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Todesschwadron von Lissabon - Prolog

Joao sah die Sterne blinken. Sie strahlten genauso hell wie in seiner Heimat Angola. Der junge Schwarze blinzelte irritiert. Er hatte seine Flucht kurz unterbrochen, um Atem zu schöpfen. Joao legte den Kopf in den Nacken.

Ja, die Himmelskörper konnte man klar erkennen. In dieser Nacht hatte sich der Dunst- und Smogschleier über der portugiesischen Hauptstadt Lissabon weit genug gehoben. Eine frische Brise vom Atlantik her sorgte für Kühle.

Plötzlich flammten Scheinwerfer auf!

Der siebzehnjährige Schwarze wurde erneut von der Panik gepackt. Einige Momente lang hatte er sich eingeredet, seine Verfolger wären von seiner Fährte abgekommen. Aber das war nur Wunschdenken gewesen.

Joao war kein Engel. Er hatte gestohlen, geraubt und geprügelt, seit er vor einem Jahr nach Portugal gekommen war. Aber er hatte niemals einen Menschen getötet. Doch in dieser Nacht wurde er gejagt wie ein Massenmörder. Joao wusste, dass er vor keinem Gericht landen würde. Das Strafmaß stand ohnehin fest, wenn seine Richter ihn erwischten.

Die Todesstrafe.

Doch noch hatten sie ihn nicht in ihren Klauen. Joao wollte kämpfen bis zum letzten Atemzug. Er wusste nicht, wer diese maskierten Männer in schwarzem Leder waren, die ihm ans Leben wollten. Es spielte auch keine Rolle für ihn. Sie hatten schon einige von seinen Freunden getötet, und zwar brutal und rücksichtslos. Das war alles, was Joao wissen musste.

Er tat nun das, was er in seinem jungen Leben schon erstklassig gelernt hatte – nämlich davonzulaufen. Die Autoscheinwerfer griffen wie riesige Geisterfinger nach ihm. Joao war unten am Hafen, unweit des Doca da Alcántara. Er sprang über die Bahngleise, hinter denen das trübe Wasser des Rio Tejo im Mondlicht glitzerte. Hier unten war um diese Zeit keine Menschenseele, außer ihm selbst und seinen Verfolgern natürlich.

Aber – waren es überhaupt Menschen, die hinter ihm her jagten? Joao war abergläubisch. Er trug ein Amulett um den Hals, das ihn vor dem bösen Blick beschützen sollte. Gegen diese Dämonen in schwarzem Leder war das Schmuckstück allerdings leider machtlos. Jedenfalls verkürzten sie den Abstand zu Joao. Der Junge konnte so schnell rennen wie er wollte – der Geländewagen mit 4-Wheel-Drive würde ihn immer einholen können.

Joao schlug einen Haken. Er sprang an einem Maschendrahtzaun hoch, kletterte katzengleich über das Hindernis hinweg. Er spürte kaum, wie der Stacheldraht auf der Krone ihm die Haut aufriss. Was waren diese kleinen Wunden im Vergleich zum sicheren Tod, der ihm bevorstand, wenn er sich erwischen ließ?

Auf der andere Seite des Zauns sprang Joao wieder herunter. Er gestattete sich einen Blick über die Schulter. Der Wagen war mit quietschenden Bremsen vor dem Maschendrahtgitter zum Stehen gekommen.

Eine Welle der Erleichterung durchströmte Joaos mageren Körper. Er genehmigte sich sogar ein selbstbewusstes Grinsen und zeigte seinen Verfolgern den Mittelfinger. Aber lange hielt er sich nicht auf. Joao machte sich zwischen einigen Containern aus dem Staub. Zu spät wurde ihm bewusst, dass er seine Gegner unterschätzt hatte.

Plötzlich erschienen vor ihm einige dunkle Gestalten. Sie hielten lange Rohre oder Stöcke in den Fäusten. Joao biss sich auf die Unterlippe. Er drehte sich um. Aber auch hinter ihm kamen zwei oder drei Maskierte auf ihn zu. Der junge Afrikaner befand sich in einer schmalen Gasse zwischen zwei Containern. Es war unmöglich, zu entkommen.

Joaos verzweifelter Schrei ertönte. Doch das flehende Geräusch wurde zu einem Gurgeln, als die ersten Hiebe mit den Eisenstangen seinen Körper trafen. Joao fiel in einen Abgrund der Schmerzen, bis eine gnädige Ohnmacht ihn erlöste. Dass er starb, bekam er gar nicht mehr mit.

Die Sterne leuchteten immer noch über dem Rio Tejo, als ob nichts geschehen wäre. Vielleicht lag es daran, dass solche nächtlichen Ereignisse in Lissabon nicht selten waren.

 

 

 

1. Kapitel


Der Himmel über Wiesbaden war wolkenverhangen. Kriminaloberkommissarin Lisa Janowsky schaute missmutig durch die Kantinenfenster des Bundeskriminalamtes nach draußen. Dann wandte sie sich wieder der Kriminalkommissarin Jasmin Brunner zu. Lisa schob ihre Salatschüssel weg.

»Mir ist der Appetit vergangen. Dieser miese Gurkensalat passt wirklich erstklassig zu dem Tag, an dem du fortgehst.«

Jasmin versuchte zu lächeln, was ihr nicht ganz gelingen wollte.

»Du tust so, als würde ich nach Neuseeland auswandern. Europa ist klein, liebe Freundin, und Den Haag ist nicht so furchtbar weit von Wiesbaden entfernt.«

»Weit genug, finde ich«, seufzte Lisa. »Darf ich dich daran erinnern, dass du gar kein Holländisch sprichst?«

»Jetzt ist es wohl etwas zu spät, um darauf noch Rücksicht zu nehmen«, erwiderte Jasmin. »Außerdem weißt du genau, dass die Europol überall in Europa eingesetzt wird. In Den Haag befindet sich lediglich das Hauptquartier.«

Diese Tatsache war Lisa natürlich ebenfalls bekannt. Jasmin spürte, wie sehr ihre Freundin unter dem bevorstehenden Abschied litt. Aber die junge Kriminalkommissarin hatte sich nicht aus Spaß bei der Europol, der europäischen Polizeibehörde, beworben. Dort arbeiteten Beamte aus verschiedenen Ländern des Kontinents, um die grenzüberschreitende und internationale Kriminalität einzudämmen. Jasmin fieberte ihren neuen Aufgaben schon entgegen, obwohl auch sie sich nur schwer von Lisa trennen konnte. Die beiden Frauen waren während ihrer Zeit beim BKA gute Freundinnen geworden.

Das Gespräch an ihrem Kantinentisch verstummte. Man hörte nur das Besteckklappern der anderen Speisenden und Wortfetzen, die an anderen Tischen gesprochen wurden. Schließlich hielt Lisa die Stille nicht mehr aus.

»Weißt du denn schon, wo genau du eingesetzt wirst?«, fragte sie, um etwas zu sagen.

»Ja, beim Department Serious Crime, genauer gesagt SC 1. Dort geht es um Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Ich bin der Gruppe Shaw zugeteilt, und ...«

»Gruppe Shaw?« Lisa horchte auf. »Bist du sicher?«

»Ja, ich habe es schwarz auf weiß.« Jasmin trank einen Schluck Mineralwasser. »Wieso, kennst du jemanden in dieser Einheit?«

Lisa machte ein Gesicht, als ob ihre Freundin sie gefragt hätte, ob sie Spinnen essen würde.

»Nein, ganz gewiss nicht! Aber ich weiß jetzt, dass du wirklich den größten Fehler deines Lebens gemacht hast, indem du unbedingt zur Europol wolltest.«

»Du sprichst in Rätseln, Lisa.« Jasmin runzelte die Stirn. »Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist, weil ich fortgehe, aber ...«

»Können wir das für den Moment einmal ausklammern?« Lisa beugte sich vor und redete beinahe beschwörend auf ihre Freundin ein. »Gibt es nicht einen Weg, wie du deine Entscheidung rückgängig machen kannst? Vielleicht mit einem ärztlichen Attest?«

»Was weißt du über diese Gruppe Shaw?«, fragte Jasmin. »Du bist doch eben richtig zusammengezuckt, als ich sagte, dass ich dort eingesetzt werde.«

»Bin ich das? Okay, ich mache mir eben Sorgen um dich. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich über diese Gruppe Shaw erzählt, dann bist du dort wirklich fehl am Platz.«

»Könntest du aufhören, in Rätseln zu sprechen?« Jasmin wurde allmählich ärgerlich. »Was hast du denn an Gerüchten über diese Einheit aufgeschnappt, wenn ich fragen darf?«

Lisa seufzte. Sie schaute nach links und rechts, aber niemand schien den beiden Kriminalistinnen zuzuhören. Jasmins Freundin beugte sich vor und sprach noch etwas leiser.

»Zunächst ist da Shaw selbst, der Leiter dieser Gruppe. Er ist ein eiskalter Sadist, der sich den Teufel um Gesetze und Dienstvorschriften schert. Er hat etwas Unheimliches an sich.«

»Aber ein VaMPir ist er nicht, oder?«

»Jasmin, das ist nicht lustig! Ich frage mich, warum sie ausgerechnet dich in die Gruppe Shaw gesteckt haben.«

»Vielleicht, weil dort gerade eine Planstelle zu besetzen war?«

»Und das macht dich nicht hellhörig? Willst du wirklich so werden wie dieser Shaw, nur um bei der Polizei Karriere zu machen?«

Jasmin konnte ihren Ärger nun nicht länger verbergen.

»Ich muss mich über dich wundern, Lisa. Du als BKA-Beamtin müsstest doch die Unschuldsvermutung kennen. Sie gilt für Verdächtige, warum nicht auch für Polizisten? Wenn dieser Shaw wirklich ein so übler Typ wäre, hätte man ihn gewiss längst vom Dienst suspendiert.«

»Meine liebe Kleine, du bist vielleicht naiv.«

Jasmin konnte es nicht ausstehen, wenn man sich über ihre geringe Körpergröße lustig machte. Und Herablassung hatte sie auch noch nie gemocht.

»Ich bin naiv, weil ich glaube, dass die Polizei sich an die Gesetze hält? Du hast Recht, dann bin ich wirklich hoffnungslos weltfremd.«

»Sag mal, willst du mich nicht verstehen? Natürlich hält sich die Polizei an die Gesetze, auch Europol tut das.«

»Und wo ist dann das Problem?«

»Das Problem besteht darin, dass dieser Shaw so raffiniert vorgeht. Man kann ihm niemals nachweisen, wie er mit den Dienstvorschriften umspringt. Der Mann muss ein schlauer Teufel sein.«

»Ich glaube, du hast zu viel Fantasie, Lisa. Wenn ich dich richtig verstehe, kannst du gegen meinen zukünftigen Vorgesetzten nichts anderes vorbringen als Kantinentratsch.«

»Dein zukünftiger Vorgesetzter!« Lisa äffte Jasmins norddeutsche Sprechweise mit den lang gezogenen Vokalen nach. »Du klingst ganz wie eine eiskalte Karrierefrau.«

Jasmin musste sich auf die Zunge beißen, um es ihrer Freundin (oder ehemaligen Freundin?) nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen. Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass Lisa so missgünstig und neidisch sein könnte. Sollte sie doch beim Bundeskriminalamt versauern, während Jasmin bei Europol Karriere machte!

Entsprechend kühl fiel der Abschied der beiden Kriminalistinnen aus. Jasmin telefonierte abends in ihrem möblierten Apartment noch kurz mit ihren Eltern in Lübeck. Ansonsten gab es keine großartigen Abschiedszeremonien, denn einen festen Freund hatte Jasmin zurzeit nicht.



Jasmin stand am nächsten Morgen vor dem Europol Headquarter und schaute an der Fassade hoch. Das Gebäude von Europol war für Jasmin auf den ersten Blick eine Enttäuschung. Es war ein denkmalgeschütztes, zum Teil mit Efeu überwuchertes klosterartiges Haus im alten Stadtkern von Den Haag. Im Vergleich zum hässlichen, aber zweifellos modernen Gebäudekomplex des Bundeskriminalamtes wirkte es geradezu mickrig.

Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Behörde zurzeit von dem ehemaligen BKA-Abteilungspräsidenten Max-Peter Ratzel geführt wurde. Und was für den gut genug war, sollte auch für eine kleine Kriminalkommissarin ausreichen. Jedenfalls redete Jasmin sich das ein.

Sie betrat das Gebäude. Jasmin trug an diesem Morgen ein unauffälliges graues Geschäftskostüm. Ihr blondes Haar hatte sie hoch gesteckt. Außerdem hatte sie Schuhe mit den höchstmöglichen Absätzen gewählt, die im Dienstalltag vertretbar waren, um größer zu wirken. Das war zwar kindisch, aber sie litt nun einmal unter ihrer mangelhaften Körperlänge. Die vorgeschriebene Mindestgröße für Beamtinnen der Bundespolizei hatte sie buchstäblich auf den Millimeter genau erreicht (Jasmin glaubte immer noch, dass der Arzt ihr zuliebe nach oben aufgerundet hatte).

An der Sicherheitsschleuse präsentierte sie ihren BKA-Dienstausweis. Eine Beamtin mit holländischem Akzent wandte sich an sie.

»Officer Brunner? Sie sind auf die Minute pünktlich. Senior Officer Shaw erwartet Sie bereits.«

Die neue Kollegin, die sich nicht vorstellte, führte Jasmin in das zweite Stockwerk. Die junge Kommissarin schämte sich innerlich für ihren vorschnellen ersten Eindruck. Europol war zwar in einem Dornröschenschloss untergebracht, verfügte aber über eine hochmoderne Ausrüstung und Kommunikationsmittel. Das wurde Jasmin schon nach wenigen Seitenblicken klar. Überall saßen junge Beamte vor Hochleistungsrechnern. Hier wurde das Verbrechen mit den neuesten Hightech-Errungenschaften bekämpft.

Je mehr sie sich Shaws Bürotür näherten, desto aufgeregter wurde Jasmin. Sie stellte genervt fest, dass ihre Handflächen feucht waren. Sie wünschte sich mehr Coolness. Unwillkürlich fielen ihr die Dinge ein, die Lisa Janowsky am gestrigen Tag über Shaw gesagt hatte. Ein Sadist sollte er sein, der sich nicht an Gesetze und Vorschriften hielt. Wie er wohl seine Untergebenen behandelte? Jasmin musste sich eingestehen, dass Lisas Worte bei ihr eine Wirkung hinterlassen hatten.

Die holländische Kollegin klopfte kurz und trat dann ein. Jasmin folgte ihr, ein verkrampftes Lächeln auf dem Gesicht.

Shaw saß hinter einem breiten altmodischen Schreibtisch. Sein Gesicht war blass, das kurz geschnittene Haar beinahe weißblond. Am meisten irritierte Jasmin, dass er keine Augenbrauen besaß. Außerdem wirkte die Haut an seiner Stirn und seiner linken Wange irgendwie fehl am Platz. Seine Figur konnte man als hager bezeichnen, soweit das unter dem dunklen Anzug eingeschätzt werden konnte.

Ihr zukünftiger Chef stand auf und reichte ihr die Hand. Beruhigt stellte Jasmin fest, dass er nicht größer war als sie selbst (und sie trug hohe Absätze). Erschreckend war allerdings sein Händedruck. Er fühlte sich an wie der einer Leiche.

»Willkommen bei Europol, Officer Brunner!«, sagte Shaw. Dann wandte er sich an die Holländerin: »Könnten wir wohl bitte Kaffee bekommen, falls es keine Umstände macht?«

Die Kollegin nickte und machte sich aus dem Staub. Shaw bot Jasmin seinen Besucherstuhl an, den er höchstpersönlich für sie zurechtrückte.

»Ich trinke lieber Tee«, sagte er im Plauderton, »aber ich dachte mir, dass Sie als Deutsche gewiss einen Kaffee bevorzugen würden. Sie werden sich in den nächsten Tagen noch an genügend neue Dinge gewöhnen müssen. Da ist es wichtig, wenigstens einige vertraute Gewohnheiten zu bewahren, denke ich.«

Jasmin fand Shaw auf Anhieb sympathisch. Die bösen Gerüchte über ihn konnte man gewiss als missgünstigen Kantinentratsch abhandeln. Sie hatte noch niemals einen Vorgesetzten gehabt, der ihr sofort so gut gefallen hatte. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie ihn auch als Mann betrachtete ... Wie alt er wohl sein mochte? Shaw gehörte zu den Männern Marke »ewiger Konfirmand« – sein Jungengesicht konnte sowohl 25 als auch 45 Jahre alt sein. Bisher hatte Jasmin solche Typen nie gemocht. Sie beschloss, auf der Stelle ihre Meinung zu ändern.

Sie tranken Kaffee, während Shaw ihr einige allgemeine Informationen über Europol gab – von den Feinheiten der Spesenabrechnung bis zum Einlösen der Essensmarken für die Kantine. Dann schob er Jasmins neuen fälschungssicheren Dienstausweis über die Schreibtischplatte.

»Wir gehen gleich noch gemeinsam in die Waffenkammer, Officer Brunner. Ich bin froh, Sie im Team zu haben. Ab sofort werden Sie direkt mit mir zusammenarbeiten. Wir sind also Dienstpartner, wenn man das so nennen kann. Ich bin froh, dass wir Officer LaGuardias Stelle so schnell wieder besetzen konnten ...«

»Ist er ausgeschieden?«, fragte Jasmin.

»Vanessa LaGuardia war eine Frau. Nun, ausgeschieden ist der falsche Ausdruck, wenn Sie verzeihen. Officer LaGuardia wurde im Einsatz getötet. Ich fürchte, dass man sie zuvor außerdem gefoltert hat. Das war jedenfalls die Meinung des Pathologieteams.«

Jasmin spürte, dass sie weiche Knie bekam. Sie fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee war, für Europol zu arbeiten. Sie schaute in Shaws Gesicht und konnte dort keine Gefühlsregung erkennen.

»Aber wie ... ich meine ...«, begann sie stotternd.

»Es war eine Aktion gegen die Albanermafia. Diese Herrschaften verstehen keinen Spaß, fürchte ich. Nun, wer austeilt, muss auch einstecken. Die Gentlemen, die für Officer LaGuardias Martyrium verantwortlich waren, werden einen solchen Befehl nicht noch einmal geben können. – Sie sollten die Löffelbiskuits versuchen, sie haben gerade die richtige Süße, um nicht penetrant zu schmecken.«

Shaw hielt Jasmin ein Tellerchen mit Kaffeegebäck entgegen, aber sie lehnte dankend ab. Was der Senior Officer ihr wohl hatte sagen wollen? Ob die Albanerbosse tot waren? Jasmin entschied, nicht auf dem Thema herumzureiten.

»W ... wer gehört noch zu Ihrer Gruppe?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Zwei weitere junge Officer, wir sind also insgesamt zu viert.« Shaw schaute auf seine Armbanduhr. »Unsere beiden Kollegen unterstützen gerade die holländische Polizei bei einem Undercover-Einsatz. Wenn Sie Ihren Kaffee ausgetrunken haben, können wir ihnen einen Besuch abstatten. Dann werden Sie Officer Khaled und Officer da Silva gleich bei der Arbeit erleben.«



Oosterwijk war eine trostlose Trabantenstadt, wie es sie überall in Europa gab. Es spielte keine Rolle, ob sie am Stadtrand von Den Haag, Paris, Mailand oder Köln angesiedelt war. Obwohl sie in verschiedenen Ländern lagen, ähnelten sich diese Siedlungen verblüffend stark.

Sie alle galten als soziale Brennpunkte, als heißes Pflaster. Und die meisten ihrer Bewohner waren keine Europäer, selbst wenn sie die Staatsangehörigkeit eines EU-Landes besaßen.

Jasmin kannte die Gegend nicht, denn sie verlebte schließlich gerade ihren ersten Tag in Den Haag. Sie saß auf dem Beifahrersitz eines dunkel lackierten Mondeo, der von Shaw gesteuert wurde. Der Senior Officer hielt mit seiner angenehm dunklen, samtweichen Stimme einen Monolog.

»Ihnen ist gewiss bekannt, dass Europol erst seit 1999 voll arbeitsfähig ist. Wir sind also eine extrem junge Behörde, jedenfalls im Vergleich zum altehrwürdigen Scotland Yard in London, wo ich meine Ausbildung bekommen habe. Europol wird nur auf Anforderung tätig, die Polizei eines Mitgliedsstaates muss uns also um unsere Hilfe bitten. Meist geschieht das, wenn mehr als ein EU-Land von dem jeweiligen Verbrechen betroffen ist. Darum sind unsere klassischen Betätigungsfelder Drogenschmuggel, Menschenhandel, Terrorismus, Geldwäsche und Wirtschaftskriminalität. Es gibt aber auch interessante Fälle, wo die Justiz ihren eigenen Ordnungskräften nicht traut und uns deshalb anfordert. So eine Aufgabe wird uns ab morgen in Lissabon erwarten. – Ah, da sind wir ja.«

Jasmin hatte andächtig gelauscht, während Shaw geredet hatte. Er parkte den Mondeo an einer Straße mit sechs jeweils zehnstöckigen Wohnblöcken. Die Fassaden waren abgeblättert und mit Satellitenschüsseln gesprenkelt. Es war um die Mittagszeit. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen.

»Haben Sie schon einmal den Lockvogel gespielt, Officer Brunner?«, fragte Shaw lächelnd.

Auf diese Frage war Jasmin nicht vorbereitet gewesen. Sie zögerte.

»Wir könnten natürlich noch warten«, fuhr der Engländer fort, »aber ich bin ein wenig in Eile, wie ich gestehen muss. Es geht, grob gesagt, um eine internationale Gang, die neuerdings diesen gesamten Stadtteil terrorisiert. Meine Leute haben sich mit der Lage vor Ort vertraut gemacht. Was wir momentan noch benötigen, wäre ein handfester Grund zum Einschreiten. Wir könnten natürlich warten, bis unsere Freunde wieder eine Straftat begehen. Aber ich bin ein großer Anhänger vom Gesetz des Handelns

»Gesetz des Handelns?«, echote Jasmin. »Wie meinen Sie das, Senior Officer?«

»Ganz einfach.« Shaw deutete auf eines der Häuser. »Sie steigen jetzt aus und gehen dort zu dem Eingang, sehen Sie? Meine Leute sind auf Position. Sobald die Gang Sie attackiert, haben wir die Kerle da, wo wir sie haben wollen.«

Jasmin war nicht gerade begeistert von diesem Plan. Aber sie wollte nicht an ihrem ersten Tag im neuen Team gleich als Feigling dastehen. Shaw ließ noch einmal sein jungenhaftes Lächeln sehen. Die junge Polizistin stieg aus.

Ihre Absätze klapperten auf den Gehwegplatten. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch nicht einmal eine Waffe bei sich hatte. Ihre Dienstpistole hatte sie natürlich abgeben müssen, als ihre Tätigkeit beim BKA gestern beendet wurde. Und Shaw war noch nicht mit ihr in die Waffenkammer gegangen, weil er ihr erst die neuen Teamkollegen vorstellen wollte.

Mit jedem Schritt, den sie zurücklegte, wurde es Jasmin mulmiger zumute. Sie musste nun feststellen, dass ihre Umgebung keineswegs so menschenleer war, wie sie angenommen hatte. Ein schriller Pfiff ertönte.

Jasmin warf den Kopf herum. Im Fenster einer Erdgeschosswohnung konnte man eine halb nackte junge Frau erkennen. Sie hatte offenbar auf den Fingern gepfiffen. Ihre Haut war sonnengebräunt. Das konnte man gut erkennen, weil sie nur ein Top, Hotpants und Tennisschuhe trug. Sie stemmte einen Fuß gegen die Wand und lümmelte sich ansonsten auf der Fensterbank.

Jasmin wurde klar, wie exotisch sie selbst in dieser Umgebung wirken musste. Vorhin, im Geschäftsviertel der Innenstadt, war sie in ihrem taubengrauen Kostüm überhaupt nicht aufgefallen. Aber hier, in diesem miesen Getto, musste sie wie eine Provokation auf zwei Beinen wirken. Ob Shaw genau das beabsichtigt hatte?

Jasmin war nicht sicher, ob ihr positives Bild des neuen Vorgesetzten wirklich berechtigt war. Doch das sollte im Moment ihre geringste Sorge sein. Ein hoch gewachsener Mann kam ihr entgegen, dem Aussehen nach ein Araber oder Nordafrikaner. Er trug Jeans sowie ein ärmelloses T-Shirt, das seine dicken Muskelpakete nicht verbarg. Da er eine Sonnenbrille auf der Nase hatte, konnte Jasmin seine Augen nicht sehen. Aber sein Grinsen war mehr als eindeutig. Außerdem stieß er einen anerkennenden Pfiff aus.

Doch immerhin ging er an Jasmin vorbei, ohne ihr Schwierigkeiten zu machen. Die Probleme begannen wenige Augenblicke später.

Wie aus dem Boden gewachsen waren die Typen plötzlich da. Sie trugen teure Designer-Freizeitkleidung und dicke Goldketten um die Hälse. Jasmin kannte solche Statussymbole. Man konnte sie bei allen Vorstadt-Gangs finden. Die Typen bildeten einen Halbkreis. Jasmin wurde zunehmend nervöser. Natürlich war sie in Selbstverteidigung ausgebildet. Aber sie war schließlich nicht Wonder Woman, und gegen eine so große Übermacht würde sie im waffenlosen Kampf wirklich Superkräfte benötigen.

Im Polizeialltag war ihr immer eingeimpft worden, auf Eigensicherung zu achten. Das war leichter gesagt als getan. Sie hatte noch nicht einmal ein Funkgerät bei sich, von einer Waffe ganz zu schweigen. Unwillkürlich schaute sie sich Hilfe suchend um. Hatte Shaw nicht behauptet, seine Leute wären auf Position? Falls das stimmte, hatten sie aber eine verflucht gute Tarnung.

Die Jugendlichen versperrten Jasmin nun den Weg.

»Lasst mich durch!«, sagte sie auf Englisch und versuchte, möglichst energisch zu klingen. Die Kerle sagten nichts, sondern grinsten nur lüstern. Vermutlich war Reden ohnehin nicht ihre Stärke. Aber Jasmin hatte das unangenehme Gefühl, dass Worte ihr in den nächsten Minuten auch nicht wirklich weiterhelfen würden.

Ohne Vorwarnung schoss der Arm eines Angreifers vor. Er wollte Jasmins Bluse packen, sie aufreißen. Zum Glück hatte die Polizistin den Versuch rechtzeitig bemerkt. Sie brachte ihn mit einem Tritt gegen das Fußgelenk aus dem Gleichgewicht und verdrehte gleichzeitig sein Handgelenk.

So weit, so gut. Doch ihre Selbstverteidigungskünste würden ihr nicht gegen die ganze Meute helfen, die nun gleichzeitig ihrem Kumpan beistehen wollte.

Doch bevor die Gang-Mitglieder Jasmin packen konnten, geschah etwas anderes. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie den muskulösen Araber. Er war auf ein Autodach geklettert und sprang von dort aus mitten in die Gruppe von Angreifern. Er hielt einen kurzen, mit Leder überzogenen Totschläger in der Hand. Zwei, drei Hiebe damit – und ein paar Gangster lagen mit blutenden Schädeln am Boden. Der Muskelmann hielt sich nicht mit diesem Anfangserfolg auf, sondern stürzte sich gleich auf weitere Widersacher.

Voller Panik bemerkte Jasmin, wie einige von den Typen nach ihren Pistolen griffen. Sie rissen die Waffen heraus und zielten damit auf Jasmin und den Araber.

Einige kurze Feuerstöße ertönten. Allerdings war es keiner der Gangster, der geschossen hatte. Die bewaffneten Kriminellen gingen vielmehr getroffen zu Boden. Jasmin warf den Kopf herum. Hinter ihr war das leichtbekleidete Mädchen aufgetaucht. Es hielt nun eine Halbautomatik in den Fäusten und feuerte damit sparsam und präzise, wie auf dem Schießstand.

Der Kampf war innerhalb weniger Augenblicke entschieden. Jasmin hatte ihren Gegner zu Boden gerungen und legte ihm Handschellen an (wenigstens die hatte sie bei sich). Eine Handvoll Gangster lagen auf dem Gehweg oder dem verdorrten und schmutzigen Rasen zwischen den Hochhausblöcken. Drei von den Typen suchten ihr Heil in der Flucht.

Das war der Moment, als Shaw den Mondeo vorschießen ließ. Die Kerle wurden von der Stoßstange getroffen und flogen durch die Luft wie Crash-Test-Puppen. Er bremste und stieg aus. Das Stöhnen der zahlreichen Verwundeten erfüllte die Luft.

»Es ist nicht einfach, einen Verdächtigen anzufahren, ohne ihm dabei ernsthafte Verletzungen zuzufügen«, dozierte Shaw, während er zum Funkgerät griff. »Das erfordert langjährige Übung, muss ich leider sagen. Jede Automarke hat dabei ihre ganz eigenen Stärken und Schwächen.«

Wenig später rückte die holländische Polizei in Mannschaftsstärke und mit Gefangenentransportern an. Shaw verneigte sich vor Jasmin.

»Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, wenn ich das so sagen darf. Übrigens möchte ich Sie mit Ihren neuen Kollegen bekannt machen.« Er deutete auf die sonnengebräunte junge Frau in Hotpants und Top. »Darf ich vorstellen: Officer Isabel da Silva von der portugiesischen Polizei. Sie wird bei unserem nächsten Fall ein Heimspiel haben, wenn ich das so salopp formulieren darf.« Shaw nickte nun dem muskulösen Araber zu. »Dieser junge Gentleman heißt Officer Hassan Khaled und kommt von der französischen Staatspolizei.«

Eine bizarre Vorstellungsrunde, dachte Jasmin angesichts der vielen blutüberströmten Verwundeten um sie herum, die nun vor dem Abtransport von Sanitätern versorgt wurden. Sie begann zu ahnen, dass ihre Tätigkeit bei Europol doch etwas anders sein würde als ursprünglich von ihr angenommen ...




2. Kapitel


Am Nachmittag hatte sich Jasmin schon wieder halbwegs beruhigt. Dazu trug gewiss auch die gediegene Atmosphäre in Shaws Büro bei, wo die Einsatzgruppe nun vollzählig beisammen saß. Khaled und Isabel hatten ihre Undercover-Tarnaufmachung gegen Anzug bzw. Geschäftskostüm vertauscht. Sie wirkten nun so seriös wie Tausende andere Büroangestellte, die das Stadtzentrum von Den Haag bevölkerten.

»Wie haben Sie das mit dem Heimspiel vorhin gemeint, Senior Officer?«, fragte Isabel neugierig. Ohne ihre Aufmachung als Getto-Flittchen wirkte sie wie eine kompetente und zielstrebige junge Frau. Jasmin fand sie sofort sympathisch. »Das kann doch nur bedeuten, dass unser nächster Fall nach Portugal führt.«

»Wenn meine Anspielungen immer so leicht zu durchschauen wären, müsste ich mir ernsthafte Sorgen machen«, erwiderte Shaw schmunzelnd. Nun, was Jasmin anging, so waren einige seiner Aussagen immer noch äußerst rätselhaft. Was sollten das für »interessante Fälle« sein, in denen die »Justiz ihren eigenen Ordnungskräften nicht traut«, wie Shaw es genannt hatte? Für die junge Kommissarin war diese Äußerung sehr verwirrend. Aber vielleicht lag das einfach daran, dass der Satz von Shaw stammte. Jasmin konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Je mehr sie über diesen Mann nachdachte, desto weniger verstand sie ihn. Ob es in Europa noch andere Polizeibeamte gab, die absichtlich Verdächtige anfuhren und dabei aus der Wahl der Automarke eine Wissenschaft machten? Jasmin konnte sich das nicht vorstellen. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht. Ihr Leben war durch den Ortswechsel nach Den Haag und den Jobwechsel zur Europol irgendwie aus den Fugen geraten. Jedenfalls kam es Jasmin so vor.

»Unser Auftrag führt uns in der Tat nach Lissabon, in die portugiesische Hauptstadt«, sagte Shaw nun. »Wir vermuten allerdings, dass auch Spanien in die kriminellen Handlungen verwickelt ist, um die es hier geht.« Er wandte sich an Jasmin. »Europol wird nur aktiv, wenn zwei oder mehr EU-Länder von der jeweiligen Straftat betroffen sind. Ich glaube, das erwähnte ich bereits.«

Jasmin hatte gerade nicht aufgepasst. Ihr Blick hatte auf Shaws Händen geruht. Er hatte sehr schöne Hände, was ihr bei Männern gefiel. Sie bekam einen knallroten Kopf, was ihr ausgesprochen peinlich war. Ihre neuen Kollegen mussten sie doch für ein dummes Schulmädchen halten. Aber weder Shaw noch Khaled oder Isabel schienen an der plötzlichen Änderung ihres Teints Anstoß zu nehmen.

War Jasmin etwa gerade dabei, sich in Shaw zu verlieben? Das durfte auf keinen Fall geschehen, verordnete sie sich selbst.

»Ich möchte die Kriminellen, mit denen wir es zu tun haben werden, als Todesschwadron bezeichnen«, fuhr der Senior Officer fort. »Sie treiben sowohl in Lissabon als auch in Barcelona ihr Unwesen. Das Muster ist in beiden Fällen das Gleiche.«

»Was genau tun diese Todesschwadronen?«, fragte Khaled.

»Sie lauern Straßenkindern und illegalen Einwanderern nachts auf und schlagen sie tot. Manchmal werden die Opfer auch erschossen. Oder sie wurden es, besser gesagt. Anfangs haben die Täter noch Feuerwaffen verwendet. Inzwischen tun sie das nicht mehr.«

»Gibt es Hinweise auf die Täter oder Zeugenaussagen?«, wollte Jasmin wissen. Shaw schüttelte den Kopf.

»Mögliche Zeugen haben Angst vor der Polizei, vermute ich. Einerseits, weil sie selbst vielleicht illegal in Europa sind. Aber andererseits auch deshalb, weil die Opfer mit Waffen erschossen wurden, die bei den portugiesischen und spanischen Ordnungskräften Standard sind.«

»Mit Dienstwaffen?«, vergewisserte sich Isabel. Shaw nickte.

»Jedenfalls gibt es Übereinstimmungen bei Kaliber und Bauart. Aber unsere Gegner sind clever, wenn ich das so sagen darf. Sobald deutlich wurde, dass Polizeiwaffen im Spiel sein könnten, wurden die nächsten Opfer plötzlich nicht mehr erschossen, sondern totgeschlagen.«

»Jetzt verstehe ich, warum Europol ermitteln soll«, murmelte Khaled. »Man kann unmöglich sagen, wer aus den Reihen der dortigen Polizei zu den Mördern gehört.«

»So ist es«, bestätigte Shaw.

»Und wo ist das Motiv der Täter?«, fragte Jasmin.

»Sowohl Lissabon als auch Barcelona sind Anlaufstätten für unzählige illegale Einwanderer nach Europa. In den Armenvierteln herrscht drangvolle Enge. Ich vermute, dass die Täter eine Lynchjustiz verüben, weil sie mit den bestehenden Gesetzen nicht einverstanden sind. Ich muss wohl nicht betonen, dass ein solches Vorgehen verabscheuungswürdig ist.«

Täuschte sich Jasmin oder ließen Khaled und Isabel bei diesen Worten ihres Vorgesetzten ein ironisches Grinsen sehen? Bevor sie länger darüber nachdenken konnte, waren die Gesichter der beiden EU-Officer schon wieder ernst und konzentriert.

»Wir fliegen morgen früh nach Lissabon«, verkündete Shaw zum Abschluss der Besprechung. »Die dortige Polizei weiß nichts davon, dass wir angefordert wurden. Nur das portugiesische Innenministerium ist im Bilde. Wir wollen hoffen, dass es dort keine undichte Stelle gibt.«



»Vielen Dank für die Einladung«, sagte Jasmin und prostete ihrer neuen Kollegin Isabel mit einem Glas Chablis zu. »Ein Neuanfang ist immer schwierig.«

Die beiden Frauen saßen in einem gemütlichen Bistro in der Innenstadt von Den Haag, unweit des Regierungsviertels. Die Portugiesin hatte ihre neue deutsche Kollegin nach Dienstschluss dorthin geschleppt. Eine Aktion, für die Jasmin mehr als dankbar war.

»Schon gut«, sagte Isabel lächelnd. »Ich kann mich noch gut an meinen eigenen ersten Tag in der Gruppe Shaw erinnern. Ich hätte mich am liebsten in den nächsten Flieger zurück nach Hause gesetzt. Aber nun bin ich froh, dass ich schon ein Jahr durchgehalten habe.«

Jasmin lief bei diesen Worten unwillkürlich ein eiskalter Schauer über den Rücken.

»Ist es denn wirklich so schlimm hier?«

Isabel schüttelte den Kopf und blickte versonnen in ihr Weißweinglas.

»Unsere Gegner sind schlimm, das ist alles. Aber daran gewöhnt man sich. Wir haben schließlich eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn man nicht daran glaubt, ist man bei uns fehl am Platz.«

Sie schaute Jasmin direkt in die Augen. Irgendwann konnte die neue Kollegin Isabels Blick nicht mehr standhalten.

»Glaubst du, dass ich schlappmachen werde?«, fragte sie mit deutscher Direktheit. Isabel hob die Schultern.

»Das weiß man erst, wenn es ernst wird. Ich hätte beispielsweise nie geglaubt, dass Vanessa der Folter so lange standhalten würde. Sie kannte unsere Operationsbasis und hat sie nicht an die Gangster verraten. Sie ist gestorben, war als Informationsquelle für diese Mistkerle völlig wehrlos. Sie haben Vanessa ...«

»So genau will ich es gar nicht wissen«, sagte Jasmin schaudernd und schob ihr Weinglas weg. »Vanessa – das war Officer LaGuardia, nicht wahr?«

Isabel nickte.

»Ja, sie war eine gute Freundin. Aber ihr Tod war nicht sinnlos. Die Albaner haben einen hohen Preis bezahlt für das, was sie ihr angetan haben.«

Die helle Stimme der Portugiesin hörte sich plötzlich hart und misstönend an. Jasmin fand die unerwartete Verwandlung ihrer Kollegin zum Fürchten. Trotzdem musste sie die Frage stellen, die ihr nun auf der Zunge lag.

»Ist es ... dabei mit rechten Dingen zugegangen?«

Isabel kniff die Augen zusammen.

»Was willst du damit sagen?«, blaffte sie.

»Mich interessiert nur, ob ihr euch an die Gesetze gehalten habt.«

»Aber natürlich haben wir das«, höhnte Isabel. »Wir haben den Gangstern sogar eine Wärmflasche ins Bettchen gelegt. Allerdings war sie mit Nitroglyzerin gefüllt.«

Die Portugiesin funkelte Jasmin grinsend an. Die Deutsche verstand, dass sie nun kein vernünftiges Wort mehr aus ihrer Kollegin herausbekommen würde. Sie hatte es verbockt, indem sie sich als Moralapostel aufgespielt hatte. Für Isabel zählte offenbar hauptsächlich das Schicksal von Vanessa LaGuardia, die eine Freundin für sie gewesen war.

Als Jasmin zwei Stunden später in ihrem neuen Apartment endlich einschlief, hatte sie großes Heimweh nach Wiesbaden.



Colonel Fernando Oliveira hatte gute Laune, als er morgens im Polizeipräsidium – dem Governo Civil – von Lissabon erschien. Seine Sekretärin stellte soeben den Café com leite (Milchkaffee) auf seinen Schreibtisch. Der Polizeioffizier tätschelte anerkennend ihr Hinterteil, was die junge Frau, die ihren Job behalten wollte, mit einem verlegenen Kichern quittierte.

Oliveira ließ sich in seinem Bürosessel nieder und griff zur Kaffeetasse. Da klingelte das Telefon. Der Polizeioffizier fragte sich, ob es übertriebener Diensteifer wäre, schon vor dem Morgenkaffee mit einer Amtshandlung zu beginnen. Aber da er gute Laune hatte, siegte der Pflichteifer. Er nahm den Hörer ab und meldete sich mit seinem Namen. Nachdem der Anrufer sein Anliegen vorgebracht hatte, sank Oliveiras Stimmung unter den Nullpunkt.

»Die Europol, wie?«, knurrte er. »Ich werde nicht vergessen, dass du mich vorgewarnt hast. Danke, Freund. Ein entdeckter Feind ist kein Feind, das weißt du ja. Borges, sagst du? In Ordnung, ich kümmere mich um alles. Ich lasse dir eine kleine Aufmerksamkeit zukommen. Sonst noch was? Wir bleiben in Verbindung. Adeus

Oliveiras Fingerknöchel waren weiß, weil er den Telefonhörer fest umklammerte. Wutschnaubend warf er ihn wieder auf die Gabel. Der Polizeioffizier beglückwünschte sich selbst dazu, dass diese Telefonleitung abhörsicher war. Das gehörte zu seinen Privilegien als einer der einflussreichsten Männer bei den portugiesischen Ordnungskräften.

Und trotzdem – jemand wollte ihm Schwierigkeiten machen. Das fasste Oliveira als persönliche Beleidigung auf. So etwas konnte er natürlich nicht durchgehen lassen. Aber er hatte für solche Fälle vorgesorgt. Der beste Beweis dafür war der Anruf eines Informanten, den er soeben erhalten hatte. Oliveira hatte seine Leute überall sitzen.

Der Kaffee wurde kalt, während Oliveira dumpf vor sich hin brütete. In seinem Kopf nahm ein Plan Gestalt an. Eine halbe Stunde, nachdem er angerufen worden war, griff er selbst zum Telefon.

Oliveira wusste nun, wie er mit seinen Gegenmaßnahmen beginnen sollte. Als Erstes wollte er sich um Borges kümmern ...



Die Gruppe Shaw reiste auf unterschiedlichen Wegen nach Portugal. Shaw und Jasmin flogen als Touristen getarnt mit einer Linienmaschine direkt nach Lissabon. Khaled und Isabel hatten eine Tarnung als Einwanderer auf Arbeitssuche angenommen. Daher fuhren sie mit einem Billigbus via Paris in die portugiesische Hauptstadt, wo sie erst am nächsten Tag eintreffen würden.

Während des Fluges erwähnte Shaw den Auftrag mit keiner Silbe. Der Senior Officer erwies sich als unterhaltsamer Plauderer, der sich erstklassig in Architektur, bildender Kunst, klassischer und moderner Musik, Film, Theater und Sport auskannte. Es fiel Jasmin wirklich schwer, sich seinem Charme zu entziehen. Und doch hatte sie das Gefühl, dass sich unter seiner kultivierten Oberfläche tiefe Abgründe des Grauens verbargen. Ein äußerer Hinweis darauf war seine merkwürdige Gesichtshaut mit den fehlenden Augenbrauen. Diese verheilten Verletzungen ließen auf schwere Verbrennungen schließen. Jasmin hätte gerne gewusst, wo er sie sich zugezogen hatte. Aber sie konnte ihn ja schlecht fragen. Sie beschloss, vielleicht später einmal Isabel darauf anzusprechen. Allerdings hatte sie seit dem Vorabend das ungute Gefühl, dass ihre portugiesische Kollegin sie für ein Weichei und eine Streberin hielt ...

»Die Nachtwache, Officer Brunner. Und wie steht es mit Ihnen?«

Jasmin stockte der Atem. Ihre Gedanken waren abgeschweift. Sie hatte den Gesprächsfaden verloren und stotterte nun herum wie ein dummes kleines Mädchen.

»Ich, äh ...«

»Ich äußerte soeben meine Ansicht, dass die Nachtwache mir von allen Gemälden Rembrandts am besten gefällt. Haben Sie auch ein Lieblingsmotiv in seinem Werk, Officer Brunner?«

»Ja, äh ... Der Mann mit dem Goldhelm gefällt mir gut.«

Shaw nickte beifällig, und Jasmin hoffte inständig, dass dieses Kunstwerk wirklich von dem niederländischen Maler stammte. Es wäre doch oberpeinlich, wenn jemand anders den Mann mit dem Goldhelm gemalt hätte! Obwohl Shaw zu sehr Gentleman war, um sie auf einen solchen Irrtum aufmerksam zu machen ...

Zum Glück begann wenige Minuten später der Landeanflug auf den Flughafen von Lissabon. Der Himmel über der Metropole am Rio Tejo war strahlend blau. In diesem Moment musste man sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, warum Lissabon auch die Weiße Stadt genannt wurde. Der Anblick war wundervoll. Jasmin geriet in Urlaubsstimmung, obwohl ihr natürlich bewusst war, dass sie nicht zu ihrem Vergnügen in die Hauptstadt Portugals reiste ...

Shaw hatte für sie zwei Zimmer in einem Mittelklassehotel in Rato reservieren lassen.

»Das ist ein wohlhabender und großbürgerlicher Stadtteil«, erläuterte Shaw während der Fahrt im Mietwagen. »Dort werden wir die Opfer der Todesschwadronen kaum treffen, es sei denn in Gestalt von Putzhilfen oder Einbrechern.«

»Warum wohnen wir dann ausgerechnet in einem solchen Stadtteil?«, wunderte sich Jasmin.

Shaw lächelte.

»Weil Sie und ich, Officer Brunner, weiße Mitteleuropäer sind, die niemals unauffällig in Kreisen der illegalen Einwanderer ermitteln könnten. Was das anbelangt, ist Officer Khaled eine unschätzbare Hilfe. Er wurde zwar in Paris geboren, aber seine Eltern stammen aus Algerien. Er spricht fließend Arabisch und hat außerdem eine angeborene Gabe, mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu kommen.«

»Und was für Aufgaben liegen vor uns, Senior Officer?«

»Sie und ich werden uns auf die Täter konzentrieren. Eine klassische Arbeitsteilung: Officer Khaled und Officer da Silva hören sich unter den Opfern um, damit weitere Straftaten verhindert werden können. Außerdem sammeln sie Informationen über die Täter, die sie an uns weiterreichen. Und dann, wenn unsere Gegner sich in Sicherheit wiegen, werden wir die Angelegenheit ... bereinigen.«

Jasmin fragte sich, was Shaw unter bereinigen verstand. Sie war allerdings nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte. Die junge Frau fühlte sich innerlich zerrissen. Einerseits mochte sie Shaw gern, fühlte sich sogar zu ihm hingezogen. Aber sie ahnte, dass er auch eine dunkle Seite hatte, vor der sie sich fürchtete. Plötzlich fiel ihr wieder ihre Freundin Lisa Janowsky ein, die Shaw als eiskalten Sadisten bezeichnet hatte. War das wirklich nur bösartiges Kantinengeschwätz oder hatten diese Gerüchte am Ende einen wahren Kern?

Während Jasmin noch über diese Frage spekulierte, lenkte Shaw den Mietwagen am Jardim Botanico, am Botanischen Garten, vorbei (das Auto war mit einem Navi-System versehen). Das Hotel befand sich unweit des Amoreiras Shoppingcenter, das in seiner Modernität wie ein Fremdkörper in dem liebenswürdig-altmodischen Stadtteil wirkte.

Shaw deutete mit einer Kopfbewegung auf das Einkaufszentrum.

»Dort werden wir in einer Stunde unseren Verbindungsmann aus dem Innenministerium treffen. Wenn Sie möchten, können Sie sich zuvor noch frisch machen.«

Jasmins Hotelzimmer war so komfortabel, wie es das Spesenbudget von Europol zuließ. Sie hatte beinahe ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, dass Isabel und Khaled vermutlich in üblen Rattenlöchern übernachten mussten, um ihren Undercover-Identitäten als arme Einwanderer gerecht zu werden. Aber Jasmin sah natürlich ein, dass Shaw Recht hatte. Sie selbst war einfach zu weiß, um sich zur Tarnung einen Drecksjob an Land ziehen zu können. Das war die brutale Realität, an der auch Jasmin nichts ändern konnte.

Sie nahm eine Dusche und zog danach eine violette Bluse mit kurzen Ärmeln sowie knielange Leinenshorts mit einer dazu passenden Jacke an. Es war in Lissabon um einige Grade wärmer als in Den Haag. Ihre neue Dienstwaffe verstaute sie in ihrer Umhängetasche. Wie Jasmin inzwischen gelernt hatte, durften die Europol-Beamten in allen EU-Ländern bewaffnet auftreten. Dank einer Ausnahmegenehmigung galt das auch für Flüge innerhalb der Union.

Shaw erwartete Jasmin bereits an der Rezeption. Er trug einen hellen Baumwollanzug, der dem Klima von Lissabon ebenfalls angemessen war.

»Wir gehen zu Fuß zum Treffpunkt, Officer Brunner. Es ist nur einen Steinwurf weit entfernt.«

Wie Shaw bereits angekündigt hatte, befand sich das Café, wo sie ihren Verbindungsmann treffen sollten, in dem Einkaufszentrum. Zwischen den Marmortischen standen große Kübel mit Palmen und anderen Pflanzen. Ein antiker Springbrunnen bildete das Zentrum des Arrangements. Jasmin musste schmunzelnd daran denken, dass Shaw vermutlich die Stilepoche, in der dieser Brunnen entstanden war, genau benennen konnte. Sie selbst war dazu nicht in der Lage, fand aber das Wasserspiel einfach unheimlich schön.

Sie nahmen an einem freien Tisch Platz. Das Café befand sich in einem offenen Atrium. Man konnte von den oberen Stockwerken des Shoppingcenters darauf hinuntersehen.

»Ich frage mich, warum unser Mann ausgerechnet diesen Treffpunkt vorgeschlagen hat«, dachte Shaw laut nach. Aber bevor Jasmin etwas erwidern konnte, näherte sich ein älterer Mann im Geschäftsanzug ihrem Tisch. Er wurde von zwei breitschultrigen Sonnenbrillenträgern eingerahmt, die auf schon auf den ersten Blick nach Bodyguards aussahen.

»Senhor Shaw?«, fragte der Portugiese und streckte dem Senior Officer seine Hand entgegen. »Ich bin Ephraim Borges, Staatssekretär im Innenministerium. Wir ...«

»Verzeihen Sie!«, unterbrach Shaw ihn. Er packte Jasmins Arm. Sein Griff war so fest, dass sie beinahe aufgeschrien hätte. »Officer Brunner – drei Angreifer, erstes Stockwerk! Richtung 11:00 Uhr, 14:00 Uhr, 16:00 Uhr. Sie nehmen den ganz links, ich ...«

Der Rest des Satzes ging im beginnenden Hämmern von automatischen Waffen unter. Shaw riss seine Pistole aus dem Clipholster am Gürtel. Die Leibwächter waren zu langsam. Einer von ihnen sowie Borges wurde von zwei kurzen Salven aus einer MPi erwischt. Das Blut der Männer spritzte auf den Marmortisch.

Jasmin warf sich zur Seite. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum, wo man fortlaufen will, aber immer langsamer wird. Doch Shaws Befehl hatte sich in ihr Bewusstsein gestanzt. Sie öffnete ihre Umhängetasche. Jasmins Finger schlossen sich um den Griff ihrer Pistole der Marke SIG Sauer P 228.

Die Polizistin lag jetzt auf dem Boden, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken. Ihr rechter Arm mit der Schusswaffe bewegte sich in die Richtung, die der Senior Officer genannt hatte. Während das geschah, hämmerten die todbringenden Automatikwaffen der drei Männer weiter.

Jasmin korrigierte sich selbst, als ihr dieser Gedanke kam. Zwei Maschinenpistolen verstummten nämlich, nachdem Shaws Waffe zwei Mal trocken aufgebellt hatte. Jasmin sah, wie ein Maskierter in sich zusammensank. Der andere kippte über die Balustrade und stürzte auf einen Cafétisch.

Die Gäste waren längst auf der Flucht, sofern sie nicht von verirrten Querschlägern getroffen worden waren. Die junge Deutsche begriff plötzlich, dass sie selbst nun feuern musste.

Jasmin hatte noch nie zuvor auf einen Menschen geschossen. Genauer gesagt hatte sie ihre Dienstwaffe noch niemals außerhalb des Schießstandes benutzt. Doch die Situation war eindeutig und sie hatte einen klaren Befehl erhalten. Die MPi in den Händen des dritten Angreifers wummerte weiter. Es kam der Polizistin so vor, als wäre mindestens eine halbe Stunde verstrichen, seit der Feuerüberfall begonnen hatte. In Wirklichkeit waren es nur wenige Sekunden gewesen, wie sie später bei einem Blick auf ihre Armbanduhr feststellte.

Jasmin handelte wie in Trance. Sie stabilisierte ihr rechtes Handgelenk mit der linken Hand. Ihr Zeigefinger lag bereits am Druckpunkt. Sie visierte den Killer an, so gut es ging. Sie wusste, dass die Treffsicherheit einer Pistole auf diese Distanz nicht gerade erstklassig war. Trotzdem musste sie es versuchen.

Jasmin zog den Stecher durch.

Eine unterarmlange Flamme leckte aus der Mündung ihrer SIG. Es ertönte dasselbe trockene Knallen, das zuvor schon durch Shaws Waffe entstanden war.

Und genau wie der Senior Officer traf Jasmin ihr Ziel. Der Maskierte breitete die Arme aus, als das Blei in seine Brust hämmerte. Er kippte nach hinten weg.

Es herrschte plötzlich eine unheimliche Stille, wenn man einmal von den Panikschreien der flüchtenden Passanten absah. Aber das bekam Jasmin nicht richtig mit. Es war, als würde sie durch Watte gehen.

An ihrem zweiten Arbeitstag bei Europol hatte sie bereits einen Menschen erschossen. Jedenfalls musste sie davon ausgehen, dass er tot war. Jasmin fragte sich, wie es für sie weitergehen sollte.




3. Kapitel


Isabel da Silva blinzelte. Sie war eingeschlafen, obwohl der Sitz in dem Reisebus nicht annähernd so bequem war wie ein richtiges Bett. Isabel stellte fest, dass ihr Kopf im Schlaf gegen Khaleds starke Schulter gerutscht war. Sie reckte sich und richtete sich auf.

»Sorry, Hassan.«

»Kein Problem«, erwiderte der arabischstämmige Franzose grinsend. »Es gibt Schlimmeres, als von einer schönen Frau als Kissen benutzt zu werden.«

»Deine Witze waren auch schon mal besser«, knurrte Isabel und massierte ihren steifen Nacken. »Wo sind wir überhaupt?«

Es war Nacht, in dem Reisebus brannten nur wenige Lampen.

»Wir halten am Grenzübergang von Spanien nach Portugal, das Kaff heißt Badajoz oder so. – Sag mal, hast du schlechte Laune?«

»Ich? Wie kommst du denn darauf? Du weißt genau, dass ich morgens gerne einen Kaffee trinke. Siehst du hier irgendwo einen Kaffee? Ich nicht.«

»Das haben wir gleich.«

Mit diesen Worten stand Khaled auf. Er saß gemeinsam mit Isabel ziemlich weit hinten im Bus. Die meisten Passagiere waren Schwarzafrikaner oder Araber. Die Portugiesen konnte man an einer Hand abzählen. Der Officer ging nach vorne zum Fahrer, der die Tür geöffnet hatte, um die Grenzbeamten hereinzulassen. Zwar waren seit dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens die Grenzkontrollen innerhalb Europas überflüssig geworden, aber bei den Billigbuslinien machten die Behörden gern eine Ausnahme. Meistens erwischten sie einige Passagiere, deren Papiere nicht in Ordnung waren.

Khaled ergatterte einen Pappbecher mit Kaffee für Isabel, zahlte und kehrte zu ihr zurück. Dankbar schlürfte sie die heiße Flüssigkeit.

»Du bist ein Engel. Das Zeug ist zwar widerlich, aber immerhin Kaffee. Man muss ja heutzutage für den kleinsten Lichtblick dankbar sein.«

»Du bist immer noch sauer, oder? Ist es wegen der Neuen?«

»Du hättest Psychologie studieren sollen«, giftete Isabel.

»Ich habe Psychologie studiert, habe ich dir das nie erzählt? Aber nur ein paar Semester. Dann kam der 11. September und ich dachte mir, dass so einer wie ich bei der Polizei am besten aufgehoben ist.«

»Ich weiß, Hassan. Aber lass uns jetzt nicht über Politik reden, okay? Die Neue nervt mich, ich traue ihr nicht. Deshalb habe ich schlechte Laune.«

Khaled hob eine seiner buschigen Augenbrauen.

»Du traust ihr nicht? Wieso?«

»Weil ich sie für eine Mimose halte. Die klappt doch im Einsatz zusammen, sobald die Luft bleihaltig wird. Man muss sich hundertprozentig auf seinen Dienstpartner verlassen können, da sind wir uns doch wohl einig. Was soll aus Shaw werden, wenn dieses deutsche Fräulein versagt?«

»Um Shaw musst du dir keine Sorgen machen. Er ist der Beste. Schade, dass er kein Moslem ist. Aber sonst habe ich nichts an ihm auszusetzen.«

»Sag’ mal, willst du mich nicht verstehen, Hassan? Es geht mir darum, dass diese Jasmin Brunner eine Flasche ist. Shaw könnte besser gar keine Dienstpartnerin haben als sie.«

»Jetzt verstehe ich«, grinste Khaled. »Du selbst würdest gern die Dienstpartnerin des Senior Officers werden. Und das sagst du mir einfach so ins Gesicht? Was soll dann aus mir werden?«

»Schick’ mir eine SMS, wenn man wieder vernünftig mit dir reden kann!«

Beleidigt verschränkte Isabel die Arme vor der Brust und starrte aus dem Busfenster, obwohl es draußen überhaupt nichts zu sehen gab.

Khaled wartete, bis die Grenzer ihre Personalien gecheckt hatten. Dann sagte er: »Wollen wir uns wieder vertragen?«

Isabel schaffte es noch genau eine Minute lang, ihn zu ignorieren. Dann konnte sie den traurigen Blick seiner braunen Augen nicht mehr ertragen. Schmunzelnd legte sie ihre Hand auf seinen muskulösen Unterarm.

»Du weißt doch genau, dass ich dir nie lange böse sein kann. Und das nutzt du schamlos aus.«

»Ich werde mich bessern«, versprach Khaled. »Aber nun mal ernsthaft: Warum hast du so eine schlechte Meinung von der Neuen? Gib ihr doch erst mal eine Chance!«

Isabel berichtete Khaled von dem gemeinsamen Abend mit Jasmin, bevor sie aus Den Haag abgereist waren. Der arabischstämmige Officer nickte.

»Nun wird mir einiges klar. Ich glaube aber, dass die Neue einfach noch keine Erfahrung hat. Sie war bisher eine Schreibtisch-Polizistin. Die muss es auch geben, aber nicht bei den Organized Crime Groups von Europol. Sie muss sich erst einmal an der Verbrechensfront bewähren.«

»Und wenn nicht? Ich meine, wenn sie es nicht packt?«

Khaled seufzte.

»Erstens ist Shaw ja auch noch da. Der Boss wird sie im Auge behalten. Er kennt schließlich ihre Dienstakte und weiß, was sie drauf hat und was nicht. Und zweitens kannst du dich ganz offiziell beschweren, wenn du Zweifel an ihrer Tauglichkeit für unsere Gruppe hast.«

Isabel trank den Rest von ihrem Kaffee aus.

»Du hast ja Recht, Hassan. Ich trauere immer noch um Vanessa, sie war eine gute Freundin für mich. Aber das Leben muss weitergehen, das ist wohl so. – Wir haben übrigens Glück, gleich hinter der Grenze beginnt eine der wenigen portugiesischen Autobahnen. Dann dauert es nicht mehr lange, bis wir in Lissabon sind.«

»So viel Glück kann man ja gar nicht fassen«, schmunzelte Hassan. »Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, Isabel. Du kannst dich gerne wieder an meine Schulter lehnen.«

»Idiot«, murmelte die Portugiesin. Aber sie schmiegte trotzdem ihre Wange an seinen Oberarm und schloss die Augen. Wenig später wurden ihre Atemzüge gleichmäßiger.



Der Feuerüberfall hatte Shaw nicht aus der Ruhe gebracht. Er redete mit den inzwischen eingetroffenen Polizisten und den Securitymännern des Einkaufszentrums. Dabei wurde er niemals laut. Er formulierte ruhig und präzise.

Jasmin hätte gern mitbekommen, was er sagte. Aber ihr Blut rauschte in ihren Ohren wie ein Gebirgsbach. Sie hatte das Gefühl, im nächsten Moment innerlich platzen zu müssen. Ein Mann in Notarztkleidung kam zu ihr. Er fühlte ihren Puls, maß ihren Blutdruck. Dann zog er eine Spritze auf. Jasmin wollte sich weigern, aber Shaw nickte ihr zu. Seine Augen waren überall.

»Eine Beruhigungsspritze ist jetzt genau das Richtige für Sie, Officer Brunner. Ich bringe Sie gleich ins Hotel, sobald ich mit diesen Gentlemen einig geworden bin.«

»Es geht mir gut, Sir. Ich ...«

»Wahrscheinlich habe ich mich nicht klar ausgedrückt, Officer Brunner. Ich befehle Ihnen, sich eine Beruhigungsspritze geben zu lassen.«

Auch bei diesen Worten wurde Shaw nicht laut. Jasmin fügte sich in ihr Schicksal. Sie hatte nie zu den Menschen gehört, die panische Angst vor einer Spritze hatten. Die Wirkung des Medikamentes setzte bemerkenswert schnell ein. Jasmins Muskeln lockerten sich, das Blut floss wieder gleichmäßig durch ihre Adern.

Der Beamte namens Borges vom Innenministerium war tot. Die beiden Bodyguards wurden schwer verletzt durch Ambulanzen abtransportiert. Jasmin hockte auf einem der Caféhausstühle. Shaw hatte ihr nicht gesagt, dass sie sich ins Krankenhaus begeben sollte. Abgesehen davon, dass sie gerade einen Menschen erschossen hatte, fühlte sie sich dank der Spritze nicht schlecht. Allerdings war ihr klar, dass sie innerlich zusammenbrechen würde, sobald sie allein war.

Während ihrer gesamten bisherigen Polizeilaufbahn hatte Jasmin sich vor diesem Moment gefürchtet. Sie hatte ein Leben vernichtet, obwohl sie durch ihre Arbeit dazu beitragen wollte, Leben zu erhalten und zu retten. Sie fragte sich, wie sie mit diesem Widerspruch fertigwerden sollte. Wie durch einen Schleier bekam sie mit, wie das kriminaltechnische Team der Lissabonner Polizei mit der Arbeit begann. Der Tatort wurde ausgemessen, Fotos gemacht, Spuren gesichert. Das ganze Programm.

Shaw kam zu ihr und setzte sich ebenfalls.

»Wie geht es Ihnen, Officer Brunner?«

Jasmin versuchte zu lächeln.

»Es geht einigermaßen, danke.«

»Sie haben gute Arbeit geleistet. Es ist höchst bedauerlich, dass unser Verbindungsmann den Anschlag nicht überlebt hat. Aber der Treffpunkt wurde von Senhor Borges selbst vorgeschlagen. Ich selbst hätte einen anderen Ort gewählt, ehrlich gesagt. Wir haben uns jedenfalls nichts vorzuwerfen.«

»Die drei Attentäter – ist schon etwas über sie bekannt?«

Der Senior Officer schüttelte den Kopf.

»Die Leichen von zwei Männern wurden fortgeschafft. Sie müssen also noch Helfer gehabt haben. Lediglich der Killer, der über die Balustrade gekippt ist« – Shaw machte eine Kopfbewegung in die Richtung – »konnte bisher identifiziert werden. Sein Name war Sergeant Augusto Rossio. Er war Kriminalbeamter bei der Lissabonner Polizei.«

Wie kommt es, dass mich das nicht wundert?, dachte Jasmin. Aber sie sagte: »Dann müssen unsere Gegner gewusst haben, dass Borges sich mit uns treffen wollte. Unsere Tarnung können wir dann wohl vergessen.«

»Teilweise, Officer Brunner. Auf uns beide trifft Ihre Beobachtung gewiss zu. Aber Borges hat nicht gewusst, dass noch ein zweites Team unterwegs ist. Und er kennt nicht die Namen der beiden Officers. – Ich schlage vor, dass Sie sich im Hotel etwas ausruhen.«

Jasmin war wirklich hundemüde. Sie fragte sich natürlich, ob der Anschlag nur Borges und dessen Begleitern oder auch ihr selbst und Shaw gegolten hatte. Andererseits: Würden die Männer von der Todesschwadron wirklich so dumm sein und Europol-Beamte töten? Wenn das geschah, würde sich die Aufmerksamkeit des gesamten Kontinents auf die portugiesische Hauptstadt richten. Und eine wachsame Öffentlichkeit war das Letzte, was diese feigen Attentäter gebrauchen konnten.

Allerdings wusste Jasmin auch, dass Kriminelle selten rational vorgehen. Aber sie war jetzt wirklich zu erschöpft, um sich darüber noch Gedanken zu machen. Sie ging zu Fuß zum Hotel zurück, begab sich auf ihr Zimmer und war wenig später eingeschlafen. Zuvor hatte Jasmin einen Stuhl unter die Türklinke ihres Zimmers geklemmt und ihre Dienstwaffe auf den Nachttisch gelegt. Sie wollte das Risiko so gering wie möglich halten.



Khaled und Isabel kamen endlich in Lissabon an. Shaw hatte eine SMS an seine Officers geschickt und sie auf den neuesten Stand gebracht. Die beiden Neuankömmlinge wussten nun, dass nur sie noch undercover aktiv werden konnten. Die Tarnung von Shaw und Jasmin Brunner war aufgeflogen.

Khaled und Isabel hatten bei früheren Aktionen gelernt, mit Niederlagen umzugehen. Daher nahmen sie die Information ohne große Gefühlsregung zur Kenntnis. Umso wichtiger war es für sie selbst, ihre Aufgabe auftragsgemäß zu erfüllen.

Vom Busbahnhof aus gelangten sie zu Fuß nach Alfama.

»Das ist der älteste Stadtteil Lissabons«, sagte Isabel. »Siehst du den Hügel dort? Er wird Burgberg genannt. Früher haben hier Hafenarbeiter, Fischer und Bettler gelebt. Das Viertel ist traditionell arm. Daran hat sich nichts geändert, wie ich sehe.«

Der arabischstämmige Franzose und die Portugiesin bewegten sich durch die steilen, drangvoll engen Gassen. Beide trugen Billigjeans. Isabel hatte außerdem ein schwarzes Top an, das ihre schlanke Figur betonte. Khaled ließ mit Hilfe eines Muskelshirts seinen Bizeps sehen. Die Officers waren ohne ihre Dienstwaffen nach Portugal eingereist, denn die Polizeipistolen passten nicht zu ihrer Tarnexistenz als illegale Einwanderer. Ihre Habseligkeiten befanden sich in jeweils einer Reisetasche.

Sie gingen in ein Internet-Café, wo jede Menge Nordafrikaner herumhingen. Khaled kam gleich mit ihnen ins Gespräch. Isabel, die kein Arabisch verstand, blieb an seiner Seite. Während sie scheinbar gelangweilt eine Cola trank, waren ihre Augen überall. In dem Internetladen ging etwas Illegales vor sich. Die Europol-Beamtin wettete mit sich selbst, dass im Hinterzimmer eine Spielhölle dicke Gewinne abwarf.

Khaled verabschiedete sich von den Typen, die er gerade kennen gelernt hatte. Er legte seinen Arm um Isabels Schultern.

»Gehen wir!«, murmelte er. »Hier läuft irgendetwas, aber die Knaben sind stumm wie Austern. Kein Wunder, ich bin ein Fremder für sie. Auf jeden Fall ist das ganze Viertel Gang-Territoriu... Hey!«

Khaled unterbrach sich selbst. Er und Isabel waren wieder hinaus auf die Gasse getreten. Sie wollten weiter bergauf Richtung Castelo de Sao Jorge gehen, als ein junger Araber aus einer Seitengasse geschossen kam. Er prallte gegen Khaled, der aber nur leicht ins Schwanken kam. Es bedurfte eines härteren Stoßes, um den arabischstämmigen Polizisten aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Nun bemerkte Khaled auch, warum der Junge so schnell flitzen gegangen war. Er wurde von vier bulligen Schwarzen verfolgt. Die Männer waren schnell herangekommen. Der junge Araber war bei dem unfreiwilligen Zusammentreffen mit Khaled zu Boden gegangen. Er wollte wieder aufstehen, glitt aber auf den glitschigen Pflastersteinen aus. Den Abfällen nach zu urteilen hatte jemand vor kurzem auf offener Straße ein paar Fische ausgenommen und die Überreste einfach liegen gelassen.

»Immer cool bleiben, Freunde!«, sagte Khaled und streckte den Afrikanern seine Handflächen entgegen. Ein international gebräuchliches Zeichen für friedliche Absichten. Aber entweder verstanden die Kerle ihn nicht oder es war ihnen egal. Jedenfalls stürzten sie sich auf Khaled und Isabel, zwischen denen der junge Araber immer noch auf dem Boden lag. Er schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben und schlang die Arme um seinen Kopf, um die zu erwartenden Schläge abzumildern.

Aber dazu kam es nicht. Die Verfolger konnten den Jungen nicht erreichen, weil sich die beiden Officers ihnen in den Weg stellten. Trotzdem fühlten sich die Angreifer stark, denn sie hatten es ja nur mit zwei Gegnern zu tun, einer davon eine Frau.

Einer der Kerle hob seinen Baseballschläger, um damit auf Khaled einzudreschen. Doch er schlug nur ein Loch in die Luft, weil der Undercover Cop mit einer eleganten Drehung auswich. Da der Afrikaner mit beiden Händen die Baseball-Keule umklammerte, hatte er keine Deckung. Khaled drosch ihm die Faust ins Gesicht. Die Fingerknöchel des arabischstämmigen Beamten krachten gegen das Kinn seines Widersachers. Offenbar hatte er genau auf den Punkt getroffen. Der Angreifer verdrehte die Augen und sank bewusstlos zu Boden.

Da erschien bereits ein zweiter Mann, um die Niederlage seines Kumpans zu rächen. Dieser Afrikaner hatte eine abgebrochene Bierflasche in der Faust. Eine gemeine Waffe, von der sich viele Kämpfer abschrecken ließen. Aber Khaled war aus einem härteren Holz geschnitzt. Er pendelte mit dem Oberkörper und tauchte unter den scharfkantigen Flaschenscherben hinweg. Und dann packte er das Handgelenk seines Widersachers!

Damit hatte der Verfolger des jungen Arabers nicht gerechnet. Er stolperte nach vorn, wurde von seinem eigenen Schwung mitgerissen. Khaled zog sein Knie hoch und rammte es dem Mann in die Magengrube. Der Angreifer stöhnte schmerzerfüllt auf. Mit einem wohldosierten Schlag ins Genick schickte der Europol Cop seinen Gegner ins Land der Träume.

Währenddessen konnte sich auch Isabel nicht über Mangel an Beschäftigung beklagen. Zwei Angreifer näherten sich ihr von links und rechts. Die Kerle grienten siegessicher. Sie glaubten, leichtes Spiel zu haben, denn Isabel war nicht nur eine Frau, sondern auch viel kleiner als ihre Widersacher. Eine dramatische Fehleinschätzung, die der portugiesischen Polizistin schon oft den entscheidenden Anfangsvorteil bei einer Auseinandersetzung gebracht hatte.

Wie Isabel wusste, wird jeder Kampf innerhalb von dreißig Sekunden entschieden. Stundenlange Prügelorgien gab es nur in Actionfilmen. Im wahren Leben entschieden wenige Momente über Sieg oder Niederlage.

In diesem Fall verschenkten die beiden Afrikaner ihre Vorteile, die in größerer Körperkraft und zahlenmäßiger Überlegenheit bestanden. Sie traten immerhin zu zweit gegen Isabel an, die allein mit ihnen fertigwerden musste. Khaled war ja zur selben Zeit ebenfalls mit seinen Gegnern beschäftigt.

Aber, wie gesagt, die Männer verkannten die Lage. Sie lachten höhnisch und warfen sich in die Brust, um Isabel zusätzlich Angst einzujagen. Daher war es die Polizistin selbst, die nun einen Überraschungsangriff startete.

Isabel warf sich auf den Afrikaner rechts von ihr. Sie bretterte einen Kung-Fu-Tritt gegen sein Knie, wodurch er das Gleichgewicht verlor. Unwillkürlich begann er, mit den Armen zu rudern. Sie verdrehte sein rechtes Handgelenk. Ein Metallrohr fiel klirrend zu Boden. Isabel zwang den Mann zu Boden, indem sie sein Handgelenk wie eine Fernsteuerung benutzte. Er jaulte auf. Sein Kumpan wollte ihm zu Hilfe kommen. Genau das hatte sie bezweckt.

Isabel trat dem Afrikaner in den Rücken. Er fiel nach vorn, dem anderen Angreifer entgegen. Beide waren für den Moment damit beschäftigt, sich wieder voneinander zu lösen. Dadurch bekam Isabel den entscheidenden Zeitvorteil von wenigen Sekunden. Ihre Faust schoss vor. Kurz hintereinander betäubte sie beide Männer mit gezielten Kung-Fu-Schlägen.

Der junge Araber kam stöhnend vom Boden hoch. Sein Knie hatte anscheinend gelitten, als er vorhin ausgerutscht war. Ungläubig schaute er auf die vier Afrikaner, die nun alle k.o. zu seinen Füßen lagen.

»Das ... das ist unglaublich«, keuchte er. »Ihr habt mich gerettet! Die Ghanaer-Gang hätte Kebab aus mir gemacht, wenn sie mich in die Finger bekommen hätte.«

In der Ferne gellte eine Polizeisirene. Das Geräusch kam näher.

»Die Bullen«, knurrte Khaled. »Wir haben keine Papiere ...«

Der junge Araber berührte ihn an der Schulter.

»Kommt mit mir, ich helfe euch. Ich heiße übrigens Jussuf. Für Leute, die so kämpfen können wie ihr, gibt es in Lissabon immer was zu tun.«

Khaled und Isabel griffen sich ihre Reisetaschen und folgten dem humpelnden Jussuf. Er führte sie durch Treppenhäuser, über Höfe, verwaiste Werkstätten und Kleinwerften bis zu einem uralten Gemäuer, das noch aus der Maurenzeit zu stammen schien. Im Gassenlabyrinth von Alfama kannte er sich offenbar erstklassig aus.

Als die Polizei auftauchte, fand sie nur noch die vier bewusstlosen Afrikaner vor.



Jasmin wurde durch das Telefonklingeln geweckt. Sie benötigte einige Sekunden, um halbwegs wach zu werden. Zunächst war ihr immer noch nicht klar, wo sie sich befand. Sie blinzelte und warf einen Blick aus dem Fenster. Über dem üppigen Grün des Jardim Botánico ging soeben die Sonne unter.

Die Polizistin hatte in ihren Kleidern auf dem Bett geschlafen. Die Injektionsstelle an ihrer Armbeuge erinnerte sie an die Beruhigungsspritze und an das Feuergefecht vor wenigen Stunden. Jasmin rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht, als ob sie dadurch einen bösen Traum fortwischen könnte.

Und das verflixte Telefon klingelte die ganze Zeit weiter.

Endlich hatte Jasmin sich so weit gesammelt, dass sie den Hörer abnehmen konnte.

»Officer Brunner, hier spricht Shaw. Ich hoffe doch, dass ich Sie nicht geweckt habe.«

»Doch, schon«, gab sie zu. »Aber das ist völlig in Ordnung. Wenn ich tagsüber zu viel schlafe, dann leidet meine Nachtruhe darunter.«

»Ich verstehe, Officer Brunner. Ich würde Sie gerne zum Abendessen einladen, falls Sie Appetit haben.«

Jasmin verspürte sogar einen brachialen Hunger, denn das Mittagessen war bei ihr heute ausgefallen. Außerdem hatte ihr der Feuerüberfall im Einkaufszentrum doch mehr Kräfte geraubt, als sie zunächst geglaubt hatte. Wie sie selbst fand, überlegte sie einen Augenblick zu lang. Aber Shaw wertete ihr Schweigen offenbar als Zustimmung.

»Sehr gut, Officer Brunner. Dann schlage ich vor, dass wir uns in einer halben Stunde in der Hotel-Lobby treffen.«

Mit diesen Worten legte er auf. Jasmin ertappte sich dabei, dass ihr Herz schneller schlug. Sie war so aufgeregt, als ob sie eine richtige Verabredung mit einem Mann hätte.

Nun bleib mal auf dem Teppich!, ermahnte sie sich selbst. Shaw ist dein Vorgesetzter und dieses Abendessen ist rein dienstlich zu betrachten. Wahrscheinlich wird er dich abkanzeln, weil du bei dem Feuerüberfall so herumgestümpert hast!

Doch trotz dieser Einwände ihres eigenen Gewissens konnte Jasmin nicht aus ihrer Haut. Sie wollte Shaw gefallen, er sollte sie attraktiv finden. Mehr oder weniger hastig brachte sie ihr Make-up in Ordnung. Ausgerechnet in diesem Moment klingelte ihr privates Handy.

Jasmin zerbiss einen Fluch auf den Lippen. Aber der Anruf konnte wichtig sein. Schließlich hatten nur wenige Menschen ihre Mobilnummer. Sie meldete sich mit ihrem Namen.

Lisa Janowsky war die Anruferin. Jasmin holte tief Luft. Einerseits freute sie sich, trotz des hässlichen Streits von ihrer (ehemaligen?) Freundin zu hören. Andererseits wollte sie auf keinen Fall zu spät zu dem Abendessen mit Shaw gehen.

»Ich wollte mal hören, wie es dir so geht in deinem neuen Job«, sagte die Frau im fernen Wiesbaden.

Ganz gut, abgesehen davon, dass ich heute einen Menschen erschossen habe, dachte Jasmin. Aber sie sagte: »Es ist ganz anders als beim BKA.«

Und das war noch nicht einmal gelogen.

»Du klingst irgendwie gehetzt. Und der Verkehrslärm im Hintergrund ist ganz fürchterlich. Ist Den Haag so eine extreme Autostadt?«

Jasmin war mit dem Handy ans offene Fenster getreten.

»Den Haag nicht, aber Lissabon. Dort bin ich nämlich momentan. Hör mal, Lisa, ich freue mich wirklich über deinen Anruf. Aber ich bin ein bisschen auf dem Sprung. Ich gehe nämlich gleich mit Shaw essen, und ...«

»Ein Abendessen mit dem Chef!« Lisa pfiff durch die Zähne. »Das scheint ja richtig abzugehen bei dir. Dann will ich für dich hoffen, dass wenigstens eines der Gerüchte über Shaw eine glatte Lüge ist.«

Jasmin merkte, dass sie sich schon wieder über ihre Freundin zu ärgern begann. Aber trotzdem konnte sie ihren Wissensdurst nicht unterdrücken.

»Und von welchem Gerücht sprichst du?«

»Shaw soll stockschwul sein.«

»Das ist seine Angelegenheit«, knurrte Jasmin angesäuert. »Und nun muss ich wirklich Schluss machen, Angus mag nämlich keine Unpünktlichkeit.«

Sie beendete die Verbindung, bevor Lisa sich verabschieden konnte. Plötzlich wurde Jasmin bewusst, dass sie Shaw beim Vornamen genannt hatte, wenn auch nur Lisa gegenüber. Es kam ihr seltsam und irgendwie falsch vor. So, als würde sie etwas vorspiegeln, was gar nicht vorhanden war. Und genau das hatte sie soeben wirklich getan. Jasmin wollte bei Lisa den Eindruck entstehen lassen, dass sie und Shaw mehr waren als nur Kollegen ...

Jasmin schlüpfte in ein knielanges hellrotes Sommerkleid und stieg in die dazu passenden Sandaletten. Sie fand ihren eigenen Anblick im Spiegel unerträglich, aber das lag zweifellos an ihrer miesen Stimmung. Lisa hatte ihr mit dem Anruf so richtig den Abend verdorben. Jasmin warf einen Blick auf die Uhr. Es war keine Zeit mehr zum Überlegen. Sie schob ihre Dienstwaffe in ihr Abendtäschchen und verließ fluchtartig das Zimmer.

Shaw hatte sich ebenfalls umgezogen. Jasmin fand, dass er in seinem dunkelgrauen Anzug sehr gut aussah. Sofort musste sie wieder an Lisas Anruf denken.

Nein, nicht alle attraktiven Männer sind homosexuell, betete Jasmin sich vor. Und selbst wenn er es wäre – Angus, nein, Senior Officer Shaw ist mein vorgesetzter Offizier. Ich habe eine rein dienstliche Beziehung zu ihm.

Aber die junge Frau wusste, dass sie sich in diesem Moment selbst belog. Shaw lächelte ihr zu.

»Guten Abend. Sie sehen jetzt etwas erholter aus als vorhin, wenn ich das so sagen darf. Kommen Sie, wir nehmen für den Weg zum Restaurant die Straßenbahn. Das ist ein Stück echtes Lissabon.«

Jasmin hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein, ohne darüber nachzudenken. Sie gingen hinaus. Durch den frischen Wind vom Atlantik her war die Hitze erträglicher geworden. Jasmin war nun froh, dass sie eine leichte Baumwolljacke über ihr Kleid gezogen hatte.

Die Straßenbahn wirkte wie ein Relikt aus einem früheren Jahrhundert, was sie auch war. Quietschend und scheppernd schaukelte das alte Gefährt die steilen Straßen zum Castelo hinauf. Jasmin saß an einem offenen Fenster und ließ sich den Abendwind ins Gesicht wehen. Die kurze Fahrt mit der Straßenbahn war mit Abstand der schönste Moment, den sie bisher in Lissabon erlebt hatte.

Das Restaurant befand sich in der Nähe des Castelo. Shaw hatte auf der Terrasse einen Tisch reservieren lassen. Er stand weit genug entfernt von den anderen Gästen. Daher konnten sie offen miteinander reden.

»Waren Sie zuvor schon einmal in Portugal?«, fragte der Senior Officer. Jasmin schüttelte den Kopf. Sie saß ihm gegenüber und versuchte, in seinen Augen zu lesen.

»Ich empfehle Ihnen einen fruchtigen Weißwein aus der Region Bairrada«, sagte Shaw, während der Kellner die Vorspeisen brachte. Nachdem sie wieder allein waren, fuhr er fort: »Sie haben heute während des Feuerüberfalls gut reagiert, Officer Brunner. Die Attacke war nicht vorhersehbar, obwohl man immer mit so etwas rechnen muss. Allerdings glaube ich, dass es eine Belastung für Sie war, schießen zu müssen.«

Jasmin beschloss, ehrlich zu sein. Vor allem, nachdem der Kellner wenig später den von Shaw empfohlenen Wein gebracht hatte. Der Tropfen war ausgezeichnet und löste ein wenig Jasmins Zunge.

»Ich habe noch niemals zuvor im Dienst von der Schusswaffe Gebrauch machen müssen, Senior Officer.«

»Ich verstehe. Wie fühlen Sie sich jetzt damit?«

»Der Mann, den ich getroffen habe, wurde von seinen Komplizen fortgeschafft. Ich wüsste gern, ob ich ihn erschossen habe oder nicht.«

Shaw nickte.

»Wenn ich es richtig gesehen habe, dann trafen Sie ihn in die Brust. Das ist eine Schussverletzung, die sofort operiert werden muss, und zwar in einem Hospital. Da niemand mit einer solchen Verwundung in den Lissabonner Spitälern eingeliefert wurde, können wir davon ausgehen, dass Sie den Mann in Notwehr erschossen haben.«

Jasmin schwieg und trank ihr Glas aus. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

»Töten ist immer nur der letzte Ausweg«, fuhr Shaw fort. »Trotzdem muss ich Ihnen offen sagen, dass es bei unserer Gruppe oft recht ungemütlich zugeht. Das hängt damit zusammen, dass wir es mit extrem gefährlichen und brutalen Gegnern zu tun haben.«

»Das ist mir heute erst so richtig bewusst geworden«, gestand Jasmin. »Und es fällt mir offen gestanden schwer zu glauben, dass die Kriminellen offenbar Polizisten sind. Damit komme ich nicht zurecht.«

»Sie dürfen nicht vergessen, dass Portugal bis 1974 ein faschistisches Land war. Damals war die Polizei nichts anderes als ein Unterdrückungsinstrument. Solche Traditionen legt man nicht über Nacht ab.«

Jasmin musste sich eingestehen, dass sie so gut wie nichts über portugiesische Geschichte wusste. Shaw spürte das anscheinend und gab ihr einen Schnellkurs.

»Der Diktator Salazar war in diesem Land bis 1974 an der Macht. Er hatte Portugal vom Rest der Welt mehr oder weniger isoliert. Nach seinem Tod gab es die unblutige Nelken-Revolution, seitdem bemüht sich Portugal, eine ganz normale europäische Nation zu werden. Aber die Polizisten, die unter der Diktatur ausgebildet wurden, trauern natürlich noch ihrer alten Machtfülle nach. Sie kennen ja gewiss das Sprichwort: Einem alten Gaul bringt man keine neuen Kunststücke mehr bei.«

Trotz des ernsten Themas musste Jasmin schmunzeln.

»Ich habe über die Motive unserer Gegner nachgedacht, Officer Brunner«, fuhr Shaw fort. »Man könnte an Rassismus denken, aber ich glaube, das ist nicht der Hauptgrund. Vielleicht spielt eine gewisse Fremdenfeindlichkeit mit herein. Ich glaube aber, dass diese Todesschwadronen vor allem von Machtausübung besessen sind.«

»Machtausübung?«

»Ganz genau. Gibt es eine größere Macht als die über Leben und Tod? In allen Religionen gibt es ein überlegenes Wesen, das über unser Sein oder Nichtsein entscheidet. Nennen Sie es Gott, Allah, Brahma oder wie auch immer. Bei den Todesschwadronen ist der Glaube pervertiert, indem sie sich selbst anmaßen, diese Entscheidung fällen zu können. Sie machen sich selbst zum Herrgott.«

Jasmin dachte über Shaws Worte nach und konnte ihm nur zustimmen. Aber ihr kam noch eine andere Idee, die sie ziemlich beunruhigend fand.

»Woher wissen wir eigentlich, dass nicht in diesem Moment jemand ein Gewehr mit Zielfernrohr auf uns gerichtet hat?«

»Wir wissen es nicht«, räumte Shaw ein. »Und unsere Chancen wären in einem solchen Fall erbärmlich, ehrlich gesagt. Mit zwei Hochgeschwindigkeitsgeschossen könnte jemand sowohl Sie als auch mich innerhalb von zehn Sekunden erledigen. Unser Blut und Gehirn würde über diesen ausgezeichneten Bacalhau spritzen, was wirklich eine Verschwendung wäre. – In diesem Sinn: Guten Appetit.«

Während Shaw sprach, wurde der luftgetrocknete Stockfisch serviert, von dem er zuletzt gesprochen hatte. Jasmin schaute in seine hellen Augen. Sie wusste nicht, wie sie seine Bemerkung einordnen sollte. Sie würde sich wohl damit abfinden müssen, dass Shaw einstweilen für sie undurchschaubar blieb. Also beschränkte die junge Polizistin sich auf ein Lächeln und widmete sich dem Essen.

Es wurde ein wunderbarer Abend und Shaw erwies sich wieder als charmanter Plauderer. Zeitweise schaffte es Jasmin sogar, nicht an das Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu denken, das möglicherweise auf ihren Kopf gerichtet war ...




4. Kapitel


Jussuf kannte den Stadtteil Alfama wie seine Westentasche. Obwohl er sich momentan nur humpelnd fortbewegen konnte, schlängelte er sich geschickt durch enge Spalten hinter stinkenden Mülltonnen, kletterte über niedrige Zäune und huschte durch Haustüren, die nur scheinbar seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden waren. Khaled und Isabel blieben ihm hart auf den Fersen.

Sie schlüpften durch den Arco do Rosário, wo jenseits der Rua Cais de Santarém das Hafengelände begann. Hier führte Jussuf seine beiden Retter in ein Abbruchhaus, dessen Türen und Fenster zugemauert waren. Doch es gab einen geheimen Eingang auf dem Hof, der Uneingeweihten niemals aufgefallen wäre.

Ein anderer Araber spielte den Türwächter auf der Innenseite des Eingangs. Aus seinem Hosenbund ragte der Griff einer Automatikpistole. Er warf den beiden Undercover-Officers einen misstrauischen Blick zu.

Jussuf erklärte ihm wortreich auf Arabisch, dass Khaled und Isabel ihn vor der Ghanaer Gang gerettet hätten.

»Ich will sie dem Boss vorstellen, vielleicht geht da was«, sagte er zum Schluss. Khaled verstand natürlich jedes Wort, da er die arabische Sprache ebenfalls beherrschte.

»Falls nicht, werden sie unser Versteck nicht lebend verlassen«, gab der Wachtposten trocken zurück. »Der Boss ist in seinem Büro. Er telefoniert gerade, glaube ich.«

Das Versteck der arabischen Bande war ein ehemaliges Lagerhaus. Im Grunde diente es auch jetzt noch diesem Zweck. Im Licht von batteriegetriebenen Lampen sahen Khaled und Isabel überall Unterhaltungselektronik herumstehen, zum Teil originalverpackt. In prallen Plastiksäcken befand sich vermutlich anderes Diebesgut. In einer Ecke stapelten sich unzählige Handtaschen, die wahrscheinlich von Touristinnen nicht ganz freiwillig an Jussuf und seine Kumpels weitergegeben worden waren ...

Zwischen den erbeuteten Gegenständen lungerten einige andere junge Araber herum. Sie schlugen mit Hilfe von MP3-Playern oder Playstations die Zeit tot. Als Jussuf in Begleitung von Khaled und Isabel hereinkamen, musterten die Jugendlichen die portugiesische Europol-Beamtin mit lüsternen Blicken. Aber angesichts von Khaleds gewaltigen Bizepses wagte es keiner der Kerle, Isabel anzumachen.

Die beiden Undercover-Officers stellten ihre Reisetaschen ab und grüßten lässig. Sie kannten ihre Tarnexistenzen in- und auswendig. Khaled gab sich als Marokkaner aus, der sich ohne gültige Ausweispapiere zwischen Frankreich, Spanien und Portugal treiben ließ. Isabel hingegen spielte eine abenteuerlustige Brasilianerin, wodurch einerseits erklärt wurde, warum sie perfekt Portugiesisch sprach (die Amtssprache in Brasilien), andererseits aber eine illegale Emigrantin war.

Es gab in dem Lager für gestohlene Ware auch einen Bretterverschlag, der in früheren Zeiten wahrscheinlich als Büro gedient hatte. Durch die geschlossene Tür hörte man jemanden auf Arabisch telefonieren.

»Der Boss will euch bestimmt kennen lernen, sobald er den Anruf erledigt hat«, meinte Jussuf.

»Kein Problem, wir können warten«, sagte Khaled und grinste gewinnend. »Wenn wir etwas im Überfluss haben, dann ist es freie Zeit.«

Sie setzten sich zu den anderen Gang-Mitgliedern und nutzten die Gelegenheit, um sich bei ihnen einzuschmeicheln und ihr Vertrauen zu gewinnen. Isabel hatte sofort erkannt, dass diesen Typen am Dringendsten ein weibliches Wesen fehlte. Isabel zeigte durch Körpersprache eindeutig, dass Khaled und sie selbst ein Liebespaar waren. Um aber den Frust der anderen jungen Männer nicht noch zu schüren, berichtete sie ihnen von etlichen ihrer Freundinnen, die sich angeblich nichts sehnlicher wünschten, als einen feurigen arabischen Liebhaber.

»Portugiesen sind doch keine richtigen Männer«, verkündete Isabel und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein Mädchen, das den Durchblick hat, wünscht sich einen arabischen Freund.«

Zur Bekräftigung ihrer Worte lehnte sie sich an Khaleds starke Schulter. Die Stimmung in dem Gang-Versteck hatte sich schlagartig gewandelt. Die Aussicht, vielleicht schon bald selbst eine Freundin zu ergattern, ließ den Neid der jungen Araber verschwinden. Stattdessen griff eine unbestimmte Vorfreude um sich.

»Bist du sicher?«, fragte ein Junge, der etwas misstrauischer war als seine Freunde. »Wenn ich Portugiesinnen auf der Straße anspreche, weichen sie mir immer aus.«

»Ja, weil sie schüchtern sind«, erwiderte Isabel. »Du bist für sie ein Fremder, daran liegt es. Aber wenn ich dich einer Freundin von mir vorstelle, würdest du ihr bestimmt gefallen.«

Diese Aussicht ließ die Augen des Typen aufleuchten. Isabel verstand es von Anfang an, die Verbrecher um den Finger zu wickeln. Eine Fähigkeit, die sich schon oft genug als überlebenswichtig herausgestellt hatte.

Die beiden Undercover-Cops waren also schon von den Gang-Mitgliedern freundlich aufgenommen worden, als der Boss sich endlich aus seinem Büro bequemte. Er war ebenfalls Araber. Dicke Goldketten um den Hals und protzige Ringe an den Fingern symbolisierten seine Führungsposition. Am rechten Ohr hatte er eine Bluetooth-Freisprecheinrichtung für das Handy.

»Was soll das denn?«, knurrte der Boss und deutete auf Khaled und Isabel. »Wieso schleppst du Fremde hierher, Jussuf?«

»Sie haben mir gegen die Ghana-Gang beigestanden.«

Der Anführer der Araberbande hob eine Augenbraue.

»So, so. Dann kommt mal in mein Büro, dann werde ich mir überlegen, was mit euch geschehen soll.«

Die beiden Europol-Beamten und auch Jussuf folgten dem Boss in den Bretterverschlag. Jussuf beschrieb noch einmal ausführlich, wie Khaled und Isabel die Afrikaner aufgemischt hatten. Der Bandenchef warf einen ungläubigen Blick auf Isabel.

»Du bist doch ein Mädchen. Wo hast du gelernt, so zu kämpfen?«

»Ich bin Brasilianerin«, log die junge Polizistin. »In meiner Heimat gibt es Capoeirha, eine Art Kampftanz. Das beherrscht dort fast jeder, auch die Frauen.«

Der Boss nickte, gab sich als Mann von Welt.

»Okay, davon habe ich schon gehört. Und wieso seid ihr nach Lissabon gekommen?«

Die Frage hatte er an Khaled gerichtet. Der arabischstämmige Europol-Beamte grinste breit.

»Um möglichst viel Geld zu verdienen, mit möglichst wenig Arbeit.«

Die Antwort schien dem Verbrecher zu gefallen. Jedenfalls lachte er laut und dröhnend.

»Hey, das kenne ich! In dieser Stadt liegt das Geld auf der Straße. Du musst dich nur bücken und es aufheben.«

Der Boss warf sich in die Brust. Er griff in die Hosentasche, zog ein dickes Bündel Euro-Scheine heraus und wedelte damit angeberisch vor Khaleds und Isabels Nasen herum.

»Wenn ihr für mich arbeitet, könnt ihr euch in Lissabon eine goldene Nase verdienen«, behauptete er. »Habt ihr Erfahrung?«

»Ich bin ganz gut im Brieftaschenziehen«, log Isabel.

»Und ich stehe drauf, besoffene Touristen in dunklen Gassen auszunehmen«, behauptete der arabischstämmige Europol-Beamte. Der Bandenchef rieb sich die Hände.

»Das klingt doch viel versprechend. Ich biete euch einen Deal an: Ihr arbeitet für mich, ich kriege fünfzig Prozent eurer Einnahmen.«

Khaled triumphierte innerlich. In diese Gang hereinzukommen ging leichter als er befürchtet hatte. Doch er durfte sich nicht zu schnell darauf einlassen, sonst würde der Verbrecher misstrauisch werden. Daher zog der Officer die Augenbrauen zusammen. Sein Gesicht nahm einen skeptischen Ausdruck an.

»Was springt bei dem Deal für uns raus? Ich meine, wir könnten doch auch allein arbeiten. Dann würden wir unsere Einnahmen selbst behalten, zu hundert Prozent.«

Der arabische Boss grinste breit.

»Das stimmt – theoretisch. Aber Lissabon ist aufgeteilt, kapierst du? Jede Gang hat ihren eigenen Bezirk. Manchmal gibt es Ärger, wenn sich jemand auf fremdes Territorium verirrt. So wie es Jussuf heute passiert ist. Aber das wird ihm eine Lehre sein.«

»Ich kann mich durchsetzen«, knurrte Khaled und schlug mit seiner geballten rechten Faust in seine linke Handfläche.

»Das glaube ich dir«, sagte der Verbrecher und klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. »Aber selbst der stärkste Mann der Welt ist wehrlos gegen eine Kugel aus dem Hinterhalt. Ich würde auch gern die ganze Stadt beherrschen, glaube mir. Aber die Ghanaer, die Senegalesen und die Algerier wollen auch ein Stück vom Kuchen haben. Außerdem sind da noch die Bullen.«

Isabel horchte auf, schnaubte aber verächtlich.

»Ich habe gehört, mit den portugiesischen Bullen soll nicht viel los sein.«

»Das stimmt auch«, nickte der Bandenchef. »Es kommt nur alle Jubeljahre mal vor, dass sie einen von uns einbuchten. Und selbst dann wird er schnell wieder freigelassen. Ich schätze, dass die Gesetze ziemlich lasch sind. Und das stinkt einigen Bullen. Sie machen nachts Jagd auf uns. Wenn sie dich erwischen, schleppen sie dich nicht erst auf die Wache. Stattdessen ...«

Der Araber führte den linken Zeigefinger vor seiner Kehle von links nach rechts. Eine Geste, die man nicht missverstehen konnte.

»Woher wisst ihr denn, dass diese Killer Bullen sind?«, fragte Khaled so beiläufig wie möglich. »Tragen sie Uniformen?«

Der Boss schüttelte den Kopf.

»Das nicht. Aber einer von den Typen aus Schwarzafrika konnte einmal so ein Killerkommando belauschen, bevor sie losgezogen sind. Die Bullen trugen schwarzes Leder und waren maskiert, kapierst du? Aber sie haben sich mit Namen angeredet. Einer von ihnen wurde Colonel Oliveira genannt. Der ist ein ganz großes Tier bei den Lissabonner Bullen.«

»Ich verstehe«, sagte Khaled. »Und dieser Afrikaner hat euch die Neuigkeiten gleich gesteckt? Ich dachte, diese Typen wären nicht gerade eure Freunde.«

»Sind sie auch nicht. Aber du weißt ja, wie es ist. Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell. Also, vor diesen verkleideten Bullen müsst ihr euch in Acht nehmen. – Wenn ich euch in die Gang aufnehme, dann werdet ihr auch problemlos Abnehmer für die Sachen finden, die ihr auftreiben könnt. Ich kenne die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Vikiana, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6012-2

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