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Erstes Kapitel

Julias Hände hörten nicht auf zu zittern. Ihr Blut schmeckte heute anders als sonst. In den vergangenen drei Monaten, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, hatte sie nicht nur in dieser Hinsicht viele Erfahrungen sammeln dürfen. Sie hatte körperliche und seelische Zustände kennengelernt, die sie bisher nur aus der Lektüre von Psychothrillern kannte.

Julia stand vom Fußboden auf und wankte auf unsicheren Beinen ins Bad. Sie begriff inzwischen nur allzu gut, warum so viele Menschen, vor allem Frauen, die Lektüre von harten Krimis bevorzugten. Es musste ein schönes Gefühl sein, den Roman auf das Nachtschränkchen zu legen und die Augen schließen zu können. Sich unter die Bettdecke zu kuscheln, mit den schaurigen Erinnerungen an die gelesenen Grausamkeiten. Angstlust nannte man das wohl; und dabei die beruhigende Sicherheit zu haben, dass der Psychopath zwischen den Buchseiten bleiben würde.

Bei ihr war das anders. Sie teilte seit Monaten ihr Bett mit einem Mann, der seine Wutausbrüche absolut nicht unter Kontrolle hatte. Sie musste keine blutrünstigen Schmöker lesen, um tödliche Furcht zu spüren.

Julia presste ihre Lippen aufeinander. Sie wollte nicht an Pascal denken. Sie war froh, dass sie momentan von ihm nichts Böses zu erwarten hatte.

Der Prügelheld schlief laut schnarchend in seinem Lieblingssessel. Der Kopf war zur Seite gesackt. Eine Flasche Wodka konnte selbst einen Mann fällen, der so groß und stark war wie ein US Marine.

Sie warf einen scheuen Blick in seine Richtung. Allein der Anblick seines massiven Körpers sorgte dafür, dass sich das Zittern in ihren Fingern verstärkte. Es war erst wenige Stunden her, dass er sie nach allen Regeln der Kunst verprügelt hatte.

Es war nicht so, dass Pascal sie unüberlegt fertigmachte. Trotz seiner Trunkenheit verstand er sich meisterhaft darauf, ihr Schmerzen zuzufügen, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. In dieser Hinsicht war ihr Freund so perfekt wie ein Verhörspezialist in einer Diktatur. Meistens waren es nicht seine Schläge und Tritte, die sie fürchtete, sondern seine verbalen Entgleisungen. Pascals Worte konnten wie scharfe Messer verletzen.

Julia betrachtete ihr Gesicht im Spiegel des Badezimmers. Es sah grau und eingefallen aus. Sie fühlte sich mindestens zehn Jahre älter. Dreiunddreißig, Single, erfolgreiche selbstständige Web-Designerin — und seit einigen Monaten mit dem größten Fehler ihres Lebens liiert. Wieder einmal fragte sie sich, wie sie sich von Pascal trennen sollte, ohne dabei ihr Leben zu verlieren. Er hatte mehrmals unmissverständlich klargemacht, dass es für ihn nur eine Art gab, die Beziehung zu beenden – mit einer scharfen Klinge.

Julia dachte keinen Moment daran, dass dies eine leere Drohung sein könnte. Dafür war zu viel zwischen ihnen geschehen. Sollte sie ihn doch anzeigen? Daran hatte sie schon mehrmals gedacht, aber eine echte Lösung war das nicht. Die deutsche Justiz war in ihren Augen zu zahnlos, um mit einem Monster wie Pascal Menninger fertig zu werden. Am besten wäre es, wenn sie einen Auftragskiller anheuern würde, der den Kerl für immer beseitigte.

Diese Vorstellung zauberte ein bitteres Grinsen auf ihr Gesicht. Nein, so etwas würde sie nicht tun, obwohl sie neuerdings die Mittel dazu hatte. Wie durch ein Wunder war es ihr gelungen, eine kleine Erbschaft vor Pascal zu verheimlichen. Sie musste nur das Geld von ihrem Konto abheben und einen Brutalo anheuern, der Pascal für alle seine Grausamkeiten an ihr büßen lassen würde. Doch Julias humanistische Erziehung und ihr grundsätzlich friedlicher Charakter ließen sie von dieser Lösung Abstand nehmen.

Nein, ein Auftragsmord kam nicht infrage. Stattdessen konnte sie mithilfe des Geldes fliehen.

Ihr Peiniger würde erfahrungsgemäß noch mehrere Stunden schlafen, bis er wieder einsatzbereit war. Sie hatte die Nase endgültig voll von diesem Kerl. Sie wollte ihn nicht mehr sehen, und sie wollte auf keinen Fall noch einmal von ihm gefickt werden.

Ficken das war der einzig passende Begriff, um den Geschlechtsverkehr mit Pascal passend zu benennen. Anfangs hatte sie es noch schmeichelhaft gefunden, dass er sie so stark begehrte. Aber dann war ihr immer klarer geworden, dass er kein Nein akzeptierte. Er nahm sie, wann er wollte, und er wollte sehr oft. Pascal verfügte über eine große Fantasie und bevorzugte auch beim Sex die harte Tour. Allein die Vorstellung, dass er wieder auf ihr liegen und in sie eindringen könnte, ließ ihren Magen zusammenkrampfen. Sie unterdrückte einen Würgereiz und putzte sich die Zähne. Inzwischen war der Tremor in ihren Händen etwas zurückgegangen. Aber sie wusste nicht, ob sie jemals wieder zur Ruhe kommen würde. Ihr Gehirn arbeitete wie eine gut geölte Problemlösungsmaschine.

Ob sie ein paar Sachen zusammenpacken sollte? Nein, das war zu riskant. Wenn er merkte, dass Reisetasche und Kleidung fehlten, würde er sofort Lunte riechen. Julia musste Zeit gewinnen und Pascal über ihre Absichten im Unklaren ließ. Ess würde keinen Abschiedsbrief oder einen schriftlichen Erklärungsversuch geben. Die Wohnung lief auf seinen Namen. Sie hatte den großen Fehler begangen, zu ihrem Freund zu ziehen und ihr Apartment aufzulösen. Dadurch gab es nun auch keinen Mietvertrag, den sie kündigen musste.

Sie verließ das Bad, wobei ihr Herz klopfte wie nach einem Ultrasprint.

Pascal schlief zum Glück immer noch den Schlaf des Ungerechten.

Julia nahm ihre Handtasche. Mehr würde sie für ihr neues Leben nicht mitnehmen können. Aber ohne Heather würde sie nicht abhauen. Julia beglückwünschte sich, dass sie die Labradorhündin am Vorabend bei ihrer Freundin Evelyn zurückgelassen hatte. Sie hatte die Gewalteruption von Pascal bereits vorausgeahnt und verhindern wollen, dass er an ihrer geliebten Labrador-Lady vergriff.

Sie nahm ihr Smartphone aus der Handtasche und platzierte es gut sichtbar auf den Wohnzimmertisch, mit dessen Kante ihr Kinn am vorigen Abend Bekanntschaft gemacht hatte. Wenn Pascal das Mobiltelefon sah, würde er vermuten, dass sie gleich zurückkäme.

Sie zog leise die Wohnungstür hinter sich zu und rannte die Treppe hinunter. Ihre Knie waren weich wie Pudding , ihr Herz raste, sie sah mehrfach über die Schulter nach hinten, glaubte, Pascal wie einen düsteren Racheengel auf dem Treppenabsatz erscheinen zu sehen. Aber das war zum Glück eine Illusion.


Julia rannte durch Schwabing, als würde sie von Dämonen gehetzt. Sie hatte diesen quirligen Münchener Stadtteil immer geliebt, aber sie konnte nicht hierbleiben. Pascal kannte sich in der Stadt bestens aus. Er würde sie im Handumdrehen finden. Julia wollte sich nicht vorstellen, was er dann mit ihr anstellte.


Sie verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit. Irgendwann stand sie vor dem Haus, in dem Evelyn wohnte. Sie atmete tief durch, bevor sie klingelte. Auch ihrer Freundin gegenüber durfte sie kein Wort über ihre Fluchtpläne verlieren. Evelyn war ein großer Fan von Pascal.

Julia durfte nicht mit offenen Karten spielen. Ihre Chancen waren umso größer, je weniger Menschen von ihrem Vorhaben erfuhren.

Sie klingelte. Wenig später drückte Evelyn auf den Summer. Ihre Freundin empfing sie in einem indisch anmutenden Nachtgewand. Offenbar hatte sie noch geschlafen, was Julia nicht verwunderte. Evelyn nannte sich Künstlerin, ging aber keiner nennenswerten Beschäftigung nach. Julia konnte sich nicht erinnern, dass ihre Freundin jemals gearbeitet hatte. Aber da ihre Eltern vermögend waren, schien das kein existenzielles Problem für sie zu sein.

Evelyn gähnte demonstrativ, nachdem sie Julia mit zwei Küsschen auf die Wangen empfangen hatte. „Tschau, Bella. Was führt dich denn zu nachtschlafender Zeit hierher?“

„Ich hatte Sehnsucht nach Heather, wundert dich das?“

Wie zur Bestätigung sprang die Labrador-Hündin freudig an Julia hoch. Die ungestümen Liebesbekundungen waren Balsam für ihre geschundene Seele. Immerhin schaffte sie es sogar, ihre Freundin scheinbar optimistisch anzugrinsen, obwohl ihr Oberkiefer von Pascals Schlägen immer noch schmerzte.

Evelyn lachte gekünstelt. „Nein, ich kann dich schon verstehen. Heather ist ja soooo ein Schatz! Sie war brav, während du mit deinem Liebsten die Nacht in trauter Zweisamkeit verbracht hast. Wie war es denn so?“ Sie zwinkerte zweideutig.

„Unbeschreiblich“, sagte Julia wahrheitsgemäß. „Heather muss dringend Gassi gehen. Und ich habe gleich einen Termin bei einem Kunden. Danke fürs Hundehüten. Wir sehen uns später, okay?“

„Auf jeden Fall.“

Evelyn verabschiedete sich, während sie verstohlen gähnte. Julia bedauerte diesen endgültigen Abschied. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass sie diesen Verlust als Kollateralschaden betrachten musste.


Julia fühlte sich seltsam befreit, als sie Evelyns Wohnhaus verließ. Sie fuhr mit der U-Bahn Richtung Hauptbahnhof. Sie hatte noch kein Ziel, aber eines wusste sie: Sie musste so weit wie möglich von München weg. Der Ort spielte keine Rolle, als Web-Designerin konnte sie überall auf der Welt arbeiten. Sie mochte Straßburg und war auch schon oft dort gewesen. Aber das wusste Pascal.

Zu ihrer Mutter konnte sie nicht gehen, Henriette Kern hatte Pascal kritiklos angehimmelt. Wenn es nach ihrer Mama gegangen wäre, hätte sie diesen charmanten Brutalo längst heiraten müssen. Ihre Mutter würde niemals verstehen, dass sie mit Pascal nichts mehr zu tun haben wollte.

Und ihr Vater? Julia kannte ihn nicht, sie war ein uneheliches Kind. Ihr Erzeuger hatte nie Unterhalt für sie gezahlt. Sie durfte ihrer Mutter nicht verraten, wohin sie ging, sonst würde im Handumdrehen Pascal auf ihrer Matte stehen.


Unschlüssig betrat sie mit Heather an der Leine ein Internet-Café in Bahnhofsnähe. Es roch nach Schweiß und billigen Zigaretten. Die Menschen um sie herum kamen offenbar aus aller Herren Länder. Die meisten von ihnen hatten wohl eine viel längere Flucht hinter sich, als es ihr bevorstand. Dieser Gedanke gab ihr Zuversicht. Die Leute hatten es unter vermutlich sehr dramatischen Umständen geschafft, bis nach München zu gelangen. Da musste es ihr gelingen, sich in irgendeiner Ecke Deutschlands ein neues Leben aufzubauen.

Julia setzte sich an einen der PCs und rief die Homepage eines bundesweit tätigen Immobilienportals auf. Sie wurde von dem Überangebot im ersten Moment fast erschlagen. Viele Objekte kamen jedoch für sie nicht infrage. Eine Eigentumswohnung für eine Million Euro oder mehr konnte sie sich nicht leisten. Ihre Erbschaft war sehr viel geringer. Ob sie dafür überhaupt eine halbwegs akzeptable Bleibe finden würde?

Julia blickte auf Heather hinab, die sich brav neben ihr auf den schmierigen Steinfußboden gelegt hatte. „Wir könnten gemeinsam in eine Hundehütte ziehen, wie wäre das? Hauptsache, wir sind Pascal los.“

Heather legte die Ohren an, während Julia ein kalter Schauder über den Rücken lief. Allein die Erwähnung von Pascals Namen provozierte diese Reaktion. Unwillkürlich sah sie zum Eingang. Sie kam sich vor wie eine abergläubische Frau aus dem Mittelalter, die glaubte, den Gottseibeiuns heraufzubeschwören, indem sie ihn erwähnte. Doch zum Glück kam nicht Pascal zur Tür hinein, sondern ein ihr völlig unbekannter Mann mit asiatischen Gesichtszügen.

Julia setzte ihre Internet-Recherche fort. Sie würde noch den Verstand verlieren, wenn sie länger als unbedingt nötig in München blieb. Es war zwar unwahrscheinlich, dass Pascal sie ausgerechnet in diesem Internet-Café aufspürte, doch sie hatte ihren Exfreund innerlich derart dämonisiert, dass sie ihm buchstäblich alles zutraute.

Sie surfte zwischen zahlreichen Angeboten herum und war verblüfft, wie viel Orte es in Deutschland gab, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Itterbeck, Menkin, Brüssow, Bad Colberg, diese Namen sagten ihr nichts.

In einer Gemeinde namens Groß Midlum stand ein ehemaliges leer stehendes Armenhaus zum Verkauf. Offenbar befand es sich im kommunalen Besitz. Der Preis war mehr als attraktiv. Julia vergrößerte das Foto des Hauses. Es sah ein wenig baufällig aus, aber das traf auf viele Gebäude zu, die sie auf der Makler-Homepage in Augenschein genommen hatte. Für den Preis, den sie zahlen wollte, konnte man offenbar kein Märchenschloss erwarten.

Das schlichte Backsteinhaus faszinierte sie auf unerklärliche Art. Sie sah sich bereits durch die drei Räume streifen, aus denen das Gebäude laut Maklerinfo bestand. Sie wollte sich dieses Armenhaus unbedingt ansehen.

Eine rasche Internet-Recherche zeigte ihr, dass Groß Midlum zum Landkreis Aurich gehörte und weniger als achthundert Einwohner zählte. Sie musste nach Ostfriesland. Dort war sie noch nie gewesen. In dieser Region würde Pascal sie gewiss nicht vermuten. Allein diese Tatsache sprach schon für Groß Midlum. Einen größeren Gegensatz zu München konnte sich Julia kaum vorstellen.

Sie notierte die Telefonnummer des Immobilienmaklers und wechselte schnell in eine der stickigen Telefonkabinen des Internet-Cafés. Aufgeregt wählte sie den Büroanschluss. Irgendwo in Ostfriesland klingelte ein Telefon.

„Moin“, sagte eine raue Männerstimme.

Julia runzelte die Stirn. Moin? Es war schon nach Mittag. Ob der Makler gerade aufgestanden war, so wie Evelyn? Hatte er so wenig zu tun? Das war eher kein gutes Zeichen.

„Mein Name ist Julia Kern. Es geht um das Armenhaus von Groß Midlum.“

„Jo.“

Julias Befremden wuchs. Führte man so in Ostfriesland ein erfolgreiches Verkaufsgespräch? „Ich würde das Haus gern besichtigen. Ist das möglich?“

„Jo.“

„Kann ich das Haus kurzfristig beziehen, falls es zu einem Kaufabschluss kommt?“

„Jo.“

„Sind Sie morgen früh in Groß Midlum? Ist die auf Ihrer Homepage angegebene Adresse korrekt?“

„Jo.“

„Na dann – bis morgen.“

Aber der Makler hatte schon aufgelegt. Irritiert blickte Julia den Telefonhörer in ihrer Hand an. War dieser Ostfriese mit dem falschen Fuß aufgestanden oder hatte sie es einfach mit einem besonders maulfaulen Kerl zu tun gehabt?

Sie war jedoch froh, den ersten Schritt in ihr neues Leben getan zu haben. Ob Pascal wohl inzwischen aus seinem Wodka-Koma erwacht war? Diese Vorstellung ließ ihre innere Unruhe erneut aufflammen.

Sie bezahlte für Internet und Telefon, dann eilte zum Hauptbahnhof. In jedem großen breitschultrigen Kerl glaubte si, ihren Exfreund zu erkennen. Ihr Rücken war schweißnass, die Bluse klebte an der Haut. Julia kämpfte gegen ihre Panik und zwang sich zu rationalem Handeln.

Die nächste größere Stadt in der Nähe ihres Ziels war Emden. Die Fahrt würde mit ICE und Regionalexpress über acht Stunden dauern, aber das spielte keine Rolle. Nur für Heather würde die lange Zeit ohne nennenswerte Bewegung eine Tortur werden. Doch die Hündin schien genau zu spüren, dass ihre menschliche Gefährtin soeben in ein besseres Leben aufbrechen wollte.

Julia löste eine einfache Fahrkarte, sie wollte München für immer hinter sich lassen.


Die Fahrt verlief ereignislos. Julia verbrachte sie größtenteils in einem Dämmerzustand. Einmal schlief sie tief und fest ein. Als sie aufwachte, war ihr Gesicht nass von Tränen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, im Schlaf geweint zu haben.

Einige Mitreisende sahen sie befremdet an.

Sie war erleichtert, dass ihr Traum nur noch fetzenhaft durch ihr Bewusstsein spukte. Als kleines Mädchen hatte sie sich vor einer finsteren Gestalt gefürchtet, die womöglich unter ihrem Bett lauerte. Mit dreiunddreißig hatte sie so eine Kreatur in ihr Bett gelassen. Pascal war der personifizierte Albtraum. Falls sich das Schicksal mit ihr einen kruden Scherz erlauben wollte — sie konnte darüber jedenfalls nicht lachen.


Gegen zweiundzwanzig Uhr lief der Zug mit Verspätung in den Hauptbahnhof von Emden ein.

Heather war froh, endlich wieder nach draußen zu kommen und sprang übermütig um Julia herum. Falls die Hündin durch die lange Bahnfahrt erschöpft war, merkte man es ihr jedenfalls nicht an. Julia irrte mit ihr durch die City der Seehafenstadt und fand schließlich ein Hotel, das keinen allzu teuren Eindruck machte.

Sie betrat die kleine Lobby und ging zum Tresen.

Falls der Portier bemerkte, dass sie kein Gepäck hatte, nahm er daran offensichtlich keinen Anstoß. Dafür beugte er sich über den Empfangstresen und warf Heather einen undefinierbaren Blick zu.

Julias Herz krampfte sich zusammen. Sie hatte nicht daran gedacht, dass es schwierig war, in Hundebegleitung ein Hotelzimmer zu finden. „Ich habe eine Hündin“, sagte Julia mit fester Stimme. „Ist das ein Problem?“


„Nicht in unserem Haus. Ich lasse Ihnen eine Decke für den Hund aufs Zimmer bringen. Einige unserer Stammgäste reisen mit Haustieren.“

Erleichtert nahm Julia den Zimmerschlüssel entgegen und ging auf ihr Zimmer.

Wenig später brachte ein Page einen Hundekorb und eine flauschige Decke. Julia bedankte sich und gab ihm ein Trinkgeld.

Heather inspizierte sofort ihr neues Nachtlager und schien zufrieden zu sein.

Von ihrem Fenster aus hatte Julia einen Panoramablick auf das Wasser des Dollart. In der Ferne sah sie die Positionslaternen der Schiffe blinken, die sich gemächlich Richtung offenes Meer entfernten. Sie wurde von einer unbestimmten Schwermut ergriffen, ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich vor der Zukunft. Doch das, was vor ihr liegen würde, konnte auf keinen Fall schlimmer sein als die Vergangenheit. Oder?

Ihr Kopf tat weh vom Grübeln. Zur Beruhigung trank sie einen Whisky aus der Minibar. Da sie den Tag über kaum etwas gegessen hatte, entfaltete der Alkohol seine Wirkung so schnell und effektiv wie ein Fausthieb in die Magengrube, damit kannte sie sich schließlich au. Julia fiel ins Bett, schloss die Augen und wurde von tintenschwarzer Dunkelheit umhüllt.


Julia hatte tief und fest geschlafen. Nach der Dusche mit dem Mini-Portion-Hotel-Duschgel fühlte sie sich schon besser. Allerdings gefiel es ihr nicht, wieder in ihre muffige Reisekleidung steigen zu müssen. Sie beschloss, vor ihrer Abfahrt nach Groß Midlum wenigstens das Nötigste an Wäsche, Hygieneartikeln und Hundefutter zu kaufen.

Nach dem Frühstück startete sie zu einer schnellen Shopping-Tour durch die Emder Fußgängerzone. Sie ertappte sich dabei, immer wieder an Pascal zu denken. Was er jetzt wohl tun würde? Ob er schon ahnte, dass sie ihn verlassen hatte? Allein die Vorstellung seiner Wutausbrüche jagte ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Ob er seine Wohnung bereits zu Kleinholz zerlegt hatte? Vielleicht entfachte er auch ein Rachefeuer mit ihren Kleidern und persönlichen Gegenständen.

Letzteres war eher unwahrscheinlich. Er brachte sich selbst nie in Gefahr, was bei einem Feuer zweifellos geschehen konnte. Er legte sich vorzugsweise mit Frauen oder mit Männern an, die wesentlich schwächer waren als er. Julias Magen krampfte sich zusammen. Sie fragte sich ernsthaft, ob sie diesen Dreckskerl jemals aus ihrem Kopf kriegen würde.

Julia presste die Lippen aufeinander und eilte mit Heather und ihrem Gepäck zum nächsten Taxistand,

Sie hatte in einer Zoohandlung zwei Futterschüsseln und Trockenfutter für die Hündin gekauft, das sie ihr in einem kleinen Park mit Wasser aus einem Springbrunnen gereicht hatte. Ihre übrigen Neuerwerbungen hatte sie in die ebenfalls erstandene Reisetasche gepackt. Dazu gehörte auch ein Smartphone, ein etwas älteres Modell mit günstigem Standardvertrag.

„Moin“, wurde sie von dem Taxifahrer begrüßt. Er nahm ihr das Gepäck ab und verstaute es ihm Kofferraum.

Heather sprang voraus in den Wagen, Julia warf sich neben sie in die Polster und nannte dem Fahrer die Adresse in Groß Midlum.

Er nickte und startete den Motor.

Hinter der Stadtgrenze wurde das Land weit, flach und grün.

Der Taxifahrer beschleunigte den Mercedes. Julia fühlte sich fremd in dieser Landschaft, doch das war gut so. Sie hatte ihr altes Leben hinter sich gelassen und tauchte nun in eine völlig andere Welt ein. Vielleicht halfen ihr ja die neuen Eindrücke, über ihre dunkle Vergangenheit hinwegzukommen.

Der Taxifahrer setzte den Blinker und bog neben einem größeren Gebäude ab.

Sie deutete auf das Haus. „War das früher ein Bahnhof?“ Der Mann am Lenkrad nickte. „Sie sind eine gute Beobachterin. Es gab mal eine Kleinbahn, die zwischen Emden und Greetsiel verkehrte. In dem ehemaligen Dorfbahnhof ist heute die Midlumer Scheune, eine Kneipe, in der es manchmal auch Livemusik gibt.“

Julia drehte sich um, denn inzwischen war das Taxi an der Schenke vorbeigefahren. Wenig später hielt der Fahrer neben einem Kinderspielplatz. Julia stieg aus, bedankte sich und zahlte.

Ein hochgewachsener Mann mit flachsblondem Haar lehnte an einem Volvo-Kombi. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und erweckte den Eindruck, im Stehen zu schlafen.

Das musste der Makler sein, der bei dem Telefonat so bemerkenswert wenige Worte verloren hatte. Obwohl er noch größer als Pascal Menninger war, wirkte zumindest nicht bedrohlich auf sie. Sie ging mit Heather an der Leine auf ihn zu. „Sind Sie Herr Okkinga?“

„Jo.“

Der Makler war offenbar genauso einsilbig wie am Telefon. Immerhin streckte er ihr seine große Hand entgegen, die eher zu einem Bauarbeiter, als zu einem Büromenschen gepasst hätte. Julia drückte kurz seine schwielige Hand. Obwohl Okkinga harmlos wirkte, wollte sie ihn so wenig wie möglich anfassen. Sie hatte Männerhände in schmerzlicher Erinnerung.

Der Mann unterschied sich erheblich von seinen Berufskollegen, die sie in München kennengelernt hatten. Während dort die Immobilienmakler ihre Klienten üblicherweise in Grund und Boden texteten, ging der Ostfriese mit dem beschaulichen Ernst eines Mönchs zu Werke. Offenbar schien er ohnehin die Zeichensprache zu bevorzugen. Jedenfalls ging er auf das Armenhaus zu und deutete mit einer knappen Kopfbewegung an, dass sie ihm folgen möge.


Julia erkannte das Haus sofort wieder, obwohl das Foto im Internet von der Gartenseite aus aufgenommen worden war. Das alte Gemäuer war niedrig, aber immerhin schien das Dach intakt zu sein. Sie empfand die Stille als belastend und versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Das Haus scheint ziemlich alt zu sein. Wann wurde es denn gebaut?“

„1876.“

Immerhin schienen auch Zahlen zu Okkingas Vokabular zu gehören. Aber das durfte sie von einem Immobilienmakler wohl auch erwarten. „Steht das Haus schon lange leer?“

„Jo.“ Okkinga knickte in der Hüfte ein, nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte. Gebückt trat er in das Gebäude.

Julia erblickte als Erstes einen alten gusseisernen Herd. Ein solches Küchengerät hatte sie bisher nur in einem Museumsdorf gesehen. Außerdem gab es einige Stühle und einen wacklig aussehenden Tisch. Das passte Julia gut, sie besaß ja keine eigenen Möbel. Sie sah sich um, während Okkinga wie ein lebensgroßer Zinnsoldat in der Ecke stand, als ob ihn das Ganze überhaupt nichts anginge.

Die drei kleinen Zimmer unterschieden sich kaum voneinander. Hier mussten früher mehrere Menschen zusammengelebt haben. Jedenfalls gab es in jedem Raum eine eigene Feuerstelle. „Wo haben die Leute damals eigentlich geschlafen, Herr Okkinga?“

Der Makler hob erstaunt seine buschigen Augenbrauen, als ob seine Klientin nach einer Selbstverständlichkeit gefragt hätte. „In den Butzenbetten natürlich.“ Er öffnete einen Schrank.

Sie erinnerte sich dunkel, irgendwann einmal etwas über diese Schrankbetten gelesen zu haben. In kalten, feuchten Nächten war es im Inneren eines verschlossenen Kastens vermutlich sehr anheimelnd. Andererseits war diese Art der Nachtruhe gewiss nichts für Menschen mit Platzangst. Julia stand mitten im Raum und drehte sich langsam um die eigene Achse. Sie blickte durch das Fenster auf Heather, die im weitläufigen Garten herumtobte und sich bereits mit der neuen Umgebung angefreundet zu haben schien. Auf einem Nachbargrundstück ertönte das begrüßende Bellen eines anderen Hundes. Die gute Grundstimmung ihrer vierbeinigen Gefährtin gab für ihre Entscheidung schließlich den Ausschlag. „Ich kaufe das Armenhaus, Herr Okkinga.“

Dieser nickte. „Na gut.“

Falls er sich über den gelungenen Abschluss freute, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Julia seufzte innerlich und fragte sich, ob wohl alle Menschen um sie herum so reserviert wie dieser hochgewachsene flachsblonde Mann sein würden.

Zweites Kapitel



Julia war froh, sich sofort in eine neue Aufgabe stürzen zu können. Je stärker sie sich mit ihrem neuen Domizil beschäftigte, desto weniger würde sie an ihren Exfreund denken. Jedenfalls hoffte sie das.

Der Makler hatte versprochen, alle notwendigen Kaufformalitäten in die Wege zu leiten.

Sie streifte durch den verwilderten Garten. Hier war offenbar seit langer Zeit nichts mehr gemacht worden. Die Nachbarhäuser links und rechts sahen adrett und gepflegt aus. Sie schämte sich beinahe, weil das Armenhaus so unansehnlich war. Doch schließlich gehörte es ihr erst seit einigen Minuten. Sie nahm sich vor, ein richtiges Schmuckstück aus dem Gemäuer zu machen.

Heather schien etwas entdeckt zu haben. Die Hündin buddelte schnüffelnd und knurrend an einer Ecke des Grundstücks etwas aus.

„Lass das, Süße. Aus! Du wirst dir nur wehtun.“ Julia ging zu ihr und sah einen weißlichen Gegenstand aus dem aufgewühlten Boden ragen. Es war ein Knochen. Julia bückte sich stirnrunzelnd.

Heather wedelte mit dem Schwanz und blickte Julia Beifall heischend an. Offenbar war sie sehr stolz darauf, etwas Wichtiges gefunden zu haben.

Julia zog den Knochen aus dem Boden und befreite ihn von der restlichen Erde. Es war ein Stück Gebein. Ob die früheren Bewohner des Armenhauses ihre Speisereste einfach in den Garten geworfen hatten? Auf dem Land gab es überall Komposthaufen. Es war also nichts Ungewöhnliches, auf abgenagte Hühnerknochen zu stoßen. Aber dieser Knochen stammte eindeutig nicht von einem solchen Vogel, dafür war er zu groß. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass er zu dem Körper einer Gans oder Ente gehört hatte.

In der Schule war sie immer gut in Biologie gewesen. Eine unangenehme Beklemmung erfasst sie. Heather hatte einen menschlichen Unterarmknochen ausgebuddelt.

„Du spinnst doch, Julia“, sagte sie im nächsten Moment laut zu sich selbst. „Pascal, dieser Mistkerl, hat tatsächlich deinen Verstand weichgeklopft.“

„Moin! Ist jemand zu Hause?“, ertönte plötzlich eine Frauenstimme.

Julia zuckte zusammen. Sie hatte nicht damit gerechnet, so schnell Besuch zu bekommen. Schnell schob den Knochenfund in ihre Jackentasche, bevor sie um das Haus nach vorn eilte.

Eine Radfahrerin war von ihrem Drahtesel abgestiegen. Sie schätzte die Frau auf Mitte fünfzig. Die Einheimische trug Jeans und einen Anorak, ihr langes graues Haar war zu einem Zopf geflochten.

Durch ihre randlose Brille sah sie Julia lächelnd an. „Ich bin Tatje Plum, die Pfarrerin der Gemeinde. Vorhin traf ich Herrn Okkinga, als er hier gewartet hat. Er sagte mir, dass sich jemand für das Armenhaus interessierte, dass wir vielleicht schon bald neue Mitbürger haben würden.“

Pfarrerin? Julia stutzte einen Moment. Aber dann wurde ihr klar, dass sie sich nicht mehr im katholischen Bayern befand.

Jedenfalls schienen nicht alle Ostfriesen so wortkarg zu sein, wie Makler Okkinga. Julia stellte sich vor.„Es wird nur eine neue Mitbürgerin geben, nämlich mich. Und das ist meine Heather“, fügte sie hinzu.

Die Labradorhündin sprang schon an der Besucherin hoch. Tatje Plum streichelte das Tier.

„Mein Mann und ich mögen Hunde gern. Es freut mich, dass Herr Okkinga trotz der dummen Gerüchte endlich eine Käuferin für das Armenhaus gefunden hat. Es gehörte früher der Kirchengemeinde, ist aber schon seit einigen Jahren im Besitz der Kommune. Ich wohne dort oben, im Gemeindehaus.“

Sie deutete auf die imposante Dorfkirche, die sich auf einem Hügel oberhalb des Armenhauses befand. Daneben hatte man ein weitaus bescheideneres Gebäude errichtet, in dem die Geistliche offenbar lebte.

„Was für Gerüchte, Frau Plum?“

„Hat man Ihnen nichts gesagt?“

„Herr Okkinga ist nicht gerade eine Plaudertasche.“

Die Pfarrerin lachte. „Das stimmt wohl, aber er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Außerdem ist Herr Okkinga ein sehr nüchterner Mensch, der nichts auf wilde Fantasiegeschichten gibt. — Angeblich soll es in dem alten Armenhaus nicht geheuer sein. Aber solche und ähnliche Räuberpistolen kursieren über vielen Gebäuden in Hinte und der Krummhörn.“

„Wo?“

„Wir gehören zur Gemeinde Hinte, und der Landstrich zwischen Emden und Greetsiel heißt Krummhörn.“ Die Pfarrerin deutete auf einen Weg nur einen Steinwurf vom Armenhaus entfernt. „Sehen Sie diesen Pfad? Dort verliefen früher die Gleise von Jan Klein, wie die Schmalspurbahn im Volksmund genannt wurde. Man hat den Zugbetrieb 1963 eingestellt. Diese Bahn fuhr quer durch die Krummhörn.“

Julia kam es so vor, als ob die Frau schnell das Thema wechseln wollte. Aber jetzt war sie erst recht neugierig geworden. Sollte ihre Spontanentscheidung ein fataler Fehlkauf gewesen sein? „Dann haben diese Spukgeschichten also keine Grundlage?“

Die Geistliche schien es zu bereuen, überhaupt damit angefangen zu haben. „Ich bin eine Frau der Kirche, und in meinem Glauben ist für blutrünstige Horrormärchen kein Platz. Ich bin mehrfach in dem Haus gewesen und habe nichts Ungewöhnliches bemerkt. Jedenfalls würde ich mich freuen, wenn Sie einmal zu uns in den Gottesdienst kämen.“

Dieses Angebot überraschte Julia, obwohl es aus dem Mund einer Pfarrerin gewiss nicht ungewöhnlich war. Sie zögerte. Daraufhin lächelte Tatje Plum noch charmanter als zuvor. „Ich höre an Ihrem Akzent, dass Sie nicht aus Ostfriesland stammen. Sie waren noch nie in einer reformierten Kirche, nicht wahr?“

„Nein, ich bin eigentlich katholisch.“

Tatje Plum legte ihr eine Hand auf den Unterarm.

Julia bemerkte einen goldenen Ehering an ihrem Finger.

„Wie gesagt, Sie sind willkommen. Vielleicht möchten Sie ja auch einmal meinen Mann und mich zum Tee besuchen? Wir freuen uns jedenfalls über ein neues Gesicht in der Gemeinde. Es ist schön hier, es wird Ihnen gefallen. Leider ziehen viele junge Leute fort, um anderswo Arbeit zu suchen. Ich muss dann wieder. Also, bis später!“ Mit diesen Worten schwang sich Tatje Plum auf ihr Fahrrad, klingelte kurz und trat in die Pedale.

Julia sah ihr verwirrt nach. Unwillkürlich spielte sie mit dem Knochen in ihrer Jackentasche. Ob er wirklich von einem Menschen stammte? Sie zog das Objekt hervor und nahm es genauer in Augenschein. Sie war keine Biologin oder Gerichtsmedizinerin. Aber auf sie wirkte der Knochen ziemlich alt, er konnte hundert Jahre oder länger in dem Garten gelegen haben. Vielleicht stammte er ja von einem Rind oder einem Pferd oder einem anderen großen Lebewesen. Sie war hier schließlich auf dem flachen Land, wo sich Tierhaltung viel einfacher gestaltete als in der Großstadt.

Heather jedenfalls schien begeistert davon zu sein, dass sie so viel Auslauf hatte. Sie sprang hin und her und bellte auffordernd.

Julia wusste, was das zu bedeuten hatte. Die Hündin wollte die Umgebung erkunden. Eigentlich hatte Julia alle Hände voll zu tun. Es gab tausend Dinge, die erledigt werden mussten — von der Anmeldung von Strom- und Wasseranschluss bis zur Beschaffung von Bettzeug für die Nacht. Andererseits konnte es nichts schaden, sich zunächst ein wenig umzusehen. Allzu groß schien ihr neuer Heimatort ohnehin nicht zu sein.

Eine Leine war nicht notwendig. In Groß Midlum hielt sich der Autoverkehr in Grenzen.

Heather trottete brav neben ihrem Frauchen her. Julia blickte sich neugierig um. Die Backsteinhäuser an der Dorfstraße waren klein und sahen gemütlich aus. Die ungewohnte Umgebung kam Julia sehr fremd, aber nicht bedrohlich vor.

Ein älteres Paar lief auf der anderen Straßenseite.

„Moin!“, rief die beiden im Chor zu ihr herüber. Wenig später wurde sie von einem Radfahrer ebenfalls auf einheimische Art begrüßt. Bei ihrer dritten Begegnung mit einem ihrer neuen Nachbarn sagte Julia nun ebenfalls „Moin“, obwohl sie sich dabei seltsam vorkam, als ob sie sich verstellen würde. Doch andererseits war sie entschlossen, sich den hiesigen Lebensgewohnheiten anzupassen. Schließlich wollte sie hier auf unabsehbare Zeit leben.

Julia beschloss, ihr neues Zuhause aus etwas weiterer Entfernung zu betrachten und bog vom Groß Midlumer Ring in die Kirchlohne ein und erklomm den Hügel, auf dem sich das Gotteshaus inmitten des Friedhofs erhob. Von dort aus hatte sie zwischen den Bäumen hindurch einen schönen Blick auf das Armenhaus. Ihr Garten war ziemlich groß. Vermutlich hatten die Mittellosen dort in früheren Jahrhunderten ihr Gemüse angebaut.

Sie nahm sich vor, noch mehr über die Geschichte ihres neuen Zuhauses in Erfahrung zu bringen. Vielleicht würde sie dann auch besser verstehen, weshalb in ihrem Garten Menschenknochen vergraben waren. Vielleicht bildete sie sich das aber doch nur ein. Sie war keine Psychologin. Trotzdem war ihr klar, dass ihr Nervenkostüm durch Pascals nachhaltigen Terror und seine ständigen Demütigungen stark angegriffen sein musste. Vermutlich hatte sie intuitiv die richtige Entscheidung getroffen. In dieser kleinen und sehr idyllisch wirkenden Welt konnten ihre seelischen Wunden heilen.

Heather schien es ebenfalls zu genießen, sich viel freier als in der Stadt bewegen zu können. Sie düste aufgeregt hin und her, blieb stehen, wedelte mit dem Schwanz und sah sie herausfordernd an.

Julia griff schmunzelnd zu einem abgebrochenen kleinen Ast und warf ihn ein Stück.

Heather stürzte begeistert hinterher und apportierte im Handumdrehen das Stöckchen.

Da erblickte Julia am anderen Ende des Friedhofs einige schwarz gekleidete Gestalten. Es kam ihr plötzlich pietätlos vor, auf dem Gottesacker mit ihrer Hündin zu spielen. Sie eilte davon und wollte in einem großen Bogen zum Armenhaus zurückkehren.

Doch Heather war jetzt erst richtig auf den Geschmack gekommen, was das Herumtoben anging. Sie sprang kläffend an Julia hoch, drehte sich spielerisch um die eigene Achse.

Doch Julia hatte den Ast auf dem Friedhof zurückgelassen.

Plötzlich erschien ein Kaninchen auf der Bildfläche.

Heather war nicht mehr zu halten. Ihr Jagdtrieb brach durch. Sie sauste hinter dem Langohr her.

„Heather! Nein!“ Julias Herz krampfte sich vor Panik zusammen. Hier in der Dorfstraße herrschte im Moment überhaupt kein Autoverkehr. Dafür war unten auf der Landesstraße umso mehr los. Genau dorthin jagten das Kaninchen und Heather.

Julia rannte los. Sie machte sich bittere Vorwürfe, weil sie ihre Hündin nicht angeleint hatte. Normalerweise war Heather sehr lieb und gehorchte aufs Wort. Aber der Anblick des Kaninchens hatte bei ihr offenbar alle Sicherungen durchbrennen lassen.

Das Kaninchen peste über die viel befahrene Durchgangsstraße, kam wie durch ein Wunder mit heiler Haut davon. Heather hingegen sprang auf die Fahrbahn und blieb aus irgendeinem Grund abrupt stehen. Sie drehte ihren Kopf in die Richtung des Sportwagens, der sich ihr näherte.



Der Fahrer des roten Lamborghini war zum Glück unglaublich reaktionsschnell. Er stieg in die Eisen, hupte und brachte seinen Flitzer knapp einen Meter vor Heather zum Stehen. Die Hündin war gänzlich unbeeindruckt. Der nachfolgende Verkehr überholte den Luxusschlitten, während der Fahrer wutschnaubend ausstieg.

In diesem Moment hatte auch Julia ihre Hündin erreicht und drückte sie zitternd an sich. In ihren Augen glänzten Tränen und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Trotzdem wurde sie von einem ungeheuren Gefühl der Erleichterung durchflossen. Heather hätte tot sein können, darüber machte sie sich keine Illusionen.

Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, wie ihr Leben dann ausgesehen hätte. „Das darfst du nie wieder tun!“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Nie wieder, Heather!“

Der Lamborghini-Fahrer hatte sich drohend vor ihnen aufgebaut. „Seien Sie froh, dass ich heute meinen humanen Tag habe! Normalerweise hätte ich Ihren Drecksköter plattfahren sollen. Aber dann hätte ich mir vielleicht eine Beule im Kühler eingefangen. Und Sie sehen mir nicht so aus, als ob Sie die Rechnung bezahlen könnten.“

Julia blickte unwillkürlich an sich hinunter. Es stimmte, sie hatte sich bei ihrem Einkauf in Emden nicht gerade mit den teuersten Designerfummeln ausgestattet. Schließlich lebte sie jetzt in einem Dorf, und da waren Jeans, Boots und eine regenfeste Windjacke zweifellos praktischer als die Klamotten, die von Modepüppchen auf der Münchener Maximilianstraße zur Schau gestellt wurden. Aber andererseits wirkte sie nicht gerade wie eine Bettlerin oder Obdachlose. Wahrscheinlich wollte der Kerl sie mit seinen Worten einfach nur verletzen. Sie blickte zu ihm hoch, er war fast einen Kopf größer als sie.

In seiner teuren Lederjacke und den engen Jeans verströmte er eine Aura von Gefahr. Sie hatte sich inzwischen angewöhnt, Männer in zwei Kategorien einzuteilen: diejenigen, die eine Frau niemals schlagen würden und die, die diesbezüglich keine Hemmungen hatten. Dieser Lamborghini-Fahrer gehörte für sie eindeutig zur zweiten Sorte.

Dennoch schaffte sie es, freundlich zu bleiben. „Hören Sie, es tut mir leid, dass meine Hündin vor Ihr Auto gesprungen ist. Es wird nicht wieder vorkommen. Aber es ist ja nichts passiert.“

„Danken Sie Ihrem Schicksal dafür. Ich kann es nicht ausstehen, wenn mir jemand Schwierigkeiten macht. Dann sehe ich rot. Wer sich mit Rolf Witte anlegt, hat garantiert nichts zu lachen.“

„Ich heiße Julia Kern und bin heute erst nach Groß Midlum gezogen. Ich kenne mich hier noch nicht so gut aus, also entschuldigen Sie bitte nochmals …“

Julia verachtete sich selbst dafür, dass sie vor dem Schnösel so zu Kreuze kroch. Aber sie musste sich eingestehen, dass die Furcht sie schon wieder fest im Griff hatte. Witte erinnerte sie auf sehr unangenehme Weise an Pascal. Wenigstens starrte dieser sie nicht lüstern an.

Er kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Neu zugezogen?

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Martin Barkawitz
Cover: German Creative, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2023
ISBN: 978-3-7554-3348-4

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