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Alster Clown - 1

 

Die Straße hieß Schöne Aussicht, doch an ihrem Ende wartete der Tod.

 

Davon ahnte Paulina Olsen nichts, als sie ihre Joggingrunde um die Außenalster bereits zu vier Fünfteln beendet hatte. Sie lief jeden Abend rund um den aufgestauten Fluss im Herzen Hamburgs, um sich fit zu halten.

Obwohl sie schon seit fünf Jahren in der Hansestadt lebte, bekam sie von dieser kontrastreichen Umgebung nicht genug.

Sie hatte sich sogar daran gewöhnt, dass hier die weißen Villen des Bürgertums unmittelbar neben den Billigzelten der Obdachlosen unter den zahlreichen Brücken befanden.

Wer diesen Gegensatz nicht aushielt, würde auf Dauer in Hamburg nicht glücklich werden.

Paulina glaubte vor allem an sich selbst, an ihre eigene Leistung. Sie war jetzt dreißig Jahre alt und konnte als Assistentin der Geschäftsführung von WIBERTCO mit ihrem Fachwissen und ihrer Kompetenz punkten.

Nun gut, ihr attraktives Aussehen war gewiss ebenfalls kein Nachteil.

Dank ihres knallharten Sportprogramms und ihrer disziplinierten Ernährung hatte die hochgewachsene dunkelhaarige Frau kein Gramm überflüssiges Fett am Körper.

Sie joggte auf die Stelle zu, wo die Schöne Aussicht in die Fährhaussstraße überging. Hier, beim Clubhaus der Rudergesellschaft Hansa, wollte sie abbiegen und zu ihrer Wohnung zurücklaufen.

Doch dort würde sie nie mehr ankommen.

Plötzlich sprang eine Gestalt mit einer grellen Clownsmaske vor dem Gesicht auf sie zu. Der Irre musste sich in dem Grünstreifen in Ufernähe versteckt gehabt haben.

Paulina erschrak im ersten Moment, doch dann wurde sie wütend.

Sie war eine zielstrebige junge Frau und hatte absolut keinen Sinn für kranke pubertäre Scherze, von denen womöglich auch noch Videos im Internet kursieren würden.

Also blieb sie stehen und holte aus, um diesem Blödmann eine schallende Ohrfeige zu verpassen.

Erst in dem Moment sah sie das Messer.

„Auf Nimmerwiedersehen, Paulina!“

Der Horror-Clown wusste, wie sie hieß. Und - was noch viel schlimmer war - sie erkannte seine Stimme. Plötzlich war Paulina vor Angst wie gelähmt. Sie hätte sich auf dem Absatz umdrehen und davonrennen sollen. Angesichts ihres Trainingszustandes hätte sie dann eine gute Überlebenschance gehabt.

Doch die lähmende Angst wurde zur Komplizin des Angreifers.

Paulina riss noch nicht einmal die Arme hoch, als die scharfe Klinge ihre Kehle zerfetzte.

Der Clown sprang zur Seite, um nicht von dem heftig aus der Wunde spritzenden Blut getroffen zu werden.

Es wurde dunkel in Paulinas Welt, als sie zusammenbrach. Ihr letzter Gedanke war, dass sie alles falsch gemacht hatte.

Ihre Erfolgsgeschichte endete an diesem schönen Herbstabend auf der Schönen Aussicht in Hamburg.

Einige Passanten eilten zu Hilfe, eine Radfahrerin schrie.

Der Mörder sprang wie ein Kamikaze-Kastenteufel mitten in den Feierabendverkehr auf der viel befahrenen Uferstraße. Es war, als wäre er mit den höllischen Mächten im Bund. Er kam unbeschadet davon, während mehrere Autofahrer in die Eisen steigen mussten und es Auffahrunfälle gab.

Es dauerte nur sechs Minuten, bis ein Streifenwagen vor Ort war. Während eine Nahbereichsfahndung eingeleitet wurde, versuchten Ersthelfer das Leben von Paulina Olsen zu retten.

Doch als der Notarzt und eine Ambulanz eintrafen, hatte sie schon ihren letzten Atemzug getan.

 

 

2


Die Gefängnismauern brachen, und Massinis Mörderhorden überschwemmten das Land. Es war dem manipulativen Verbrecherfürsten gelungen, die unterschiedlichsten Kriminellen unter seiner Fahne zu versammeln. Von Schlägern über Vergewaltiger bis zu Erpressern hörten sie alle auf sein Kommando.

Geballte verbrecherische Kompetenz warf sich gegen die dünne blaue Linie die Polizei, die nicht lange standhalten konnte.

Und die Gewaltherrschaft der Willkür begann ...

Hauptkommissarin Heike Stein schreckte aus ihrem Alptraum auf. Es dauerte quälend lange Sekunden, bis sie begriff, dass sie sich in ihrem eigenen Bett befand. In Hamburg-Eppendorf, in der Isestraße.

In Sicherheit.

Wirklich?

Während sie ihre Beine aus dem Bett schwang und sich den Schweiß von der Stirn wischte, dachte sie über den Mann nach, der ihr diesen Alptraum verursacht hatte.

Anselmo Massini, der Begründer des Briganten-Netzwerks.

Heike hatte das italienische Superhirn noch nicht persönlich getroffen. Doch die Begegnung mit einigen seiner Gefolgsleute war für sie mehr als ausreichend gewesen.

Das Perfide an dieser Gangsterorganisation war, dass man ihre Mitglieder durch harte Gefängnisstrafen nicht abschrecken konnte.

Ganz im Gegenteil.

Die Strafanstalten waren der bevorzugte Rekrutierungraum für den bizarren Serienkiller-Club.

Man musste nachweislich mindestens drei Menschen getötet haben, um dort aufgenommen zu werden. Dank dieser eisernen Regel war es praktisch unmöglich, dort einen Undercover-Beamten einzuschleusen.

Selbst wenn es gelang, eine Legende zu erfinden und mehrere Mordopfer vorzutäuschen - man musste immer damit rechnen, dass die Briganten misstrauisch wurden und von einem getarnten Polizisten ein paar Tötungen vor ihren Augen zu verlangen.

Nein, dieses Risiko würde kein Vorgesetzter eingehen.

So konnte Heike einstweilen nur hoffen, dass bei Massinis Bewachung keine korrupten Gefängniswärter zum Einsatz kamen und seine Verteidiger sich nicht schon längst auf die dunkle Seite geschlagen hatten.

Das Telefon klingelte.

Auf dem Display konnte sie erkennen, dass ihr Dienstpartner Ben Wilken anrief.

„Moin, Ben. Ich bin doch noch nicht zu spät dran, oder?“

„Nein.“

Manchmal brachte seine wortkarge Art Heike an den Rand des Wahnsinns. Warum konnte er nicht mehr aus sich herausgehen? Andererseits hatte Ben einige Schicksalsschläge wegstecken müssen. Erst war seine Frau Maja mit einem kriminellen Balten durchgebrannt, und dann hatte es noch einen Mordanschlag auf Heike gegeben.

Mit Maja Wilken als der Hauptverdächtigen.

Heike bemühte sich, nicht ungeduldig zu werden. Schließlich empfand sie mehr für ihn, als gut für sie war. So kam es ihr jedenfalls oft vor.

„Soll ich raten, weshalb du anrufst? Möchtest du vielleicht wissen, was ich gerade anhabe?“

Heike schlug einen neckenden Tonfall an, um die Situation etwas aufzulockern. Dadurch konnte sie auch Distanz zu ihrem Alptraum aufbauen.

„Die Chefin hat sich gemeldet. Wir sollen uns mit dem Kriminaldauerdienst kurzschließen, der gestern Abend ein Tötungsdelikt an der Schönen Aussicht aufgenommen hat.“

„Ein neuer Fall also“, murmelte Heike. „Hoffentlich keiner, der etwas mit Massini und seinen Briganten zu tun hat. Ich träume schon von dem Mistkerl.“

Eigentlich hatte sie Ben nicht davon erzählen wollen, aber es war ihr so herausgerutscht. Und: Wenn sie sich ihm nicht anvertraute, wem denn sonst? Sie lebte allein und behelligte ihre Freundinnen nicht gern mit ihren beruflichen Problemen.

„Das tut mir leid“, erwiderte Ben auf seine übliche trockene Art. „Ich hole dich in einer Viertelstunde ab, okay?“

„Ja, bis dann.“

Heike war es gewohnt, sich in Windeseile duschen und stylen zu können, wenn es notwendig war. Als sie aus dem Bad kam, schlüpfte sie in Jeans, Wildlederstiefel, eine lila Bluse und eine schwarze Lederjacke. Heike kam sich ein wenig wie eine Retro-Rockerbraut vor, doch dieses Outfit entsprach ihrer aktuellen Stimmung.


Ben klingelte pünktlich.

Sie eilte die Treppen des liebevoll restaurierten Altbaus hinunter und hüpfte wenig später auf den Beifahrersitz des Dienst-BMWs.

Heike warf ihrem Kollegen einen Seitenblick zu. Er sah auf den ersten Blick attraktiv und gepflegt aus, doch sie konnte seine ungeheure innere Anspannung spüren. Schließlich kannte sie ihn besser als die meisten anderen Menschen auf der Welt.

„Gibt es etwas Neues von Maja?“

Eigentlich hatte Heike diese Frage nicht stellen wollen, doch nun war es zu spät.

Ben startete den Wagen, und sie fuhren Richtung Alsterdorf, wo sich das Polizeipräsidium befand.

„Ich hatte dir doch von dem Plüsch-Einhorn erzählt, das meine Tochter angeblich von Maja geschenkt bekommen hat.“

„Ja, richtig.“

„Die Kleine hat mir jetzt gebeichtet, dass sie mich angeschwindelt hat. In Wirklichkeit gewann Pia das Spielzeug als Preis beim Kindergeburtstag, und zwar für eine erstklassige Performance beim Topfschlagen.“

Heike lachte erleichtert.

„Das dürfte ja heftigen Radau gegeben haben.“

Ben seufzte.

„Einerseits fiel mir ein Stein vom Herzen, weil es Maja nicht gelungen ist, sich heimlich in mein Haus zu schleichen. Andererseits zeigt mir diese Episode, dass Pia sich nach ihrer Mama sehnt. Sonst würde sie sich wohl kaum so eine Geschichte ausdenken.“

Heike wusste nicht so recht, was sie entgegnen sollte.

Schließlich sagte sie: „Ich finde es normal, dass ein Kind bei seiner Mutter sein will. Maja hat ja Pia nie etwas angetan.“

„Ja, das stimmt natürlich. Andererseits ist meine Frau eine Schwerkriminelle. Falls sie jemals wieder in Deutschland auftaucht und wir sie verhaften, wird Pia sie nur noch im Gefängnis besuchen können.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Maja sich noch einmal hierher wagt“, meinte Heike. „Sie weiß, dass nach wie vor mit Hochdruck nach ihr gefahndet wird.“

Andererseits wünscht sie mir immer noch den Tod, fügte sie in Gedanken hinzu. Weil sie mir nicht verzeihen kann, dass du auch mich liebst.

Ben wechselte das Thema, und dafür war Heike ihm dankbar.

„Frau Dr. Brink kriegt Druck von der Polizeiführung, und den gibt sie direkt an uns weiter. Deshalb sollen wir auch schon eine Stunde vor dem offiziellen Dienstbeginn mit den Ermittlungen beginnen.“

„Ich dachte mir schon, dass die ‚Eiskönigin‘ einen Grund für diese morgendliche Mobilmachung hat. Ist das Opfer zufällig die Tochter des Bürgermeisters?“

„Keine Ahnung, ich habe bisher keine näheren Informationen. Die Chefin hat mich nur angewiesen, dich abzuholen und dann mit dem KDD Kontakt aufzunehmen.“

Heike nickte.

Sie musste sich nicht fragen, aus welchem Grund Kriminalrätin Dr. Laura Brink nicht selbst bei ihr daheim angerufen hatte. Ihre Vorgesetzte war vermutlich immer noch in Heike verliebt. Und da diese Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhten, versuchte sie den privaten Kontakt auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken.

Also hatte die Chefin Ben angerufen, von dem sie sowieso nichts hielt.

Die Ermittler erreichten das Präsidium und gingen zu den Kollegen vom Kriminaldauerdienst.

Kommissarin Ina Rüter war eine schlanke Frau im blauen Blazer mit dunkler Kurzhaarfrisur. Sie wirkte so frisch, als ob sie nicht gerade einen Nachtdienst hinter sich gebracht hätte.

„Viel konnte ich noch nicht herausfinden“, sagte sie zu Heike und Ben. „Das Opfer heißt Paulina Olsen, ledig, dreißig Jahre alt, in Hamburg gemeldet. Sie joggte an der Schönen Aussicht in Richtung Norden, als sie von einem bisher unbekannten Täter mit Clownsmaske angegriffen wurde. Er hat ihr mit einem scharfen Messer brutal die Kehle durchschnitten. Frau Olsen ist noch am Tatort verblutet.“

Heike zog die Augenbrauen zusammen.

„Gab es Tatzeugen?“

„Ich kann nur mit einer direkten Augenzeugin aufwarten. Die Frau heißt Michaela Kuhn. Sie kam zufällig mit dem Fahrrad vorbei. Die Befragung war nicht so ergiebig, da sie unter Schock steht.“

„Kein Wunder, wenn sie die Bluttat beobachtet hat“, meinte Ben.

Ina Rüter machte eine unbestimmte Handbewegung.

„Es war ja nicht nur das. Frau Kuhn wollte den flüchtenden Killerclown geistesgegenwärtig auf dem Rad verfolgen. Doch sie wurde von einem Auto angefahren. Die Zeugin kam mit ein paar Schürfwunden davon, ihr Rad ist allerdings Schrott. Der Mörder ist wohl quer über die Schöne Aussicht zu Fuß geflohen.“

„Gibt es eine brauchbare Beschreibung?“

„Nein, Heike. Der Typ hat seine Maske nicht abgenommen. Er soll groß und schlank gewesen sein und dunkle Kleidung getragen haben, außerdem Handschuhe. Es könnte sich auch um eine Frau handeln, die keine ausgeprägten weiblichen Formen hat. Wir sollten uns jedenfalls nicht auf einen männlichen Täter einschießen.“

„Die Fahndung ergab bisher nichts?“, hakte Heike nach, obwohl sie die Antwort ahnte.

„Leider nicht“, erwiderte die KDD-Kollegin. „Drei Streifenwagen haben nach der Tat die unmittelbare Umgebung abgesucht, allerdings ohne Ergebnis.“

Heike nickte.

„Vielleicht hat der Killer sein Auto in der Nähe geparkt. Er musste nur die Maske abnehmen und in aller Ruhe wegfahren. Die Frage lautet, ob die Frau ein Zufallsopfer war oder es sich um eine gezielte Attacke auf sie handelt.“

„Ich habe bereits telefonisch die Eltern des Opfers informiert“, sagte Ina Kuhn. „Sie leben in Bad Oldesloe und wurden von der Todesnachricht völlig überrumpelt. Laut ihrer Aussage hatte Paulina Olsen keine Feinde und war eine äußerst geschätzte Mitarbeiterin in der Chefetage von WIBERTCO.“

„Was für ein Unternehmen ist das?“, wollte Ben wissen.

„Das konnte ich noch nicht recherchieren“, gab die KDD-Kollegin zu.

„Macht nichts, wir sollen ja jetzt den Fall übernehmen“, sagte Heike. „Und wenn das Opfer in einer leitenden Position tätig war, hat es garantiert Neider gehabt. Insofern würde ich die Angaben der Eltern mit Vorsicht genießen. Väter und Mütter verschließen oft die Augen vor den Problemen ihrer Kinder, falls sie ihnen überhaupt bekannt sind. Außerdem hat Paulina ihnen vielleicht gar nicht erzählt, wenn sie Ärger in der Firma hatte.“

Heike musste an ihren eigenen Vater denken. Wie oft hatte sie als junges Mädchen vor ihm verheimlicht, wenn ihr ein Mitschüler auf den Wecker gegangen war. Sie wollte einfach verhindern, dass Sören Stein in Polizeiuniform in der Schule erschien, um sie in Schutz zu nehmen.

Heike wollte schon damals die Dinge lieber selbst in die Hand nehmen. Und so war sie schließlich dazu übergegangen, ihren Widersachern eins auf die Nase zu geben, wenn sie geärgert wurde. Bald darauf hatte sie mit dem Kampfsport angefangen.

Die Hauptkommissarin konzentrierte sich wieder auf das aktuelle Gespräch.

„Wann genau hat die Attacke eigentlich stattgefunden?“, fragte Ben.

„Gegen neunzehn Uhr.“

Der Hauptkommissar kratzte sich im Nacken.

„Das gefällt mir gar nicht. Ein Mordanschlag an so einer belebten Straße wie der Schönen Aussicht, und dann auch noch vor Zeugen und bei Tageslicht - da könnten noch mehrere Taten folgen.“

„Mal den Teufel nicht an die Wand“, murmelte Heike, obwohl sie selbst auch schon auf diesen Gedanken gekommen war.

Massinis Serienkiller-Klub verlangte mindestens drei Morde, bevor ein Verbrecher in diese perverse Vereinigung aufgenommen wurde.

Ob der mörderische Clown auch ein Anhänger des charismatischen Kriminellenführers war?



3


„Das Problem Paulina existiert nicht mehr.“

Arno Lutter atmete tief durch, als er die angenehme und kultivierte Männerstimme am Telefon hörte. Er drehte seinen mit schwarzem Leder bezogenen Chefsessel so, dass er vom sechsten Stockwerk des WIBERTCO-Gebäudes auf die nüchterne Bürohaus-Landschaft der City Nord hinunterblicken konnte.

Es machte ihn auch nicht nervös, dass der Mörder ihn im Büro anrief. Es gab eine Software, mit der man dieses Telefonat nachträglich verschleiern konnte. Falls die Polizei jemals von der Telefongesellschaft einen Einzelverbindungsnachweis verlangen sollte, würde dort ein Gespräch mit einem der Zulieferbetriebe auftauchen.

Und nicht ein Wortwechsel mit einem angeheuerten Mörder.

Lutter hatte soeben eine sensationslüsterne Reportage über den Alster-Killerclown auf der Homepage eines Lokalsenders gesehen.

Die Idee mit der Maske stammte von dem „Erfüllungsgehilfen“, wie Lutter den Auftragsmörder in Gedanken nannte. Der Vorstandsvorsitzende von WIBERTCO wusste Eigeninitiative zu schätzen.

„Sie hatten recht, man muss den Medien etwas zum Fraß vorwerfen“, sagte Lutter. „Was meine Gegenleistung angeht, so bleibt es bei unserer Abmachung.“

„Nicht ganz.“

Lutter stutzte. Bildete er es sich nur ein, oder war da jetzt ein scharfer Unterton in der Stimme des Erfüllungsgehilfen? Der Vorstandsvorsitzende war ein Mann Mitte fünfzig, der es nicht durch Menschenfreundlichkeit und Mitgefühl in seine Position geschafft hatte. Lutter hielt sich mit Krafttraining fit, er wirkte in seinem dunklen Geschäftsanzug rund zehn Jahre jünger als er wirklich war. Und er glaubte, ein ausgezeichneter Menschenkenner zu sein.

Jedenfalls bis zu diesem Moment.

Gereizt zog er die Augenbrauen zusammen, was der Mann am anderen Ende der Telefonleitung natürlich nicht sehen konnte.

„Was soll das heißen? Wollen Sie mehr Geld?“

Der Mörder lachte.

„Geld? Nein, Geld interessiert mich nicht wirklich. Die Vorbereitung von Paulinas bedauerlichem Ende hat mir viel Spaß gemacht. Es war höchst aufschlussreich, mich in ihr Privat- und Berufsleben sowie in ihre Gewohnheiten hineinzuarbeiten. Ehrlich gesagt fehlt sie mir schon jetzt, obwohl sie erst seit gestern Abend nicht mehr unter den Lebenden weilt.“

„Dann bringen Sie doch noch jemanden um!“

Lutter stieß diesen Satz schärfer hervor, als er es beabsichtigt hatte. Der Andere sollte auf gar keinen Fall denken, dass er unbeherrscht war. Wer sein Temperament nicht zügeln konnte, hatte nach Lutters Meinung im Geschäftsleben längerfristig keine Chance.

Harte Entscheidungen wollten mit kühlem Kopf getroffen werden.

So wie der Entschluss, sich Paulina endgültig vom Hals zu schaffen.

Eine kurze Pause entstand, bevor der Killer wieder sprach.

„Ein weiterer Mord? Ja, das ist eine ausgezeichnete Idee. - Hatte ich Ihnen eigentlich schon mal ein Kompliment dafür gemacht, dass Sie eine so reizende Gattin und eine wundervolle Tochter haben?“

Lutter versuchte, seine aufsteigende Nervosität nicht übermächtig werden zu lassen. Doch immerhin hatte dieser Killer in einem Atemzug über eine Tötung und über Lutters Familie gesprochen.

Wahrscheinlich tat er das nur, um den Preis in die Höhe zu treiben.

Oder?

„Geben Sie Ruhe, wenn ich Ihr Honorar verdoppele?“

Als der Vorstandsvorsitzende diese Frage stellte, bemühte er sich um eine neutrale Stimmlage. Der Ton macht die Musik, wie eine uralte Redensart lautete. Auf keinen Fall durfte er diesen Typen so etwas wie Angst spüren lassen.

„Sie hören nicht zu, Arno. Geld spielt für mich keine Rolle.“

„Für Sie bin ich immer noch Herr Lutter.“

Diese Bemerkung schien der mörderische Clown lustig zu finden.

„Ja, Ihnen ist Ihr gesellschaftlicher Status wichtig, und bei Ihnen hat Geld zweifellos einen hohen Stellenwert.“

„Wenn Sie meinen“, entgegnete Lutter kalt. „Ich schlage vor, dass Sie sich wieder melden, wenn Sie nicht einfach nur plaudern wollen. Meine Zeit ist nämlich sehr kostbar.“

„Ja, Ihre Zeit ist wirklich kostbar - und die Ihrer Lieben ist es auch. Sie sollten jede Minute mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter genießen. Das Schicksal schlägt manchmal schneller zu als man es für möglich hält.“

Lutter quittierte diese unverhohlene Drohung, indem er das Telefonat wortlos beendete.

Dann stand er auf und ließ seinen Blick über die Gebäude der City Nord schweifen. Unruhe machte sich in seinem Inneren breit, obwohl er dieses Gefühl nicht zulassen wollte.

Ob der Mordauftrag ein riesiger Fehler gewesen war?



4


Der Kriminaldauerdienst hatte bei Paulina Olsens Leiche ihr Smartphone sichergestellt. Die Daten waren von den Technikern bereits ausgelesen und die Fingerabdrücke auf dem Gerät gecheckt worden. Falls sie von anderen Personen als dem Opfer stammten, würden die Ermittler es im Lauf des Tages erfahren.


Nun beschäftigten Heike und Ben sich mit dem Smartphone.

„Die Frau hatte 311 Kontakte in ihrem Adressbuch!“, stöhnte der Hauptkommissar. „Sollen wir die alle abtelefonieren?“

„Das wird nicht nötig sein“, meinte Heike, die ihm über die Schulter schaute. „Sieh mal - die wichtigen Kontakte hat sie offenbar mit einem Sternchen gekennzeichnet. MAMA und eine Bad Oldenloer Festnetznummer - man muss nicht Sherlock Holmes sein, um diesen Kontakt ihrer Mutter zuzuordnen.“

„Gut, allzu viele Sternchen gibt es hier nicht“, meinte Ben. „Also waren die meisten Kontakte oberflächlich? Hier, gleich am Anfang der Liste steht Fashion Beast, und zwar sogar mit drei Sternen versehen. Das war für sie also eine besonders wichtige Nummer?“

„Das wird sich gleich zeigen“, entgegnete Heike. Sie benutzte das Smartphone des Opfers, als sie nun Fashion Beast anrief.

Eine junge Frauenstimme erklang.

„Hey, Süße - was geht? Bist du sicher, dass du mich während der Arbeitszeit anrufen darfst? Oder hast du gerade Pause?“

Heike antwortete, indem sie sich mit Namen und Dienstgrad vorstellte.

„Polizei?“, vergewisserte Fashion Beast sich. „Wenn das ein Scherz sein soll, finde ich ihn nicht komisch. Wie sind Sie an das Handy meiner Freundin gekommen? Vielleicht sollte besser ich die Bullen rufen!“

„Haben Sie von dem Messermord an der Schönen Aussicht gehört?“

Fashion Beast antwortete stockend auf Heikes Frage.

„Ja, das ging doch schon in der Nacht durch alle sozialen Medien. Moment mal! Wollen Sie behaupten, das Opfer ...“

„Wir möchten gern persönlich mit Ihnen sprechen“, sagte Heike. „Leben Sie in Hamburg?“

„Ja, Paulina und ich waren fast Nachbarinnen - und beste Freundinnen!“ Plötzlich schluchzte Fashion Beast auf. Es dauerte, bis sie wieder halbwegs zu verstehen war.

„Wer tut denn so etwas?“

„Das wollen wir herausfinden“, entgegnete Heike. „Geben Sie uns bitte Ihre Adresse?“

Die Frau nannte eine Anschrift am Hofweg. Von dort aus war es nicht weit bis zum Tatort. Die Ermittler hatten inzwischen herausgefunden, dass Paulina Olsen in der Straße Am Feenteich gewohnt hatte. Das Opfer und ihre Freundin

Fashion Beast hatten also wirklich nicht weit voneinander gelebt.


Heike und Ben fuhren zum Hofweg.

„Ich bin gespannt, ob Fashion Beast auch auf ihrem Klingelschild steht“, meinte Ben.

„Hast du eigentlich schon einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Opfers beantragt?“

„Darum wollte sich die Chefin persönlich kümmern. Ich schätze, dass wir uns dort heute im Lauf des Tages umschauen können. Falls Paulina Olsen ein Zufallsopfer war, ist das leider Zeitverschwendung.“

Heike seufzte.

„Da muss ich dir recht geben. Meiner Meinung nach stehen die Chancen fünfzig zu fünfzig. Einerseits hat es in der Vergangenheit genug Horrorclowns gegeben, die völlig willkürlich Menschen erschreckt und teilweise auch angegriffen haben. Andererseits ist gerade diese allgemein bekannte Tatsache die beste Tarnung für einen Täter, der es es genau auf dieses Opfer abgesehen hat. Er will uns mit dieser dämlichen Maske in die Irre führen.“

Wie sich herausstellte, hieß Fashion Beast mit bürgerlichem Namen Julia Best. Sie wohnte in einem dreistöckigen Jugendstil-Altbau, der über einen schmalen Garten mit hohem Eisengitter verfügte. Dort lebte sie in einer Wohnung im obersten Stockwerk.

Als sie nach dem Klingeln öffnete, war ihr Gesicht verquollen und ihre Augen gerötet. Julia Best hielt ein zerknülltes Papiertaschentuch in der Hand. Ihre Garderobe passte nicht zu ihrer Trauer, denn sie trug ein altrosa Kleid im Retro-Look, außerdem dunkle Overknees und eine farbenfrohe Kette aus großen Holzperlen.

Die Todesnachricht schien wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei ihr eingeschlagen zu sein.

Die Freundin des Opfers bat die Ermittler in ihr Wohnzimmer, das trendy und cool eingerichtet war. Eine Ecke des großen Altbau-Raums erinnerte Heike an ein TV-Studio. Julia Best bemerkte ihren Blick.

„Ich habe einen Mode-Blog und einen ziemlich erfolgreichen Kanal auf You Tube“, erklärte sie. „Morgen müsste ich eigentlich wieder etwas posten. Aber wie soll ich meine Fans locker unterhalten, wenn meine beste Freundin erstochen wurde?“

Diese Frage ließen die Ermittler unbeantwortet. Julia Best lief unruhig hin und her. Sie kochte Tee und bot ihn ihren Gästen an. Heike und Ben hatten auf einem breiten Plüschsofa Platz genommen, während sich Fashion Best in einen Clubsessel sinken ließ.

„Die Fahndung nach dem Täter oder der Täterin hat bisher noch nichts ergeben“, erklärte die Hauptkommissarin. „Kennen Sie eine oder mehrere Personen, denen Sie einen Mord an Paulina Olsen zutrauen würden?“

Julia Best runzelte die Stirn.

„Es kommt auch eine Frau in Frage?“

„Die wenigen Zeugen konnten nicht hören, ob die maskierte Person etwas zu dem Opfer sagte“, gab Heike zurück. „Und die Figur ließ nicht eindeutig auf das Geschlecht des Täters schließen.

Fashion Beast nickte langsam.

„Ich verstehe. - Naja, Paulina hatte Neiderinnen in der Firma. Manche Kolleginnen nahmen ihr den schnellen Aufstieg übel. Wenn man im Hamsterrad eines Unternehmens schuftet, dann entwickelt man so einen Tunnelblick. Ich habe früher selbst mal als Call-Center-Agentin gearbeitet. Ein echer Sklaventreiber-Job. Irgendwann machte ich mein Hobby zum Beruf und bin jetzt richtig gut im Geschäft.“

Fashion Beast machte wirklich nicht den Eindruck, am Hungertuch zu nagen. Selbst wenn sie sich keinen weiteren Luxus leistete - allein diese Wohnung in Alsternähe wäre für viele Hamburger der unteren Einkommensschichten unbezahlbar gewesen.

„Woher kennen Sie Paulina Olsen?“, wollte Ben wissen.

„Wir sind Schulfreundinnen. Ob Sie es glauben oder nicht, ich stamme auch aus Bad Oldesloe. Paulina war schon damals sehr ehrgeizig, manche Leute auf der Penne nannten sie eine Streberin. Doch das war sie nicht. Paulina hatte einfach sehr viel in der Birne, das Lernen fiel ihr leicht. Ich hingegen konnte mir in Hamburg zuerst nicht mehr an Land ziehen als diesen Call-Center-Job und ein winziges WG-Zimmer in Altona. Naja, jetzt geht es mir kohlemäßig viel besser. Aber nun ist Paulina nicht mehr da ...“

In ihren großen blauen Augen erschien jeweils eine Träne. Ihre Unterlippe zitterte.

„Wir brauchen Namen, bitte“, erinnerte Heike. „Namen von Neiderinnen.“

Fashion Beast riss sich zusammen.

„Ja, natürlich. Paulina hat mal von einer Kirsten erzählt, die ihr Salz in den Kaffee getan haben soll. Kindergartenniveau, oder? Und eine gewisse Sandra hat bei ihrem Boss eine Intrige gegen Paulina eingefädelt. Das ging aber nach hinten los, es kam heraus und sie wurde abgemahnt. Nachnamen kann ich Ihnen leider nicht liefern.“

„Die kriegen wir heraus“, versicherte Ben. „Wie war das Verhältnis Ihrer Freundin zu ihren Vorgesetzten?“

„Also, Paulinas Chef wird sich wohl kaum eine Clownsmaske aufgezogen haben und mit dem Messer auf sie losgegangen sein“, meinte Julia Best. „Herr Lutter war so eine Art Mentor für sie, hat ihre Laufbahn in dem Unternehmen sehr gefördert.“

„Meinen Sie, dass zwischen den beiden mehr gewesen ist?“, fragte Heike direkt.

Julia Bests Gesicht bekam einen abweisenden Ausdruck.

„Glauben Sie, Paulina hätte sich hochgeschlafen? Ha! Als ob das die einzige Möglichkeit wäre, heutzutage als Frau Karriere zu machen. Sie leben wohl noch im vorigen Jahrhundert, Frau Kommissarin.“

Heike erwiderte nichts. Die heftige Reaktion der Freundin zeigte, dass sie in ein Wespennest gestochen hatte.

Und Heike nahm sich vor, diesen Herrn Lutter ganz besonders gründlich zu durchleuchten.



5


Maja Wilken hieß jetzt Nadja Janowska.

Sie wusste nicht, ob ihr falscher tschechischer Reisepass besonders viel taugte. Der bulgarische Grenzbeamte hatte jedenfalls bei ihrer Einreise per Flugzeug keinen Anstoß daran genommen und ihr einen angenehmen Aufenthalt in seinem Land gewünscht.

Nachdem Bens Ehefrau den Schergen des baltischen Gangsterbosses Kalnins entkommen war, hatte sie in Warschau einen Zwischenstopp eingelegt. Trotz des hinter ihr liegenden Kampfs auf Leben und Tod war sie immer noch attraktiv genug, um von einem reichen russischen Geschäftsmann in einer Hotelbar angesprochen zu werden.

Der Kerl hatte viel Geld und wenig Menschenkenntnis besessen.

Daher verbrachte er die Nacht allein und mit eingeschlagenem Schädel im Bad seiner Luxussuite, während Maja sich mit dem Inhalt seiner Brieftasche davongemacht hatte.

Obwohl sie in Polen keine Menschenseele kannte, hatte sie trotzdem einen Passfälscher auftreiben können, bei dem sie den größten Teil ihrer Beute gelassen hatte.

Die Qualität der falschen Personalpapiere hatte jedenfalls ausgereicht, um ihr eine problemlose Einreise nach Bulgarien zu ermöglichen.

Maja hatte einstweilen noch genug Geld, um ein paar Tage an der See zu verbringen.

Slatni Pjasazi, in Deutschland eher unter dem Namen Goldstrand ein Begriff.

Der Ort wurde auch Ballermann des Balkans genannt. Nach Majas Meinung eine ideale Umgebung, um anonym unterzutauchen.

Sie schob die Sonnenbrille höher auf ihre Nase und ließ ihren Blick über die muntere Partymeute unter den Sonnenschirmen schweifen.

Maja trug ein kurzes gestreiftes Sommerkleid, das viel von ihrer Figur sehen ließ. Selbst die bulgarischen Polizisten glotzten ihr eher auf den Hintern als ins Gesicht. Das konnte ihr nur recht sein.

In dieser Partyhochburg würde niemand eine Frau vermuten, nach der wegen Mordversuchs an einer Hamburger Kriminalhauptkommissarin europaweit gefahndet wurde.

Heike Stein!

Sogar hier, in diesem Urlaubsparadies, kreisten Majas Gedanken fortwährend um ihre Erzfeindin.

Die Sonne stand am wolkenlosen Himmel, die Bässe der Musikanlagen wummerten, es roch nach leckerem Grillfleisch, und junge attraktive Typen machten Maja schöne Augen.

Und doch konnte sie nur an zwei Dinge denken.

Heike Steins Tod. Und ein Wiedersehen mit ihrer Tochter.

Es schmerzte Maja, dass sie ihr Kind in Hamburg hatte zurücklassen müssen. Doch bei ihrer überstürzten Flucht war es nicht möglich gewesen, die Kleine mitzunehmen. Wenn sie ins Gefängnis gekommen wäre, hätte sie ihre Tochter auch nicht oft sehen dürfen.

Für Maja gab es nur eine Chance, Pia in ihre Arme zu schließen: Sie musste die Kleine entführen.

Doch dafür hätte sie nach Hamburg zurückkehren müssen. Und sie machte sich keine Illusionen darüber, dass Ben erstklassig auf das Kind achtgeben würde.

Die Situation war völlig verfahren.

Maja ging zu einer der zahlreichen Strandbars, bestellte sich einen Caipirinha und sortierte ihre Gedanken.

Ob Andris Kausmans noch lebte?

Sie war diesem Gangster beinahe hörig gewesen. Doch wenn er nicht bei ihr war, konnte sie bemerkenswert gut ohne ihn auskommen. Ihre Gefühle für ihn hatten sich als Strohfeuer entpuppt.

Wenn es überhaupt noch einen Mann gab, für den sie etwas empfand, dann war es Ben Wilken. Doch sie konnte nicht zu ihrem Gatten zurückkehren, nie mehr.

Und wer hatte Schuld daran?

Heike Stein!

Dafür verdiente diese falsche Schlange nach Majas Ansicht den Tod. Nur wegen diesem blonden Gift war sie selbst zur Verbrecherin geworden. Jedenfalls redete sie sich das ein.

Der Alkohol tat allmählich seine Wirkung. Er legte sich wie ein Schleier über Majas Sehnsucht nach der kleinen Pia, ließ das Gefühl etwas erträglicher werden.

Nur der Hass auf ihre Rivalin loderte immer noch.

Maja orderte bei dem schwarzgelockten Barkeeper einen weiteren Drink.

Sie beschloss, sich dringend einen neuen Liebhaber zu suchen. Ein Kerl würde sie von ihren Problemen ablenken, die sie aktuell doch nicht lösen konnte.

Hamburg war vom Goldstrand gefühlt so weit entfernt wie der Mars.

Maja schlug die Beine übereinander und musterte die Sonnenanbeter, die in knappen Badehosen oder modischen Bermudas ihre muskulösen Körper zur Schau stellten. Die meisten von ihnen waren ein paar Jahre jünger als Maja. Doch sie glaubte nicht, dass diese Burschen bei einer willigen attraktiven Milf Nein sagen würden.

Eine weitere Gruppe Jungmänner traf ein. Neben Maja waren noch mehrere Barhocker frei.

Bens Ehefrau wurde von einer Welle der Panik überflutet, als einer der Touristen ihr sein breites Kreuz zukehrte. Auf dem Rücken seiner Trainingsjacke prangte der Schriftzug:

POLIZEISPORTVEREIN HAMBURG


Für einen ganz miesen Moment sah Maja sich schon in einer Zelle am Holstenglacis sitzen, dem Untersuchungsgefängnis der Freien und Hansestadt. Doch dann erkannte sie plötzlich ihre Chance, als der junge Hamburger Polizist auf Urlaub sich dem Barkeeper zuwandte und einen schüchternen Seitenblick in Majas Richtung schickte.

Vielleicht war es der Alkohol, der Maja mutig werden ließ.

Sie hob ihr Glas und prostete dem blonden hochgewachsenen Mann zu.

„Sind Sie gerade angekommen?“, fragte sie verheißungsvoll lächelnd, wobei sie ihren inzwischen gut eingeübten osteuropäischen Akzent benutzte.

„Ja, eine Woche Urlaub mit meinen Schulfreunden. - Sie sprechen aber gut deutsch“, brachte der Blonde hervor. Er schien sein Glück kaum fassen zu können, weil er von so einer attraktiven Frau angeflirtet wurde.

„Vielen Dank. - Wie heißt du, wo kommst du her?“

„Mein Name ist Nils, ich bin aus Hamburg.“

„Und ich heiße Nadja und stamme aus Prag“, sagte Maja Wilken mit einem verführerischen Augenzwinkern.

Sie war jetzt sicher, dass sie ihren Zielen ein großes Stück näher kommen würde.



6


Heike und Ben fuhren Richtung City Nord.

„Eine Modebloggerin“, sinnierte die Hauptkommissarin. „Erstaunlich, womit man heutzutage so sein Geld verdienen kann.“

„Dann schaust du dir also keine Modeblogs an?“

„Nein, Ben. Ich lasse mich lieber beim Shoppen inspirieren, wenn ich am Neuen Wall oder am Jungfernstieg unterwegs bin.“

Er grinste.

„Ich war immer froh, wenn Maja mich bei ihren Einkaufsmarathons nicht mitgenommen hat. Ich fand das immer todlangweilig.“

„Typisch Mann eben“, erwiderte Heike. „Denkst du noch oft an Maja?“

Eigentlich hatte sie sich diese Frage verkneifen wollen. Doch Heike musste sich eingestehen, dass Bens Frau in ihrem eigenen Leben eine größere Rolle als jemals zuvor spielte.

Wer konnte schon von sich behaupten, eine echte Todfeindin zu haben?

Ben schüttelte den Kopf.

„Ich mache mir mehr Sorgen um meine Tochter. Pia vermisst Maja. Wie soll man einem kleinen Mädchen erklären, dass die eigene Mutter eine Verbrecherin geworden ist? Ich habe es versucht. Doch Pia hofft wahrscheinlich immer noch auf eine gute Fee, die alles wieder so wie früher werden lässt.“

Heike wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie war froh, sich auf den aktuellen Fall konzentrieren zu können.

Die Ermittler hatten sich telefonisch angekündigt.

Inzwischen wussten sie, dass WIBERTCO ein Unternehmen der chemischen Industrie war, das den Riesen der Branche nur zulieferte. Daher war der Namen dieser Firma auch nur Insidern bekannt.

Doch die Gewinne mussten sich Heikes Meinung nach sehen lassen können, denn die Zentrale in der City Nord befand sich in einem modernen und gewiss nicht billigen achtstöckigen Bürogebäude.

Die Kommissare präsentierten der eleganten Empfangsdame ihre Dienstausweise. Daraufhin brachte eine Assistentin sie hoch in die Chefetage, zu Arno Lutter.

Der Vorstandsvorsitzende sprang hinter seinem Schreibtisch auf, als Heike und Ben sein großzügig geschnittenes Büro betraten.

Er machte auf den ersten Blick einen seriösen und vertrauenerweckenden Eindruck. Die Ermordung seiner Mitarbeiterin schien ihn ernsthaft erschüttert zu haben.

Heike und Ben stellten sich selbst vor.

Lutter lächelte und gab ihnen die Hand.

„Wie bedauerlich, dass wir uns unter so tragischen Umständen kennenlernen“, sagte er. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“

Der Vorstandsvorsitzende deutete auf eine mit Leder bezogene Sitzgruppe in der linken Ecke seines Büros. Die Sekretärin brachte unaufgefordert Kaffee. Heike beugte sich vor, nachdem sie und Ben sich gesetzt hatten. Sie wollte es sich nicht zu gemütlich machen, daher kam sie sofort zur Sache.

„Nach dem gewaltsamen Tod von Frau Olsen ermitteln wir in alle Richtungen, Herr Lutter. Uns ist zu Ohren gekommen, dass es Spannungen zwischen ihr und zwei Kolleginnen gab, die mit Vornamen Kirsten und Sandra heißen.“

Der Chef zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.

„Damit werden Kirsten Koch und Sandra Mohlen gemeint sein. - Halten Sie es wirklich für möglich, dass eine dieser Dame Frau Olsen umgebracht haben soll? In den sozialen Medien ist von einem verrückten Seriemörder die Rede.“

Heike lachte ohne Humor.

„Glauben Sie wirklich irgend etwas, das Sie im Internet lesen?“

„Sie haben recht, ich sollte es besser wissen. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine Mitarbeiterin unseres Unternehmens sich eine Clownsmaske aufsetzt und eine Kollegin umbringt.“

„Dass der Täter oder die Täterin eine Clownsmaske trug, hat sich schon gestern Abend wie ein Lauffeuer verbreitet“, bestätigte Ben. „Noch mehr Einzelheiten können wir aus ermittlungstaktischen Gründen nicht preisgeben.“

„Dafür habe ich natürlich Verständnis“, beteuerte Lutter. Er ging zur Gegensprechanlage hinüber und drückte auf einen Knopf: „Frau Schröder, informieren Sie bitte Frau Koch und Frau Mohlen darüber, dass sie sich für eine Befragung durch die Polizei bereithalten und das Haus nicht verlassen sollen.“

Dann widmete der Vorstandsvorsitzende sich wieder seinen Besuchern.

„WIBERTCO wird vollständig mit Ihnen kooperieren. Sagen Sie uns bitte einfach, was Sie von uns benötigen.“

„Es ist auf jeden Fall gut, dass wir mit den Damen sprechen können“, sagte Heike. „Zunächst möchte ich Sie bitten, Ihr Verhaltnis zu Paulina Olsen zu beschreiben.“

Lutter hob die Schultern.

„Da gibt es nicht viel zu sagen. Sie ist aufgrund ihrer außergewöhnlichen Leistungen sehr schnell zur Assistentin der Geschäftsleitung aufgestiegen. Das hat möglicherweise einigen Kollegen nicht gepasst, die schon länger im Unternehmen sind. Doch für mich zählen nur Leistung und Loyalität, nicht die Dauer der Betriebszugehörigkeit.“

„Frau Olsen war eine attraktive junge Frau“, stellte Heike fest. „Ich muss Sie fragen, ob Sie in ihr mehr gesehen haben als eine Mitarbeiterin.“

Lutter lächelte.

„Ich fühle mich geschmeichelt, da Sie mir offenbar zutrauen, eine Schönheit wie Paulina Olsen verführen zu können, Frau Stein. - Ich bin nicht blind, und natürlich ist mir nicht entgangen, wie gut sie aussah. Wahrscheinlich hat es Gerüchte gegeben, die mir ein Verhältnis mit ihr unterstellten. In großen Unternehmen wird viel getratscht, das ist bei der Polizei vermutlich nicht anders. Jedenfalls hatte ich niemals eine Affäre mit Frau Olsen. Ich bin glücklich verheiratet, und durch solche Dinge macht man sich nur erpressbar.“

„Wir wollten Ihnen nichts unterstellen“, betonte Heike. „Dennoch werden Sie gelegentlich ein privates Wort mit Frau Olsen gewechselt haben, oder? Fühlte sie sich womöglich bedroht oder verfolgt? Gab es Personen in ihrem Umfeld, vor denen sie sich fürchtete?“

Der Vorstandsvorsitzende stützte seinen Kopf auf die Hände, er schien angestrengt nachzudenken.

„Über solche Dinge haben wir niemals gesprochen, Frau Stein ... Es gab allerdings einen Vorfall, und zwar hier im Unternehmen, wie ich leider zugeben muss. Wir haben dem Mitarbeiter sofort fristlos gekündigt. Bei WiBERTCO herrscht Null Toleranz, was sexuelle Belästigung oder Mobbing angeht.“

Die Hauptkommissarin wurde hellhörig.

„Wie lange liegt dieses Ereignis zurück? Was genau ist vorgefallen?“

„Vor ungefähr sechs Monaten kam Frau Olsen zu mir und berichtete, dass ein Lagerist sie unsittlich berührt hätte. Obwohl wir ein großes Unternehmen sind, kümmere ich mich um solche Dinge persönlich. Jedenfalls dann, wenn sie in der Hamburger Zentrale passieren. Ich ließ den Mann sofort zu mir kommen und stellte ihn zur Rede. Er leugnete alles, doch ich fand ihn nicht sehr glaubwürdig. Also entließ ich ihn fristlos. Ob Frau Olsen ihn zusätzlich bei der Polizei angezeigt hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Danach erwähnte sie diesen Perversen nie wieder. Ich ging davon aus, dass die Angelegenheit erledigt wäre.“

„Wir benötigen den Namen der Person“, warf Ben ein.

„Selbstverständlich. Er heißt René Gruber. - Glauben Sie, dass er sich an Frau Olsen rächen wollte? Das wäre ja entsetzlich!“

„Auf jeden Fall werden wir uns mit ihm unterhalten“, sagte Heike. Sie fragte Lutter noch nach weiteren Vorkommnissen, doch ihm fiel nichts weiter ein.

„Es ist möglich, dass wir Sie noch einmal behelligen müssen“, sagte die Hauptkommissarin und stand auf. Ben folgte ihrem Beispiel.

„WIBERTCO ist sehr daran interessiert, den Mord an unserer geschätzten Kollegin aufzuklären“, betonte der Vorstandsvorsitzende. „Meine Assistentin wird Sie zu Frau Koch und Frau Mohlen führen.“

Die beiden Mitarbeiterinnen hatten ihre Büros eine Etage tiefer.

Kirsten Koch war eine magere Blonde in einem lachsfarbenen Geschäftskostüm, die den Ermittlern gegenüber sehr aggressiv auftrat.

„Die Olsen lässt sich beim Joggen abstechen, und dann kommen Sie zu mir? Das ist schon ein starkes Stück, muss ich sagen!“

Heike hielt ihrem Blick stand.

„Ein Mensch ist tot, und Sie regen sich auf, weil wir den Fall untersuchen? Wenn Sie sich verdächtig machen wollten, haben Sie das jedenfalls geschafft.“

Die Worte der Hauptkommissarin schienen nicht zu Kirsten Koch durchzudringen.

„Hat Herr Lutter Sie auf mich gehetzt? Er wird jetzt wohl am Boden zerstört sein, nachdem sein Betthäschen nicht mehr unter uns weilt.“

„Wenn Sie keine Beweise für ein Verhältnis zwischen Frau Olsen und dem Chef haben, sollten Sie sich auf eine Verleumdungsklage einstellen“, sagte Heike kühl. „Haben Sie Ihrer Kollegin Salz in den Kaffee geschüttet, weil sie sich übergangen fühlten?“

Kirsten Koch deutete wütend mit dem Zeigefinger auf sich selbst.

„Mir hätte Paulina Olsens Stelle zugestanden! Das mit dem Kaffee war doch nur Spaß. Jemanden umzubringen ist doch eine ganz andere Hausnummer. Und vor einer Verleumdungsklage habe ich keine Angst. Früher oder später wird die Wahrheit doch ans Licht kommen.“

„Apropos Mord: Wo waren Sie gestern Abend gegen neunzehn Uhr?“, wollte Ben wissen.

Kirsten Koch rang nach Luft.

„Um die Uhrzeit wurde die Olsen umgebracht, nehme ich an? - Zum Glück hatte ich von achtzehn bis zwanzig Uhr Handballtraining. Das können die Mädels aus meiner Mannschaft ausnahmslos bestätigen.“

Heike notierte sich die Namen vom Sportverein und der Mannschaftskameradinnen. Wenn die Frauen Kirsten Kochs Aussage bestätigten, hatte sie ein wasserdichtes Alibi. Die Sporthalle befand sich in Tonndorf. Die Verdächtige konnte von dort aus niemals zur Schönen Aussicht gelangen, einen Mord begehen und zurückkehren, ohne dass ihre Abwesenheit auffiel. Die Entfernung war einfach zu groß.

Die Ermittler bedankten sich bei der gereizten Dame und ließen sich von Lutters MItarbeiterin zum Büro von Sandra Mohlen führen.

Heike klopfte und trat gleich darauf ein.

Eine junge Frau lag neben dem Schreibtisch auf dem Boden. Ihre Hände waren in ihre Bauchdecke gekrampft, sie hatte das Bewusstsein verloren.

Vor ihrem offenen Mund stand Schaum.

Die leeren Medikamentenröhrchen auf dem Schreibtisch waren nicht zu übersehen.



7


Rio hatte bisher immer gern unter der Lombardsbrücke gelebt.

Ihre Nachbarn waren freundlich und hilfsbereit, was man leider nicht von allen Leuten auf der Straße sagen konnte.

In Berlin wurden Obdachlose gelegentlich angezündet, das hatte Rio zumindest gehört. Der Gedanke daran ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Sie beglückwünschte sich selbst, weil ihr in Hamburg bisher noch nichts wirklich Schlimmes passiert war.

Und es gab keinen Ort, wo sie sich so wohl fühlte wie in ihrem kleinen Ein-Mann-Zelt unter der großen Brücke. Viele tausend Autos fuhren jeden Tag hoch über ihrem Kopf in die eine oder andere Richtung. Den Verkehrslärm nahm Rio schon gar nicht mehr wahr. Und wenn, dann empfand sie ihn als angenehm, so wie Meeresrauschen.

Was sie wirklich liebte, war das Glucksen des Wassers an der Steinmauer, nur wenige Schritte von ihrem Zelt entfernt. Morgens begann Rio immer als erstes mit ihrer Flaschensammel-Tour. Sie kannte jeden Abfalleimer zwischen Stephansplatz und Gänsemarkt. Dort, im Passagenviertel, fühlte sie sich sicher. Wenn Rio ihre gewohnten Routen verließ, führte das nur zu Alpträumen.

So wie an dem Tag, als ...

Nein, sie wollte diese schreckliche Erinnerung verbannen. Rio atmete tief durch und dachte an die vielen schönen Tage, die sie schon im Passagenviertel verbracht hatt.

Das war ihr festes Revier. Rio arbeitete schnell und diskret, daher bekam sie selten Ärger.

Allerdings achtete sie auch sehr auf ihr Äußeres. Mit ihrer Rasta-Frisur und ihren schrillen Klamotten wurde sie für flippig und cool gehalten.

Und kaum jemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie unter einer Brücke wohnte. Rio marschierte eisern jeden Tag zur Kemenate, obwohl sie von der Lombardsbrücke bis zur Charlottenstraße in Eimsbüttel fünf Kilometer zurücklegen musste. Doch in dieser Tageseinrichtung für wohnungslose Frauen konnte sie duschen und ihre Anziehsachen waschen.

Ein gepflegtes Aussehen war für sie überlebenswichtig.

Rio hatte ihre Lektion gelernt: Man konnte getrost obdachlos sein, man durfte nur nicht obdachlos wirken. Dann wurde man nämlich von den privaten Securitys rund um den Gänsemarkt verscheucht. Die Kunden sollten nicht durch den Anblick von Elendsgestalten abgeschreckt werden.

Und all die zurückgelassenen Getränkedosen der Touristen sammelten Andere ein.

An diesem Morgen war Rio gerade erst aufgestanden. Ihre Nachbarn schliefen noch.

Sie nahm sich als Allererstes ihren Fußmarsch zur Kemenate vor. Dort konnte sie auch einen Kaffee bekommen. Auf dem Rückweg würde sie dann schon mal mit dem Dosensammeln beginnen.

Rio blieb einen Moment lang an der Kaimauer unter der Lombardsbrücke stehen und genoss die Aussicht über die Wasserfläche der Binnenalster. Inmitten des aufgestauten Flusses gab es eine Fontäne, die frühmorgens allerdings noch nicht in Betrieb war.

Die Wohnungslose schaute direkt auf das Traditionskaufhaus Alsterhaus sowie das Café Alsterpavillon, die sich ihr gegenüber befanden. Sie freute sich schon darauf, später am Tag dort am Jungfernstieg zwischen all den anderen Menschen zu schlendern. Dann konnte sie sich einbilden, dass sie dazu gehörte.

Rio ging am begrünten Alsterufer nach links, auf das Ristorante Portonovo und den Yachtclub Meridian zu.

Plötzlich spürte sie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken.

Es erinnerte sie an ihre Vergangenheit, als sie immer nur fortgelaufen war. Doch die Polizei hatte sie jedes Mal eingefangen und zu ihrem Stiefvater zurückgebracht. Dort gingen dann die Qualen weiter.

Nein, Rios Jugend war eine Kiste, die sie verschlossen und den Schlüssel weggeworfen hatte.

Trotzdem - ihr Körper kannte noch diese Reaktionen. Die helle Panik, die Übelkeit. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Rio hatte ihr Leben im Griff, auch wenn sie unter einer Brücke nächtigte.

Deshalb beging sie auch nicht den Fehler, sich umzudrehen.

Der Verfolger durfte nicht bemerken, dass sie auf ihn aufmerksam geworden war. Sie musste eine Gelegenheit nutzen, um ihn zu vertreiben.

Rio war sicher, dass sie von einem Mann verfolgt wurde. Es waren stets Männer, die Ärger machten. Diese Erfahrung hatte sie zumindest gemacht.

In Windeseile entwickelte sie einen Plan.

Mit ihren zweiundzwanzig Jahren und ihrer schlanken Figur konnte Rio sich durchaus sehen lassen.

Um ihren lästigen Verfolger abzuschütteln, benötigte sie einfach nur einen anderen Mann, am besten einen möglichst großen und breitschultrigen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Frauen meist von Feiglingen belästigt wurden. Wenn solche Typen es mit einem körperlich überlegenen Gegner zu tun bekamen, nahmen sie meistens Reißaus.

Das Schicksal schien es mit Rio gut zu meinen.

Nun erblickte sie nämlich eine Person, die ihr hoffentlich aus der Klemme helfen konnte. Auf dem Grasstreifen zwischen dem Alsterufer und dem Bürogebäude von Price Waterhouse Coopers stand ein junger Mann, barfuß und mit einer weiten schwarzen Hose sowie einem ärmellosen weißen Shirt bekleidet. Er praktizierte offensichtlich Tai Chi, jedenfalls bewegte er seine Gliedmaßen langsam in einem bestimmten Rhythmus.

Und seine Bizeps-Pakete zeigten, dass er kein Schwächling war.

Nach Rios Einschätzung war er ein paar Jahre älter als sie selbst. Sein Blick schien meditativ in die Ferne gerichtet zu sein, er nahm sie gar nicht richtig wahr.

Aber das machte nichts.

Rio beschleunigte ihre Schritte, lachend und winkend näherte sie sich dem Tai-Chi-Mann.

„Hey, das ist ja ein Zufall, dass wir uns hier wiedersehen!“

Sie rief diesen Satz möglichst laut. Vielleicht reichte das schon aus, um den Stalker hinter ihr zu vertreiben.

Noch hatte sie sich nicht umgedreht. Und doch war sie hundertprozentig sicher, dass der Verfolger noch hinter ihr war. Sie konnte seine Schritte auf dem schmalen Weg hören. Der Kerl war immer noch hinter ihr.

Der Tai-Chi-Mann hielt in seinen Bewegungen inne.

Er war sonnengebräunt, trug sein blondes Haar halblang. Sein Gesicht wirkte freundlich, allerdings zeigte es kein Zeichen des Wiedererkennens.

Kein Wunder, dachte Rio. Ich habe ihn ja auch noch nie zuvor in meinem Leben getroffen.

Ein scheues Lächeln erschien auf den Lippen des Freiluftsportlers.

„Entschuldige, ich stehe wohl heute morgen auf dem Schlauch ... ich weiß gerade nicht, wo ich dich einordnen soll ...“

„Na, die Party neulich!“, sagte Rio. Sie stand nun unmittelbar vor dem Mann und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Sie gefiel ihm, das war schon einmal gut. Die Preisfrage lautete nun, ob er überhaupt auf Partys ging. Vielleicht gehörte er ja zu diesen neuen Asketen, die außer Sport, veganem Essen und Mineralwasser nichts in ihr Leben ließen.

Na, und wenn schon! dachte Rio. Sie wollte ohnehin bloß so lange mit dem Mann flirten, bis ihr Verfolger die Kurve gekratzt hatte. Ihr Leben verlief momentan so schon konfliktfrei wie schon seit langem nicht mehr. Da war für einen festen Freund kein Platz.

Abgesehen davon, dass die wenigsten Typen sich eine obdachlose Freundin wünschten. Und auf diejenigen, die ihre Notlage ausnutzen wollten, konnte sie getrost verzichten.

„Meinst du die Party in der Lutterothstraße?“

Rio nickte. Sie war noch nie in der Lutterothstraße zu einer Party eingeladen worden, aber immerhin redete der Tai-Chi-Mann mit ihr.

Doch nun verfinsterte sich seine Miene.

Rio glaubte schon, dass er sie durchschaut hätte. Doch dann packte er sie an den Schultern, stellte sich schützend vor sie.

In diesem Moment begriff sie, dass sich etwas Bedrohliches hinter ihr ereignete.

Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig.

Ihre vermeintliche Party-Bekanntschaft riss abwehrend den rechten Arm hoch.

Nun drehte Rio sich endlich um.

Sie schrie entsetzt, als sie die dunkle Gestalt mit Kapuzenpullover und Clownsmaske erblickte.

Dieser Unheimliche, den sie schon einmal gesehen und der ihr Alpträume verursacht hatte.

Wieder hielt er ein Messer in der Hand.

Es war, als ob sie die Wiederholung eines Films sehen würde.

Doch diesmal wurde Rio selbst in die Handlung verwickelt.

Der Maskierte ging mit großer Brutalität vor.

Rio stieß einen schrillen Schrei aus, als die Messerklinge zum ersten Mal in ihren Körper gerammt wurde. Und mit der einen Attacke gab der Killerclown sich nicht zufrieden.

Das Blut schien überall zu sein.

Rio ging zu Boden. Der Tai-Chi-Mann rang für wenige Augenblicke mit dem Angreifer, dann fiel auch er aus mehreren Wunden blutend hin.

Die Szene spielte sich vor den Augen von mehreren Autofahrer ab, die auf der Uferstraße vorbeifuhren und empört hupten. Einige von ihnen hielten an, um zu helfen.

Doch als sie angerannt kamen, war Rio schon bewusstlos geworden und der Clown entkommen.



8


Heike und Ben erfuhren von der neuerlichen Straftat, kurz nachdem sie mit dem Notarzt gesprochen hatten. Sandra Mohlen wurde mit Blaulicht und Sirene ins Universitätskrankenhaus Eppendorf geschafft.

„Die Patientin hat eine akute Vergiftung erlitten“, sagte der Mediziner zu den Ermittlern. „Die Medikamentenpackungen in dem Büro stammen zum Teil von verschreibungspflichtigen Antidepressiva, bei einigen anderen Substanzen handelt es sich um Schmerzmittel, die in Deutschland gar nicht zugelassen sind.“

„Dann wird sie sich diese Mittel auf dem Schwarzmarkt besorgt haben“, dachte Heike laut nach.

Der Notarzt nickte und verabschiedete sich. Er wollte der Ambulanz folgen, die bereits auf dem Weg zum Hospital war.

Die Kolleginnen und Kollegen von Sandra Mohlen standen auf dem Korridor herum. Ihnen allen war der Schock deutlich anzumerken. Keiner von ihnen schien geahnt zu haben, dass Sandra Mohlen solche Menge an starken Pillen in ihrem Schreibtisch gehortet hatte.

Heike nahm sich noch einmal Kirsten Koch vor, die inzwischen nicht mehr aggressiv auftrat. Vielmehr wirkte sie genauso durcheinander wie die übrigen Mitarbeiter.

„Sie haben Ihr Büro unmittelbar neben dem von Frau Mohlen“, stellte die Hauptkommissarin fest. „Ist Ihnen heute oder in den letzten Tagen an ihrem Verhalten etwas aufgefallen? Wirkte sie vielleicht betrübt oder niedergeschlagen?“

Kirsten Koch schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, überhaupt nicht. Sie hat sich ganz normal verhalten. Und wir waren alle bestürzt, als wir von Paulina Olsens Tod erfahren haben. Sandra und ich haben sie nicht gemocht, weil sie vom ersten Tag an hier im Unternehmen die Ellenbogen ausgefahren hat. Aber deshalb bringt man doch jemanden nicht um.“

Heike bemerkte, dass Kirsten Koch jetzt viel sachlicher über ihre ermordete Kollegin sprach als noch vor einer halben Stunde. Womöglich war sie zuvor nur aufgebracht gewesen, weil man ihr einen Mord zutraute.

Doch weshalb hatte Sandra Mohlen sich vergiftet?

„Ihnen und Frau Mohlen wurde angekündigt, dass wir Sie zum Tod von Paulina Olsen befragen wollten“, betonte Heike. „Wenig später schluckt Ihre Kollegin eine Überdosis Tabletten, vermutlich in selbstmörderischer Absicht. Was sollen wir Ihrer Meinung nach davon halten?“

Kirsten Koch nagte an ihrer Unterlippe, sie blickte zu Boden.

„Vielleicht war Sandras Groll gegen Paulina doch größer als ich gedacht habe.“

„Sie wissen nicht zufällig, was Ihre Kollegin gestern Abend gegen neunzehn Uhr vorhatte?“, wollte Ben wissen.

„Glauben Sie, dass Sandra ...“

Kirsten Koch konnte den Satz nicht beenden, denn nun klingelte Heikes Handy. Die Hauptkommissarin machte eine entschuldigende Handbewegung und trat ein paar Schritte zur Seite.

Kriminalrätin Dr. Laura Brink war am Apparat.

„Es hat einen neuerlichen Mordanschlag durch einen Horrorclown gegeben, Frau Stein. Wieder befindet sich der Tatort am Ufer der Alster, diesmal allerdings an der Binnenalster, unweit der US-Botschaft. Wir wissen noch nicht, ob es sich um denselben Täter handelt.“

Heikes Herz raste, Schweiß trat auf ihre Stirn.

„Wann ist das geschehen?“

„Vor ungefähr zwanzig Minuten. Die Kollegen haben eine Sofortfahndung ausgelöst, bisher leider ohne Ergebnis. Die gute Nachricht lautet, dass die Opfer noch leben. Allerdings weiß ich nicht, wie schwer die Verletzungen sind. Tatwaffe war wieder ein Messer.“

„Also gab es mehrere Opfer?“

„Ja, eine Frau und einen Mann. - Ich schlage vor, dass Sie und Herr Wilken sofort dorthin fahren und sich ein Bild von der Lage machen. Es gibt wohl auch mehrere Augenzeugen, die zumindest die Flucht des Horrorclowns gesehen haben.“

Die Chefin beschrieb noch, auf welchem Abschnitt des Alsterufers sich die Tat zugetragen hatte. Dann beendete sie das Gespräch.

Ben konnte Heikes Gesichtsausdruck deutlich anmerken, dass etwas Wichtiges passiert sein musste.

Sie brachte ihn mit ein paar Sätzen auf den neuesten Stand. Dann eilten die Ermittler aus dem WIBERTCO-Gebäude.

„Wenn es sich um denselben Täter handelt und es keine Verbindung zu dem ersten Opfer gibt, dann haben wir heute bisher nur Zeit verschwendet“, sagte der Hauptkommissar, während er den BMW Richtung Binnenalster lenkte.

Heike schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht gesagt. Wir müssen auch damit rechnen, dass wir es mit einem Nachahmungstäter zu tun haben. Diese Clownsmasken kriegst du doch überall im Internet. Und seit gestern der Mord an Paulina Olsen durch alle sozialen Medien geprügelt wurde, könnte sich irgendein Spinner dadurch inspiriert gefühlt haben.“

„Zumindest wäre das ein kleineres Übel - wir können nicht noch einen Serienkiller gebrauchen, der in Massinis exklusiven Mörderklub aufgenommen werden will.“

Mit dieser Meinung sprach Ben Heike aus der Seele. Sie bemühte sich nach Kräften, nicht ständig an diesen unheimlichen neuen Gegner zu denken, der ihr seit den Ereignissen rund um das Killer Hotel nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.


Heike erblickte die rotierenden Blaulichter der geparkten Streifenwagen neben dem Grünstreifen schon von weitem. Uniformierte Kollegen hatten den eigentlichen Tatort mit Trassierband abgesperrt und bemühten sich nach Kräften, die Gaffer sowie die Pressemeute zurückzuhalten.

Ben stellte den BMW hinter einem anderen Einsatzfahrzeug ab. Die Ermittler drängten sich zwischen den Neugierigen hindurch. Ein junger Polizeimeister erkannte Heike und Ben. Er nickte ihnen zu und hob für sie das Flatterband.

Die Hauptkommissarin wandte sich direkt an ihn.

„Ich nehme an, die Verletzten wurden ins Krankenhaus St. Georg geschafft?“

Der Kollege nickte.

„Ja, genau.“

„Wir sollten Polizeischutz für die beiden beantragen“, sagte Heike zu Ben. „Bevor wir die Motivlage nicht kennen, müssen wir damit rechnen, dass der Killerclown im Hospital sein blutiges Werk zu vollenden versucht.“

„Ich kümmere mich darum“, erwiderte er und griff zum Funkgerät.

Heike sprach wieder den Polizeimeister an.

„Wie ich höre, gibt es Augenzeugen?“

„Ja, Frau Stein. Sie warten hier drüben.“

Der junge Kollege führte Heike zu einer Gruppe von Frauen und Männern, die sich in Ufernähe versammelt hatten. Einigen von ihnen sah man auf den ersten Blick an, dass sie auf der Straße leben mussten, bei anderen war es nicht so eindeutig zu erkennen.

Heike hatte mit der Zeit ein feines Gespür für Obdachlosigkeit entwickelt - nicht zuletzt deshalb, weil diese Menschen immer wieder Opfer von Gewalttaten wurden. In Hamburg hatten viele Leute kein Dach über dem Kopf, genau wie in anderen deutschen Metropolen.

Sie zeigte ihren Dienstausweis und nannte ihren Namen.

„Ich will den Täter erwischen, der die Frau und den Mann angegriffen hat. - Was können Sie mir über den Tathergang sagen?“

Einige Obdachlose schauten Heike misstrauische Blicke zu, womöglich verstanden sie die Worte auch einfach nicht. Ihr war bekannt, dass es viele Osteuropäer gab, die in der Hansestadt ihr Glück machen wollten und in der Gosse landeten.

Einer der Wohnungslosen wurde von seinen Freunden mit Seitenblicken bedacht, er schien der Sprecher dieser Gruppe zu sein. Der Mann mit dem langen grauen Vollbart und dem dicken Seemannspullover war es schließlich auch, der das Schweigen brach.

„Wir wurden von den Schreien wach, Frau Stein. Ich kapierte sofort, dass eine von uns angegriffen wurde. Für so etwas habe ich einen sechsten Sinn.“

Die Anderen nickten.

Heike hakte nach.

„Eine von Ihnen? Also kannten Sie die Frau, die von dem Horrorclown verletzt wurde?“

„Allerdings. Sie heißt Rio und wohnt in dem gelben Zelt da.“

Der Vollbärtige drehte sich halb zur Seite und zeigte auf eines der Einmannzelte unter der Lombardsbrücke.

Die Hauptkommissarin machte sich eine Notiz.

„Rio ist ein hübscher Name, doch der wird gewiss nicht in ihrem Personalausweis stehen.“

Ihre Bemerkung brachte den Obdachlosen zum Grinsen, wobei seine schlechten Zähne zum Vorschein kamen.

„Nee, aber danach fragt bei uns niemand. Rio ist eine Seele von Mensch, sie hat immer gute Laune verbreitet.“

Der Mann gab bereitwillig seinen eigenen Namen zu Protokoll. Er hieß Fred Clemens und wurde von seinen Kumpanen nur Freddy genannt.

Freddy war nun wieder sehr ernst. Er schaute Heike so tief in die Augen, als ob er sie hypnotisieren wollte.

„Wie geht es Rio? Der andere Bul ... äh, Polizist sagte, dass sie verletzt wäre. Sie kommt doch durch, oder?“

„Ich habe noch nicht mit dem Arzt gesprochen“, erwiderte Heike. „Es ist wichtig, dass ich so viel wie möglich über den Angriff erfahre.“

Freddy senkte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen.

„Als ich Rio schreien hörte, kroch ich so schnell wie möglich aus meinem Schlafsack. In meinem Alter ist man nicht mehr so flink. Ein paar von den Freunden hier waren auch schon alarmiert. Doch als wir auftauchten, war alles schon fast wieder vorbei. Dieser irre Horrorclown fuchtelte mit einem blutigen Messer herum, Rio und so ein Typ lagen im Gras. Im ersten Moment dachten wir, dass sie schon tot wären. Als wir dann endlich bei ihnen waren, atmeten sie aber noch.“

„Wie heißt der Mann, den der Täter niedergestochen hat?“

„Ich habe keine Ahnung, Frau Stein. Er gehört nicht zu uns, ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Jedenfalls hatte er Sportklamotten an. Es gibt ein paar Leute, die hier auf dem Grünstreifen an der frischen Luft trainieren.“

Heike machte sich eine Notiz.

„Können Sie mir den Horrorclown genauer beschreiben?“

Freddy runzelte die Stirn.

„Es ging alles so schnell ... Er hatte jedenfalls ein dunkles Kapuzenshirt an, seine Hose war auch schwarz oder dunkelgrau. Ich glaube, er trug auch Handschuhe. Die Maske hab ich nur gesehen, weil er sich halb zu uns umgedreht hat, als wir Rio und dem Typen zu Hilfe kommen wollten.“

Nun schaltete sich einer der anderen Obdachlosen in das Zwiegespräch zwischen Heike und Freddy ein.

„Der Messerstecher ist gelaufen wie ein Hase, der war tierisch schnell! Er muss ein Top-Athlet sein, außerdem ein Draufgänger. Er sprang mitten in den Straßenverkehr, wich den Autos aus und machte sich dann aus dem Staub. Ihr habt ihn noch nicht geschnappt, oder?“

„Nein, haben wir nicht“, musste Heike zerknirscht zugeben.

Der Mörder schien ein Adrenalin-Junkie zu sein. Nicht nur, dass er seine Taten bei Tageslicht mitten im Herzen einer Metropole beging - er war in beiden Fällen auf dieselbe Art geflohen. Der Verbrecher riskierte sein eigenes Leben, um Verfolger jenseits der viel befahrenen Uferstraßen abhängen zu können.

Heike vermutete, dass er seinen eigenen Wagen in einer der Nebenstraßen geparkt hatte. Sobald er die Clownsmaske abgenommen hatte, verhielt er sich vermutlich sehr unauffällig und konnte in aller Ruhe verschwinden.

Heike bedankte sich zunächst und gab jedem Wohnungslosen eine ihrer Visitenkarten. Sie sollten sich melden, falls ihnen noch etwas einfiel oder sie verdächtige Personen bemerkten.

Die Hauptkommissarin ging zu Ben hinüber.

„Der Polizeischutz wird organisiert, Heike. Was hast du erfahren?“

Sie teilte es ihm mit.

„Sandra Mohlen können wir diesmal als Täterin ausschließen“, stellte der Hauptkommissar fest. „Sie hat sich im WIBERTCO-Gebäude mit Tabletten vergiftet, während der Clown zugestochen hat.“

„Ja, dennoch werden wir sie später zu ihrem Selbstmordversucht befragen müssen, Ben. Womöglich haben wir es mit einer Komplizin zu tun. Außerdem möchte ich sicher sein, dass beide Taten von derselben Person begangen wurden, bevor ich sie ausschließe.“

„Dann willst du jetzt vermutlich erst einmal ins Krankenhaus St. Georg, um nach den Verletzten zu sehen?“

„Richtig. Und später sollten wir uns dann diesen Grabscher René Gruber vornehmen. Der Zwischenfall mit ihm liegt zwar schon etwas zurück, aber das muss nichts heißen.“

Die Ermittler verabschiedeten sich und fuhren zu dem Hospital an der Lohmühlenstraße. Nach einiger Zeit konnten sie mit einem Mediziner in der Notaufnahme sprechen.

„Beide Patienten sind zum Glück außer Lebensgefahr“, berichtete er. „Die junge Frau hat mehr Einstiche erlitten als der Mann. Der Täter muss mit großer Brutalität vorgegangen sein. Wir mussten die Patientin in ein künstliches Koma versetzen, um den Heilungsprozess zu stabilisieren. Der Patient ist hingegen ansprechbar.“

„Dürfen wir zu ihm?“, fragte Heike.

„Ja, aber bitte nur kurz. Seine Stichverletzungen sind nicht so schwer, er hat aber einen Schock erlitten und ein Beruhigungsmittel bekommen.“

„Es wird nicht lange dauern“, versprach Heike. Sie hoffte auf die Zeugenaussage des Mannes.

Eine Krankenschwester brachte die Ermittler zu ihm.

Der junge Mann mit den halblangen blonden Haaren lag in einem Hospitalbett. Sein rechter Arm war dick bandagiert. Von weiteren Verletzungen konnte man nichts sehen, da er ein Krankenhaus-Nachthemd trug. Die Sonnenbräune seines linken Arms zeugte davon, dass er normalerweise über einen dunklen Teint verfügte. Doch momentan war sein Gesicht unnatürlich blass.

Er zwinkerte nervös. als die Kommissare zu ihm kamen und sich ihm vorstellten. Heike fragte nach seinem Namen.

„Ich heiße Lars Krone“, murmelte er mit belegter Stimme. „Konnten Sie diesen Killerclown fassen? Wie geht es dem Mädchen? Sie ist doch nicht ... tot, oder?“

„Nein, sie lebt. Sie sprechen von dem Mädchen, Herr Krone. Also kennen Sie das andere Opfer nicht?“

Er schüttelte den Kopf.

„Das war eine ganz seltsame Situation. Ich habe auf dem Rasen ein paar Tai-Chi-Übungen gemacht, als plötzlich diese Frau mit den Rasta-Zöpfen auf mich losgestürmt kam. Sie schien sich zu freuen, mich wiederzusehen. Dabei wusste ich gar nicht, wer sie war.“

„Vielleicht hat die Frau Sie mit jemandem verwechselt“, schlug Ben vor.

Lars Krone zuckte mit den Schultern.

„Das wäre möglich. Allerdings sagte sie, dass sie mich auf einer Party in der Lutterothstraße kennengelernt hätte. Wir hatten gerade zu reden begonnen, als dieser Psycho auf uns losgestürmt kam. Er hatte erst seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, deshalb bemerkte ich die Clownsmaske nicht sofort. Dann holte er mit seinem Messer aus.“

„Was taten Sie?“

„Ich weiß, dass man bei einem Messerangriff am besten wegläuft, Frau Stein. Aber ich wollte das Mädchen nicht allein lassen, verstehen Sie? Ich versuchte, sie zu beschützen. Doch mit bloßen Händen hat man gegen eine Klinge nicht wirklich eine Chance. Außer vielleicht irgendwelche Elitekämpfer. Immerhin schaffte ich es, den Mistkerl ein oder zwei Mal zu schlagen. Doch dann stach er mich nieder, und ich wachte erst im Krankenhaus wieder auf.“

„Ihre Hände müssen unbedingt kriminaltechnisch untersucht werden!“, rief Heike. „Mit etwas Glück lassen sich DNA-Spuren des Killerclowns unter Ihren Fingernägeln nachweisen. Damit könnten wir einen Verdächtigen überführen.“

Lars Krone nickte.

„Ich will gern dabei mithelfen, dass dieser Dreckskerl hinter Gitter kommt. Ist es derselbe, der die Frau an der Schönen Aussicht getötet hat?“

„Das wissen wir noch nicht“, erwiderte Heike wahrheitsgemäß. „Wir lassen Sie jetzt in Ruhe, Herr Krone. Später wird ein Kriminaltechniker zu Ihnen kommen und Proben nehmen. - Eine Sache müsste ich noch von Ihnen wissen. Kennen Sie Paulina Olsen?“

Heike zeigte dem Verletzten ein Foto des Mordopfers.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, weder das Gesicht noch der Name sagen mir etwas. Leider kann ich Ihnen nicht helfen.“

„Kennen Sie jemanden, dem Sie einen solchen Angriff zutrauen würden?“, fragte Ben zum Abschied.

„Nein, Herr Kommissar. In meinem Bekanntenkreis gibt es ein paar harmlose Spinner, doch mit Gewalt hat keiner von ihnen etwas am Hut.“



9


Die Ermittler fuhren zu Sandra Mohlen, die in einem anderen Krankenhaus lag. Ihr war der Magen ausgepumpt worden. Auch bei dieser Patientin durften sie kurz vorbeischauen.

Heike stellte sich und Ben noch einmal offiziell vor. Dann fragte sie: „Haben Sie all diese Tabletten genommen, um einem polizeilichen Verhör zu entgehen?“

Sandra Mohlen wirkte matt und erschöpft, doch sie redete laut und deutlich.

„Ja, vielleicht. Ich weiß es selbst nicht so genau. Ich konnte mir ja an allen fünf Fingern ausrechnen, dass der Chef Ihnen von meiner Intrige gegen Paulina erzählen würde. Da mussten Sie ja annehmen, dass ich etwas mit ihrem Tod zu tun hätte.“

„Und - haben Sie?“

Sandra Mohlen beantwortete Heikes direkte Frage mit einem Kopfschütteln.

„Nein. Ich habe diese falsche Schlange gehasst, aber deswegen bringe ich doch niemanden um! Man soll ja nichts Schlechtes über Verstorbene sagen, doch Paulina war ein hinterhältiges Biest.“

„Wie meinen Sie das?“

Sandra Mohlens Augen schimmerten feucht.

Sie fuhr fort: „Zu Beginn ihrer Laufbahn bei WIBERTCO verstand ich mich gut mit ihr. Wir freundeten uns sogar ein wenig an, zogen am Wochenende gelegentlich zusammen los. Ehrlich gesagt habe ich nicht viele Kontakte. Es ist gar nicht so leicht, in Hamburg sympathische Leute kennenzulernen. Das klingt vielleicht seltsam, in so einer großen Stadt. Vielleicht bin ich auch einfach zu schüchtern.“


Momentan machte die Verdächtige auf Heike keinen zurückhaltenden Eindruck. Das konnte allerdings auch daran liegen, dass sie nach der Überdosis an Tabletten in einem gefühlsmäßigen Ausnahmezustand war.

Und es tat Sandra Mohlen offensichtlich gut, einmal jemandem ihr Herz ausschütten zu können.

„Wodurch änderte sich Ihr Verhältnis zu Paulina Olsen?“, wollte Heike wissen.

Die Patientin atmete tief durch, bevor sie antwortete.

„Ich beging den Fehler, Paulina zu vertrauen. Ehrlich gesagt leide ich unter Angstzuständen. Wenn ich einen bestimmten Medikamentenmix intus habe, kann ich funktionieren. Ohne diese Medizin bin ich zu nichts zu gebrauchen. Paulina hatte nichts Besseres zu tun, als mit diesem Geständnis zu Herrn Lutter zu rennen. Obwohl meine Schwäche niemals zur Sprache kam, war ich wegen diesem Geheimnisverrat als Kandidatin für die offene Stelle aus dem Rennen. Stattdessen wurde Paulina befördert, obwohl sie viel weniger Leistung brachte als ich.“


Dazu hätte Heike einiges sagen können. Von dem behandelnden Arzt hatte sie erfahren, dass Sandra Mohlen schwer tablettenabhängig war und sich neben normaler Medizin auch zahlreiche illegale Substanzen aus dem Internet einverleibte.

Ob sie wirklich wegen Paulinas Indiskretion übergangen worden war oder nicht, fand die Kriminalistin momentan zweitrangig. Entscheidend war, dass Sandra ihre Kollegin aus diesem Grund hasste.

Ben fragte die Verdächtige nach ihrem Alibi für die Tatzeit am Vorabend.

Sandra Mohlen errötete.

„Ich war allein zu Hause“, murmelte sie. „Wie gesagt, ich kenne nicht allzu viele Menschen in dieser Stadt.“

Heike schaute ihr direkt ins Gesicht.

„Warum haben Sie versucht, sich zu vergiften? Wenn Sie Paulina Olsen nicht getötet haben, mussten Sie doch von der Polizei nichts befürchten.“

Die Verdächtige presste die Lippen aufeinander und wich dem Blick der Hauptkommissarin aus.

„Es war ein Fehler, meine Nerven sind zerrüttet“, murmelte sie.

Da kam Heike eine Idee.

„Was werden wir finden, wenn wir Ihre Wohnung durchsuchen?“

Sandra Mohlen zuckte zusammen, als ob sie einen Schlag bekommen hätte. Sie begann zu zittern, das Blut wich aus ihrem Gesicht.

„Das dürfen Sie nicht, dazu haben Sie kein Recht!“

„Dieses Recht haben wir, vor allem im Rahmen einer Morduntersuchung. - Wir kommen eventuell später noch einmal auf Sie zu.“

Mit diesen Worten eilte Heike aus dem Krankenzimmer, während Ben ihr folgte und Sandra Mohlen zu weinen begann.

„Nach ihrer Reaktion zu urteilen, werden wir in ihrer Wohnung garantiert etwas finden“, mutmaßte der Hauptkommissar. Er beantragte telefonisch einen Durchsuchungsbefehl für das Apartment der Verdächtigen.

Bevor die Ermittler das Krankenhaus verließen, nahm Heike noch einmal den behandelnden Arzt zur Seite.

„Ich bräuchte bitte mal Ihre Einschätzung, Herr Doktor: Halten Sie Sandra Mohlen für fähig, einen schnellen Sprint hinzulegen?“

Der Mediziner schaute sie an, als ob sie etwas unglaublich Dummes gesagt hätte. Dann schüttelte er den Kopf.

„Auf keinen Fall. Ich bin kein Sportarzt. Aber selbst ein Medizinstudent im ersten Semester würde erkennen, dass diese Frau überhaupt keine Grundkondition hat. Ich bezweifle, dass sie sich überhaupt auf irgendeine Art fit hält. Hinzu kommt die Wirkung der Medikamente, die ihre Reaktionen verlangsamen. - Nein, bei einem Sprint würde sie nach ein paar Metern zusammenbrechen.“

Die Hauptkommissarin bedankte sich. Wenig später saß sie wieder mit Ben im Dienstwagen. Der BMW fädelte sich in den Hamburger Berufsverkehr ein. Sie mussten erst noch den Durchsuchungsbefehl abholen, bevor sie Sandra Mohlens Wohnung in der Bramfelder Chaussee ansteuern konnten. Die Adresse der Verdächtigen hatten sie bei WIBERTCO in Erfahrung bringen können.

„Was meinst du, Heike - hat derselbe Täter zweimal zugeschlagen?“

„Wenn ich das wüsste! Wir sollten unsere Ermittlungen bewusst offen halten. Jedenfalls so lange, bis es genug übereinstimmende Hinweise gibt. - Wenn Paulina Olsen wirklich so ein Biest war, könnte man von einem Verdächtigen aus ihrem privaten oder beruflichen Umfeld ausgehen.“

„Ich würde dir zustimmen, wenn da nicht die Attacke auf Rio und Lars Krone wäre. Die beiden scheinen ja nun wirklich überhaupt nichts mit Paulina Olsen gemeinsam zu haben.“

„Abwarten“, meinte Heike. „Manchmal muss man etwas tiefer graben, um die Verbindungen zu erkennen.“

Sie hätte selbst nicht sagen können, weshalb sie bei den Opfern nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner suchen wollte. Die Sensationspresse würde gewiss schon bald mit dem Schlagwort vom Alsterkiller um die Ecke kommen, der aus dem Gebüsch sprang und wahllos junge Frauen abstach.

So ein Angstszenario fördert zweifellos die Verkaufsauflage, dachte Heike grimmig.

Doch ihr Job bestand darin, die Wahrheit zu erkennen und den Täter hinter Gitter zu bringen.

Mit dem Durchsuchungsbefehl in der Tasche fuhren sie zur Bramfelder Chaussee. Die Verdächtige wohnte in einem unauffälligen sechs-Parteien-Mietshaus aus rotem Klinker. Nachdem Ben bei allen Nachbarn geklingelt hatte, wurde ihnen geöffnet.

Ein älterer Mann mit Strickjacke blinzelte die Ermittler misstrauisch an. Nachdem sie ihre Dienstausweise präsentiert hatten, gab er sich als Hausmeister zu erkennen. Heike brachte ihr Anliegen vor.

„Sie wollen in die Wohnung von Frau Mohlen?“, vergewisserte er sich. „Das ist eine untadelige Mieterin, über sie sind noch niemals Beschwerden gekommen. - Ich könnte Sie schon dort hereinlassen, ich habe nämlich einen Zweitschlüssel.“

„Dann tun Sie das bitte“, erwiderte Heike und hielt ihm den Durchsuchungsbefehl unter die Nase.

Der Hausmeister zuckte mit den Schultern.

„Na, wie Sie meinen ...“

Wenig später öffnete er die Apartmenttür im ersten Stockwerk.

„Bleiben Sie bitte zurück“, sagte Ben zu ihm, als er mit in die Wohnung kommen wollte.

Heike war bereits eingetreten.

Sandra Mohlen hielt ihr Zuhause offenbar penibel in Ordnung.

Eine Clownmaske entdeckte die Ermittlerin auf den ersten Blick nicht. Doch dafür erblickte sie im Wohnzimmer zwei große Pappkartons, die mit einem Teppichmesser geöffnet worden waren.

Die Hauptkommissarin zog sich Latexhandschuhe über und schaute hinein.

Jeder Karton enthielt vermutlich mehrere hundert Packungen eines Medikaments. Die Beschriftungen waren auf Spanisch.

Heike kannte den Markennamen nicht.

Aber sie ging davon aus, dass diese Tabletten in Deutschland verschreibungspflichtig waren.




10


Einbrüche waren unter seiner Würde.

Dennoch hatte er sich dazu entschlossen, das fremde Haus zu betreten. Eigentlich fühlte er sich sogar dort heimisch, wenn auch auf eine bizarre Art. So wie ein Alptraum, der immer wiederkehrt, einem irgendwann vertraut vorkommt.

Er schlenderte am Ufer entlang, unauffällig wie ein ganz normaler Spaziergänger oder Tourist.

Bei der frischen Brise waren zahlreiche Segelboote auf der Außenalster unterwegs. Er tat so, als ob er sich für die Wassersportaktivitäten interessieren würde.

Doch in Wirklichkeit plante er seinen nächsten Schachzug in dem Spiel, das er seinen Widersachern aufzwingen wollte.

Einen Augenblick lang dachte er daran, in der nahegelegenen Alsterperle eine Pause einzulegen.

Nein, das war keine gute Idee.

Erstens war er nicht erschöpft, seine Energiereserven schienen nicht begrenzt zu sein. Und zweitens durfte er sich nicht allzu lange an einem Ort aufhalten. Womöglich würde sich später die Bedienung oder einer der Stammgäste an ihn erinnern. Dieses Risiko war nicht lohnenswert.

Er musste sich selbst zur Langsamkeit zwingen, obwohl er jede Art von Trägheit hasste.

Aber Spaziergänger hasten nun einmal nicht durch die Gegend. Und er hatte sich für die Rolle eines harmlosen Flaneurs entschieden. In der beigen Windjacke und der blauen Billigjeans kam er sich beinahe unsichtbar vor. Er hasste diese Klamotten und wollte sie gleich nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Mission wegwerfen.

Doch als Tarnung waren sie unschlagbar.

Er bog vom Eduard-Rhein-Ufer in den Schwanenwik ab.

Schwanenwik.

Hier befand sich die größte Grillwiese Hamburgs. An schönen Sommertagen pulsierte auf dem Grünstreifen am Alsterufer das Leben.

Er war hingegen mehr am Tod interessiert.

Auch wenn momentan ein paar Unentwegte schon wieder ihre mobilen Grills anwarfen, würdigte er sie keines Blickes. Er bewegte sich langsam auf das obere Ende vom Schwanenwik zu. Dorthin, wo die exklusiven Villen standen.

Er grinste höhnisch, als er an der Bronzeplastik Drei Mann im Boot von Edwin Scharff vorbeikam.

Drei Mann im Boot?

Er hätte den beiden Kerlen so schnell wie möglich die Kehlen durchgeschnitten, um allein im Boot zu sitzen.

Dann konnte er nämlich dorthin steuern, wo es ihm gefiel. Und niemand würde ihn daran hindern.

Die Vorfreude auf den nächsten Mord ließ seinen Puls in die Höhe schnellen.

Noch musste er sich allerdings gedulden. Die Dinge wollten sorgfältig vorbereitet werden, damit die Wirkung später umso durchschlagender wurde.

Er näherte sich nun seinem Zielobjekt, einer eleganten hanseatischen Villa mit weißer Fassade. Natürlich hatte er recherchiert und wusste, dass sich momentan niemand daheim befand.

Nicht, dass die Anwesenheit von Personen ihn gestoppt hätte.

Trotzdem, so waren die Dinge einfacher zu regeln.

Er näherte sich dem Haus, als ob er heimkommen würde. Es gab eine Kameraüberwachung, die ihn nicht abschreckte.

Die Polizei würde die Aufnahmen niemals zu sehen bekommen.

Und das Hochsicherheitsschloss an der Eisenzaun-Pforte konnte seinem elektronischen Spezialdietrich nur wenige Sekunden widerstehen.

Er durchquerte den schmalen, aber penibel gepflegten Garten und öffnete die Haustür genauso einfach.

Auf Handschuhe verzichtete er.

Der Villenbesitzer würde ganz gewiss keinen Einbruch zur Anzeige bringen. Daran hatte er keinen Zweifel.

Mit den Händen in den Hosentaschen streifte er durch die Räume. Eine Atmosphäre gediegenen Wohlstands umgab ihn. Hochklassig, aber nicht protzig. Typisches hanseatisches Understatement eben. Kunstgegenstände, von deren Wert der Laie absolut nichts ahnte. Möbel von Designern mit italienischen Namen. Wo sollte er seine „Visitenkarte“ hinterlassen?

Er konnte sich einige Minuten lang nicht entscheiden, obwohl er Wankelmütigkeit zutiefst verabscheute.

Schließlich nahm er das Foto aus der Innentasche seiner scheußlichen Windjacke und lehnte es in der ultramodernen offenen Küche gut sichtbar gegen den chromblitzenden Kaffeeautomaten.

Spätestens am nächsten Morgen würden zumindest einige Hausbewohner das Bild zu sehen bekommen.

Es zeigte Paulina Olsen und Arno Lutter nackt auf einem Bett beim Sex.

Er grinste, als er die Tür hinter sich zuzog.

Die Vorstellung, anderen Leuten das Frühstück zu verderben, amüsierte ihn.

Und das war erst der Anfang.



11


René Gruber war bei einer Zeitarbeitsfirma als Lagerist angestellt.

Die Ermittler hatten zunächst die Wohnung des Mannes aufgesucht, der Paulina Olsen in der Vergangenheit sexuell belästigt haben sollte.

„Gruber schuftet jetzt bei FABAMAX im Hafen“, sagte eine Nachbarin zu Heike. „Ich hatte mal das zweifelhafte Vergnügen, ihn in der S-Bahn zu treffen und mit ihm bis Tiefstack fahren zu müssen. Da hat der Schleimbeutel mir gleich sein halbes Leben erzählt. War mir echt unangenehm, dass er neben mir saß.“

„Hat Gruber Sie belästigt?“, wollte Heike wissen.

Die Nachbarin grinste.

„Nee, das hat er sich nicht getraut. Er kennt ja meinen Mann und weiß, dass Dieter jede freie Minute im Fitnessstudio verbringt. Deshalb traut sich Gruber bei mir nichts. Trotzdem, es hat mir gereicht, wie er mich angeglotzt hat.“

„Und bei der Gelegenheit erfuhren Sie, dass René Gruber bei FABAMAX arbeitet?“, vergewisserte Ben sich.

„Ja, er düst da angeblich mit einem Gabelstapler durch die Gegend.“

Die Ermittler bedankten sich und verließen das unscheinbare Mietshaus in Bahrenfeld.

„Wenn Gruber einen Vollzeitjob hat, wird er wohl kaum tagsüber an der Alster Menschen attackieren können“, meinte Ben, während er den BMW Richtung Rothenburtsort lenkte.

„Du hast recht. Allerdings wird in Speditionen bekanntlich oft im Schichtbetrieb gearbeitet. Außerdem wäre es denkbar, dass Gruber momentan entweder krankgeschrieben ist oder Urlaub hat. Es kann jedenfalls nichts schaden, ihm auf den Zahn zu fühlen.“

Ben quittierte Heikes Bemerkung mit einem Kopfnicken.

Danach hatte sie wieder Gelegenheit, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Die Hauptkommissarin nahm sich vor, baldmöglichst den bürgerlichen Namen der obdachlosen Rio herauszufinden. Außerdem wollte sie erfahren, wie lange die junge Frau schon unter der Brücke wohnte.

Gewiss, sie konnte ein Zufallsopfer sein.

Doch wenn sie in unmittelbarer Umgebung der Alster lebte, war sie womöglich eine lästige Zeugin, die der Mörder unbedingt aus dem Weg räumen wollte. Nach Heikes Meinung bestand zumindest diese Möglichkeit.

Die Hauptkommissarin führte sich vor Augen, dass der Mord an Paulina Olsen bei Tageslicht ausgeführt worden war. Auf seiner halsbrecherischen Flucht musste der Täter irgendwann die Clownsmaske abgelegt haben und dann vermutlich in ein Auto gestiegen sein.

Falls es Zeugen gab, die ihn auf dieser Wegstrecke gesehen hatten und ihn beschreiben konnten, würden die Ermittlungen dadurch entscheidend vorangetrieben werden können.

„Wir sind da.“

Bens Stimme riss sie einige Zeit später aus ihren Überlegungen.

An Parkmöglichkeiten mangelte es bei FABAMAX nicht. Die Spedition befand sich unweit der S-Bahn-Station Tiefstack sowie des Kraftwerks mit demselben Namen. Hier gab es weit und breit keine Wohnbebauung. In diese Gegend kam man nur zum Arbeiten oder zum Ausliefern.

Auf dem FABAMAX-Gelände waren zahlreiche Trucks abgestellt, außerdem gab es große Lagerhallen mit Flachdächern. Die Ermittler betraten das kleine Bürogebäude, wo sich ihnen eine gestresst wirkende Dauerwellendame mit Headset zuwandte.

„Womit kann ich Ihnen helfen?“

Heike zeigte ihren Dienstausweis.

„Kripo Hamburg. Wir möchten mit René Gruber sprechen.“

Dauerwelle zog ihre Augenbrauen zusammen.

„Wieso? Hat er etwas ausgefressen? Dann fliegt er sofort! Wir dulden keine schweren Jungs in unserem Betrieb.“

„Immer mit der Ruhe, es geht nur um eine Zeugenaussage“, beschwichtigte die Hauptkommissarin. Noch gab es ja wirklich keinen Beweis dafür, dass Gruber in die Alster-Verbrechen verwickelt war.

Heikes Gegenüber wirkte einigermaßen beruhigt.

„Ach, so ist das. - Sie finden Gruber gleich hier drüben auf der linken Seite, in Halle zwei. Er fährt einen Gabelstabler.“

„Alles klar, ich danke Ihnen.“

Heike wandte sich von der Dame ab. Gemeinsam mit Ben ging sie in die große und mit Neonröhren hell beleuchtete Lagerhalle hinüber. Die Schiebetore standen weit offen. Nach Heikes Schätzung war der Bau fast so groß wie ein Fußballfeld.


In Plastikfolie eingeschweißte Kartons waren auf Paletten bis fast zur Decke gestapelt. Mehrere gelbe Gabelstapler flitzten herum. Ihre Motoren brummten, es handelte sich offenbar um Dieselstapler.

Heike rief einem der Fahrer zu: „Sind Sie Herr Gruber?“

Der Arbeiter schüttelte den Kopf.

„Da hinten!“

Er deutete nach rechts.

Die Hauptkommissarin hob grüßend die Hand und ging gemeinsam mit Ben in die Richtung. Dort rangierte gerade ein anderes Flurförderzeug. Der Fahrer hatte offenbar einen Warenstapel um weitere Kisten ergänzt.

Der Staplerfahrer bemerkte die Kriminalisten und warf ihnen einen misstrauischen Blick zu. Sein dunkles Haar war ungekämmt und stand vom Kopf ab. Zum Rasieren hatte er an diesem Tag entweder keine Zeit oder keine Lust gehabt. Er trug einen blauen Overall mit dem Firmenlogo von FABAMAX.

Heike hielt ihren Dienstausweis hoch.

„Herr Gruber?“, rief sie. „Könnten Sie bitte mal eben den Motor abstellen? Wir müssen mit Ihnen reden!“

Der Staplerfahrer reagiert prompt, das musste man ihm lassen. Allerdings nicht in dem Sinn, wie die Ermittler es sich gedacht hatten.

Er riss nämlich das Lenkrad herum und trat gleichzeitig aufs Gas.

Die Maschine machte einen Satz auf Heike zu.

Auch ein Dieselstapler schaffte nicht mehr als zwanzig Stundenkilometer. Dennoch war es kein Spaß, von so einem kraftstrotzenden Monstrum angefahren zu werden. Heike konnte im letzten Moment zur Seite springen und der Kollision ausweichen.

Ben versuchte, Gruber am Bein zu packen und von seinem Sitz zu zerren. Es gelang ihm, sich den Kerl zu greifen.

Doch dann verpasste Gruber dem Hauptkommissar einen Hieb mit einem Schraubenschlüssel.

Ben schrie auf, ließ los und taumelte zurück.

Inzwischen war Heike wieder auf den Beinen.

Gruber flankte von dem Gabelstapler herunter und rannte auf den Ausgang zu.

„Stehenbleiben!“, rief die Hauptkommissarin gellend. Er hörte nicht auf sie.

Heike eilte zu Ben hinüber, der sich stöhnend an die Stirn fasste.

„Bist du okay?“

„Ich habe das verflixte Werkzeug nicht gesehen, der Kerl hat mich kalt erwischt. - Schnapp ihn dir, Heike!“

„Darauf kannst du wetten!“

Gruber hatte inzwischen einen beachtlichen Vorsprung herausgearbeitet. Heike hätte auf ihn schießen können, aber sie wollte unnötiges Blutvergießen vermeiden. Außerdem deutete nichts darauf hin, dass er einen Schusswaffe hatte.

Der schwere Schraubenschlüssel war nach der Attacke auf Ben heruntergefallen. Die Hauptkommissarin hob ihn vom Betonfußboden hoch, holte aus und ließ das Werkzeug wie eine Bumerang durch die Luft schnellen.

Der Schraubenschlüssel knallte gegen Grubers linkes Fußgelenk.

Damit hatte er nicht gerechnet. Der Flüchtende geriet ins Straucheln.

Heike wartete den möglichen Erfolg ihrer Wurfaktion nicht ab, sondern war schon losgesprintet.

Als Gruber sich wieder gefangen hatte und weiterlaufen wollte, erreichte sie ihn. Heike sprang ihren Widersacher an wie eine Raubkatze.

Gemeinsam gingen sie zu Boden. Gruber fluchte und wollte sie abschütteln, doch einem Kampf mit ihm fühlte Heike sich durchaus gewachsen. Bei ihrem Kung-Fu-Training war es die Regel, dass ihre Sparringspartner größer und schwerer waren als sie selbst. Damit konnte man bei ihr nicht punkten.

Hingegen verriet Grubers Atem auf ihrem Gesicht, dass er noch einen gewissen Restalkoholgehalt im Blut haben musste.

„War die vergangene Nacht anstrengend, Herr Gruber?“, zischte Heike, während sie ihm den rechten Arm auf den Rücken drehte und ihm ihr Knie ins Kreuz drückte. „Sind Sie deshalb so schlecht auf die Polizei zu sprechen?“

Der Staplerfahrer murmelte etwas, das bestimmt keine Freundlichkeit war. Vielleicht kapierte er jetzt erst so richtig, in welche Lage er sich gebracht hatte.

Doch darüber hätte er nach Heikes Ansicht früher nachdenken sollen.

Ben kam nun mit den Handschellen.

Nachdem der Hauptkommissar den Verdächtigen gründlich durchsucht hatte, wurde er gefesselt und in dem BMW zum Polizeipräsidium chauffiert.



12


Freddy Clemens wollte Rache.

Rio war so ein zartes und liebes Mädchen. Sie hatte den ehemaligen Schiffskoch stets an seine eigene Tochter erinnert, die er seit seiner Scheidung vor zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Wie konnte jemand so grausam sein, und ein solches Wesen einfach brutal niederstechen? Ohne ersichtlichen Grund?

Er hatte seine Freunde unter dem Lombardsbrücke versammelt. Alle waren anwesend: Marek, der Pole, Günter aus Neubrandenburg, die rote Rosi, Malle-Jörn, der Tscheche mit dem unaussprechlichen Namen und noch ein paar Randfiguren, die Freddy nur flüchtig kannte.

„Ich hoffe, dass die Bullen den Drecks-Clown erwischen“, sagte Clemens mit rauer Stimme. „Aber ich verlasse mich nicht darauf.“

„Wie meinst du das?“, wollte Malle-Jörn wissen. Seine Sonnenbräune zeugte davon, dass er wirklich lange Zeit auf der spanischen Sonneninsel gelebt hatte. Doch dann war er dort irgendwie unter die Räder geraten und auf Umwegen zurück in seine Heimatstadt an der Elbe gelangt. Geblieben waren ihm nur noch Erinnerungen, so wie den meisten Lombardsbrücken-Leuten.

„Ganz einfach, mein Freund. Wir alle werden ab sofort die Augen offenhalten, kapiert? Wir gehen ganz normal unserem Tagwerk nach, wie immer. Doch wir sollten niemals unbewaffnet sein, vor allem die Frauen nicht.“

Bei dem letzten Satz schaute er die rote Rosi an.

„Keine Sorge, ich habe meine Pfefferladung immer dabei.“

Sie hielt ihre kleine Spraydose hoch.

Clemens nickte. Er kniff die Augen zusammen, seine nächsten Worte klangen eindringlich.

„Ich bitte euch alle, die Augen aufzuhalten. Dieser verfluchte Mistkerl wird wieder zuschlagen, das spüre ich. Aber diesmal sind wir vorbereitet. Sagt auch den Anderen Bescheid. Das Alsterufer ist unser Zuhause, wir kennen hier jeden Bootssteg und jeden Baum. Sobald einer von uns den Hurensohn zu Gesicht bekommt, alarmiert er die Anderen.“

„Und was sollen wir dann tun?“, fragte Marek.

„Na, was schon?“

Clemens ließ das abgesägte Stahlrohr aus dem rechten Ärmel seiner Seemannsjacke gleiten. Er hatte es einmal auf einem Schrottplatz gefunden. Das Rohr war fast so lang wie sein Unterarm und hatte ihm schon gute Dienste geleistet, als Jugendliche ihn einmal aus Spaß hatten zusammenschlagen wollen.

Clemens‘ Fingerspitzen glitten beinahe zärtlich über das kalte Metall.

„Glaubt mir, ich kenne Typen wie diesen Horror-Clown. Sie ziehen sich an der Angst und dem Schrecken hoch, den sie verbreiten. Doch sie rechnen nicht damit, dass man ihnen die Stirn bietet. Schon gar nicht solche Leute wie wir. In deren Augen sind wir Abschaum, der absolute Bodensatz. Sie glauben, uns als Fußabtreter benutzen zu können. - Aber diesmal sollen sie sich getäuscht haben!“

Alle Anwesenden nickten zustimmend.

Clemens wusste, dass seine Freunde Rio genauso gern mochten wie er selbst. Und selbst die Außenseiter und Pazifisten unter ihnen hatten sich inzwischen bewaffnet - mit Knüppeln, Kieselsteinen in einer alten Socke, mit Messern und Eisenstangen.


Der bärtige Mann brannte darauf, dem Horrorclown zu begegnen.

Es war ihm egal, wenn er danach ins Gefängnis geworfen wurde.

Aber dieser Bastard sollte für das bezahlen, was er Rio angetan hatte.



13


Heike und Ben schafften Gruber zum Verhör ins Präsidium.

Während der Verdächtige in einen Verhörraum gebracht wurde, wollte die Hauptkommissarin noch schnell im Großraumbüro der Sonderkommission Mord seinen Namen durch die Datenbanken jagen.

Da wurde sie von Koslowski angesprochen. Der Kommissar sah wie üblich so aus, als ob er auf einer Parkbank genächtigt hätte. Doch trotz seiner gewöhnungsbedürftigen Erscheinung war er ein zuverlässiger und engagierter Kollege.

„Heike, um zwölf Uhr ist eine außerordentliche Einsatzbesprechung anberaumt. Es kann sein, dass Melanie und ich euch bei dem Alsterclown-Fall unterstützen werden.“

„Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, Rüdiger. Wir haben zwar gerade einen Verdächtigen verhaftet, aber ich habe keine Ahnung, ob er der Richtige ist.“

„Ihr werdet das Kind schon schaukeln. - Ach, bevor ich es vergesse: Unter den Fingernägeln von diesem Lars Krone konnte verwertbare DNA eines Mannes sichergestellt werden. Ihr habt also Material für einen Abgleich.“

„Das sind gute Nachrichten“, erwiderte Heike.

Sie warf ihren PC an. Wenig später stellte sie fest, dass Gruber kein unbeschriebenes Blatt war. Es existierte bereits eine Polizeiakte von ihm, da er vor sieben Jahren wegen exhibitionistischer Handlungen zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Seitdem war er entweder nicht mehr straffällig geworden oder hatte sich nicht mehr erwischen lassen.

Paulina Olsen konnte ihn jedenfalls nicht angezeigt haben, andernfalls wäre es in der Akte vermerkt gewesen.

Heike holte sich noch einen Kaffee und begab sich zum Verhörraum, wo Gruber und Ben bereits Platz genommen hatten.

Durch seinen Angriff auf einen Polizeibeamten hatte der Verdächtige sich ins eigene Fleisch geschnitten. Wenn er den Ermittlern an seinem Arbeitsplatz einfach nur etwas vorgelogen hätte, wären Heike und Ben die Hände gebunden gewesen. Nun aber konnten sie ihn sich zumindest wegen dieser Attacke zur Brust nehmen.

Momentan spielte Gruber den reuigen Sünder.

Er warf Heike einen treuherzigen Dackelblick zu, als sie durch die Tür kam.

„Ich habe mich gerade schon bei Ihrem Kollegen entschuldigt, weil ich so ausgerastet bin. Tut mir echt leid, meine Nerven sind nicht die besten. Soll nicht wieder vorkommen.“

Ben deutete auf Grubers Handgelenk.

„Es muss ja einen Grund für Ihre Attacke geben. - Sie haben da einen Stempelaufdruck vom Club 71 auf St. Pauli. Haben Sie dort kürzlich Party gemacht? Was würde wohl geschehen, wenn wir uns in dem Laden nach Ihnen erkundigen?“

Der Verdächtige presste die Lippen aufeinander, bevor er antwortete.

„Womöglich habe ich gestern Abend ein wenig über die Stränge geschlagen. Deshalb dachte ich, die Leute vom Club hätten mir die Bullen auf den Hals gehetzt.“

„Nein, es geht uns um eine ganz andere Sache“, sagte Heike. „Ben, hast du Herrn Gruber schon über seine Rechte belehrt?“

„Ja, aber ich erwähnte noch nicht, dass eine Mordanklage im Raum steht.“

„Mord?“

Der Kerl zuckte zusammen, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte.

Er stieß hervor: „Wen sol ich denn umgebracht haben?“

„Diese Frau.“

Heike legte ihm ein Foto von Paulina Olsen vor, wobei sie Grubers Gesichtszüge genau beobachtete.

„I-ich weiß nicht, wer das ist!“

Die Hauptkommissarin kniff die Augen zusammen.

„Sie sind ein miserabler Lügner, Herr Gruber. Wollen Sie uns für dumm verkaufen? Wir sprechen hier über Paulina Olsen, eine ehemalige Arbeitskollegin von Ihnen. Sie haben damals für WIBERTCO gearbeitet.“

„Ach ja ... jetzt erkenne ich sie auch wieder. WIBERTCO ist ein Riesenbetrieb, da kann man nicht alle Kollegen kennen.“

„Zumindest an Paulina Olsen sollten Sie sich aber erinnern“, warf Ben ein. „Schließlich sind Sie wegen ihr gefeuert worden.“

Gruber wirkte auf Heike in diesem Moment wie ein Schuljunge, der bei einem Streich ertappt worden ist. Hatte er sich wirklich eingebildet, dass die Polizei diese Geschichte nicht herausfinden würde?

Der Verdächtige senkte den Kopf. Ob er sich jetzt überlegte, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte? Nach Heikes Ansicht schien er nicht der Hellste zu sein.

„Das ist doch Schnee von gestern“, nuschelte er schließlich.

„Ja, aber die Folgen Ihrer Begegnung mit dieser Frau dürften Sie jeden Monat auf Ihrer Lohnabrechnung sehen“, mutmaßte die Hauptkommissarin. „Ich bin keine Tarifexpertin, aber ein Konzern wie WIBERTCO zahlt gewiss besser diese Spedition, bei der Sie jetzt arbeiten.“

„Ich hab jetzt fast dreihundert Mäuse weniger im Monat!“, platzte Gruber heraus. „Und das nur, weil diese arrogante Ziege mich damals falsch beschuldigt hat!“

Heike hob die Augenbrauen. Es war ihr anscheinend gelungen, den Verdächtigen aus der Reserve zu locken. Das war im Verhör immer ein Fortschritt. Jetzt musste sie nur verhindern, dass er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog.

„Also hatten die Vorwürfe gegen Sie keine Grundlage?“

„Nein, überhaupt nicht. Vielleicht habe ich das Biest mal etwas länger angeschaut, denn sie sah ja wirklich verflixt gut aus. Angefasst habe ich sie jedenfalls nie, das schwöre ich. Es hatte wohl auch seinen Grund, dass sie mich nie bei den Bullen angezeigt hat. Sie wusste nämlich genau, dass sie damit nicht durchkommen würde.“

Ben ergriff das Wort.

„Wenn Sie unschuldig waren, weshalb sind Sie dann nicht gegen Ihre Kündigung vorgegangen?“

Gruber zuckte mit den Schultern.

„Wozu, Herr Kommissar? In der Firma hätte ich doch kein Bein mehr an die Erde bekommen. Dass mein damaliger Oberboss Lutter in die Olsen verknallt war, konnte doch ein Blinder ohne Krückstock sehen! Der hätte doch alles gemacht, was sein süßer Liebling von ihm verlangte.“

Heike hakte nach.

„Sie behaupten also, dass Paulina Olsen mit ihrem Chef eine Affäre hatte?“

Gruber verzog den Mund.

„Beweisen kann ich es natürlich nicht. Ich war ja nicht dabei, wenn die beiden zusammen in die Kiste gestiegen sind. Aber als Mann habe ich ein Gespür für so etwas ...“

Er leckte sich genüsslich die Lippen.

„Soso“, sagte Heike unbeeindruckt. „Was ist mit dieser Frau? Kennen Sie die auch nicht?“

Sie zeigte Gruber ein Foto von Rios schmerzverzerrtem Gesicht. Der Kriminaldauerdienst hatte es kurz nach dem Überfall aufgenommen und der Hauptkommissarin zukommen lassen.

„Die sieht ja übel aus!“, meinte der Verdächtige.

„Kein Wunder, sie wurde kurz vor der Aufnahme niedergestochen. - Also, erkennen Sie die Person wieder?“

Er schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, ganz bestimmt nicht.“

Diesmal fand Heike Grubers Aussage glaubhaft. Doch letztlich zählten nur die Fakten. Sie fragte: „Und wo waren Sie gestern gegen neunzehn Uhr und heute gegen acht Uhr?“

„In der Spedition natürlich!“

„Sie arbeiten aber lange“, stellte die Hauptkommissarin fest.

„Ja, momentan müssen wir Überstunden kloppen. Wir stempeln, wenn wir kommen und wenn wir gehen. Außerdem haben wir Überwachungskameras im Außenbereich. Darauf kann man sehen, wer das Gelände verlässt und wer nicht. Das können Sie überprüfen.“

„Keine Sorge, das werden wir tun“, versicherte Ben. „Wegen des Angriffs auf meine Kollegin und mich werden Sie sich auf jeden Fall verantworten müssen.“

Es dauerte nicht lange, Grubers Alibi zu checken. Er hatte zur jeweiligen Tatzeit die Lagerhallen nicht verlassen und konnte als Mordverdächtiger ausgeschlossen werden.

„Ich hoffe, dass Rio bald aufwacht“, sagte Heike zu Ben. „Sobald wir die Einsatzbesprechung hinter uns gebracht haben, sollten wir das Umfeld der jungen Frau genauer durchleuchten.“



14


Holger Kessler wollte Spaß.

Er hatte an diesem Tag lang geschlafen, denn sein Studium nahm er nicht allzu ernst. Nach dem Aufstehen gegen elf Uhr hatte er sich einen starken Kaffee gebraut und ein wenig im Internet gesurft.

Die sozialen Medien waren voller Posts zu den Horrorclown-Anschlägen. Kessler grinste zufrieden. Er mochte Chaos und Durcheinander. Wenn Spießer in Panik verfielen, ging ihm das Herz auf.

Und er beschloss, die Stimmung noch ein wenig mehr anzuheizen.

Es klingelte an der Wohnungstür.

Normalerweise reagierte Kessler allergisch darauf, zu nachtschlafender Zeit gestört zu werden. Doch an diesem Tag war er schon aufgestanden und erwartete zusätzlich eine Paketsendung.

Und er wurde nicht enttäuscht.

Nachdem er den Türsummer betätigt hatte, erklomm der Paketbote die Altbautreppe im Schanzenviertel und händigte Kessler ein Päckchen aus.

Es enthielt eine Horrorclown-Maske von erlesener Hässlichkeit.

Kessler zog sich das Kunststoffteil vor dem großen Wandspiegel im WG-Flur sofort über. Er musste zugeben, dass man mit dieser Aufmachung wirklich Leute erschrecken konnte.

Dafür brauchte man noch nicht mal ein Messer.

Kessler plante, sich selbst bei seiner Aktion mit dem Smartphone zu filmen. Wenn die Sache gut über die Bühne ging, konnte er locker an einem Tag mehrere tausend Klicks einheimsen. Vielleicht sogar noch mehr.

Die Vorfreude jagte Kesslers Puls in die Höhe. Er stand auf Action - vor allem, wenn für ihn selbst kein Risiko bestand. Bei diversen Ballerspielen hatte er sich schon so manche Nacht um die Ohren geschlagen, ohne sich jemals eine Kugel einzufangen. Logisch, am Keyboard eines Computers war das schlecht möglich.


Und dieses Alster-Ding schien ihm ebenfalls ziemlich ungefährlich zu sein. Er musste sich nur eine junge Frau beim Spazierengehen suchen, ihr einen gewaltigen Schreck einjagen - und schon war ihm die Anerkennung der Internet-Gemeinde sicher. Klar, ein paar Spaßbremsen würden wieder mal etwas zu meckern haben und die Moralkeule schwingen. Doch das war Kessler egal.

Auf den Applaus von verknöcherten Spießern konnte er verzichten.

Voller Tatendrang schwang er sich auf sein Mountainbike. Kessler trug seine übliche Alltagskleidung: Jeans, die an den Knien abgeschnitten waren, schwarze Turnschuhe und ein dunkle Kapuzenshirt mit einem Totenkopf auf dem Rücken.


Er düste Richtung Alster. Unweit der Krugkoppelbrücke kettete er sein Gefährt an einen Laternenpfahl. Dann schob er die Hände in die Hosentaschen und schlenderte lässig an der Fernsicht entlang, wobei er den Bobby Reich Bootssteg rechts liegenließ. Hier waren für seinen Geschmack noch zu viele Passanten unterwegs. Man musste damit rechnen, dass einer von ihnen den Helden spielen wollte und Kessler den Spaß verdarb.

Das durfte nicht geschehen.

Zwanzig Minuten lang schlich Kessler am Ufer unterhalb der Straße Bellevue am Alsterufer entlang. Entlang des Spazierwegs gab es zahlreiche Bäume

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Olivia Prodesign, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6566-0

Alle Rechte vorbehalten

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