshalb spielte sie Detektiv, anstatt ihren Großeltern zu helfen?
Doch trotz ihrer Verzweiflung war ihr selbst klar, wie unsinnig ihre Überlegungen waren. Als ob sich ein Killer durch ihre Anwesenheit abgeschreckt fühlen würde! Sie, Saskia, stellte doch keine Bedrohung für einen Mann wie Dupic dar.
Dupic!
In ihren Augen kam kein anderer Täter für den feigen Anschlag in Frage. Oder? Die junge Frau hatte schließlich nicht nur einen Verlobten, sondern auch einen Vater und womöglich Brüder gehabt. Saskia wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Sie begriff nur, dass ihr unheimlicher Gegner sich nicht nur an Tieren vergriff.
Als Saskia eintraf, fuhr soeben eine Ambulanz mit Blaulicht und Martinshorn davon. Das war in gewisser Weise ein beruhigender Anblick. Falls Kurt Koch nämlich nicht mehr leben würde, wäre er gewiss nicht in einem Krankenwagen fortgeschafft worden. Ein Streifenwagen hielt ebenfalls vor dem Gartenzaun, Polizeiobermeister Schlösser und Polizeimeisterin Köhler waren bei Oma.
Als Saskia hereinkam, saßen alle drei am Küchentisch. Sie umarmte ihre Großmutter, die einigermaßen gefasst wirkte. Nur die tränenfeuchten Wangen zeigten, wie erschüttert sie war.
„Der Notarzt hat mir eine Beruhigungsspritze gegeben, bevor sie mit Opa ins Hospital gefahren sind“, erklärte Marlies Koch mit matter Stimme. „Ich fahre hinterher, wollte nur erst meine Aussage machen. Damit dieser Schurke so schnell wie möglich erwischt wird.“
„An was genau können Sie sich denn erinnern, Frau Koch?“, wollte der Dorfpolizist wissen.
„Kurt hatte vor, ein Grab für unseren Hund auszuheben. Er holte sich einen Spaten aus dem Geräteschuppen. Dann bat er mich, noch einen Kaffee zu kochen. Ich kehrte in die Küche zurück, um das Wasser aufzusetzen. Außerdem wollte ich ein paar Butterbrote zurechtmachen. Damit war ich beschäftigt, als plötzlich ein Schuss knallte. Ich lief in den Garten, und dann sah ich meinen Mann auch schon in seinem Blut liegen. Ich kniete mich neben ihn und schüttelte seine Schulter, aber er hatte schon das Bewusstsein verloren.“
„Konnten Sie den Schützen sehen?“
„Nein, Herr Schlösser. Er muss irgendwo im Unterholz am Waldrand gestanden haben. Dort war er für mich völlig unsichtbar. Außerdem dachte ich nur noch an meinen Mann. Ich habe sofort den Notruf betätigt.“
„Und das war auch richtig so“, erwiderte der Ordnungshüter. „Ein Team der Spurensicherung wird sich die Umgebung genauer ansehen. Fällt Ihnen jemand ein, der Ihrem Mann nach dem Leben trachten könnte?“
„Dupic hat uns in unserem eigenen Haus bedroht“, stellte Oma fest. „Ich hoffe, dass Sie ihn umgehend festnehmen.“
„Ich werde die Information an die Kollegen von der Kriminalpolizei weiterleiten.“
Nach Saskias Meinung klang das nicht danach, als ob Dupic in absehbarer Zeit die Polizei zu fürchten hätte. Aber sie wollte jetzt nicht über diesen Schurken nachgrübeln, ihre Gedanken waren bei Opa. Oma drängte zum Aufbruch.
Da ihre Großmutter ein Beruhigungsmittel intus hatte, wollte Saskia sich ans Steuer setzen. Eigentlich fuhr sie nicht gern Auto, aber das war jetzt zweitrangig. Also holte sie den Volvo ihres Opas aus der Garage. Marlies Koch nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Die Polizisten wollten am Tatort bleiben, bis ihre Kollegen von der Kriminaltechnik eintrafen. Oma hatte von dem Notarzt erfahren, dass ihr Mann in das Kölner St. Antonius Krankenhaus eingeliefert werden sollte.
Im Auto weinte die alte Frau leise vor sich hin.
„Wie konnte es nur so weit kommen? Wir haben doch gar nichts getan.“
Saskia gab keine Antwort, sie musste sich aufs Fahren konzentrieren. Jedes Mal, wenn eine Autobahnbrücke in Sicht kam, krampfte sich ihr Magen zusammen. Noch nie zuvor hatte sie sich so ausgeliefert und hilflos gefühlt, wenn sie in einem PKW saß. Wie vielen anderen Menschen es wohl in diesem Moment genauso ging?
Julian hatte eine Frau getötet, und außerdem auch noch Angst und Schrecken verbreitet.
Das Bedeutendste, das dieser Versager in seinem Leben hinbekommen hat, dachte Saskia. Und sie war erschrocken über den Hass, der sich plötzlich in ihrem Inneren entflammte. Das Gefühl verteilte sich gleichmäßig auf Dupic und auf ihren eigenen Bruder. Der Eine war nicht besser als der Andere. Beide terrorisierten und töteten unschuldige Menschen.
Aber – noch war ihr Opa ja gar nicht gestorben. Saskia hoffte sehr, dass er durchkommen würde. Und sie wollte jetzt Schluss machen mit der Rücksichtnahme gegenüber Julian. Er sollte von ihr nicht einen einzigen weiteren Euro bekommen. Und wenn er ihr über den Weg lief, dann wollte sie sofort die Polizei verständigen!
Saskias Hassgefühle flauten ein wenig ab, als sie sich nach einer Autobahnfahrt ohne Zwischenfälle durch den Kölner Stadtverkehr quälen mussten. Im St. Antonius Krankenhaus dauerte es eine ganze Weile, bis Saskia und ihre Oma in der Notaufnahme mit einem Arzt sprechen konnten.
„Wir müssen Ihren Ehemann operieren, um die Kugel zu entfernen“, sagte Dr. Jakobi zu Großmutter. „Zum Glück befindet er sich in einem guten Allgemeinzustand, daher bin ich optimistisch. Ein Restrisiko bleibt natürlich immer bestehen.“
„Bitte tun Sie alles, was nötig ist“, murmelte Marlies Koch mit brüchiger Stimme. Sie unterschrieb die Einverständniserklärung mit der Operation. Saskia kam sich nutzlos vor. Sie starrte aus dem Fenster, weil es nichts anderes zu tun gab. Auf ein Buch oder eine Zeitschrift konnte sie sich nicht konzentrieren. Ihre Oma wollte auf jeden Fall warten, bis die Operation vorbei war.
„Warum fährst du nicht nach Hause zurück, Saskia? Das wäre für alle das Beste. Ich habe dir nämlich noch gar nicht erzählt, dass deine Eltern nachher kommen. Sie haben vorhin angerufen, als sie in Frankfurt gelandet sind. Sie befinden sich jetzt auf dem Weg noch Löhrfelden. Es ist besser, wenn sie von dir erfahren, was geschehen ist. Und nicht von der Polizei.“
„Ja, das kann ich machen, Oma.“ Saskia war insgeheim froh, die Hospitalatmosphäre hinter sich lassen zu können. „Aber wie kommst du nach Hause?“
„Ich rühre mich hier sowieso nicht weg, bevor ich nicht weiß, wie es Kurt geht. Ich kann mir auch ein Taxi nehmen oder mich von euch später abholen lassen.“
Saskia umarmte ihre Großmutter zum Abschied. Dann verließ sie das Wartezimmer der Intensivstation und krachte mit einem jungen Mann zusammen. Er strauchelte, und der Inhalt seines Plastikbechers ergoss sich über seine Jeans und seinen Pullover.
„Oh, verflixt!“
Saskia hätte sich in den Hintern beißen können wegen ihrer eigenen Unachtsamkeit. Oder hatte dieser Fremde sie gar nicht beachtet, war direkt in sie hineingelaufen? Fest stand, dass seine Kleidung jetzt über und über mit Kakao getränkt war. Sie selbst hatte nur ein paar Spritzer abbekommen.
„Das macht doch nichts.“
Die Stimme und das Gesicht des Mannes drückten tiefe Traurigkeit und Beklommenheit aus. Er schien jedenfalls nicht sauer auf Saskia zu sein. Sie holte eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer Jacke und wollte ihm dabei helfen, sich zu reinigen.
„Lassen Sie nur, das ist nicht so schlimm. Wir kommen ja beide von der Intensivstation, nicht wahr? Da hat man doch andere Sorgen als sich über ein paar Flecken zu ärgern.“
„Ich will trotzdem für die Reinigung aufkommen“, bot Saskia an. „Allerdings wohne ich nicht in Köln, sondern in Löhrfelden. Also …“
Der Kakaobefleckte unterbrach sie.
„Löhrfelden? Mein Vater hat einen Wohnwagen auf dem dortigen Campingplatz gekauft. Ich werde wohl nach dem Caravan sehen müssen – damit es Papa dort gefällt, wenn er aus dem Krankenhaus kommt. Oder falls, besser gesagt.“
Saskia spürte, dass der Fremde mit den Tränen kämpfte. Sie blickte forschend in sein offenes, sympathisches Gesicht.
„Wie schlimm steht es denn um Ihren Vater?“
„Die Ärzte wollen sich nicht festlegen. Er hatte einen Herzinfarkt, und es war nicht der Erste. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Daniel Brinkmann.“
„Saskia Koch. – Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen. Mein Großvater wurde heute auch hier eingeliefert.“
Sie hoffte stark, dass Daniel nicht nachhaken würde. Saskia hatte nicht vor zu erzählen, dass sie die Schwester des Brückenteufels war und von einem selbsternannten Racheengel bedroht wurde. Aber Daniel lächelte nur traurig.
„Ja, es ist hart, um einen nahen Angehörigen zu bangen. Dann sind wir ja sozusagen Leidensgenossen. – Ist es eigentlich weit von Köln nach Löhrfelden? Ich war noch nie dort.“
„Löhrfelden befindet sich ungefähr 30 Kilometer vom Kölner Stadtrand entfernt.“
„Wissen Sie zufällig, wo der Bus dorthin abfährt?“
Saskia schnaubte verächtlich.
„Die Busverbindung ist eine Katastrophe. Haben Sie kein Auto?“
Daniel atmete tief durch, bevor er antwortete.
„Ich habe nicht immer nur Kakao getrunken. Ich hatte eine Zeitlang Alkoholprobleme, und seitdem ist mein Führerschein weg.“
In der Praxis von Dr. Bruckner waren einige Trinker in Behandlung. Saskia hätte Daniel nicht auf Anhieb für einen Alkoholiker gehalten. Aber andererseits war er ja inzwischen vielleicht schon wieder trocken. Außerdem fand sie es sehr mutig von ihm, dass er ehrlich zu seinen Problemen stand. Das machte ihn für Saskia nur noch sympathischer. Sie fasste sich ein Herz.
„Ich fahre jetzt nach Löhrfelden. Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie wollen. Der Campingplatz liegt auf meinem Weg.“
Normalerweise hätte Saskia niemals einen fremden Mann im Auto mitgenommen. Aber sie fühlte sich Daniel gegenüber schuldig, weil sie seine Kleider mit Kakao getränkt hatte. Und sie wollte während der Fahrt nicht allein sein. Sie hatte Ablenkung von ihren Problemen dringend nötig.
„Ich bin eigentlich gar kein Camping-Fan“, erzählte Daniel. „Papa musste wegen seiner Herzprobleme in Frührente gehen. Ich will ihm den Wohnwagen herrichten, damit er es nach dem Krankenhausaufenthalt dort schön hat.“
„Das ist eine gute Idee. Sie mögen also kein Camping? Aber Sie fahren doch gewiss gern in Urlaub, oder?“
Saskia schnitt das Thema an, weil sie vom Hospital einstweilen nichts mehr hören konnte.
„Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht, wenn man so will. Ich bin nämlich Reisejournalist. Mindestens die Hälfte des Jahres bewege ich mich per Flugzeug zwischen den Kontinenten hin und her.“
Saskia warf ihrem Beifahrer einen anerkennenden Seitenblick zu.
„Um den Job werden Sie bestimmt viele Leute beneiden.“
„Ja, das denke ich auch. Aber der Stress fliegt bei mir immer mit. Es hat schon seine Gründe, dass ich zu viel getrunken habe.“
Daniels Stimme klang wieder traurig. Saskia ergriff schnell das Wort.
„Ich habe noch nicht so viel von der Welt gesehen“, gestand sie und redete schnell weiter. „Ehrlich gesagt habe ich Flugangst, deshalb reise ich vorzugsweise mit der Bahn oder mit dem Auto. Weiter als bis nach Rom bin ich noch nicht gekommen.“
„Rom ist eine schöne Stadt. Ich könnte Ihnen dort ganz besondere Ecken zeigen, jenseits der Spanischen Treppe.“
Für einen Moment stellte sich Saskia vor, gemeinsam mit Daniel durch die quirlige italienische Hauptstadt zu streifen. Und sie musste sich eingestehen, dass ihr diese Fantasie sehr gut gefiel. Daniels Stimme holte sie in die Realität zurück.
„Ich liebe Bali, diese Insel ist ein wahres Paradies. Weißer Strand, blaues Meer und überall freundliche Menschen. Da kann man die Sorgen und Beklemmungen unseres Alltags vergessen.“
Auch dieses Bild entstand vor Saskias innerem Auge. Daniel verstand es wirklich, idyllische Atmosphäre zu erzeugen. Die Frage war nur, ob das an Rom oder Bali lag. Oder an dem Mann, der neben ihr im Auto saß. Saskia warf ihm einige unauffällige Blicke zu.
Daniel war auf eine männliche Art attraktiv, ohne dabei ein Schönling zu sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ein haltloser Säufer gewesen war. Aber vielleicht lag das einfach nur daran, dass sie ihn auf Anhieb sympathisch fand. Außerdem hatte sich die Plauderei mit ihm nicht um Tod und Rache und tote Hunde und Heckenschützen gedreht. Seine Gegenwart hatte Saskia einfach gutgetan. Deshalb war sie ein wenig traurig, als sie den Campingplatz am Rand von Löhrfelden erreicht hatten.
„Vielen Dank fürs Mitnehmen. Ich würde Sie gern wiedersehen.“
Das war es, worauf Saskia gehofft hatte. Trotzdem zögerte sie einen Moment, denn bei Männern war sie eher scheu. Aber dann gab sie sich einen Ruck.
„Wir können ja unsere Handynummern austauschen. Ich habe momentan ziemlich viel Stress, ehrlich gesagt. Und – wollen wir uns nicht duzen? Wir sind doch altersmäßig gar nicht so weit voneinander entfernt, oder?“
Daniel lächelte glücklich.
„Sehr gern, Saskia.“
Nachdem sie die Nummer des jeweils Anderen in ihre Smartphones gespeichert hatten, stieg Daniel aus. Er winkte noch einmal, dann verschwand er zwischen den Wohnwagen des Campingplatzes. Saskia seufzte zufrieden, dann setzte sie ihre Fahrt fort. Sie war ein wenig stolz auf sich, weil sie ihre Angst überwunden hatte und einen Schritt auf Daniel zugegangen war. Außerdem waren dadurch ihre eigenen Sorgen in den Hintergrund gerückt.
Aber als die Villa am Waldrand in Sicht kam, war die Beklemmung sofort wieder da. Saskia erblickte die Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen, die sich am Gartenzaun und im nahegelegenen Unterholz zu schaffen machten. Auch ein Streifenwagen parkte nach wie vor neben dem Grundstück. In der offenen Doppelgarage stand nun aber auch der Saab ihres Vaters.
Also waren Saskias Eltern zurückgekehrt!
Sie wurde von einer Welle der Erleichterung erfasst. Schnell stellte sie Opas Auto ab und eilte ins Haus. Dort saßen ihr Vater und ihre Mutter mit Polizeiobermeister Schlösser und Polizeimeisterin Köhler im Wohnzimmer.
„Saskia!“
Manfred Koch stand auf, und im nächsten Moment flog sie in seine Arme. Saskia war immer schon ein Papakind gewesen, obwohl – oder weil – ihr Vater ein eher sanfter und nicht sehr durchsetzungsfähiger Mann war. Ganz eindeutig war es Jutta Koch, die in diesem Haus das Sagen hatte. Auch Saskias Mutter kam zu ihr, aber die Begrüßung fiel deutlich kühler aus. Jutta Koch hatte nämlich gerade mit dem Polizeibeamten gesprochen, und war noch ganz darauf konzentriert. Nachdem sie ihre Tochter flüchtig umarmt hatte, wandte sie sich wieder Schlösser zu.
„Ich kann nicht glauben, dass dieser Dupic noch nicht verhaftet worden ist“, sagte Jutta Koch mit einem vorwurfsvollen Unterton zu dem Polizeiobermeister.
„Unsere Ermittlungen dauern an“, versicherte der Beamte. „Ich habe soeben von meinen Kölner Kollegen erfahren, dass Herr Dupic für den Zeitpunkt der Schüsse auf Ihren Schwiegervater ein Alibi hat. Sein Handyladen war voll mit Kundschaft, seine Anwesenheit wurde von vier Zeugen unabhängig voneinander bestätigt.“
„Dann kann dieser Kerl also unbehelligt auf Menschen schießen, ohne dass er belangt wird?“
Jutta Koch war Lehrerin, und mit ihrem scharfen Tonfall konnte sie sich auch bei den größten Chaoten ihrer Schulklassen Respekt verschaffen. Nun redete sie auch mit den Polizisten auf diese Art. Aber Saskia hörte gar nicht richtig hin. Ihr kam die Auseinandersetzung sinnlos vor. Und dann verlor sie die Nerven.
„In diesem Moment ringt Opa mit dem Tod, und du zickst hier herum?“, warf sie ihrer Mutter an den Kopf. Nun war sie nicht mehr das brave Mädchen, das zu allem Ja und Amen sagte.
Jutta Koch wandte sich ihrer Tochter zu und zog unheilverkündend die Augenbrauen zusammen.
„Was?“, fuhr Saskia fort. „Willst du mir jetzt eine schlechte Note für mein Benehmen geben? Vielleicht hat deine Erziehung ja bei mir versagt – genau wie bei Julian!“
Saskia wartete keine Erwiderung ihrer Mutter ab, sondern lief weinend die Treppe hoch. Ihre Stimmung, die sich dank Daniel kurzzeitig verbessert hatte, war nun wieder völlig im Keller. War es nicht ungerecht, ihrer Mama oder ihren beiden Eltern Julians Versagen vorzuwerfen? Saskia selbst hatte sich bisher ihrer dominanten Mutter stets unterworfen, während Julian den Rebellen gespielt hatte.
Und nun saß Saskia selbst in der Tinte, obwohl sie niemals aufgemuckt hatte. Diese Tatsache ließ bei Saskia weitere Tränen fließen. Es klopfte zaghaft an ihrer Tür, und dann trat ihr Vater ein. Natürlich erschien Papa, um seine Tochter zu trösten. Manfred Koch setzte sich neben Saskia aufs Bett und strich sanft über ihren Kopf.
„Mama macht sich auch Sorgen um Opa, sie kann das nur nicht so zeigen.“
„Gefühle waren ja noch nie ihre Stärke“, brachte Saskia schniefend hervor. „Vielleicht ist Julian ja deshalb so verkorkst.“
Kaum waren diese Worte über ihre Lippen gekommen, als sie den Satz auch schon bereute. Julian hatte den Stein aus freien Stücken geworfen, wie es aussah. Er war volljährig und musste die Verantwortung für seine Schuld ganz allein übernehmen.
„Das ist nicht fair, Saskia. Wir haben alles getan, um deinen Bruder wieder in die Spur zu bringen. Du hast selbst oft genug mit Engelszungen auf ihn eingeredet, erinnerst du dich? Irgendwann waren wir mit unserem Latein am Ende. Ich hätte niemals gedacht, dass Julian so weit gehen würde.“
Papa schien nicht daran zu zweifeln, dass sein Sohn zum Mörder geworden war. Und es gab ja wirklich keinen Hinweis auf einen anderen Täter, wenn man von diesem Unglücksraben Andi absah. Aber der war offenbar immer noch verschwunden.
„Meine Nerven sind momentan nicht die Besten, Papa. Ich möchte jetzt gern allein sein.“
„In Ordnung. Aber du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du etwas brauchst.“
Mit einem leisen Klappen schloss Manfred Koch die Zimmertür von außen. Saskia fuhr sich mit ihren Handflächen über ihr tränennasses Gesicht. Sie fühlte sich so ausgeliefert wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Dupic hatte ein perfektes Alibi für die Bluttat. Er konnte auch Saskias Oma, ihren Vater, ihre Mutter und sie selbst töten, ohne dafür belangt zu werden. Die Gefahr bestand zumindest. Die Polizei würde die Morde womöglich als ungelöste Fälle zu den Akten legen. Bis jetzt sah es jedenfalls nicht danach aus, dass die Ordnungskräfte Saskias Familie schützen oder wenigstens Julian finden konnten.
Angriff ist die beste Verteidigung. Dieser Satz ihres Opas spukte nun immer wieder durch Saskias Bewusstsein. Es widersprach ihrer Natur, sich massiv zur Wehr zu setzen. Aber wenn sie es nicht tat, wer sollte es sonst machen? Ihrer Oma und ihrem Vater traute sie es ebenfalls nicht zu. Und Mama? Jutta Koch würde höchstens eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die ermittelnden Kriminalbeamten auf den Weg bringen. Aber wie sollte man auf diese Art einen rachsüchtigen Gangster abschrecken?
Saskia kämpfte noch eine Weile mit sich selbst, dann fasste sie einen Entschluss. Stimmengewirr aus dem Erdgeschoss ließ darauf schließen, dass sie im ersten Stockwerk allein war.
Saskia schlich zum Waffenschrank ihres Großvaters, schloss ihn auf und nahm eine Pistole heraus.
Charleroi war ein Dreckskaff, wie Julian fand.
Vielleicht lag es ja auch nur an der Gegend. Julian stand am Fenster eines Zimmers, das sich in einem schmutzig-braunen schmalen Haus in der Rue de Montigny befand. In der Nähe gab es eine Autobahnauffahrt, einen schmuddeligen China-Imbiss, eine Filiale von Europcar sowie zahlreiche geschlossene Läden mit zugemauerten Eingangstüren.
Seine Flucht hatte sich Saskias Bruder irgendwie glamouröser vorgestellt.
Immerhin schien er in seinem Unterschlupf vor den Bullen sicher zu sein. Ein Kumpel aus der Kölner Drogenszene hatte ihn nach Belgien mitgenommen. Nun hockte er in diesem Zimmer, dessen achtzigjährige afrikanische Vermieterin keine dummen Fragen stellte und keinen Ausweis sehen wollte. Und für seinen Namen interessierte sie sich auch nicht.
Allerdings hatte Julian der dunkelhäutigen Oma 500 Euro in bar überlassen müssen, wodurch bereits die Hälfte seines Geldes futsch war. Er wusste nicht, für wie lange er das Zimmer gemietet hatte, denn sein Französisch war noch schlechter als das Deutsch der schwarzen Belgierin.
Julian langweilte sich. Er hatte einen Joint geraucht und wollte sich in der Umgebung umschauen. Bisher kannte er in Charleroi außer seiner Vermieterin keine Menschenseele, denn sein Bekannter aus Köln hatte bereits wieder die Heimreise angetreten.
Er verließ das Zimmer und trat hinaus auf die Straße. Nebenan gab es einen Computerladen, in dem museumsreife gebrauchte Rechner verkauft wurden. Die Passanten sahen allerdings so aus, dass sie sich noch nicht mal diese alten PC-Gurken leisten konnten. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte Julian an den schäbigen Gebäuden entlang, die seiner neuen Behausung glichen wie ein Ei dem anderen.
Saskias Bruder hatte immer über die Gartenzwerg-Idylle von Löhrfelden abgelästert. Aber ihm dämmerte allmählich, dass ein Leben auf der Flucht doch beträchtlich uncooler war als er es sich vorgestellt hatte.
Sicher, in Charleroi konnte man leichter an Drogen kommen als an einen Hamburger. Aber die Stadt war doch verdammt trist. Wieso musste Julian überhaupt hier abhängen?
Es kam ihm total ungerecht vor, dass er gejagt wurde.
Sicher, die Aktion mit dem Stein war dumm gelaufen. Aber wer hätte denn ahnen können, dass die Frau gleich draufgehen würde? Und überhaupt – weshalb hatte Andi ihn nicht davon abgehalten, den Stein fallenzulassen? Julian fand, dass Andi mindestens genauso viel Schuld hatte wie er selbst.
Ob es wohl eine gute Idee war, seinen Kumpel anzurufen? Womöglich überwachten die Bullen sein Telefon. Aber Julian wollte einfach wissen, was in der alten Heimat abging. Er zog sein Billig-Handy hervor und tippte Andis Nummer ein.
Aber der Anschluss war tot.
Julian fluchte und versuchte es bei seiner Schwester. Aber auch bei Saskia sprang nur die Mailbox an. Kein Wunder, denn es war ja erst 15 Uhr nachmittags. Um diese Zeit war Saskia am Arbeiten. Er hatte nie verstanden, wie sie ihren öden Job Woche für Woche und Monat für Monat durchhielt.
Für ihn wäre das nichts gewesen. Julian ließ es lieber ruhiger angehen. Aber so öde wie in Charleroi musste es auch nicht sein. Er beschloss, Saskia später noch einmal anzurufen. Seine Neugier war auf jeden Fall geweckt. Mit seinem Billig-Handy konnte Julian nicht ins Internet gehen. Aber zum Glück erblickte er an der Ecke der Rue Bosquetville ein Internetcafé. Er betrat den schmierigen Laden und machte dem pakistanischen Inhaber mit Händen und Füßen klar, dass er an einen Rechner wollte.
Fünf Minuten später checkte Julian die deutschen Nachrichtenportale. Und was er da zu sehen bekam, gefiel ihm überhaupt nicht. Immerhin schienen die Bullen noch keine heiße Spur nach Belgien zu haben. Es war immer nur von einem Hauptverdächtigen die Rede, der auch gern als Brückenteufel bezeichnet wurde. Das fand Julian nun total daneben.
Er war doch kein Teufel, nur weil er mal einen Stein fallen gelassen hatte! Jeden Tag kamen Leute auf den Autobahnen um, und bei ihm wurde so eine Welle gemacht?
Julian kam sich wieder einmal ungerecht behandelt vor. Aber so war es immer gewesen, schon in der Schule. Alle schrieben ab, aber wer wurde erwischt? Julian Koch! Oder bei der Personenkontrolle durch die Bullen. Julian konnte sich lebhaft vorstellen, dass unheimlich viele Leute am Kölner Hauptbahnhof ein wenig Gras bei sich hatten. Aber natürlich wurde nur er gefilzt, und dann ausgerechnet an einem Tag, wo er größere Mengen bei sich hatte.
Für Julian stand fest, dass er selbst das Opfer war.
Aber jetzt musste er die Zähne zusammenbeißen und das Beste aus seiner Lage machen. Der Gedanke an Gras hatte ihn aufgemöbelt. Es war gewiss clever, sich einen kleinen Vorrat anzulegen. Dann musste er nicht jedes Mal vor die Tür, wenn er etwas rauchen wollte. Julian griff in die Jacke und zählte sein verbliebenes Geld. Wenn er für 300 Euro Marihuana kaufte, konnte er damit schon eine Zeitlang über die Runden kommen. Alles Weitere würde sich schon ergeben. Das musste man ganz locker sehen.
Vor dem Computerladen hatte Julian einen Rastaman gesehen, der auf drei Kilometer gegen den Wind nach Straßendealer aussah. Dafür hatte Saskias Bruder einen sechsten Sinn entwickelt. Also bezahlte er seinen Obolus bei dem Pakistani und machte sich auf, um den Typen anzuquatschen.
Doch der Schwarze mit den Dreadlocks war verschwunden. Julian fluchte in sich hinein. Er hasste es, wenn die Dinge kompliziert wurden. Das konnte er überhaupt nicht gut vertragen. Also versuchte er sein Glück bei einem Orientalen, der ihn aber einfach nicht verstand. Julian hatte mal ein paar arabische Worte aufgeschnappt. Aber entweder wollte sein Gegenüber mit Fremden keine Geschäfte machen oder er hatte mit Drogen überhaupt nichts am Hut. Vielleicht kapierte er auch einfach nicht, warum Julian ihn angesprochen hatte.
Saskias Bruder war stinksauer, als der Typ ihn einfach stehenließ. Aber trotz seiner Wut merkte er plötzlich, dass er verfolgt wurde. Julian drehte sich um.
Da waren drei blasse Kerle mit bleicher Haut und Tätowierungen bis zum Hals. Irgendwo her kamen sie ihm bekannt vor. Und dann fiel ihm ein, dass sie schon in dem Internetcafé herumgelungert hatten. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Dummerweise hatte Julian sich von seinem Unterschlupf entfernt. Wenn er zum Haus der afrikanischen Omi zurückkehren wollte, hätte er die Richtung wechseln und an dem Trio vorbei gehen müssen. Und das war keine gute Idee.
Julian überquerte die Fahrbahn, schaute dabei noch einmal über die Schulter nach hinten. Es gab keinen Zweifel, die Kerle behielten ihn im Visier. Auch sie waren schneller geworden. Saskias Bruder bekam weiche Knie. Was sollte er tun? Die Bullen kamen als Hilfe nicht in Frage, und das nicht nur wegen der Sprachbarriere. Er musste ja damit rechnen, dass nach dem Brückenteufel inzwischen europaweit gefahndet wurde.
Also rannte er los.
Julian kannte sich in Charleroi nicht aus. Er hatte keinen Plan, in welche Richtung er am besten türmen sollte. Zunächst lief er wieder die Rue Bousquetville hinunter, vorbei an dem Internetcafé. Die schnellen Stiefeltritte hinter ihm waren der Beweis dafür, dass seine Verfolger ihn nicht so leicht entkommen lassen würden.
Julian dachte sich, dass er jetzt mit einem Ballermann besser bedient wäre. Aber er hatte absolut nichts bei sich, das sich auch nur im Entferntesten als Waffe eignete. Noch nicht mal eine Nagelfeile.
Vor ihm rangierte ein LKW-Fahrer, um seinen Truck rückwärts in eine Toreinfahrt zu fädeln. Julian schlug einen Haken und bog in die Rue du Marais ein. Das erwies sich als Fehler, wie er nach wenigen Metern erkannte.
Denn diese Straße war eine Sackgasse!
Zu allem Überfluss bestanden die Häuserfronten aus den Rückwänden von Lagerschuppen und einer Lärmschutzwand. Hier würde niemand hören, wenn er um Hilfe rief. Das bleiche Tattoo-Trio war nun ebenfalls schon auf der Bildfläche erschienen. Und die Kerle sahen nicht so aus, als ob sie ihn entkommen lassen wollten.
Der Größte von ihnen rief etwas auf Französisch und streckte seine Rechte aus. Die Geste war eindeutig, selbst wenn man die Sprache nicht beherrschte. Julian hob abwehrend die Hände. Er beschloss, sich dumm zu stellen. Das hatte früher oft gut funktioniert. Eigentlich konnte Saskias Bruder sich ganz gut aus unangenehmen Situationen herauswinden.
Aber diesmal nicht.
Plötzlich wurde Julian von einem dieser Gruseltypen gepackt. Der Kerl hielt ihn von hinten fest. Julian versuchte, sich loszureißen. Aber da traf ihn die Faust des Großen bereits in die Magengrube.
Saskias Bruder fühlte sich, als ob seine Bauchdecke platzen würde. Der plötzliche Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Gleichzeitig wurde die Luft aus seinen Lungen gepresst. Er glaubte zu ersticken. Und das war erst der Anfang.
Als Schläger war Julian noch nie besonders gut gewesen, obwohl er aggressiv werden konnte. Besonders, wenn etwas von ihm verlangt wurde, das er nicht tun wollte. Aber in dieser belgischen Sackgasse war an Widerstand nicht zu denken. Er zappelte etwas, aber mehr Gegenwehr kam von ihm nicht.
Die Schläge und Tritte prasselten auf ihn nieder. Julian glaubte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Es war furchtbar, seinen Peinigern so hilflos ausgeliefert zu sein. Es kam ihm so vor, als wenn die drei prügelfreudigen Bleichgesichter ihn stundenlang malträtieren würden. Doch in Wirklichkeit dauerte die Prügelorgie nur ein paar Minuten.
Die Typen klauten ihm sein Geld und sein Billig-Handy. Der Anführer trat ihm zum Abschied noch einmal kräftig in die Rippen, dann machten sie sich höhnisch lachend davon. Das Atmen fiel Julian schwer, aber wie durch ein Wunder schien kein Knochen gebrochen worden zu sein. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Sein Schädel brummte, als er sich an einer Hauswand hochzog und sich dagegen lehnte. Ihm war schwindlig, als ob er sturzbesoffen wäre. Aber nach einigen Atemzügen wurde es besser. Trotzdem waren seine Knie immer noch weich wie Butter.
Humpelnd machte er sich auf den Weg zu seinem Zimmer. Julian konnte nicht mehr als einen Kilometer von dem Haus der Afrika-Oma entfernt sein. Dennoch erschien ihm die Entfernung unendlich weit. Die wenigen Passanten, die ihm entgegenkamen, würdigten sein Aussehen keines Blickes. Wahrscheinlich kam es hier öfter vor, dass man ein blutüberströmtes Verbrechensopfer erblickte.
Julians Abschied von Löhrfelden kam ihm immer stärker wie eine Vertreibung aus dem Paradies vor. Man konnte ja gegen das Kuhdorf sagen, was man wollte – aber solche üblen Schlägertypen suchte man dort vergebens. Die kriminellsten Typen von Löhrfelden waren Andi und Julian selbst. Aber über diese Tatsache konnte er in diesem Moment nicht so richtig lachen.
Als Julian nach einer gefühlten halben Ewigkeit in seinem Zimmer angekommen war, zog er sich aus und stellte betrachtete stöhnend seine Blessuren. Eigentlich war er mit einem blauen Auge davongekommen, die Straßenräuber hätten ihn noch wesentlich schlimmer zurichten können.
Aber es war ein Problem, dass sie ihn so richtig abgezogen hatten.
In einem seltenen Anfall von Vorsicht und vorausschauendem Denken hatte Julian am Vortag einen 50-Euro-Schein zusammengefaltet und in seiner linken Socke versteckt. Dieses Geld war jetzt alles, was von dem Darlehen seiner Schwester noch übriggeblieben war. Julian verfügte noch nicht mal mehr über ein Handy, um Saskia anzurufen. Natürlich konnte er eine öffentliche Telefonzelle benutzen. Aber es blieb die Tatsache, dass der Fünfziger im Handumdrehen aufgebraucht sein würde.
Julian war noch nie gut darin gewesen, Geld zu verdienen. Schnorren konnte er, aber das erwies sich im Ausland gewiss schwieriger als daheim. Außerdem hatte er von Charleroi bereits nach einem Tag die Nase voll.
Saskia wird mir bestimmt helfen, sagte sich Julian. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Trotz der drohenden Verhaftung musste er nach Löhrfelden zurückkehren.
Saskia war wieder auf dem Weg nach Köln. Ihren Eltern hatte sie gesagt, dass sie zu Opa und Oma ins Krankenhaus fahren wollte. Das stimmte sogar. Allerdings hatte sie verschwiegen, dass ihr erstes Ziel Dupics Handyladen war. Es hatte keine besondere Detektivarbeit erfordert, die Adresse herauszubekommen.
Je mehr sie sich der Metropole näherte, desto größer wurde ihre Wut auf diesen Mann. Und das war ein gutes Gefühl, denn nur so konnte sie ihre Angst besiegen. Saskia wusste, dass sie keine Heldin war. Darüber machte sie sich keine Illusionen. Aber gerade deshalb musste sie zornig sein, um einer so bedrohlichen Gestalt wie Dupic überhaupt entgegentreten zu können. Normalerweise wich sie jedem Konflikt aus, wenn es nur irgendwie möglich war. Saskia fühlte sich durch ihre Emotionen stärker als durch die Waffe in ihrem Hosenbund. Sie hatte nämlich noch niemals geschossen, und schon gar nicht auf einen Menschen.
Saskia fuhr in ein Parkhaus. Als Arzthelferin konnte sie ihre eigenen Symptome gut deuten. Ihr Blutdruck hatte vermutlich schwindelerregende Höhen erreicht, ihr Herz raste, ihre Handflächen waren kaltschweißig. Und sie hatte innerlich die ganze Zeit Dupics Visage vor sich. Dieser Mann musste begreifen, dass er ihre Familie nicht länger bedrohen durfte. Wenn er in die Mündung ihrer Waffe starrte, würde er den Ernst der Lage erkennen. Das war ihre einzige Chance.
Das Parkhaus befand sich nur wenige Gehminuten von dem Laden in dem quirligen Bahnhofsviertel entfernt. Saskia atmete noch einmal tief durch, dann stiefelte sie los. Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, dann würde sie es sich niemals verzeihen. Es ging hier nicht nur um sie selbst, sondern um ihre ganze Familie. Das führte sie sich vor Augen. Saskia presste die Lippen aufeinander und öffnete die Tür des Handyladens.
Aber ihr Widersacher war nirgendwo zu sehen. Stattdessen stand eine blasse dunkelhaarige junge Frau hinter dem Verkaufstresen. Ihr hübsches Gesicht spiegelte unendlichen inneren Schmerz wider. Jedenfalls kam es Saskia so vor.
„Sie wünschen?“
Die Stimme der Verkäuferin war nur ein leiser Hauch. Sie trug schwarze Kleidung.
„Dupic“, brachte Saskia hervor. „Ich will mit Dupic sprechen.“
Ihre Wut fiel in sich zusammen wie ein Hefeteig, der nicht aufgehen will. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier eine andere Person zu treffen. Und es wurde noch schlimmer.
„Er musste etwas erledigen“, flüsterte die Schwarzgekleidete. „Deshalb vertrete ich ihn. Bei uns geht alles drunter und drüber, seit meine Zwillingsschwester … seit der Unfall …“
Die Unterlippe der Verkäuferin begann zu zittern. Saskia fühlte sich plötzlich hundsmiserabel. Die Schwester des Opfers stand ihr gegenüber. Im Gegensatz zu Dupic wirkte diese Frau überhaupt nicht bedrohlich. Plötzlich schämte sich Saskia für ihr Vorhaben. Sowohl die Zwillingsschwester als auch Dupic hatten einen geliebten Menschen verloren – und sie, Saskia, wollte hier die pistolenschwingende Rächerin spielen? Was für einen Beweis gab es überhaupt dafür, dass Dupic auf ihren Großvater geschossen hatte?
Saskia machte ein paar Schritte rückwärts.
„I-ich komme ein anderes Mal wieder“, stammelte sie. „Es ist nicht so dringend.“
Und bevor die traurige Verkäuferin etwas erwidern konnte, hatte Julians Schwester den Laden bereits wieder verlassen. Sie fühlte große Erleichterung darüber, dass sie sich nicht als Verwandte des Brückenteufels zu erkennen gegeben hatte. Saskia wäre vor Scham und Selbstverachtung am liebsten im Boden versunken. Sie musste sich jetzt zusammenreißen, ins Krankenhaus fahren und sich um Oma kümmern. Mit etwas Glück hatte Kurt Koch die Operation gut überstanden.
Im Parkhaus fuhr Saskia mit dem Lift zur untersten Ebene. Sie wollte zu ihrem Volvo, als sie mit brutaler Gewalt gegen eine der Wände geworfen wurde. Saskia stieß einen Schrei aus, weil ihr Hinterkopf gegen den Beton knallte.
Dupic war wie ein Felsen aus Fleisch vor ihr aufgetaucht.
Mit seinem starken Unterarm presste er Saskias Kopf so stark gegen die Parkhauswand, dass sie noch nicht einmal den Mund öffnen konnte. Die Angst, die sie so erfolgreich in die hintersten Ecken ihrer Seele verbannt hatte, kehrte machtvoll und stärker als je zuvor zurück.
„Wie nett, dass die Schwester des Brückenteufels mir einen Kondolenzbesuch abstatten wollte“, knurrte Dupic gefährlich leise. „Und wie praktisch, dass du genau in dieses Parkhaus gefahren bist. Ausgerechnet hier funktionieren die Überwachungskameras nicht so richtig. Und der Security-Heini ist ein Kumpel von mir. Manchmal habe ich eben auch Glück.“
Dupic lachte, aber es klang eher wie das Jaulen eines getretenen Hundes.
„Ich war übrigens im Hinterzimmer, als du mit Lydia gesprochen hast. Ich habe deine Stimme sofort wiedererkannt. Als du rausgegangen bist, musste ich dich nur verfolgen. So kann ich unter vier Augen mit dir reden, ganz ohne Zeugen. Weißt du übrigens, was ich gemacht habe, während die Schwester meiner Braut vorn im Laden bediente? Ich habe im Internet nach einem brauchbaren Wahrsager gesucht. Er soll mir dabei helfen, deinen verfluchten Bruder zu finden.“
Saskia fragte sich, ob Dupic sich einen kruden Scherz mit ihr erlaubte. Doch ein Blick in seine unbarmherzigen dunklen Augen bewies ihr das Gegenteil. Er meinte es tödlich ernst. War Dupic immer schon verrückt gewesen oder hatte Tatjanas Tod ihm den Verstand geraubt? Saskia war jedenfalls überzeugt davon, es mit einem gewalttätigen Geisteskranken zu tun zu haben.
Immerhin befand sich immer noch eine Pistole in ihrem Hosenbund, von deren Existenz Dupic nichts wissen konnte. Und Saskia hatte beide Hände frei. Es gab allerdings ein ganz anderes Problem.
Die Furcht hielt sie fest in ihren Klauen. So fest, dass sie nicht zur Waffe greifen konnte.
„Ich wette, du kennst das Versteck deines Mörderbruders. Die große Schwester, die alles für den kleinen Loser Julian tun würde. Glaub mir, ich habe dich durchschaut. Du kommst so brav und scheinheilig daher, aber in Wirklichkeit hilfst du dem Bastard bei seiner Flucht. Je eher du dein liebes Brüderchen verpfeifst, desto weniger schmerzhaft wird es für dich.“
Saskia bekam momentan nur durch die Nase Luft, weil das harte muskulöse Fleisch von Dupics Unterarm immer noch gegen ihren Mund und Unterkiefer drückte. Sie hatte die düsteren und blutrünstigen Tätowierungen seiner Haut direkt vor Augen. Wie sollte sie ihm antworten, wenn er sie auf diese Art zum Schweigen zwang?
Es war, als ob ihr Widersacher Saskias Gedanken gelesen hätte. Er lockerte seine Umklammerung ein wenig.
„Wenn du schreist, dann schneide ich dir die Kehle durch. Das mache ich nicht nur bei Hunden, sondern auch bei Menschen.“
Dupics Worte trafen Saskia wie Hammerschläge. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden nun zur brutalen Gewissheit.
„Sie – haben Rowdy getötet!“
Dupic lachte gehässig.
„Du merkst aber auch alles, Süße. Vor dir steht ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Es ist mir egal, ob die Bullen mich einbuchten, nachdem ich meine Mission erfüllt habe. Kapierst du, was ich damit sagen will? Ihr könnt mir nicht entkommen!“
Nun wusste Saskia also endgültig, woran sie war. Von diesem Mann hatten weder sie noch ihre Familie Gnade zu erwarten. Dupic hatte ihren geliebten Hund umgebracht, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass er auch bereits mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
„Die Polizei wird uns beschützen“, hauchte sie.
„Ja, sicher – so wie die Bullen vor Unheil bewahrt haben.“
Dupic konnte für die Schüsse auf Kurt Koch ein Alibi vorweisen. Und Saskia zweifelte nicht daran, dass man ihn auch für zukünftige Anschläge nicht würde belangen können. Es spielte auch überhaupt keine Rolle, ob Dupic selbst schoss oder die Drecksarbeit von einem seiner Handlanger erledigen ließ.
Jetzt wäre der passende Zeitpunkt gewesen, um die Pistole zu ziehen. Aber Saskia war nicht in der Lage dazu, ihre innere Sperre zu überwinden.
„Kann ich denn gar nichts tun, Herr Dupic?“
Sie hätte selbst nicht sagen können, warum sie ausgerechnet ihren schlimmsten Feind um Rat fragte. Doch der Killer schien genau darauf gewartet zu haben. Er grinste wölfisch.
„Nun kommen wir doch der Sache schon näher. Ich wusste, dass du ein vernünftiges Mädchen bist, Saskia. Auf meine Menschenkenntnis kann ich mich verlassen. Eigentlich will ich gar nichts von dir, auch nicht von deinen Eltern oder deinen Großeltern. Du weißt, auf wen ich es abgesehen habe, oder?“
„A-aber ich habe keine Ahnung, wo sich Julian aufhält. Die Polizei sucht ihn mit Hochdruck.“
Dupic schüttelte langsam den Kopf, als wenn er es mit einem uneinsichtigen Kind zu tun hätte.
„Saskia, Saskia. Soll ich dir jetzt glauben? Ich habe meine Methoden, um einen Menschen zum Reden zu bringen. Aber du hast so ein hübsches Gesicht. Ich fürchte, ohne Nase würdest du nicht mehr so attraktiv aussehen. Dann würden die Männer nichts mehr von dir wissen wollen.“
Mit diesen Worten zog Dupic ein Butterflymesser aus der Tasche, klappte es auf und hielt es mit seiner freien Hand vor Saskias Gesicht. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von der blitzenden Klinge abwenden. Ihr Herz raste, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn.
„Ich habe Julian getroffen, nachdem er … nachdem das Unglück geschehen ist. Ich gab ihm Geld, er wollte sich nach Frankreich oder Belgien absetzen. Mehr weiß ich nicht.“
Dupic nickte langsam, während Saskia mit brüchiger Stimme ihr Geständnis hervorbrachte. Seine Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an. Schließlich erschien ein schmales Lächeln auf seinem Gesicht.
„Weißt du was? Ich glaube dir. Du bist eine ehrliche Haut, wie man so schön sagt. Und ich begreife deinen Gewissenskonflikt. Dieses feige Mörderschwein ist schließlich dein Bruder. Und Blut ist dicker als Wasser, nicht wahr? Aber du wirst verstehen, dass ich Julian nicht davonkommen lassen kann. Vielleicht ist er wirklich im Ausland, obwohl er auch dort nicht sicher vor mir ist. Ich habe nämlich auch so meine Verbindungen, musst du wissen. Aber es wäre auch möglich, dass er zurückkehrt. Du könntest ihm eine Heimreise schmackhaft machen, wenn er dich anruft.“
„Wie soll das funktionieren? Er weiß doch, dass er gesucht wird.“
„Da wird dir schon etwas einfallen. Du könntest ihm ja erzählen, dass die Bullen einen anderen Verdächtigen festgenommen haben, beispielsweise. Und wenn dann dein Brüderchen in euer Kaff zurückkehrt, meldest du dich bei mir. Ich erledige dann den Rest.“
Dupic steckte das Messer weg und zog stattdessen eine Visitenkarte hervor. Darauf standen sein Name und eine Mobilfunknummer. Er steckte die Karte oben in Saskias T-Shirt.
„Nicht verlieren, okay?“
Der Killer trat einen Schritt zurück und nahm seinen Arm nun endgültig von Saskias Hals und Kinn weg. Sie hustete und würgte. Dupic wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um.
„Ach ja, bevor ich es vergesse: Du solltest dich besser anstrengen, Julian in meine Gewalt zu bringen. Denn wenn das nicht klappen sollte, lösche ich dich und deine ganze Familie aus.“
Er wandte sich ab und verließ das Parkhaus. Saskia zog zitternd die Pistole aus dem Hosenbund, zielte auf Dupics Rücken. Ihr Herz raste.
Sie betätigte den Abzug. Aber die Waffe ging nicht los.
Marlies Koch war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Es brach Saskia das Herz, ihre Oma in diesem Zustand zu sehen. Sie war sofort ins Krankenhaus gefahren, nachdem sie vergeblich versucht hatte, den Killer zu ermorden.
Bin ich sogar zum Schießen zu dämlich? Dachte sie voller Selbstverachtung. Saskia empfand eine natürliche Scheu vor Waffen. Daher hatte sie sich noch nicht einmal vergewissert, dass Opas Pistole überhaupt geladen war, als sie die Schusswaffe aus dem Schrank geholt hatte. Und das war natürlich nicht der Fall gewesen. Saskia hatte nach ihrer unheimlichen Begegnung mit Dupic festgestellt, dass überhaupt keine Patronen in der Glock 22 waren. Aber da war es zu spät, um es zu ändern. Die einmalige Gelegenheit, sich Dupic vom Hals zu schaffen, war verstrichen.
Immerhin schien der Killer nicht bemerkt zu haben, dass Saskia eine Waffe auf seinen Rücken gerichtet hatte. Aber das war auch das einzig Positive, das sie der Situation abgewinnen konnte.
Doch selbst wenn sie gefeuert hätte – was wäre dadurch gewonnen gewesen? Saskia konnte sich lebhaft vorstellen, dass ein Mann wie Dupic nicht ungerächt bleiben würde. Und auf Notwehr hätte sie sich wohl kaum berufen können, wenn sie ihm aus der Entfernung in den Rücken schoss. Also wäre Saskia selbst wegen Mord oder zumindest wegen Totschlags angeklagt worden.
Diese Gedanken spukten ihr durch den Kopf, während sie neben ihrer Großmutter im Wartebereich der Intensivstation Platz nahm. Saskia legte ihre Hand auf die Finger der älteren Frau. Sie waren eiskalt.
„Wie steht es um Opa?“
Saskia hatte gezögert, diese Frage zu stellen. Aber einmal musste sie ja doch in Erfahrung bringen, wie sein Zustand war. Sonst würde ihr nämlich die Ungewissheit den Rest geben. Marlies Koch wandte sich ihrer Enkelin zu. Sie wirkte so geistesabwesend, als ob sie sich in Trance befände.
„Die Operation ist wohl erfolgreich verlaufen, aber Opa ist noch nicht aus dem Koma aufgewacht. Man hofft, dass es irgendwann geschehen wird. Aber vielleicht bleibt Kurt auch in diesem Zustand.“
Die geröteten Augen von Saskias Großmutter zeugten davon, dass sie viel geweint hatte. Saskia legte nun den Arm um ihre Schultern.
„Willst du nicht nach Hause fahren und dich etwas ausruhen, Oma? Du hilfst Opa nicht, indem du hier zusammenklappst.“
Marlies Koch schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bleibe bei meinem Mann. Ich will als Erste hier sein, wenn er aufwacht … falls er aufwacht.“
Dann versank sie wieder in Schweigen. Es gab in diesem Moment auch nichts, was hätte gesagt werden können. Saskia verfiel in dumpfes Grübeln.
Wie sollte es nun weitergehen? Sie hatte die Nummer von Julians neuem Billighandy in ihrer Anrufbox. Sie konnte ihren Bruder zurückrufen, wie Dupic es von ihr verlangt hatte. Und dann? Sollte sie ihn wirklich in die Falle locken? Wenn sie es tat, dann war es, als ob sie Julian seinem Henker übergeben würde.
Er hatte schwere Schuld auf sich geladen, und gewiss war nicht die ganze Familie des Opfers so blutrünstig wie Dupic. Saskia musste an die Zwillingsschwester der Toten denken. Sie würde vielleicht endlich wieder ruhig schlafen können, wenn der Täter seiner gerechten Strafe zugeführt wurde. Das alles war für Saskia völlig nachvollziehbar, und doch zögerte sie. Aber wenn sie nichts unternahm, würde sich die Schlinge um ihren eigenen Hals immer stärker zusammenziehen. Und ihr Opa starb womöglich einen sinnlosen Tod.
Saskia gab sich einen Ruck und stand auf.
„Ich gehe mal eben draußen telefonieren, Oma. Das darf man ja im Hospital nicht.“
Marlies Koch nickte geistesabwesend. Saskia war nicht sicher, ob ihre Oma sie verstanden hatte. Jeder Schritt schien schwerer zu werden, als sie auf den Vorplatz des Krankenhauses trat, wo die nikotinsüchtigen Patienten auf Bänken und in Rollstühlen saßen und ihrem Laster frönten. In diesem Moment hätte Saskia auch eine Zigarette vertragen können, obwohl sie Nichtraucherin war.
Sie holte Julians Nummer aus dem Speicher und tippte darauf. Doch es war sinnlos. Dieser Anschluss schien nicht mehr zu existieren. Saskia führte sich vor Augen, dass sich ihr Bruder vermutlich im Ausland befand. Ob Roaming mit seinem Billighandy überhaupt funktionierte? Oder hatte er längst eine belgische oder französische SIM-Card mit einer völlig anderen Nummer?
Saskia blickte auf ihr Smartphone, das sich weigerte, eine Verbindung zu Julian herzustellen. Sie konnte ihren Bruder nicht erreichen. War nun das Todesurteil für sie und ihre Familie gesprochen worden?
„Guten Tag, Frau Koch. Ich dachte mir, dass ich Sie hier treffe.“
Saskia zuckte zusammen, als sie plötzlich die Männerstimme hinter sich hörte. Ihre Nerven lagen blank. Sie wirbelte herum. Zu ihrer Erleichterung hatte sie es jetzt nicht mit Dupic zu tun, sondern mit Oberkommissar Lehmann. Doch sein sorgenvolles Gesicht verhieß nichts Gutes.
„H-Herr Lehmann! Gibt es Neuigkeiten wegen der Schüsse auf meinen Opa?“
„Zu laufenden Ermittlungen darf ich Ihnen leider nichts sagen. Aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mit Ihnen noch einmal über Andreas Brauer zu sprechen.“
Saskia machte eine hilflose Geste.
„Was soll das nützen? Ich habe in meinem Leben vielleicht zehn Sätze mit diesem Mann gesprochen. Ich sagte Ihnen doch schon, dass er als Einsiedler im Wald lebte.“
Der Kriminalist nickte.
„Ja, das erwähnten Sie. Wir haben inzwischen die Leiche von Andreas Brauer gefunden. Es war purer Zufall, dass sie entdeckt wurde. Offenbar hat jemand den Körper mit einem Stein beschwert und im Rhein versenkt. Das Seil, mit dem dieses Gewicht an den Füßen befestigt war, ist offenbar durch die Schiffsschraube eines Binnenschiffs zertrennt worden. Dann gelangte der Leichnam durch eine günstige Strömung an die Wasseroberfläche.“
Es dauerte einen Moment, bis Saskia diese Nachricht begriffen hatte. Besondere Sympathie hatte sie niemals für Andi empfunden. Aber deshalb wünschte sie ihm noch lange nicht den Tod. Und sein unerwartetes Ende hatte gewiss keine natürlichen Ursachen gehabt. Diese düstere Ahnung wurde zur Gewissheit, als der Oberkommissar fortfuhr:
„Andreas Brauer ist erschossen worden, und zuvor wurde er brutal gefoltert. Wer immer ihm das angetan hat, wollte Informationen über Ihren Bruder aus ihm herausbekommen. So lautet jedenfalls meine Theorie.“
Saskia ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Es fiel ihr schwer, ihre Gefühle in Worte zu fassen.
„Wer immer ihm das angetan hat?“, wiederholte sie mit tonloser Stimme. „Sie wissen doch, wer Andi auf dem Gewissen hat, Herr Lehmann.“
Der Oberkommissar presste die Lippen aufeinander, bevor er sprach.
„Ja, ich weiß es. Aber ich will offen mit Ihnen sprechen, Frau Koch. Wir haben gegen Herrn Dupic nichts in der Hand. Es gibt nicht den geringsten Beweis für seine Beteiligung an der Ermordung von Andreas Brauer oder an den Schüssen auf Ihren Großvater.“
„Meine Familie braucht Polizeischutz!“, stieß Saskia verzweifelt hervor.
„Diese Maßnahme ist momentan nicht zu rechtfertigen“, erwiderte Lehmann steif. „Es wäre sehr hilfreich, wenn sich Ihr Bruder endlich den Behörden stellen würde. Dann könnte man diesen ganzen Alptraum sehr schnell beenden. – Ich gehe jetzt hinein, um mich nach Ihrem Opa zu erkundigen. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie etwas von Julian hören.“
Saskia wurde plötzlich bewusst, dass sie inzwischen sowohl über eine Visitenkarte des Kriminalisten als auch des Killers verfügte. Das war eigentlich zum Lachen, aber Saskia fand es nicht komisch. Sie hätte Lehmann natürlich von der Bedrohung durch Dupic erzählen können. Aber da es keine Zeugen für die Begegnung im Parkhaus gab, wäre diese Aussage völlig sinnlos gewesen. Außerdem würde der rabiate Glatzkopf es gewiss nicht gut finden, wenn sie ihn bei der Polizei anschwärzte.
Saskia wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Da klingelte plötzlich ihr Smartphone.
Der Anruf kam von der Intensivstation. Saskias Großmutter hatte im Wartebereich einen Kreislaufkollaps erlitten.
Wenn man im Krankenhaus zusammenklappt, ist zumindest gleich geschultes Personal in der Nähe. So gesehen hatte Marlies Koch Glück im Unglück gehabt. Sie wurde sofort behandelt, Saskia durfte schon kurze Zeit später zu ihr.
„Da habe ich es wohl etwas übertrieben mit meiner Sorge um Kurt“, sagte ihre Oma mit einem matten Lächeln zu ihr. Die behandelnde Ärztin Dr. Kerstin Schröder nahm Saskia beiseite.
„Ihre Großmutter war stark dehydriert, weil sie viel zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen hat. Die Schlaflosigkeit sowie die psychische Anspannung aufgrund des Zustands Ihres Großvaters haben ein Übriges getan. Ich habe der Patientin ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht. Es wäre am besten, wenn Sie Ihre Großmutter mit nach Hause nehmen würden.“
Saskia zuckte mit den Schultern.
„Das will ich gern tun, falls sie sich darauf einlässt.“
Aber nachdem Saskia und die Medizinerin einige Zeit lang wie mit Engelszungen auf die ältere Frau eingeredet hatten, konnten sie Marlies Koch überreden.
„Sie müssen mich sofort anrufen, wenn sich der Zustand meines Mannes ändert“, bat Oma zum Abschied. Dann wurde sie von Saskia vorsichtig in den Volvo gesetzt.
„Du musst mich nicht wie ein rohes Ei behandeln, dein Großvater und ich haben schon ganz andere Lebenslagen überstanden“, sagte Marlies Koch zu ihrer Enkelin. Saskia war insgeheim erleichtert, obwohl ihre Oma leicht gereizt reagierte. Aber das war in ihren Augen der beste Beweis dafür, dass es der alten Dame schon wieder besser ging. Doch Saskia konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Großmutter jemals zuvor von einem gewaltsamen Tod bedroht worden war. Allerdings erzählte Saskia ihrer Oma nichts von der Begegnung mit Dupic. Es war auch so schon alles schlimm genug.
Die Fahrt nach Löhrfelden verlief ereignislos. Großmutter war dank des Beruhigungsmittels schläfrig geworden. Saskia hingegen wurde von einer solchen inneren Unruhe geplagt, dass sie auf dem Fahrersitz am liebsten hin und her gerutscht wäre. Sie musste unbedingt etwas unternehmen – leider hatte sie überhaupt keine Ahnung, was das sein sollte!
Als sie ihr Elternhaus erreichte, war die Polizei inzwischen abgezogen. Die Medienmeute hatte sich bisher nicht blicken lassen, und das war immerhin ein kleiner Trost. Jutta und Manfred Koch reagierten geschockt, als sie von Omas Zusammenbruch erfuhren. Doch wie erwartet ergriff Saskias Mutter sofort die Initiative.
„Es wäre schon gut, wenn stets einer von uns im Hospital wäre. Ich fahre jetzt sofort dorthin, Manfred kann mich ja später ablösen.“
Ihre Schwiegermutter wurde von Jutta Koch ins Bett geschickt, als ob sie ein kleines Kind wäre. Aber diesmal fand Saskia die resolute Art ihrer Mama gut. Es war vermutlich die beste Art, mit der Situation umzugehen. Saskia wünschte sich, dass sie nur halb so viel Durchsetzungsvermögen besessen hätte wie ihre Mutter. Bevor ihre Oma ins Schlafzimmer hoch gebracht wurde, holte sich Saskia noch heimlich eine Schachtel Munition aus dem Waffenschrank. Nach wie vor konnte sie nicht sagen, ob sie wirklich die Pistole würde einsetzen können. Einmal hatte sie es ja zumindest versucht. Jetzt war jedenfalls nicht die Zeit für unnötige Hemmungen.
Saskia zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie versuchte, die Waffe zu laden, stellte sich dabei aber sehr ungeschickt an. Da fiel ihr ein, dass es doch heutzutage für fast alles ein Online-Manual gab. Sie stellte ihr Notebook an und fand wenig später ein Video, in dem das Laden einer Glock 22 gezeigt wurde. Außerdem lernte sie, dass sie die Pistole erst entsichern musste, bevor sie feuern konnte.
Leider gibt es keine Anleitung, wie ich meine Furcht überwinden kann, dachte sie zerknirscht. Aber immerhin schob sie nun eine geladene Waffe in ihren Hosenbund. Saskia überlegte. Die Polizei hatte Andis Bauwagen durchsucht. Aber es gab noch eine Stelle im Wald, wo Julian und sein Kumpel öfter gekifft hatten. Vielleicht konnte man dort irgendeinen Hinweis auf ihren Bruder finden. Julian war nämlich sehr darauf bedacht gewesen, seine Drogen nicht im Haus aufzubewahren. Wenn Saskia herausfand, bei welchem Dealer Julian kaufte, konnte sie über diesen Typen vielleicht an ihn herankommen. Es war zwar nur eine winzige Chance, aber inzwischen griff sie nach jedem Strohhalm.
Ein leises Schnarchen aus dem Schlafzimmer der Großeltern zeugte davon, dass Oma endlich eingeschlafen war. Saskia ging hinunter ins Wohnzimmer. Papa saß vor dem TV und schaute einen Nachrichtensender. Momentan hatten andere Schreckensmeldungen die Stories über den Brückenteufel verdrängt, zumal die Polizei keine Fahndungserfolge vorweisen konnte.
„Ich gehe noch ein wenig frische Luft schnappen, Papa“, sagte Saskia mit einer Lockerheit, die sie nicht empfand.
Ihr Vater warf ihr einen verzagten Blick zu.
„Ist das nicht zu gefährlich, nach dem, was mit Opa passiert ist?“
Meine Ängstlichkeit könnte auch vererbt worden sein, dachte Saskia. Aber sie hielt ihren Mund. Ihr Vater war so ungefähr der letzte Mensch auf der Welt, den sie absichtlich hätte kränken wollen.
„Nein, Papa. Wer sollte mir etwas tun wollen? Ich kann schon auf mich aufpassen. Außerdem habe ich ja mein Smartphone dabei, falls du mich erreichen willst.“
Bevor ihr Vater etwas erwidern konnte, ging Saskia zur Haustür und zog sie von außen hinter sich zu. Der kühle Wind auf ihrem Gesicht tat ihr gut. Sie ließ ihr Fahrrad im Schuppen und ging zu Fuß. Im Wald konnte sie auf diese Weise sowieso besser vorankommen.
Saskia fühlte sich sicher, sobald sie zwischen den großen Baumstämmen umherstreifte. Hier kannte sie jeden Stein und jeden Holzstapel. Schon als Kind hatte sie die Umgebung erkundet und sich mit der Zeit immer weiter in das Gehölz hinein gewagt. Es kam ihr seltsam vor, dass sie sich ausgerechnet hier nicht fürchtete. In vielen Märchen und Sagen lag das Grauen tief im dunklen Wald verborgen, aber Saskia empfand die Undurchdringlichkeit und Unübersichtlichkeit des weitläufigen Areals eher als Schutz. Sie konnte sich auf dem weichen Boden beinahe völlig lautlos bewegen, und auf die wenigen Waldwege war sie auch nicht angewiesen.
Es dauerte keine zwanzig Minuten, bis sie die Lieblingsstelle ihres Bruders erreicht hatte. Saskia schnaubte verächtlich. Natürlich hatten Julian und Andi hier ihre Bierdosen, Jointreste und sonstigen Müll herumliegen lassen. Es war eine schöne geschützte Mulde, mit Blick auf einen kleinen Weiher. Man musste schon bis auf wenige Meter herankommen, um jemanden zu bemerken, der sich hier im Schatten der großen Bäume befand.
Saskia kniete sich hin und schaute sich genauer um. Je länger sie die Abfälle betrachtete, desto idiotischer kam ihr ihre Hoffnung vor. Was hatte sie eigentlich erwartet? Einen Zettel mit dem Namen und der Anschrift eines Dealers? Am besten noch in Plastik verpackt, damit der Regen die Tinte nicht wegwischen konnte? Ihr Ausflug in den Wald mochte erholsam gewesen sein, aber er hatte sie nicht einen Schritt weiter gebracht. Sie hätte heulen können.
Da knackte plötzlich ein Zweig hinter ihr. Jemand war darauf getreten. Saskia konnte förmlich spüren, dass sie nicht mehr allein war. Außer den Waldtieren hatte sich noch jemand zu ihr gesellt. Sie drehte sich um.
„Hallo, Schwesterherz.“
Saskias Kehle war plötzlich staubtrocken. Julian war zurückgekehrt!
Sie räusperte sich, bevor sie sprechen konnte. Ihre Gefühle waren sehr gemischt. Einerseits war sie froh, dass er noch lebte. Andererseits empfand sie einen ungeheuren Zorn, der sich seit ihrer letzten Begegnung nur noch gesteigert hatte.
„Was ist denn mit deinem Gesicht passiert, Julian? Hat Dupic dich durch die Mangel gedreht? Ich hatte gedacht, er würde dich gleich umbringen.“
„Wovon redest du überhaupt? Wer ist dieser Dupic?“
„So heißt der Freund von Tatjana. Das ist die junge Frau, die du auf dem Gewissen hast. Ich habe dir schon von ihm erzählt, als du nachts angerufen hast. Aber du hörst ja nie zu. Dupic ist ein Widerling, er hat Rowdy getötet und Opa angeschossen. Er will uns alle töten, wenn er dich nicht in die Finger bekommt.“
Mit grimmiger Genugtuung bemerkte Saskia, dass ihre Worte auf Julian wirkten. Sein zerschundenes Gesicht wurde bleich. Natürlich, wenn es um seine eigene Haut ging, dann war er immer sehr besorgt.
„Echt, so ein übler Kerl ist hinter euch her? Das ist ja krass. Okay, ich habe es auch nicht leicht. Ich war in Belgien, hatte da Stress mit ein paar Fieslingen. Die haben mir meine Kohle und mein Handy abgezogen. Mit meinen letzten paar Euros bin ich zurückgekehrt. Du musst mir noch mal …“
„Nein!“ Saskia war von sich selbst überrascht. „Du musst endlich mal zu deiner Verantwortung stehen, Julian. Das Leben ist kein Ponyhof, vielleicht hast du davon schon mal gehört. Oder hast du dir bereits deine letzten Gehirnzellen weggekifft?“
Eine solche Ansage war ihr Bruder nicht von ihr gewöhnt. Er reagierte auf seine übliche Art.
„Hey, chill doch mal …“
„Nein, ich chille nicht! Vor ein paar Stunden wollte mir Dupic die Nase abschneiden, wenn ich dich nicht verrate. Und ich will meine Nase behalten, stell dir vor. Du solltest dich der Polizei stellen, Julian. Dann hast du eine Chance, Dupics Rache zu entkommen.“
„Ich werde ganz bestimmt nicht zu den Bullen rennen, das kannst du vergessen. Woher willst du überhaupt wissen, dass ich es war, hm?“
„Du hast es doch selbst zugegeben. Oder willst du die Schuld auf Andi abwälzen? Das funktioniert diesmal nicht, Brüderchen. Dupic hat nämlich deinen Freund schon in seine Finger bekommen. Andi wurde gefoltert und getötet, seine Leiche trieb im Rhein.“
„Das denkst du dir doch aus, Saskia. Was hast du denn geraucht? Meine Schwester, die Streberin, fährt plötzlich auf Horror-Stories ab. Wie heftig ist das denn?“
„Geh doch zu Andis Bauwagen, wenn du mir nicht glaubst. Die Polizei sagt, da sei alles voller Blut. Und was soll der Spruch mit der Streberin? Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt selbst, hast du etwas dagegen? Es kann nicht jeder so ein fauler Schnorrer sein wie du einer bist.“
Es gefiel Julian offenbar gar nicht, dass Saskia plötzlich Klartext mit ihm redete. Allmählich dämmerte ihm anscheinend, dass er kein weiteres Geld von ihr zu erwarten hatte.
„Ja, du sitzt auf deinem hohen Ross und hältst mir Moralpredigten. Aber es ist nicht leicht, der kleine Bruder einer so perfekten Schwester zu sein. Ständig haben Mama und Papa mir dich als strahlendes Vorbild präsentiert. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ätzend das ist?“
Das Selbstmitleid ihres Bruders steigerte Saskias Zorn nur noch weiter, obwohl ihr das kaum vorstellbar erschien.
„Wenigstens habe ich keinen Menschen getötet. Aber vielleicht kommt das ja noch, wer weiß? Und jetzt hau ab, bevor ich mich vergesse!“
Mit diesen Worten zog Saskia die Pistole, die sie hinten ihm Hosenbund unter ihrem T-Shirt versteckt getragen hatte. Julian war völlig überrascht, und sie selbst eigentlich auch. Noch vor wenigen Tagen wäre es für sie unvorstellbar gewesen, eine geladene Schusswaffe auf einen Menschen zu richten. Aber seitdem hatte sich einiges geändert.
„Drehst du völlig am Rad? Ich verschwinde. Aber so schnell werdet ihr mich nicht los.“
Julian drehte sich um und rannte davon. Wenig später war er zwischen den dicht stehenden Bäumen nicht mehr zu sehen.
Saskia schaute ihm verwirrt nach. Ihre Wut wurde zu Verwirrung und Verzweiflung. Sie hatte soeben die Chance gehabt, die unmögliche Situation aufzulösen. Oder?
Julian wollte sich nicht stellen, das hatte er klargemacht. Sollte sie ihren eigenen Bruder vielleicht mit vorgehaltener Pistole zur Polizei bringen? Dieser Gedanke war völlig abwegig. Aber was sollte nun geschehen? Wie würde Dupic reagieren, wenn Julian diesmal auf Nimmerwiedersehen verschwand?
Saskia wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie steckte die Pistole wieder ein und begann damit, ziellos durch den Wald zu streifen. Am liebsten wäre sie auch fortgelaufen, hätte sich der Verantwortung entzogen. Wenn Julian so etwas tun konnte, warum war sie dazu nicht in der Lage?
Saskia kannte die Antwort. Und das hatte nichts damit zu tun, das sie angeblich eine Streberin war. Sie mochte ihr Heimatdorf, und sie liebte ihre Familie. Sie wollte nicht von hier fort. Und doch war Löhrfelden momentan für Saskia wahrscheinlich der am wenigsten sichere Ort auf der Welt.
Es dämmerte bereits, als sie den Waldrand erreichte. Saskia hatte das Gehölz nicht bei ihrem Elternhaus, sondern in der Nähe des Campingplatzes verlassen, wie sie nun feststellte. Bewusst oder unbewusst? Saskia hätte diese Frage selbst nicht beantworten können. Aber sie erinnerte sich an das unbeschwerte Gespräch mit Daniel. Ob es wohl sehr aufdringlich wäre, wenn sie ihn besuchte?
Sie näherte sich dem Areal und erblickte Herrn Borchers. Der dicke Platzwart machte sich gerade am Vorzelt eines Mietwohnwagens zu schaffen. Er schaute Saskia an, als ob er einen Raubüberfall erwartete. Natürlich wusste er über den Steinwurf Bescheid, so wie jeder in Löhrfelden. Sie versuchte trotzdem, den Schein zu wahren.
„Guten Abend, Herr Borchers“, grüßte sie mit gekünstelter Fröhlichkeit. „Wo finde ich wohl den Caravan der Brinkmanns?“
Der Platzwart starrte Saskia an, als ob sie ihm ein unsittliches Angebot gemacht hätte.
„Hat die Polizei deinen verlotterten Bruder immer noch nicht geschnappt?“
Saskia atmete tief durch.
„Nein, hat sie nicht. Wo steht denn nun der Wohnwagen?“
„Ganz am Ende der dritten Reihe“, grummelte Borchers und wandte sich ab. „Eine Schande für Löhrfelden ist das.“
„Schönen Abend noch“, rief Saskia und eilte davon. Was der Platzwart wohl zu der Glock in ihrem Hosenbund gesagt hätte? Aber sie hatte keine Lust, sich über Borchers aufzuregen. Schließlich war sie hergekommen, weil sie ihre Probleme für kurze Zeit vergessen wollte. Ihr Herz schlug vor Aufregung schneller, als sie an die Tür des Wohnwagens klopfte.
Im Handumdrehen wurde geöffnet. Als Daniel seine Besucherin erkannte, erschien sofort ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht.
„Oh, das ist aber eine schöne Überraschung.“
Er schaute Saskia direkt in die Augen.
„Ich hoffe, dass ich dich nicht gestört habe.“
„Nein, überhaupt nicht. Ich räume gerade auf, denn mein Vater hat den Caravan gebraucht erworben. Da gibt es eine Menge Krempel, der weggeworfen werden kann. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?“
Saskia nickte. Daniel wollte also nicht gleich versuchen, sie in den Wohnwagen zu locken und zu verführen. Das fand sie süß von ihm. Saskia fasste seinen Vorschlag als den Wunsch auf, es langsam angehen zu lassen. Sie hätte ja nichts dagegen gehabt, von ihm geküsst zu werden. Nur vielleicht nicht gleich bei ihrer zweiten Begegnung.
Daniel nahm sich seine Jacke vom Haken und schloss den Caravan ab. Sie verließen den Campingplatz durch einen Nebenausgang. Das war Saskia nur recht, denn sie wollte nicht noch einmal diesem blöden Platzwart über den Weg laufen. Inzwischen war es bereits fast völlig dunkel. Die wenigen Laternen an der Ausfallstraße spendeten dürftiges Licht.
„Es gibt nicht viel zu erleben in Löhrfelden, Daniel. Wir könnten höchstens in die Dorfkneipe gehen, aber die Männer dort sind alle doppel so alt und dreimal so schwer wie du.“
Er lachte.
„Du hast Humor, das gefällt mir. Und dennoch kommt es mir so vor, als ob dich etwas bedrückt.“
„Ja, du hast mich durchschaut“, seufzte Saskia. „Eigentlich hatte ich dich treffen wollen, um nicht über meine Sorgen nachdenken zu müssen.“
„Dann ist es wohl besser, wenn ich dir etwas anderes erzähle. Wie wäre es mit meinen Abenteuern auf Madagaskar?“
Und Daniel begann damit, über Sommerabende unter Affenbrotbäumen zu reden, über vergessene Piratennester und wilde Partys in der Hauptstadt Antananarivo. Es war eine fremde Welt, die Saskias neuer Bekannter packend schildern konnte. Sie glaubte, die exotischen Gerüche der fernen Insel zu riechen und den Gesang von unbekannten Vogelarten zu hören. Genau das hatte sie sich erhofft.
Saskia und Daniel durchquerten einmal das Dorf, was nicht allzu lange dauerte. Keiner von ihnen hatte Lust, in die Dorfschänke zu gehen. Sie suchten nicht die Gesellschaft anderer Menschen, sondern wollten lieber zu zweit allein sein. Schließlich standen sie wieder am Waldrand, denn der Nationalpark umschloss Löhrfelden von drei Seiten.
Saskia nahm ihren Begleiter in der Finsternis nur noch als ein schemenhaftes Etwas wahr. Aber es war für sie einfach schön, seine Stimme hören zu können. Als er seine Erzählung unterbrach, öffnete sie den Mund.
„Es kommt mir so vor, als ob wir uns schon ewig kennen würden, Daniel.“
Er lachte leise.
„Willst du damit sagen, dass dich meine Geschichten langweilen, weil du sie schon hundertmal gehört zu haben glaubst?“
„Nein, ganz im Gegenteil!“
„Das weiß ich doch, Saskia. Ich wollte dich nur ein wenig auf den Arm nehmen. Aber das war nicht böse gemeint, verstehst du? Ich finde dich nämlich sehr nett.“
Nun legte Daniel wirklich seinen Arm um ihre Schultern. Sie zuckte bei der Berührung zusammen, wehrte sich aber nicht dagegen. Denn eigentlich hatte sie es sich ja gewünscht. Und wenn Daniel sie heute schon küssen wollte, dann hätte sie eigentlich nichts dagegen gehabt. Sie beschloss, sich ihm anzuvertrauen.
„Ich mag dich auch. Und ich kann kaum glauben, dass du dich für mich interessierst. Ich fühle mich nämlich, als wenn ich völlig neben der Spur laufen würde.“
„Ich mag dich so, wie du bist, Saskia.“ Daniel zog sie fester an sich. „Wie kommt es denn, dass du dich so verwirrt fühlst?“
Saskia zögerte. Aber sie musste jetzt ehrlich sein. Sie wollte Daniel nichts vormachen.
„Hast du von diesem Steinwerfer gehört, der eine junge Frau getötet hat?“
„Ja, die Meldung ging doch durch alle Medien.“
Saskia atmete tief durch.
„Es ist so, Daniel – dieser Täter ist mein Bruder. Er versteckt sich vor der Polizei, will sich nicht stellen. Aber urplötzlich ist er wieder aufgetaucht. Es ist keine zwei Stunden her, dass ich noch mit Julian geredet habe.“
„Ach, wirklich?“ Daniels Stimme klang plötzlich völlig verändert. „Das wird Boris Dupic gewiss brennend interessieren.“
Saskias Herz blieb beinahe stehen, als ihr die Bedeutung dieser Worte bewusst wurde. Im nächsten Moment bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Hinterkopf und verlor das Bewusstsein.
Oberkommissar Frank Lehmann brütete schlechtgelaunt über Verhörprotokollen, als Kommissarin Eva Teich den Raum betrat.
„Chef?“
„Ja, was gibt es?“
„Sie sagten doch, ich solle das weitere soziale Umfeld von Dupic durchleuchten.“
„Ich weiß, was ich gesagt habe. Wenn der Kriminalrat uns schon keine Rund-um-die-Uhr-Überwachung dieses Psychos genehmigen will, dann müssen wir zumindest versuchen, irgendwo bei Dupic einen Hebel anzusetzen. Es war niemals ein Jäger, der Kurt Koch niedergeknallt hat, auch wenn die Kugel laut Ballistik aus einer Jagdwaffe stammt. Dupic richtet in Löhrfelden noch ein Blutbad an, wenn wir ihn nicht rechtzeitig stoppen. Aber machen Sie das mal unseren Vorgesetzten klar.“
„Mir ist eine interessante Sache aufgefallen“, sagte Eva Teich eifrig. „Daniel Brinkmann hält sich neuerdings in Löhrfelden auf. Offenbar hat er sich dort einen Wohnwagen gekauft.“
Der Oberkommissar runzelte die Stirn.
„Brinkmann? Wer war das noch mal schnell?“
„Ein Weggefährte von Dupic, wenn man das so nennen will. Die Kollegen haben Brinkmann, Dupic sowie zwei weitere Verdächtige vor drei Jahren im Zusammenhang mit einem Raubüberfall verhaftet. Leider ließ sich eine Tatbeteiligung nicht nachweisen, und die Zeugen litten plötzlich alle an Gedächtnisschwund. Wie auch immer, Brinkmann ist kein unbeschriebenes Blatt. Er hat sich schon zwei Vorstrafen wegen Körperverletzung und Schutzgelderpressung eingehandelt, obwohl er noch keine 25 Jahre alt ist.“
Lehmanns Aufmerksamkeit war geweckt.
„Woher wissen Sie, dass Brinkmann in Löhrfelden einen Caravan erworben hat?“
„Es ist in der Gemeinde Vorschrift, dass Dauercamper einen Zweitwohnsitz anmelden. Das läuft über den Platzwart des Campingareals. Ich habe mit dem Bürgermeisteramt telefoniert und nachgefragt, ob es in den letzten Tagen Veränderungen gegeben hätte.“
„Gute Arbeit, Frau Teich.“ Der Oberkommissar stand auf. „Lassen Sie uns gleich mal hinfahren. Ich weiß, dass es schon spät ist. Aber wenn dieser Brinkmann sich in Löhrfelden herumtreibt, dann gewiss nicht wegen der idyllischen Umgebung.“
Lehmanns Stimmung hatte sich schlagartig gebessert. Es war zermürbend, gegen eine Kriminellen wie Dupic nicht vorgehen zu können. Der Killer hatte es bisher immer meisterhaft verstanden, seine Hände in Unschuld zu waschen. Für den Oberkommissar gab es keinen Zweifel daran, dass Dupic die Familie dieses vermaledeiten Steinwerfers bedrohte. Lehmann konnte es kaum abwarten, dem Verbrecher endlich das Handwerk zu legen.
„Gibt es Neuigkeiten von der Fahndung nach Julian Koch?“, wollte Lehmann von seiner Mitarbeiterin wissen, als sie ins Auto stiegen. Eva Teich schüttelte den Kopf.
„Negativ, Chef. Wir haben einen vagen Hinweis von den belgischen Kollegen bekommen. Angeblich soll in Charleroi ein deutscher Drogenkonsument gesichtet worden sein, auf den Kochs Beschreibung zutreffen könnte. Aber als man die einschlägigen Stadtteile genauer unter die Lupe genommen hat, gab es keinen Treffer. Falls dieser Typ überhaupt existiert, ist noch lange nicht gesagt, dass er überhaupt ein Deutscher war.“
„Wahrscheinlich ein Schuss in den Ofen“, mutmaßte der Oberkommissar. „Wenn wir Pech haben, dann bleibt dieser mörderische Blödmann für immer verschwunden.“
„Es wäre ja auch möglich, dass Dupic den Steinwerfer genauso gekillt hat wie den mutmaßlichen Komplizen, diesen Andreas Brauer.“
„Daran habe ich auch schon gedacht, Eva. Aber wenn Julian Koch schon tot ist, was will Brinkmann in Löhrfelden? Und erzählen Sie mir nicht, er würde Ruhe und Entspannung auf dem Campingplatz suchen.“
Die Kommissarin grinste.
„Nein, das wohl nicht.“
Nachdem sie den Kölner Ring hinter sich gelassen hatten, erreichten sie das verschlafene Dorf ziemlich schnell. Auf dem Campingplatz brannte in den meisten Wohnwagen schon Licht. Lehmann und seine Assistentin suchten den Platzwart in seinem Büro auf.
„Ich habe keinen freien Stellplatz mehr“, sagte Borchers zur Begrüßung.
„Den brauchen wir auch nicht“, erwiderte der Oberkommissar und zeigte seine Polizeimarke. „Wo finden wir den Wohnwagen von Daniel Brinkmann?“
Der Platzwart kniff misstrauisch die Augen zusammen.
„Was wollen denn nur alle von dem Neuen? Ist der nicht ganz koscher? Wenn ich das gewusst hätte … Vorhin kam die kleine Koch an, und jetzt sogar die Polizei …“
„Wie war das?“, hakte Lehmann nach.
„Ich meinte, dass sich die Polizei für den Knaben interessiert.“
„Nein, Sie sprachen auch von der kleinen Koch. Meinen Sie Saskia Koch?“
Borchers nickte, wobei sich sein Doppelkinn öffnete und schloss. Lehmann wurde allmählich ungeduldig. Aber schließlich erfuhr er doch, wo der Wohnwagen stand. Der Platzwart wäre am liebsten mitgekommen, aber Lehmann hielt ihn zurück. Der Oberkommissar und die Kommissarin näherten sich dem Caravan. In dem Wohnwagen waren keine Lampen eingeschaltet. Lehmann zog seine Pistole, Eva Teich folgte seinem Beispiel.
„Klopfen Sie an, Eva“, raunte der Oberkommissar seiner Kollegin zu.
„Warum ich?“
„Sie sehen nicht wie eine Polizistin aus.“
Eva Teich zögerte einen Moment, aber dann pochte sie mit der linken Faust gegen die Tür, wobei sie ihre Dienstwaffe hinter ihrem Rücken versteckt hielt. Niemand öffnete. Aus dem Caravan drang kein Laut. Lehmann schnappte sich eine leere Getränkekiste, die in der Nähe stand. Er stieg darauf und linste durch eines der Kunststofffenster, leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Kopfschüttelnd stieg er wieder ab.
„Vergessen Sie es. Der Vogel ist ausgeflogen. Die spannende Frage lautet jetzt, was Saskia Koch von ihm wollte.“
„Oder ob er sie in seine Gewalt gebracht hat“, fügte Eva Teich hinzu.
„Diese Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht, aber wir müssen damit rechnen. Vielleicht weiß der Dicke ja etwas.“
Sie kehrten zu dem Platzwart zurück, aber Borchers hatte Brinkmann und Saskia nicht gemeinsam weggehen sehen.
„Wir fahren jetzt zum Haus der Kochs“, entschied Lehmann. „Und wenn wir Saskia dort nicht antreffen, dann leite ich eine Großfahndung ein.“
Saskia schlug die Augen auf.
Ihr Kopf schmerzte noch etwas, aber viel schlimmer war ihre seelische Qual. Sie hatte wirklich geglaubt, dass Daniel sie mögen würde. Und nun erwies er sich als Dupics Handlanger!
Daran konnte es jedenfalls keinen Zweifel mehr geben. Saskia stellte fest, dass ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Wo befand sie sich überhaupt? Im ersten Moment glaubte sie, dass Daniel sie in seinen Wohnwagen geschleppt hätte. Aber das stimmte nicht. Saskia lag auf einer schäbigen Matratze, die als Bettstatt diente. Links und rechts von ihr waren Holzwände, die mit merkwürdigen Zeichnungen geschmückt waren. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass Julian einmal Andis künstlerische Ader erwähnt hatte.
Saskia war im Bauwagen des Ermordeten!
Eine Laterne verbreitete gelbliches Licht. Saskia bemerkte, dass Daniel ihr die Glock abgenommen hatte. Die Waffe lag auf einer Obstkiste, die als Tisch diente. Ansonsten herrschte in dem Bauwagen völliges Chaos. Und wo war Daniel?
Saskia wusste es nicht. Aber sie konnte sich denken, weshalb er sie hierher gebracht hatte. Auf dem Campingplatz standen die Wohnwagen dicht beieinander. Wenn sie schrie, würde sie jemand hören. Das war hier undenkbar. Der Bauwagen stand weitab von jeder Wohnbebauung mitten im Wald.
Sie zuckte zusammen, als sie es an der Tür rumpeln hörte. Gleich darauf trat Daniel ein. Er grinste zynisch.
„Ah, die Prinzessin auf der Erbse ist wach geworden! Ich habe gerade mit Boris Dupic telefoniert. Ich soll dich herzlich von ihm grüßen. Er ist schon auf dem Weg hierhin.“
Saskias Augen wurden feucht. Eigentlich wollte sie Daniel nicht den Triumph gönnen, sie weinen zu sehen.
„Dann – hast du mir alles nur vorgespielt? Du hast nur so getan, als wenn ich dir gefiele?“
Daniel lehnte sich gegen die Wand des Bauwagens und schob die Hände in die Hosentaschen. Er schaute seine Gefangene prüfend an.
„Du wirst lachen, Saskia – aber eigentlich mag ich dich wirklich. Du bist süß. Unter anderen Umständen hätte es mit uns etwas werden können. Aber ich habe mich nicht an dich rangemacht, weil ich auf dich stehe. Das war sozusagen nur ein netter Nebeneffekt. Ich habe es ausschließlich deshalb getan, weil Boris mich darum gebeten hat.“
„Du meinst Dupic, nicht wahr?“, brachte Saskia mit tonloser Stimme hervor.
„Ja, ich nenne ihm beim Vornamen. Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit, hatten immer wieder mal miteinander zu tun. Und wenn Boris jemanden um einen Gefallen bittet, dann sollte derjenige besser spuren. Denn Boris ist kein Mann, der ein Nein akzeptiert.“
Das konnte sich Saskia lebhaft vorstellen.
„Dann liegt dein Vater also gar nicht auf der Krebsstation?“
„Du merkst aber auch alles!“ Daniel warf den Kopf in den Nacken. „Das Krankenhaus erschien uns als ein idealer Ort, um dich kennenzulernen. Das hat ja auch geklappt. Und dann musste ich nur noch den Wohnwagen kaufen, der gerade auf dem Löhrfeldener Campingplatz zum Verkauf stand. Es war ein Zufall, den wir ausnutzen mussten. Die Idee war, über dich an deinen verdammten Bruder heranzukommen. Boris würde deine ganze Familie und auch dich auslöschen, wenn es sein müsste. Aber eigentlich will er nur diese Ratte tot sehen, die Tatjana auf dem Gewissen hat.“
„Und deine Geschichten über Madagaskar, das war alles nur gelogen?“
Daniel zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, ich bin niemals dort gewesen. Aber im Knast hat man viel Zeit, und die Auswahl in der Gefängnisbücherei hält sich in Grenzen. Dort hab ich mir mal ein Buch über Madagaskar reingezogen, und der größte Teil des Inhalts ist bei mir hängengeblieben. Du hast echt geglaubt, dass ich dort war, oder?“
„Ja, das habe ich. Und ich glaubte sogar, dass du dich in mich verknallt hättest.“
Nun weinte Saskia wirklich, obwohl sie gegen ihre Tränen angekämpft hatte. Aber Daniel blieb unbeeindruckt.
„Du kannst mich nicht erweichen, auch wenn du noch so sehr jammerst. Außerdem bist du auch nicht so harmlos, wie du erscheinen willst, Saskia. Ich fand es ziemlich krass, als ich bei dir eine geladene Knarre gefunden habe. Kompliment, das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Wolltest du damit Boris abknallen?“
„Ich lasse es jedenfalls nicht zu, dass meiner Familie etwas passiert.“
Saskia schniefte, aber allmählich versiegte ihr Tränenstrom. Stattdessen machte sich eine dumpfe Gleichgültigkeit in ihrem Inneren breit. Saskia stand kurz davor zu resignieren. Alles, was sie bisher versucht hatte, war ein Fehlschlag gewesen. Offenbar hatte sie sich total überschätzt, als sie glaubte, Dupic die Stirn bieten zu können. Ihr Feind war nicht nur brutal, sondern auch noch gerissen. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass Daniel auf sie angesetzt worden sein könnte.
„Saskia, du solltest besser die Karten auf den Tisch legen. Boris ist bereits auf dem Weg hierher, und er ist richtig sauer. Wenn er dich erst mal durch die Mangel dreht, dann kann ich nichts mehr für dich tun. Wie gesagt, Boris widerspricht man nicht. Du solltest deinen Bruder verraten, sonst wirst du den nächsten Morgen nicht mehr erleben. Das wirst du aber inzwischen selbst kapiert haben, oder?“
„Sicher, von Dupic erwarte ich keine Gnade. Und ich habe auch verstanden, dass du nach seiner Pfeife tanzt. Aber ich habe keinen blassen Schimmer, wo sich Julian jetzt aufhält. Wir haben uns gestritten, als wir uns vorhin im Wald getroffen haben. Ich kann dir nur sagen, dass er pleite ist und wieder einmal Geld von mir wollte. Ich habe abgelehnt und ihn bedroht. Daraufhin ist er weggelaufen. Ich weiß nicht, was für ein Ziel er hat.“
Daniel nickte, und für einen Moment wirkte er beinahe verständnisvoll.
„Weißt du was? Ich glaube dir, Saskia. Allerdings bezweifle ich, dass Boris da mit mir übereinstimmt. Und ich werde gewiss nicht mit ihm diskutieren. Wenn er hier erscheint, dann werde ich jedenfalls verschwinden. Ich mag dich nämlich immer noch. Und ich will nicht mit ansehen, was er mit dir anstellen wird.“
Julian hatte genug gehört.
Seit einigen Minuten verharrte er draußen vor dem Bauwagen. Durch die dünne Wand konnte er jedes Wort hören, das zwischen seiner Schwester und diesem Daniel gesprochen wurde. Saskia war da in eine üble Sache hineingeschliddert. Und dieser Boris Dupic musste wirklich so ein schlimmer Finger sein, daran zweifelte Julian jetzt überhaupt nicht mehr.
Als Saskia ihm von dem unheimlichen Verfolger erzählte, hatte er ihr kein Wort glauben wollen. Und Julian konnte auch nicht glauben, dass Andi wirklich tot sein sollte. Sein Freund war ihm immer wie eine Katze mit neun Leben vorgekommen. Andi hatte sich teilweise so viel Drogen auf einmal eingepfiffen, dass andere Leute daran längst krepiert wären. Aber er hatte seinen Bauwagen immer noch auf seinen eigenen zwei Beinen verlassen können.
Daher war die Behausung seines Kumpels Julians Ziel gewesen. Wenn er schon Andi dort nicht antraf, dann hoffte er zumindest, in einem der Geheimverstecke Geld, Drogen oder beides zu finden. Aber als er die Stimmen hörte, war er lieber draußen auf seinem Lauschposten geblieben.
Und jetzt machte er sich geräuschlos aus dem Staub.
Sicher, Saskia tat ihm leid. Sie war schließlich seine Schwester. Aber sie war doch selbst schuld! Warum musste sie auch unbedingt mit diesem Daniel flirten? Und warum lief sie mit einer Waffe durch die Gegend?
Trotzdem, er wollte sie nicht völlig hängenlassen. Julian kam sich sehr gütig vor, dass er ihr immer noch half, obwohl sie ihn im Stich gelassen hatte. Er sah sich selbst eben als einen Menschen, der sich nichts vorzuwerfen hatte. Und das, obwohl die ganze Welt gegen ihn war!
Über ein Telefon verfügte Julian immer noch nicht, und seine Barschaft war inzwischen auf 5,11 Euro zusammengeschmolzen. Aber im Dorf gab es an der Bushaltestelle ein öffentliches Telefon, von dem aus man kostenlos den Notruf kontaktieren konnte. Wenn es nicht gerade wieder mal kaputt war.
Er schlug diese Richtung ein, vermutlich würde er Löhrfelden innerhalb von zwanzig Minuten erreichen. Julian fühlte sich immer besser, je weiter er sich von dem Bauwagen entfernte. Er war wirklich nicht scharf darauf, diesem Dupic in die Arme zu laufen.
Saskia kann wirklich froh sein, einen Bruder wie mich zu haben, dachte Julian.
Saskias Magen schien sich in einen Eisklumpen verwandelt zu haben. Sie hatte Andis schauerliches Ende vor Augen, und ihr selbst würde Ähnliches bevorstehen. Ob sie Daniels Herz erweichen konnte? Nein, das war nicht sehr wahrscheinlich. Er kannte Dupic viel besser als sie selbst. Saskia erinnerte sich an die grässliche Begegnung in der Tiefgarage. Schon da hatte sie fest daran geglaubt, dass Dupic ihr die Nase abschneiden würde. Und das würde gewiss erst der Anfang sein. Trotzdem, sie musste es zumindest versuchen.
„Wenn du mich freilässt, dann werde ich für dich aussagen.“
Saskia erschrak selbst, weil ihre Stimme sich so dünn und zittrig anhörte. Daniel schüttelte den Kopf.
„Netter Versuch, aber so läuft das nicht. Selbst wenn ich mit einer milden Strafe davonkäme – glaubst du, ich wäre im Knast vor Boris‘ Rache sicher? Nein, hinter Gittern herrscht das Faustrecht. Und Boris hat erstklassige Verbindungen, glaub mir. – Ah, wenn man vom Teufel spricht. Das wird er schon sein.“
Daniel unterbrach sich selbst, weil nun polternde Schritte auf der kleinen Holztreppe des Bauwagens ertönten. Er wandte sich der Tür zu, um seinem mörderischen Freund zu öffnen.
„Boris, ich hab die Kleine hier drin.“
Mit diesen Worten trat Daniel hinaus in die Dunkelheit. Saskia schloss instinktiv die Augen, als ob sie dadurch ihr unabwendbares Schicksal hätte aufhalten können. Das war natürlich Unsinn, aber sie konnte nicht mehr rational denken. Die Furcht hatte sie fest in ihren Klauen.
Da ertönte ein dumpfes Geräusch, als ob ein Körper zu Boden fallen würde. Gleich darauf war eine bekannte Stimme zu hören.
„Saskia!“
Sie öffnete die Augen. Leo stand in der Türöffnung, einen dicken Holzscheit in der Hand. Damit hatte er vermutlich Daniel niedergeschlagen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
„Leo, du kommst genau im richtigen Moment! Binde mich bitte los, wir müssen fliehen. Böse Menschen sind auf dem Weg hierher.“
Das ließ sich Saskias Verehrer nicht zweimal sagen. Er mochte geistig etwas langsam sein, aber er konnte zwischen Gut und Böse unterscheiden. Und das ist mehr, als so mancher andere Mensch von sich behaupten kann, dachte Saskia. Leo löste geschickt die Knoten des Seils, mit dem Saskias Hände hinter dem Rücken gefesselt waren.
Sie fiel ihm spontan um den Hals und bedankte sich mit einem Kuss auf die Wange.
„Dieser Mann ist böse, das habe ich gespürt“, sagte Leo und deutete mit einer Kinnbewegung nach draußen. „Ich sah dich mit ihm. Und ich hatte Angst, dass er dir wehtun könnte. Da bin ich euch gefolgt. Aber irgendwann habe ich euch aus den Augen verloren. Ich musste länger suchen, bis ich hierher kam.“
„Ach, Leo, lieber Leo“, murmelte Saskia. Die Rührung schnürte ihr die Kehle zusammen. Aber jetzt war keine Zeit für Erleichterung, denn noch war die Gefahr nicht gebannt. Saskia rappelte sich von Andis Bett auf und griff sich die Pistole.
Sie traten in die finstere Waldnacht hinaus. Der Laternenschein fiel durch die offenstehende Tür auf Daniels regungslosen Körper, der neben der kleinen Treppe auf dem Boden lag. Er hatte eine blutende Platzwunde am Hinterkopf.
Saskias Mitleid hielt sich in Grenzen. Er hatte ihr nicht nur das Herz gebrochen, sondern wollte sie auch einem Folterknecht und Killer ausliefern. Aber es war, als ob sie durch den Gedanken an Dupic das Unglück heraufbeschworen hätte.
Nun blitzten nämlich Taschenlampenstrahlen unter den Bäumen auf, und Saskia hörte eine verhasste Stimme.
„Verflucht, was ist los? Da stimmt doch etwas nicht. – Gregor, Eric, verteilt euch.“
Insgesamt drei Lichtstrahlen zerschnitten nun die tintenschwarze Dunkelheit. Einer davon traf direkt Saskias Gesicht. Sie reagierte, ohne nachzudenken. Saskia entsicherte die Glock und feuerte in die Richtung, aus der sie angestrahlt wurde.
Der Schuss zerriss die nächtliche Stille und versetzte die tierischen Waldbewohner in hellen Aufruhr.
„Verflucht, das Luder schießt! Schnappt sie euch, aber lebend. Ich werde sie zum Reden bringen!“
„Saskia, wir müssen zur Polizei“, sagte Leo. Er schien von ihrem Schuss fast so geschockt zu sein wie sie selbst. Sie ging nicht davon aus, jemanden getroffen zu haben. Aber sie und Leo durften nicht bei dem Bauwagen bleiben. Sie mussten weglaufen, bevor die Verbrecher sie einkesseln konnten.
„Wir laufen zu meinem Elternhaus“, raunte sie ihrem Retter zu. Und dann rannten sie gemeinsam fort. Die Dunkelheit war nicht vollständig, wenn man sich erst einmal an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Fahles Mondlicht stach durch die Wolken und half dabei, die mächtigen Baumstämme und das dichte Unterholz zu erkennen. Außerdem waren sowohl Saskia als auch Leo in Löhrfelden aufgewachsen. Sie kannten sich hier aus, was auf ihre Verfolger nicht zutraf.
„Bleibt stehen!“, brüllte Dupic. Seine Stimme klang jetzt wahnsinniger als jemals zuvor. Aber von ihm hatte Saskia sowieso keine Gnade zu erwarten, und deshalb würde sie ganz gewiss nicht der Anweisung folgen. Das Adrenalin in ihrem Körper verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Gleichzeitig war sie unheimlich stolz darauf, dass sie es gewagt hatte, sich zu wehren. Ihre Kugel hatte offenbar niemanden getroffen, aber darauf kam es nicht so sehr an. Viel wichtiger war, dass sie sich selbst überwunden hatte. In der Tiefgarage hatte sie sich allenfalls getraut, ihrem Peiniger in den Rücken zu schießen. Jetzt aber musste Dupic damit rechnen, dass er sich von ihr eine Kugel einfing.
Die Taschenlampenstrahlen irrlichterten weiterhin durch das Gehölz, denn die Verfolger mussten sich ihren Weg natürlich ausleuchten. Dadurch kamen sie langsamer voran. Saskia und Leo konnten ihren Vorsprung ausbauen.
Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, stieg Saskias Zuversicht. Sobald sie ihr Elternhaus erreicht hatten, konnten sie die Polizei verständigen. Diesmal würde sich Dupic nicht herauswinden können. Womöglich gelang es den Ordnungshütern sogar, ihn noch während der Nacht festzunehmen. Und wenn Daniel dann doch gegen seinen Freund aussagte, würde Saskias Feind für sehr lange Zeit hinter Gittern verschwinden.
Saskias Lungen brannten bereits, doch sie wurde nicht langsamer. Nun zahlte es sich aus, dass sie seit Jahren begeisterte Volleyballspielerin war. Ihre Kondition konnte sich sehen lassen. Die Verfolger fielen noch weiter zurück. Zwar waren ihre Stimmen immer noch zu hören, aber sie mussten mindestens einen halben Kilometer hinter Saskia und Leo geblieben sein. Allerdings war das in der Finsternis nur schwer einzuschätzen.
Endlich erblickte Saskia die beleuchteten Fenster ihres Elternhauses vor sich. Natürlich, zumindest ihr Vater und ihre Oma würden daheim sein. Oder ihre Mutter, falls sich ihre Eltern im Krankenhaus schon abgelöst hatten. Sie berührte Leo am Arm.
„Du kommst jetzt mit zu mir, und dann koche ich dir einen Kakao!“
„Das ist lieb von dir, Saskia.“
Sie hatte sich daran erinnert, dass Leo ganz versessen auf heißen Kakao mit Sahne war. Und sie fühlte sich gleichzeitig ein wenig schuldig, weil sie seine Gefühle niemals würde erwidern können. Aber sie konnte auf jeden Fall freundlich zu ihm sein. Als Saskia und Leo den Waldrand erreicht hatten, waren sie ziemlich außer Atem.
„Wir können uns gleich ausruhen“, brachte Saskia keuchend hervor. „Erst müssen wir die Polizei anrufen.“
Sie schloss die Haustür auf und zog Leo hinter sich her. Sie steuerte das Wohnzimmer an, denn dort brannte Licht. Ihr Vater saß in seinem Lieblingssessel.
„Papa, ich bringe noch Besuch mit. Leo kennst du doch. Wir müssen sofort telefonieren, und …“
Jetzt erst bemerkte Saskia, dass ihr Vater schreckensbleich war und sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Sie hielt immer noch die Glock in der Hand. Ob er deshalb nervös geworden war?
Die Frage beantwortete sich im nächsten Moment von selbst. Denn nun trat ein Mann hinter dem Vorhang hervor und richtete seine Waffe auf Manfred Koch. Außerdem spürte sie einen harten Gegenstand in ihrem Rücken.
„Lass‘ die Kanone fallen oder du stirbst an einer Bleivergiftung.“
Auch Leo hatte den Unbekannten zunächst nicht bemerkt, der Saskia einen Pistolenlauf ins Kreuz drückte. Nun aber wollte er sofort seine Angebetete verteidigen. Doch gegen seinen brutalen Widersacher hatte er keine Chance. Der Fremde hob blitzschnell seine Waffe und schlug Leo mit dem Griff nieder.
„Nein!“, schrie Saskia. Sie hatte die Glock bereits fallengelassen und kniete sich nun neben Leo. Sie tastete nach seiner Halsschlagader und bemerkte erleichtert, dass er noch lebte. Der Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, schob sich die Glock in den Gürtel und zerrte Saskia hoch.
„Deinen Freund kannst du später ablecken, jetzt gesellst du dich zu deinem Alten, kapiert?“
Der andere Kerl hatte bereits sein Smartphone hervorgezogen.
„Ich ruf Boris an. Er wird sich freuen, dass die Falle zugeschnappt ist.“
Saskia bewegte sich wie eine Roboterin auf das Sofa zu, das gegenüber vom Sessel ihres Vaters stand. Sie ließ sich in die Polster fallen. Wie aus weiter Entfernung drang Papas Stimme an ihr Ohr.
„Diese beiden Männer haben uns überrumpelt. Sie zwangen mich dazu, Mutter an ihr Bett zu fesseln und zu knebeln. Sie fragten nach dir. Ich sagte, dass ich nicht wüsste, wo du seist. Sie wollten hier warten. Für den Fall, dass du zurückkommst.“
Saskia nickte nur. Eigentlich sahen diese beiden Komplizen von Dupic ganz normal aus, aber das traf ja auch auf Daniel zu. Außerdem sah man den Menschen ihre Verbrechen nicht an der Nasenspitze an. Saskia musste sich eingestehen, dass vermutlich selbst Dupic sympathisch wirken würde, wenn er ein freundliches Gesicht machte. Allerdings war das in ihrer Gegenwart noch niemals vorgekommen.
Und auch ihrem eigenen Bruder konnte man nicht anmerken, dass er ein Mörder war.
Der telefonierende Verbrecher steckte sein Handy wieder ein.
„Boris war völlig außer Atem, die Kleine und ihr Freund sind ihm entwischt. Daniel ist k.o. Aber Boris, Gregor und Eric werden wohl in ein paar Minuten hier sein.“
Der andere Kerl wedelte mit der Hand, als ob er sich verbrannt hätte.
„In deiner Haut möchte ich jetzt nicht stecken, Süße. Boris kann doch verdammt ungemütlich werden.“
„Lassen Sie meine Tochter in Ruhe!“, begehrte Manfred Koch auf.
„Ach nee, der Alte hat auf einmal auch was zu melden. Na, das wüsste ich aber.“
Der Kriminelle ging zu Saskias Papa hinüber und schlug ihm den Pistolengriff ins Gesicht. Ein Schrei ertönte, Blut spritzte aus den Nasenlöchern. Saskia fühlte kalten Hass in ihrem Inneren aufflammen. Warum war sie einfach ins Haus gestürmt ohne nachzudenken? Wenn sie sich durch die Hintertür hinein geschlichen hätte, dann wäre ein Überraschungsangriff möglich gewesen. Sie hätte die beiden Verbrecher töten oder zumindest außer Gefecht setzen können. Inzwischen hatte sie keine Hemmungen mehr davor, auf einen Menschen zu schießen.
Manfred Koch presste seine flache Hand auf sein Gesicht. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch. Saskia hätte ihm gern geholfen, aber sie bekam jetzt selbst Probleme. Der Verbrecher bewegte sich nämlich breitbeinig auf sie zu. Auf seiner Visage erschien ein lüsternes Grinsen.
„Eigentlich sieht die Süße ja ganz knackig aus. Was meinst du, Ben? Wir könnten ja ein wenig Spaß mit ihr haben, bis Boris eintrifft. Und ihren Alten lassen wir zusehen.“
Der Kerl lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hätte. Sein Kumpan schien von der Idee nicht besonders angetan zu sein.
„Du denkst aber auch immer nur an das Eine, Toni. Boris hat uns eingeschärft, dass wir hier Wache schieben sollen. Immerhin ist es ja möglich, dass dieser Julian aufkreuzt. Und davon kriegen wir nichts mit, wenn wir uns seine Schwester vornehmen.“
„Wo du recht hast, hast du recht, Ben. Und deshalb wirst du schön aufpassen, während ich die Kleine vögele. Du kommst dann eben später an die Reihe. Wer zuerst kommt, malt zuerst.“
Toni kniete sich neben Saskia auf das Sofa und strich mit der freien linken Hand über ihr T-Shirt, während die Mündung seiner Pistole auf ihr Gesicht gerichtet war. Ihre Kehle trocknete aus. Sie wollte schreien, sich wehren, brachte aber keinen Ton heraus und konnte sich nicht rühren.
Da ertönte plötzlich eine schneidende Stimme.
„Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr, Toni!“
Saskia stieß langsam die Luft aus den Lungen. Noch vor wenigen Minuten hätte sie es für völlig unmöglich gehalten, dass sie sich über Dupics Erscheinen freuen konnte.
Der Verbrecher war unbemerkt hereingekommen, wie schon bei seinem ersten Erscheinen in Saskias Elternhaus. Toni zuckte abrupt zurück, als ob Saskia ihm einen elektrischen Schlag versetzt hätte.
„H-hier ist alles cool, Boris. Wir haben uns an deine Anweisungen gehalten.“
„Soso. Ich habe aber nicht erwähnt, dass du die junge Frau befummeln sollst.“
Dupic kam näher und verpasste Toni quasi im Vorbeigehen einen Fausthieb in die Magengrube. Der Komplize krümmte sich zusammen und torkelte zur Seite, leistete aber keinen Widerstand.
Dupic setzte sich neben Saskia auf das Sofa. Sie glaubte schon, er wollte sie ebenfalls belästigen. Aber stattdessen verschränkte er die Finger seiner Hände ineinander und schaute sie einfach nur lange an, bevor er etwas sagte.
„Du musst mich für ein Monster halten, ich konnte deine Angst immer deutlich spüren. Und eigentlich hast du dazu auch allen Grund. Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mir in die Quere kommt. Da kannst du fragen, wen du willst. Ich gebe ganz offen zu, dass ich diesen bekifften Penner aus dem Bauwagen foltern und töten ließ. Er hatte einfach nichts Besseres verdient.“
Erwartete Dupic darauf eine Antwort? Saskia wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber er redete sowieso weiter: „Aber du hast mich irgendwie beeindruckt. Echt. Und dass du es sogar gewagt hast, auf mich zu schießen – also, dadurch hast du dir meinen Respekt verdient. Ich kann dich sogar verstehen, Saskia. Julian ist ein Mörderschwein, aber er ist eben auch dein Bruder. Ich finde es gut, wenn jemand seine Familie beschützen will. Und du hast Eier – was Julian nicht von sich behaupten kann.“
„Ich weiß wirklich nicht, wo er ist“, beteuerte Saskia.
Dupic schüttelte den Kopf, sein Gesicht nahm einen bedauernden Ausdruck an.
„Du hast immer noch Kontakt zu Julian, das spüre ich. Aber du willst loyal bleiben. Ich könnte dich martern, aber das widerstrebt mir. Du bist schließlich ein Mädchen, da sollte man nicht mit so harten Bandagen kämpfen.“
Saskias Feind zog seine Pistole und richtete sie auf ihren Vater.
„Wenn ich deinen Alten nicht erschießen soll, dann wirst du Julian jetzt ans Messer liefern. Aber vielleicht willst du dann ja immer noch nicht reden? Na gut, dann kommt deine Oma als Nächste dran.“
Saskias Atem stockte. Was sollte sie nur tun? In diesem Moment hätte sie Julian nur allzu gern verraten. Aber sie wusste doch nicht, wo er sich verkroch!
Die Entscheidung wurde ihr allerdings abgenommen. Bevor Dupic ihren Vater erschießen konnte, zersprangen klirrend mehrere Fenster auf einmal. Scherben regneten ins Wohnzimmer. Dann folgten ein heller Blitz und ein lauter Knall.
Saskia wurde gleichzeitig taub und blind.
Allmählich funktionierten Saskias Sinnesorgane wieder normal. Das Dröhnen in ihren Ohren ließ nach, sie konnte verschiedene Geräusche auseinanderhalten. Stimmengewirr ertönte, teilweise bekam sie auch lautes Fluchen zu hören.
Ihre Augen funktionierten bald wieder einwandfrei. Saskia sah Dupic auf dem Boden liegen, ein maskierter Polizist in Kampfmontur kniete auf seinem Rücken und hatte ihm Handschellen angelegt. Auch die übrigen Verbrecher waren von Beamten einer Spezialeinheit außer Gefecht gesetzt worden.
Nun bemerkte Saskia auch eine junge Frau, die sich über sie beugte.
„Mein Name ist Eva Teich, ich bin von der Kriminalpolizei Köln. Sie müssen keine Angst haben, Frau Koch. Ihrer Familie ist nicht geschehen, wir konnten die Täter ausschalten. Der Knallblitz, den wir eingesetzt haben, ist eigentlich harmlos. Aber er hat sich hervorragend geeignet, um die Verbrecher vorübergehend orientierungslos zu machen.“
„Warum waren Sie so schnell zur Stelle, nachdem sie uns zunächst Polizeischutz verweigert hatten?“
„Als mein Kollege und ich die Verbindung zwischen Daniel Brinkmann und Boris Dupic erkannten und außerdem noch erfuhren, dass Sie mit Brinkmann zusammen gesehen worden waren, leiteten wir sofort einen möglichen Zugriff ein. Ihr Elternhaus wurde durch ein Observationsteam im Auge behalten. Wir hatten auch schon bemerkt, dass Ihr Vater und Ihre Großmutter in der Gewalt von Dupics Komplizen waren. Leider ergab sich noch keine gute Gelegenheit für eine Festnahme. Das war erst möglich, nachdem Dupic hier eingetroffen war. Ich höre übrigens, dass inzwischen auch Daniel Brinkmann verhaftet werden konnte. Er wurde beim Bauwagen von Andreas Brauer niedergeschlagen.“
„Ich weiß.“ Saskia nickte. „Dort hat er mich gefangen gehalten.“
„Es werden noch einige Fragen zu klären sein, aber das hat bis Morgen früh Zeit. Übrigens haben wir die Nachricht erhalten, dass Ihr Großvater aus dem Koma erwacht ist. Laut den Ärzten ist er auf dem Weg der Besserung.“
Saskia war sehr erleichtert darüber. Erst jetzt bemerkte sie, dass ein Notarzt anwesend war und die Nase ihres Vaters versorgte. Sie war zum Glück nicht gebrochen. Leo musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, er hatte vermutlich eine Gehirnerschütterung erlitten.
Eva Teich warf Saskia einen prüfenden Blick zu.
„Ich weiß, was Sie mich fragen wollen“, seufzte sie. „Aber ich weiß wirklich nicht, wo mein Bruder ist.“
„Früher oder später werden wir ihn aufstöbern“, zeigte sich die Kommissarin optimistisch.
Julian taten alle Knochen weh.
Er hatte die Nacht in einem Geräteschuppen verbracht, der einem Rentner gehörte. Saskias Bruder kannte den Alten vom Sehen und wusste, dass ihm seit einigen Jahren das Gehen schwerfiel. Deshalb verwilderte der Garten, und die Hütte wurde so gut wie nie benutzt.
Im Morgengrauen trottete Julian durch seinen Heimatort. Das war nun so gar nicht seine Tageszeit, und entsprechend miserabel fühlte er sich. Außerdem hätte er jetzt dringend einen Kaffee gebrauchen können. Und einen Joint.
Aber um diese Herrgottsfrühe würde ihn wohl niemand bemerken. Der Plan war, in sein Elternhaus einzubrechen und dort irgendwie Geld mitgehen zu lassen. Er brauchte schließlich Startkapital für seinen neuen Lebensabschnitt!
Julian war am Vorabend nicht mehr dazu gekommen, die Polizei zu alarmieren. Das Telefon, von dem aus er wegen Saskias Entführung hatte anrufen wollen, war wieder einmal gestört. Aber er sagte sich, dass seine Schwester schon allein zurechtkommen würde. Das hatte sie bisher ja auch immer geschafft.
Er schaute sich um. Eigentlich war Löhrfelden ja ganz hübsch mit den alten Fachwerkhäusern und dem Kopfsteinpflaster, vor allem in der Stille des Morgens. Doch plötzlich ertönte ein Motorengeräusch. Julian drehte sich um. Und was er da hinter sich erblickte, gefiel ihm überhaupt nicht.
Ein Streifenwagen folgte ihm!
Julian begann instinktiv zu rennen. Er musste in den Wald, nur dort konnte er die Bullen abhängen. Da würde es ihnen nichts nützen, dass sie mit dem Auto unterwegs waren. Er schlug einen Haken und lief durch eine schmale Gasse, die für das Polizeiauto zu eng war. Die Beamten brachen die Verfolgung natürlich nicht ab, sondern fuhren außen herum. Inzwischen hatten sie das Blaulicht und die Sirene eingeschaltet, wodurch Julians Stresspegel noch weiter anstieg.
Als er aus der Gasse wieder herauskam, war der Streifenwagen weiterhin hinter ihm. Er rannte auf die Umgehungsstraße zu, die am Ort vorbei führte. Es waren höchstens noch zwanzig Meter bis zum rettenden Waldrand. Julian konzentrierte sich ganz auf dieses Ziel, aktivierte seine letzten Kraftreserven und wollte die Fahrbahn überqueren.
Den LKW sah er nicht kommen.
Der Fahrer stieg geistesgegenwärtig auf die Bremse, aber es war zu spät. Julian wurde von dem Sattelschlepper gerammt und anschließend überrollt. Den verfolgenden Polizeibeamten bot sich ein grauenvolles Bild.
Der wenig später eintreffende Notarzt konnte nur noch den Tod von Julian Koch feststellen.
ENDE
Tina Rigby glitt hinab in eine geheimnisvolle Welt.
Die Zwanzigjährige hatte bereits mehrere Monate Erfahrung im Gerätetauchen. Und doch missachtete sie an diesem Tag die wichtigste Grundregel ihres Sports: Tauche niemals alleine!
Allerdings hatte Tina einen wichtigen Grund dafür, dass sie sich ohne Begleitung immer tiefer in das smaragdgrüne Meereswasser unweit vom East Cape an der Küste Floridas hinunter arbeitete. Tina wurde von ihrer Goldgier angetrieben. Sie hatte das wertvolle Edelmetall immer schon geliebt. Doch obwohl ihre Eltern nicht gerade arm waren, stimmten Tinas zahlreiche Wünsche einfach nicht mit dem Limit ihrer Kreditkarte überein. Ihre Shopping-Trips rissen regelmäßig große Löcher in ihr Budget.. Sie stand auch auf rote Sportwagen, die in Italien montiert wurden, flach wie eine Flunder waren und ein kleines Vermögen kosteten. Und nennenswerte Reichtümer besaß Tina nicht – noch nicht.
Die junge Frau war in Florida aufgewachsen. Sie wusste, dass sie nicht als einzige vor der Küste des Sunshine State nach untergegangenen Schiffswracks mit Goldfracht tauchte. Aber Tina hatte einen Hinweis, der ihren Konkurrenten nicht zur Verfügung stand. Jedenfalls hoffte sie das. Die Geschichtsstudentin war nämlich in einer Chronik aus dem 17. Jahrhundert auf einen versteckten Hinweis gestoßen. Dieses Wissen würde sie hoffentlich zu einer steinreichen Luxuslady machen.
Tina bewegte jetzt nur noch ihre langen schlanken Beine, deren Füße in Schwimmflossen steckten. In den Händen hielt sie eine leistungsstarke druckdichte Taucherlampe. Die benötigte sie auch, denn je tiefer sie kam, desto finsterer wurde ihre Umgebung. Sie erschrak, als unmittelbar vor ihrer Taucherbrille plötzlich ein schillernder Clownfisch erschien. Aber das Tier war von der Begegnung genauso geschockt wie sie selbst. Der Fisch machte ein paar hektische Bewegungen mit seiner Schwanzflosse und jagte zurück in die Dunkelheit an dem zerklüfteten Riff.
Vor Haien fürchtete sich Tina nicht. Die meisten Geschichten über menschenfressende Raubfische waren nichts weiter als Schauermärchen, das wusste sie. Trotzdem breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend aus. Tina fühlte sich bedroht, ohne eine greifbare Gefahr vor sich zu haben. Sie konzentrierte sich auf ihr Vorhaben und fühlte sich sofort etwas besser. Immerhin war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ganz allein tauchte, und die Gewässer am East Cape waren ihr nicht wirklich vertraut. Da konnte man schon einmal Panik schieben, fand Tina.
Doch plötzlich erblickte sie das versunkene Schatzschiff vor sich.
Zunächst fiel der Strahl von Tinas Tauchlampe nur auf eine Erhebung, die wie ein unterseeischer Hügel aussah. Doch die geübte Taucherin wusste, dass jahrhundertealte Wracks oftmals von Korallen überwuchert waren und kaum noch ihre ursprüngliche Form besaßen. Tinas Herz klopfte schneller. Während sie dichter an die Überreste des Seglers heran schwamm, wurde ihre Hoffnung immer stärker zur Gewissheit.
Hier lag wirklich eine Galeone aus dem 17. Jahrhundert auf dem Meeresboden. Obwohl der Zahn der Zeit an den Planken und Masten genagt hatte, war die typische Form des altmodischen Schiffstyps noch gut auszumachen, jedenfalls für Tina. Sie hatte sich lange genug im Studium mit der damaligen Zeit beschäftigt.
Tina lief ein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken, als ihre behandschuhte Rechte zum ersten Mal die korallenüberwucherte Reling berührte. Sie hoffte, dass der Schatz noch im Inneren des gesunkenen Schiffs verborgen war. Vorausgesetzt, sie hatte überhaupt das richtige Wrack vor sich. Die Florida Bay war schon damals ein vielbefahrenes Seegebiet gewesen, und in Kriegen und Konflikten wurden unzählige Schiffe auf den Meeresgrund geschickt.
Doch Tina setzte ihre ganze Hoffnung auf die Chronik, deren Geheimbotschaft sie entschlüsselt zu haben glaubte. Es war schon gefährlich genug, alleine einen Tauchgang zu unternehmen. Aber zusätzlich ohne Begleitung in ein Wrack einzudringen, wäre für jeden normalen Schnorchler beinahe selbstmörderisch gewesen. Tina tat es trotzdem. Das heißt, sie wollte es tun.
Aber plötzlich nahm sie einen großen dunklen Schatten wahr, der seitlich an ihr vorbei glitt. Tina zuckte zusammen und drehte ihre Lampe in die Richtung. Hatte sie einen gefährlichen Fisch aufgeschreckt? Einen Rochen? Eine Muräne? Oder vielleicht doch einen Blauhai? Sie wurde von Panik erfasst. Es war, als ob eine eiskalte Klaue nach ihrem Herzen greifen würde. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können? Es gab praktisch keinen Raubfisch, der einen Taucher nicht einholen konnte.
Tinas Hände begannen so stark zu zittern, dass sie beinahe ihre Lampe verloren hätte. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Nerven zu behalten. Ihre Linke tastete zu ihrem Tauchermesser, das sie mit sich führte. Es sollte ihr eigentlich nicht als Waffe, sondern als Werkzeug dienen. Zur Selbstverteidigung war es ziemlich ungeeignet. Allein schon, weil sich Tina vor einem Kampf fürchtete.
Im nächsten Moment bemerkte sie allerdings, dass sie gar kein Tier vor sich hatte. Im Licht ihrer druckfesten Lampe sah Tina einen Neoprenanzug, der ihrem eigenen ähnelte, außerdem Schwimmflossen, Schnorchel und ein Sauerstoffgerät. Aber wieso hatte der andere Taucher keine Lampe bei sich? Was hatte er zu verbergen? War er aus demselben Grund hier, der Tina ebenfalls zu dem Schiffswrack getrieben hatte?
Diese Fragen drängten sich ihr auf, aber eine Antwort darauf erhielt sie nicht mehr. Tina erblickte nun die Harpune in den Händen des unbekannten Tauchers. Instinktiv wandte sie sich ab und floh. Von diesem Fremden hatte sie nichts Gutes zu erwarten. Woher wusste der andere Taucher, dass sie hier sein würde? War die Begegnung nur purer Zufall? Das konnte Tina nicht glauben, denn sie befand sich weitab der bekannten karibischen Tauchgebiete. Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Verdacht, wer der Mann mit der Harpune sein könnte.
Tina verschwand hinter einer scharfzackigen Felsnase, die beinahe so groß war wie ein Kleinwagen. Sie hatte gehofft, ihren Verfolger abschütteln zu können. Aber ihr Widersacher war zu reaktionsschnell. Schon war er auf Schussdistanz heran gekommen. Tina hob instinktiv die Hände zur Abwehr, aber das war sinnlos.
Sie spürte noch einen heftigen Schmerz, als der Harpunenstahl ihre Brust durchbohrte. Danach wurde es schwarz um sie herum, und zwar für immer Das Blut sickerte aus ihrem Körper und vermischte sich mit dem grünblauen Wasser der karibischen See.
Emily Price fühlte sich hundsmiserabel.
Der Stadtbezirk Pine Hills war nicht die beste Gegend von Orlando, Florida. Im Polizeirevier dieses Stadtviertels erblickte Emily so viele Schlägertypen, Drogenwracks, Verbrechensopfer und offensichtlich Geisteskranke wie noch nie zuvor in ihrem einundzwanzigjährigen Leben. Die uniformierten Cops bewegten sich zwischen diesen Elendsgestalten mit der gelangweilten Routine von Leuten, die nur ihren Job machen. Und auch Emilys Anwalt Dr. Brennan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Glatzkopf mit den großen Tränensäcken unter den Augen saß neben Emily auf der harten Holzbank. Dr. Brennan schien sich um seine Mandantin keine großen Sorgen zu machen. Jedenfalls hatte er seine Aktentasche geöffnet und arbeitete einige Papiere durch.
„Wann sind wir denn endlich an der Reihe?“, stieß Emily hervor. Sie war verängstigt und genervt zugleich.
„Bleiben Sie bitte ruhig, Miss Price.“ Der Jurist schaute noch nicht einmal von seinen Akten auf. „Wenn Sie zu nervös sind, wird die Polizei das als ein Schuldeingeständnis werten. Ich würde Ihnen ja einen Kaffee besorgen. Allerdings fürchte ich, dass diese Brühe sie noch nervöser macht, als Sie es ohnehin schon sind. Der Polizeikaffee ist nur etwas für alte Haudegen wie mich. Dieses Zeug zu trinken, das ist schon Strafe genug. Und vor einer Strafe wollen wir Sie ja schließlich bewahren, nicht wahr?“
„Strafe? Aber ich habe doch gar nichts getan!“ Emily fand selbst, dass sich ihre Stimme total hysterisch anhörte.
„Natürlich haben Sie das nicht“, stimmte Dr. Brennan zu. Aber es klang nicht so, als ob er ihr glauben würde. Der Verteidiger begleitete Emily schließlich nicht aus Sympathie zum Verhör, sondern weil Emilys Mom ihn dafür bezahlte. Und es hörte sich nicht so an, als ob er seine Mandantin für unschuldig hielt. Emily war den Tränen nahe, obwohl sie normalerweise nicht so nahe am Wasser gebaut hatte. Aber wenn schon ihr eigener Anwalt sie für eine Mörderin hielt -- wie sollte sie dann erst die Polizei von ihrer Unschuld überzeugen?
Ein junger Typ mit Gang-Tattoos rastete plötzlich und unerwartet aus. Beinahe hätte auch Emily einen von seinen unkontrollierten Hieben abbekommen. Er schlug wild um sich, traf einen alten Obdachlosen am Kopf und wurde schließlich von zwei Cops mit einem Taser ruhiggestellt. Sie schleiften ihn in eine Arrestzelle. Emily erkannte plötzlich, dass man sie vielleicht auch hinter Gitter stecken würde. Diese Vorstellung war beinahe unerträglich, und ihre Augen wurden feucht.
In diesem Moment öffnete sich die Bürotür, vor der Emily und ihr Rechtsbeistand warteten. Ein weiblicher Detective sprach sie an.
„Miss Price? Kommen Sie bitte herein.“
Emily hatte butterweiche Knie, als sie den Verhörraum betrat. Die Einrichtung bestand nur aus vier Stühlen und einem Tisch, auf dem ein Tonbandgerät stand. Emily wurde aufgefordert, sich zu setzen. Der Anwalt war den Zivil-Cops offenbar bekannt, jedenfalls fragte ihn niemand nach seinem Namen. Die Beamten stellten sich als Detective Dorothy Stewart und Detective Sidney Bartlett vor. Emily wurde über ihre Rechte belehrt und stimmte zu, dass die Befragung per Tonband mitgeschnitten wurde.
Der Anwalt hatte nun endlich seine Aktenlektüre beendet.
„Was wird meiner Mandantin eigentlich zur Last gelegt, Detectives?“
„Wir haben den begründeten Verdacht, dass Emily Price ihren Ex-Freund Jim Meadows ermordet hat.“
Dr. Brennan lachte, aber er klang nicht amüsiert.
„Begründeter Verdacht? Finden Sie nicht, dass zu einem begründeten Verdacht wenigstens eine Leiche gehört?“
Emily konnte dem Wortwechsel kaum noch folgen, weil es ihr so schlecht ging. Nun hatte Detective Dorothy Stewart endlich ausgesprochen, was Emily schon die ganze Zeit befürchtet hatte. Ihr Ex-Freund war spurlos verschwunden, und die Polizei glaubte an ein Gewaltverbrechen. Emily konnte nicht mehr an das denken, was geschehen war. Am liebsten hätte sie sich in ein Mauseloch verkrochen, aber so etwas gab es in diesem Verhörraum natürlich nicht. Und außerdem sahen diese Zivilcops nicht so aus, als ob sie Emily entkommen lassen wollten.
Detective Sidney Bartlett zählte an den Fingern ab, warum Emily unter Mordverdacht stand.
„Dr. Brennan, Ihre Mandantin wurde monatelang von Jim Meadows belästigt, sie hat ihn wegen Stalking bereits angezeigt. Leider konnte die Polizei Jim Meadows nicht stoppen, er war offenbar wie besessen von Emily Price. Ihre Mandantin hat vor Zeugen mindestens einmal gesagt, dass sie ihren Ex-Freund umbringen könnte. Jim Meadows ist seit einer Woche spurlos verschwunden, in seinem Zimmer wurde eine größere Menge Blut von ihm gefunden. Er verschwand an dem Abend, an dem seine Eltern gewohnheitsmäßig zum Bowling gehen. Als seine Ex-Freundin wusste Ihre Mandantin, dass Jim Meadows jeden Dienstagabend allein im Haus ist. Sein Zimmer befindet sich direkt neben dem Hinterausgang. Die Gasse hinter dem Gebäude ist finster. Es wäre kein Problem, die Leiche durch den Garten zu einem wartenden Auto zu schaffen und in den Kofferraum zu legen. Emily Price ist sportlich, sie hat bei der ersten Befragung angegeben, dass sie schwimmt und Gerätetauchen betreibt. Sie wäre also in der Lage gewesen, den Toten ohne fremde Hilfe abzutransportieren.“
„Wollen Sie meiner Mandantin einen Strick daraus drehen, dass sie körperlich fit ist?“
„Selbstverständlich nicht, Dr. Brennan.“
Der Anwalt machte eine ungeduldige Handbewegung.
„Es ist kein Staatsgeheimnis, dass Jim Meadows‘ Eltern jeden Dienstag zum Bowling gehen. Das weiß übrigens jeder, der in Orlando Zeitung liest. Mr. und Mrs. Meadows spielen nämlich in einem erfolgreichen Amateur-Team und haben schon öfter Preise gewonnen. Die Trainingszeiten werden auch im Internet veröffentlicht. Außerdem gibt es noch zahlreiche andere Verdächtige, denn Jim Meadows ist ein Hitzkopf, der schon mit vielen Menschen aneinandergeraten ist – auch mit der Polizei. Und solange seine Leiche nicht gefunden wird, glaube ich auch nicht an seinen Tod.“
Detective Dorothy Stewart wandte sich nun direkt an Emily. Sie war noch jung, schätzungsweise Anfang dreißig. Die Polizistin bemühte sich um einen persönlichen Tonfall. Sie sprach mit einem freundlichen warmen Unterton – so, als ob sie Emilys Freundin wäre.
„Ich kann verstehen, wie Sie sich gefühlt haben müssen, Miss Price. Man ist so hilflos, wenn man einen Stalker an den Hacken hat. Die Gesetze machen es diesen kranken Typen immer noch zu leicht. Jim Meadows hat Ihnen das Leben zur Hölle gemacht, Sie waren mit den Nerven völlig am Ende. Vielleicht haben Sie sich noch zu einer letzten Aussprache mit ihm getroffen. Aber dann gab es Streit. Ich glaube nicht, dass Sie ihn wirklich töten wollten, aber dann ist es doch passiert. – War es so, Emily? Ich darf doch Emily sagen, oder?“
„Ja“, hauchte Emily. „Ich meine, nein. – Also, Sie dürfen Emily sagen. Aber ich war das nicht!“
„Netter Versuch, Detective Stewart“, knurrte der Anwalt. „Lernt man diese Verwirrspielchen neuerdings auf der Polizeischule? Ich bin ein alter Mann. Zu meiner Zeit gab es noch eine Leiche und eine Mordwaffe, bevor die Anklage erhoben werden konnte. Ich kann nicht glauben, dass das heutzutage anders sein soll.“
„Wir werden Jim Meadows‘ sterbliche Überreste finden“, meinte Detective Sidney Bartlett. „Das ist für uns nur noch eine Frage der Zeit.“
Dr. Brennan lachte erneut.
„Ich würde sagen, die Polizei braucht dringend einen Erfolg. Das ist alles, was ich sehe. – Und nun präsentiere ich Ihnen meine Fakten. Die Spurensicherung konnte im Garten keinen Hinweis auf einen Leichentransport feststellen.“
„Weil es in der Nacht stark geregnet hat“, warf Dorothy Stewart ein.
„Wollen Sie das jetzt auch meiner Mandantin anlasten? – Wie auch immer, Emily Price hat ein Alibi. Zur fraglichen Zeit war sie laut Aussage ihrer Mutter die ganze Zeit daheim.“
„Emily ist das einzige Kind von Mrs. Price“, gab Sidney Bartlett zu bedenken.
„Und dadurch wird die Aussage unglaubwürdiger? Das ist echte Polizei-Logik, das muss ich schon sagen. – Auf jeden Fall hat meine Mandantin im Affekt dem verschwundenen Jim Meadows den Tod gewünscht. Aber das war nur ein Ausrutscher, den sie selbstverständlich bedauert. Nicht wahr, Miss Price?“
Emily nickte nur stumm mit dem Kopf. Ihr Anwalt hatte ihr eingeschärft, so wenig wie möglich zu sagen und das Reden ihm zu überlassen. Sie war nun doch froh, ihn bei sich zu haben. Dr. Brennan hatte zwar zunächst gelangweilt gewirkt, aber nun legte er sich für sie richtig ins Zeug. Der Jurist hatte offenbar seine Hausaufgaben gemacht. Dass ihr Ex-Freund ein richtiger Stinkstiefel sein konnte, wussten viele Leute. So gesehen gab es gewiss noch viel mehr Verdächtige. Emily presste die Lippen aufeinander. Sie wollte nicht mehr an das denken, was geschehen war, und sich nicht mehr mit Jim beschäftigen. Doch durch die Mordanklage wurde sie dazu gezwungen.
Der Anwalt stand abrupt auf.
„Wir gehen, Miss Price. – Detectives, bei dieser dürftigen Beweislage wird der Richter niemals Untersuchungshaft anordnen. Ich wette, dass dieser nichtsnutzige Bengel Jim Meadows schon bald putzmunter wieder irgendwo erscheint und uns allen auf die Nerven geht, auch Ihren uniformierten Kollegen vom Streifendienst.“
Emily wusste auch, dass Jim Meadows schon öfter Ärger mit dem Gesetz gehabt hatte. Auf Party benahm er sich regelmäßig daneben, und wenn die Gastgeber schließlich die Polizei riefen, legte er sich auch noch mit den Cops an. Früher hatte Emily ihren damaligen Freund wegen solcher Erlebnisse wild und aufregend gefunden. Doch als sein explosives Temperament sich plötzlich gegen sie richtete, gefiel ihr seine dunkle Seite plötzlich gar nicht mehr. Jims unberechenbare Art war nur noch nervenzermürbend und bedrohlich für Emily.
Sie atmete erst einmal tief durch, nachdem sie die Polizeistation endlich wieder verlassen durfte. Dr. Brennan brachte Emily noch in seinem Chevrolet zum Haus ihrer Mutter. Zum Abschied sagte der Anwalt: „Sie müssen sich keine Sorgen machen, Miss Price. Die Polizei hat nichts in der Hand. Die Cops können Ihnen den Mord nicht nachweisen, nicht bei dieser Beweislage.“
„Und Sie, Dr. Brennan? Glauben Sie, dass ich Jim Meadows getötet habe?“
Der Jurist lachte und öffnete die Beifahrertür.
„Ich werde nicht fürs Glauben bezahlt. Überlassen Sie nur alles mir, dann löst sich die Anklage in Wohlgefallen auf. – Wir sehen uns dann beim Haftprüfungstermin.“
Emily stieg aus und durchquerte den Vorgarten. Der Anblick des kleinen Hauses, in dem sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, beruhigte sie etwas. Ihre Mutter war nicht daheim. Brenda Price hatte einen Job bei der Stadtverwaltung von Orlando und musste tagsüber arbeiten.
Emily war im zweiten Jahr auf dem College, und die Sommerferien waren erst vor zwei Wochen mit einer feuchtfröhlichen Riesenparty eingeläutet worden. Ruhelos und nervös tigerte sie durch das Haus, nachdem sie aufgeschlossen hatte. Emily musste jetzt unbedingt mit jemandem reden, sonst würde sie noch platzen. Es kam ihr vor, als ob hinter den Gartenhecken der Finnegans irgendwelche heimlichen Beobachter lauerten. Und was war mit dem Oldsmobile, das schräg gegenüber parkte? Das Auto gehörte keinem ihrer Nachbarn, da war Emily sicher. Ob sie von den Cops beschattet wurde?
Im Bad riss sich Emily die Kleider vom Leib. Für den Besuch der Polizeiwache hatte sie ein braves Leinenkostüm mit knielangem Rock und spießiger Bluse angezogen, doch in diesen Klamotten fühlte sie sich unwohl. Außerdem brauchte sie jetzt dringend eine Dusche, um die beklemmende Atmosphäre von Gewalt und Elend abzuspülen.
Nachdem sie sich ausgiebig abgebraust hatte, ging es ihr etwas besser. Emily betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, während sie sich abfrottierte. Eigentlich sah sie recht hübsch aus mit ihren großen dunkelbraunen Augen, die gut zu ihrem kastanienfarbenen schulterlangen Haar passten. Ihre Lippen waren auch ohne Botox-Behandlung schön geschwungen, und Jim hatte immer gesagt …
Emilys Gedankengang brach abrupt ab. Sie wollte nicht mehr an diesen Kerl denken und auch nicht an das, was zwischen ihnen geschehen war. Nie mehr!
Das Telefon klingelte.
Emily wickelte sich in das Badetuch und eilte in die Küche, wo das Festnetztelefon an der Wand hing. Sie nahm den Hörer ab.
„Hallo?“
Am anderen Ende der Leitung war nichts zu hören. Oder etwa doch? Ein unterdrücktes Atmen, ein keuchendes Geräusch? Oder bildete Emily sich das nur ein? Spielte ihr ihre Fantasie einen Streich? Gleich darauf ertönte das Besetztzeichen. Emily lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, obwohl sie soeben heiß geduscht hatte.
Wer war der Anrufer? Was bezweckte er? Falls er kontrollieren wollte, ob sie zu Hause war, dann hatte er dieses Ziel jedenfalls erreicht. Emily wollte zwar nicht mehr an ihren Ex denken, aber nun fiel ihr wieder ein, dass Jim Kontakt zu einigen zwielichtigen Typen gehabt hatte. Ob einer von denen am Apparat gewesen war? Aber weshalb? Darüber wollte sie lieber nicht nachgrübeln.
Das Telefon schrillte erneut.
Emily zuckte zusammen und ließ vor Schreck das Handtuch fallen. Splitternackt stand sie in der Küche, aber es war ja niemand außer ihr da. Oder? Unwillkürlich ließ sie ihren Blick über die geschlossenen Türen zu den anderen Zimmern schweifen. Hatte sich gerade der Türknauf ihres eigenen Zimmers gedreht? Emily erkannte, dass sie schon fast hysterisch war. Das entnervende Geräusch hörte einfach nicht auf. Es half nichts, sie musste das Gespräch annehmen. Ihre Hand zitterte, als sie den Hörer erneut an ihre Ohrmuschel presste.
„H-hallo?“
„Emily? Hier ist Mom. Ich wollte mich nur kurz melden und fragen, wie es bei dem Verhör gelaufen ist.“
Emily war unglaublich erleichtert, weil sie die vertraute Stimme ihrer Mutter hörte.
„Ganz gut, glaube ich. Dr. Brennan war richtig super, Mom. Er hat die Anklage gegen mich in der Luft zerrissen. Er meint, ich muss mir keine Sorgen machen.“
„Das finde ich auch, Emily. Es ist ja sowieso unglaublich, dass du verdächtigt wirst, obwohl du den ganzen Abend daheim warst. Aber die Aussage der eigenen Mutter nehmen diese Cops anscheinend nicht ernst. Naja, die müssen auch nur ihren Job machen. Außerdem glaube ich, dass der wahre Mörder bald gefasst werden wird. Dann bist du sowieso entlastet.“
„Dr. Brennan glaubt, dass Jim noch am Leben wäre.“
„Das kann natürlich sein. Wer weiß, was in Jims Kopf vorgeht. Du hast ja mit diesem Kerl schon genug Ärger gehabt, dem ist doch alles zuzutrauen. – Hör mal, lass uns heute Abend weiterreden, ja? Ich darf hier nicht so lange Privatgespräche führen.“
„Schon klar. Nur noch eine Sache, Mom …“
„Ja?“
„Hast du gerade eben schon mal angerufen?“
„Ja, das war ich. Aber die Leitung war plötzlich weg, das liegt an unserer blöden Telefonanlage hier im Office. Bis später dann.“
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3636-2
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