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Vorbemerkung

In Ostfriesland gab es zahlreiche Klöster, von denen etliche nur noch als Ruine vorhanden sind. Die meisten von ihnen wurden im 12./13. Jahrhundert gegründet. Nach der Reformation gerieten viele dieser Sakralbauten in Vergessenheit, obwohl die Mönche und Nonnen über Jahrhunderte hinweg das Leben in Ostfriesland entscheidend mit geprägt haben.

Das Ulmenkloster in dem Roman ist eine Erfindung, wurde aber von der Klosterkirche Ihlow und vom Kloster Reepsholt inspiriert, an das heute nur noch ein Gedenkstein erinnert.

Alle Figuren und Ereignisse in „Todeskloster“ sind rein fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder tatsächlichen Geschehnissen wären zufällig und sind nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

1

Rabea Mertens hätte ihre Ankunft in Esens beinahe verschlafen.

In der halb leeren Nordwestbahn fielen ihr immer wieder die Augen zu. Ihre Lider schienen bleischwer zu sein. Die Abschiedsparty am Vorabend mit einem Dutzend anderer Studentinnen war doch ziemlich turbulent gewesen. Einige der Cocktails in einer coolen Hamburger Kiez-Bar hatten es wirklich in sich. Und die Trinksprüche ihrer Freundinnen waren mit zunehmendem Alkoholpegel immer wehmütiger geworden.

„Auf Rabea, die sich in der Provinz vergräbt.“

„Wir trinken auf eine arme Freundin, die ein halbes Jahr lang nur mit Dorftrotteln flirten wird.“

Schließlich war Rabea der Kragen geplatzt, und sie hatte halb amüsiert und halb genervt gerufen: „Wie seid ihr eigentlich drauf? Ich nehme mein Kunstgeschichte-Studium ernst, habt ihr das noch nicht mitgekriegt? Und wenn ich bei einem der besten Restauratoren Europas ein Praktikum machen kann, dann gehe ich dafür sogar nach Ostfriesland!"

Rabea musste sich nicht beeilen, denn die Bahnlinie endete in Esens. Sie schaute sich neugierig um. Am Himmel waren Möwen zu sehen, eine frische Brise wehte. Rabea hatte ihr Ziel noch nicht ganz erreicht. Sie verließ den Haltepunkt und ging auf das wartende Taxi zu. Wohlweislich hatte sie es beim Umsteigen in Oldenburg schon telefonisch geordert. Schließlich musste sie noch weiter nach Bensersiel.

„Moin. Wo soll’s hingehen?“

Der Taxifahrer sah aus wie ein pensionierter Seemann, was er vielleicht auch war. Jedenfalls hatte er seinen Benz mit Seesternen, Plastik-Seehunden und anderen maritimen Scheußlichkeiten dekoriert. Aber Rabea war Schlimmeres gewohnt. Als kampferprobte Partymaus hatte sie in den vergangenen Jahren viele Hamburger Taxis von innen gesehen. Immerhin war diese ostfriesische Mietkutsche blitzsauber, was man von vielen Karossen in der Großstadt nicht behaupten konnte.

„Ich muss zum Ulmenkloster.“

„Wie eine Nonne sehen Sie aber nicht gerade aus“, erwiderte der Fahrer und musterte mehr oder weniger unauffällig Rabeas lange Beine. Sie trug gerne kurze Röcke.

„Das Kloster ist ja auch nicht mehr in Betrieb“, gab sie kess zurück.

„Wohl wahr, wohl wahr“, brummte der Taxler und ließ den Motor an. Falls es ihn irritierte, eine gestylte junge Frau zu einer Klosterruine fahren zu müssen, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

Als Kunstgeschichte-Studentin wusste Rabea, dass es in Ostfriesland zahlreiche Klosterruinen gab, von denen teilweise nur noch wenige Steine vorhanden waren. Doch das Ulmenkloster sollte nun instand gesetzt und später auch wieder als Konvent genutzt werden. Das war Rabeas Chance, als Restauratorin von antiken Kunstwerken und Gebäuden Erfahrungen zu sammeln.

Sie schaute sich die flache grüne Landschaft an. Nur gelegentlich kam ihnen ein Auto entgegen. Im Vergleich zu dem ständigen Hamburger Verkehrschaos war es hier wirklich sehr ruhig. Ob ihre Freundinnen mit ihrer Schwarzmalerei Recht behalten würden? Das Taxi fuhr nun durch Bensersiel. Rabea schaute zu den Fischkuttern hinüber, die im Hafen lagen. Der Wagen überquerte das Benser Tief und bewegte sich nun an der Küste entlang. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis Rabea jenseits des Ortsausgangsschildes die hinter Ulmen aufragenden Umrisse des alten Gemäuers erblickte.

Selbst ein Laie erkannte schon auf den ersten Blick, wie renovierungsbedürftig das Kloster war. Etliche Dachschindeln fehlten. Eine der gotisch spitz zulaufenden Fensteröffnungen des Hauptgebäudes war mit Brettern vernagelt. Zwischen dem Kopfsteinpflaster der Einfahrt wucherte Gras und Unkraut. Das Taxi hielt, Rabea wuchtete ihr Gepäck auf den Boden und schaute sich um, während sich der Benz wieder entfernte.

Links und rechts des steinernen Portikus hatte man Baugerüste errichtet. Dort hockte in luftiger Höhe ein Mann im Arbeits-Overall, ließ die Beine baumeln und machte sich an den Mauersteinen zu schaffen.

Der Anblick des halb verfallenen Gebäudes hatte Rabeas Tatendrang geweckt. Die Nachwirkungen der Cocktails waren verflogen, sie machte sich eigentlich ohnehin nicht viel aus Alkohol. Rabea konnte es nun kaum noch erwarten, endlich anfangen zu dürfen. Vor ihr lag ein halbes Jahr mit praktischer Arbeit, und das war gewiss spannender als das manchmal staubtrockene Bücherstudium in Bibliotheken und Hörsälen.

Rabea überquerte den Friedhof, der zum Kloster gehörte. Manche der Grabsteine waren bereits mit Moos überwuchert und halb in der Erde eingesunken. Offenbar lagen viele Tote hier schon seit Jahrhunderten begraben. Von ihrem Professor hatte sie erfahren, dass das Ulmenkloster erstmals 1368 errichtet worden war. Doch im Lauf der Jahre war das Konvent mehrfach zerstört und wieder aufgebaut worden.

Der Arbeiter schabte mit einem Stechbeitel an der Mauer herum. Obwohl Rabeas Absätze auf dem gepflasterten Weg nicht zu überhören waren, schaute er nicht von seiner Tätigkeit auf und drehte ihr weiterhin den Rücken zu. Sie blieb unmittelbar neben dem Gerüst stehen und legte den Kopf in den Nacken. Rabea beschattete ihre Augen mit der Hand, denn die Sonne strahlte hell vom Sommerhimmel auf die grauen Mauern.

„Moin. Ich bin Rabea Mertens.“

„Schön für Sie.“

Der Mann warf ihr einen desinteressierten Seitenblick zu, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Der Overall lag eng an, man konnte seine gewaltigen Muskelpakete ahnen. Die blonden Haare des Arbeiters waren kurz geschnitten, der Mann hätte nach Rabeas Meinung gut als St.-Pauli-Türsteher durchgehen können. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Und seine abweisende Art ging ihr schon jetzt auf die Nerven.

Rabea erwartete nicht, dass ihr alle Männer sofort zu Füßen lagen. Sie wusste, dass sie mit ihrer schlanken Figur und ihren großen rehbraunen Augen allgemein als attraktiv galt. Einen Freund hatte Rabea zwar aktuell nicht, aber sie flirtete gern und war offen für neue Erfahrungen. Und sie war es einfach nicht gewohnt, dass man ihr so deutlich die kalte Schulter zeigte.

„Hören Sie, ich bin die neue Praktikantin. Heute ist mein erster Arbeitstag.“

„Dr. Nußbaum teilt die Arbeiten ein.“

Rabea rollte ungeduldig mit den Augen. Aber das konnte der Arbeiter nicht sehen, weil er sie nach wie vor keines Blickes würdigte.

„Okay, und wo finde ich Dr. Nußbaum?“

„Er ist drinnen.“

„Vielen Dank für die freundliche Auskunft“, sagte Rabea ironisch. Der Kerl gab noch nicht einmal eine Antwort. Wütend drückte Rabea die schwere Kirchentür auf. Ob alle Einheimischen so merkwürdig waren? Doch während sie sich diese Frage stellte, wurde ihr klar, dass der gleichgültige Muskelmann nicht aus Ostfriesland stammen konnte. Sie hatte bemerkt, dass er mit einem leichten Hamburger Akzent sprach. Ob er so unausstehlich war, weil sein Schicksal ihn in die tiefste Provinz verschlagen hatte? Rabea hoffte nur, dass sie nicht nach einiger Zeit genauso wurde.

Aber vielleicht waren ja nicht alle Typen in Bensersiel solche Fieslinge wie dieser Arbeiter.

Rabeas Schritte hallten auf dem Granitfußboden der alten Klosterkirche wider. Sie trat in den Mittelgang zwischen den Kirchenbänken und schaute Richtung Altar, um die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.

Sie führte sich vor Augen, dass die Kirche viele Jahrhunderte lang ein geistiges Zentrum der Umgebung gewesen war. Als es noch kein Internet, Fernsehen oder Radio gab, bestand das Leben der Menschen größtenteils aus harter Arbeit auf den Feldern. Die Mönche hatten das Privileg genossen, lesen und schreiben zu können. Sie hatten hinter den Mauern des Klosters ein weltabgewandtes Leben geführt, und …

„Was haben Sie hier verloren?“

Dieser scharfe Satz einer dunklen Männerstimme riss Rabea aus ihren Gedanken. Sie war nicht sicher, aus welcher Richtung der Ruf gekommen war. Die schlecht beleuchtete Kirche war mit ihren Nebengewölben, den Kreuzwegstationen und dem Zugang zur Sakristei sehr unübersichtlich. Doch dann sah sie den Mann, der sich auf sie zu bewegte. Er war untersetzt und bärtig. Trotz der sommerlichen Temperaturen trug er einen Rollkragenpullover und eine Cordhose. Allerdings musste Rabea sich eingestehen, dass es in dem Gotteshaus ziemlich frisch war. Die Sonnenwärme drang kaum durch die dicken Kirchenmauern.

„Sie müssen Dr. Heinrich Nußbaum sein“, sagte Rabea und streckte ihm ihre Rechte entgegen. „Ich habe Ihr Foto gesehen, als ich Ihr Buch über Kirchenrestauration gelesen habe. – Ich bin Rabea Mertens von der Universität Hamburg. Ihre neue Praktikantin steht vor Ihnen.“

Der grimmige Gesichtsausdruck des Restaurators wurde milder, aber nur ein wenig. Immerhin schüttelte er Rabeas Hand. Seine Finger fühlten sich hart und fest an, außerdem waren sie mit Steinstaub bedeckt. Mit einem langen Blick taxierte er Rabeas Figur.

„So, Sie wollen mich also bei meiner Arbeit unterstützen, Frau Mertens. Und im ersten Moment dachte ich, Sie hätten sich in der Tür geirrt. Ich nahm an, sie wollten in die Disco, um an der Wahl zur Miss Ostfriesland teilzunehmen.“

Nußbaums ironische Art zeigte deutlich, was er von Rabeas Outfit hielt. Sie schaute unwillkürlich an sich selbst herab. Rabea trug ein luftiges ärmelloses Sommerkleid. Es war wirklich etwas kurz. Aber sie fand eigentlich, dass sich ihre Beine sehen lassen konnten.

„Das ist natürlich nicht die passende Arbeitskleidung, Dr. Nußbaum“, stammelte sie.

„Für eine Restauratorin nicht, für ein Animiermädchen schon“, stichelte Nußbaum. „Wie auch immer, das Projekt Ulmenkloster ist eine harte und oftmals eintönige Arbeit. Sind Sie sicher, dass Sie sich das antun wollen, Frau Mertens?“

Rabea nickte heftig.

„Auf jeden Fall. Es tut mir leid, dass ich so leicht bekleidet hier hereingeschneit bin. Aber ich bin direkt vom Bahnhof hierhergekommen und habe noch nicht einmal mein Gepäck abgestellt.“

Rabea deutete auf ihre Reisetasche, die sie bei sich hatte. Nußbaum nickte unwillig. Seine Freude, eine neue Hilfskraft zu bekommen, hielt sich sehr in Grenzen. Das war jedenfalls Rabeas Eindruck.

„Ich will offen mit Ihnen sprechen, Frau Mertens. Wissen Sie, warum Ihnen dieses Praktikum angeboten wurde?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Wahrscheinlich, weil Sie Studenten etwas beibringen wollen.“

Der berühmte Restaurator schüttelte den Kopf.

„Sie sind noch naiver, als ich befürchtet habe. Ich rede jetzt Klartext, Frau Mertens. Die Arbeiten an dieser Klosterruine kosten Geld, und das kommt teilweise von der Kirchenverwaltung und teilweise von Ihrer Hochschule. Doch die Universität Hamburg hat die Bedingung gestellt, dass ich junge Kunstgeschichtler ausbilde, sonst drehen sie mir den Geldhahn zu. Ich brauche die Mithilfe einer Praktikantin ungefähr so nötig wie einen Pickel auf der Nase. War das deutlich genug?“

Rabea atmete tief durch. Dieser Nußbaum war tatsächlich noch abweisender als der Kerl draußen auf dem Gerüst, obwohl ihr das kaum möglich erschien. Doch sie ließ sich nicht von ihm beirren, denn sie wusste, was sie wollte.

„Sie waren sehr ehrlich, Dr. Nußbaum, dann will ich es auch sein. – Ich bin hier, und ich bleibe hier. Und ich rate Ihnen dringend, mir etwas beizubringen. Denn wenn Sie das nicht tun, dann werde ich meinem Professor davon berichten. Und dann wird Ihnen der Geldhahn schneller zugedreht, als Sie einen Pickel auf Ihrer Nase ausdrücken können.“

Nußbaum riss die Augen auf. Offensichtlich hatte er nicht mit einer so scharfzüngigen Praktikantin gerechnet. Aber obwohl Rabea auf den ersten Blick süß und harmlos wirkte, ließ sie sich nichts gefallen. Nicht umsonst trainierte sie seit drei Jahren Karate. Der Kampfsport hatte ihr schon oft auch außerhalb der Sporthalle dabei geholfen, selbstbewusst aufzutreten.

Nußbaum atmete tief durch, bevor er wieder den Mund öffnete.

„Okay, Frau Mertens. Ich würde sagen, die Fronten sind jetzt geklärt. Wenn Sie mir nicht allzu sehr auf die Nerven gehen, dann werden wir miteinander auskommen. Ich bin ein altmodischer Mensch, ich besitze beispielsweise noch nicht einmal ein Handy. Von mir werden Sie althergebrachte Handwerkstechniken lernen, die schon völlig in Vergessenheit geraten sind. Wir wollen dieses Kloster ja in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen und nicht ein Gebäude des 21. Jahrhunderts aus ihr machen. Ein Teil der Bevölkerung meidet das Ulmenkloster, weil es der Volkssage nach einen Fluch geben soll. Ein Mann ist hier angeblich vor Jahrhunderten spurlos verschwunden, und sein Geist soll immer noch durch die Krypta der Kirche irren. – Eine typische Geschichte, wie sie auf dem flachen Land während langer Winterabende am Kaminfeuer erzählt wurde.“

„Ich verstehe.“

„Das bezweifle ich. – Aber wie auch immer, unser Team ist sehr überschaubar. Da gibt es zunächst Michael Lange. Er ist ein kräftiger Mann und hauptsächlich für die groben Arbeiten zuständig. Er arbeitet momentan draußen auf dem Gerüst.“

„Den habe ich schon kennengelernt“, sagte Rabea ohne Begeisterung. Kräftiger Mann? Stumpfer Klotz war in ihren Augen die passendere Bezeichnung.

„Aha. Und dann geht mir noch Jannis Veen zur Hand. Er stammt aus dieser Gegend. Jannis ist Zimmermann und hauptsächlich für die Holzarbeiten zuständig.“

Rabea fragte sich, ob sie bei diesem Jannis Veen genauso wenig willkommen sein würde wie bei Nußbaum und seinem muskelbepackten Helfer Michael Lange. Doch bevor sie weiter über diese Frage nachdenken konnte, kam jemand aus der Sakristei. Der Mann trug eine Soutane und hatte schneeweißes Haar. Der Restaurator deutete auf ihn.

„Das ist Pater Lukas, sozusagen der Hausherr des Ulmenklosters.“

Der Geistliche lächelte und deutete auf die Darstellung von Jesus Christus am Kreuz.

Das ist der Hausherr, ich bin sozusagen nur eine Art Verwalter. – Sie müssen die Praktikantin sein. Ich hörte schon, dass wir Zuwachs bekommen.“

Der Pater war die erste Person im Ulmenkloster, die sich über Rabeas Ankunft zu freuen schien. Rabea stellte sich ihm vor und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Pater Lukas war gewiss freundlich zu ihr, aber er war eben vor allem ein Geistlicher. Außerdem hätte er vom Alter her ihr Papa sein können, vielleicht sogar ihr Großvater. Durch ihr Praktikum würde sie wohl kaum tolle neue Leute in ihrem Alter kennenlernen. Aber Bensersiel war ja zum Glück ein Touristenort, das würde sie wohl abends mal ausgehen können.

 

„Der Gottesdienst wird momentan im Gemeindehaus nebenan durchgeführt“, fuhr der Pater fort. „Das ist so, damit die Renovierungsarbeiten nicht gestört werden. Das Kloster ist ja momentan noch nicht wieder in Gebrauch. Sie wissen vielleicht, dass die meisten Ostfriesen dem reformierten Glauben anhängen. Dennoch gibt es einige Menschen, für die ich eine Heilige Messe nach katholischem Ritus abhalte. Nur eben nicht in der Klosterkirche. Allerdings schließe ich die Kirchentür niemals ab, damit jederzeit Gläubige zum stillen Gebet hierher kommen können.“

„Ich halte das nach wie vor für einen schweren Fehler, Pater“, knurrte Nußbaum. „Zwar besitzt das Ulmenkloster keine wertvollen Kunstschätze, die gestohlen werden könnten. Aber die Leute gefährden sich selbst, wenn sie uns bei der Arbeit stören. Ihnen könnte ein Unfall passieren, immerhin hantieren wir hier mit schweren Steinen und Stützpfeilern.“

Der Pater lächelte.

„Mit Gottes Hilfe ist bisher alles gut gegangen, und das wird auch weiterhin so sein, Dr. Nußbaum.“

Rabea bemerkte erleichtert, dass auch Pater Lukas nicht immer mit dem knurrigen Restaurator einer Meinung war. Das machte ihr den Geistlichen nur noch sympathischer. Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt, denn sie hörte wieder Schritte.

„Das ist Jannis“, sagte Nußbaum. „Er war auf der Chorempore, um die Pfeiler auszumessen.“

Rabea hörte nur mit einem Ohr zu, denn nun bekam sie Jannis Veen zu sehen. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch begannen sofort zu flattern. Dieser Typ konnte sich wirklich sehen lassen. Er trug eine verwaschene Jeans und ein enges schwarzes T-Shirt, daher konnte man seinen Body gut betrachten. Er war sehnig und muskulös, allerdings nicht mit übertriebenem Bizeps wie Michael Lange auf dem Außengerüst. Doch am besten gefielen Rabea sofort sein offenes Lächeln und seine ausdrucksvollen grünen Augen.

„Moin, du musst Rabea sein. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Jannis wischte sich seine staubigen Finger an der Hose ab, bevor er ihr die Hand gab. Nußbaum und den Pater beachtete er momentan gar nicht. Es war, als hätte er nur Augen für Rabea. Doch Pater Lukas wandte sich nun ohnehin ab.

„Ich muss mich verabschieden. In einer Stunde findet in der Leichenhalle die Trauerfeier für Frau Weger statt. Diese Dame ist vorgestern hochbetagt an Altersschwäche gestorben, und ich muss noch einige Vorbereitungen …“

Der Geistliche konnte seinen Satz nicht beenden. Der gellende Schrei einer Frauenstimme ertönte, der Rabea das Blut in den Adern gefrieren ließ.

 

 

 

 

 

 

 

 

2

„Das kam aus der Leichenhalle!“, rief Pater Lukas. Wie auf ein lautloses Kommando hin rannten alle aus der Kirche. Rabea und Jannis waren am schnellsten. Der Einheimische wandte sich draußen nach links und lief auf ein kleines Gebäude hinter der Kirche zu. Rabea war ihm dicht auf den Fersen. Auch Michael Lange turnte vom Gerüst herunter und kam hinterher, um nachzusehen. Heinrich Nußbaum und Pater Lukas kamen als letzte heran gekeucht.

 

Jannis stieß die Flügeltüren der Leichenhalle auf. An der Stirnseite stand ein Sarg auf Holzböcken, dessen Deckel nun geöffnet war. Daneben befand sich eine Frau in schwarzer Trauerkleidung, die am ganzen Leib zitterte. Die Tränen rannen ihr über die Wangen. Außerdem gab es noch zwei Männer in dunklen Anzügen, die sie zu beruhigen versuchten.

„Was ist passiert?“, rief Jannis.

„Meine Mutter“, schluchzte die Frau. „Wer macht denn so etwas?“

Rabea erreichte nun gemeinsam mit Jannis die Frau und warf einen Blick in die Totenkiste. Sie zuckte zusammen. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

In dem Sarg lag eine tote Seniorin im Leichenhemd, die mindestens neunzig Jahre alt gewesen sein musste. Doch außer ihr befand sich noch eine junge Frau darin – im trendigen Freizeit-Outfit, aber ebenfalls tot!

Rabea hatte noch nie eine echte Leiche gesehen, und nun hatte sie gleich zwei vor Augen. Allerdings hätte der Unterschied nicht größer sein können. Die Ältere war offensichtlich friedlich aus dem Leben geschieden, was der Pater ja auch gesagt hatte. Jedenfalls sah ihr Gesicht entspannt und gelöst aus. Die junge Tote hingegen war eindeutig ermordet worden. Selbst eine kriminalistische Laiin wie Rabea konnte deutlich die Würgemale an ihrem Hals erkennen.

Einer der Anzugträger ergriff nun das Wort.

„Die Tochter der Toten“ – er deutete auf die weinende Frau – „ist heute aus Hannover angereist. Sie wollte ihrer Mutter noch ein Bild in den Sarg legen, ein Familien-Erinnerungsstück. Deshalb haben wir den Deckel noch einmal geöffnet, das hätten wir normalerweise nicht gemacht. Naja, und jetzt haben wir die Bescherung.“

„Kennt man das – das Mordopfer?“

Rabea war erschrocken darüber, wie dünn und zittrig ihre Stimme plötzlich klang. Eigentlich war sie kein Angsthase. Aber andererseits hatte sie noch nie im Leben tote Menschen gesehen, außer natürlich im Fernsehen. Doch das hier war echt und unmittelbar. Rabea zweifelte nicht daran, dass die jüngere Frau umgebracht worden war. Sie konnte nicht viel älter gewesen sein als sie selbst, wenn überhaupt. Allein schon deshalb fühlte sich Rabea der Toten verbunden.

Die Tochter von Frau Weger schüttelte nur den Kopf und begann erneut zu weinen. Sie schien unter Schock zu stehen. Die Totengräber machten verneinende Gesten.

„Aus Bensersiel oder Esens stammt sie jedenfalls nicht, sonst würden wir sie kennen.“

Auch der Geistliche, der inzwischen ebenfalls eingetroffen war, stimmte zu.

„Ich würde sagen, das ist ein Fall für die Polizei“, sagte Pater Lukas. Nußbaum machte nicht gerade einen begeisterten Eindruck, aber das konnte man angesichts der zwei Leichen wohl auch nicht erwarten. Außerdem hatte Rabea den Restaurator noch nie gut gelaunt erlebt, seit sie ihn vor wenigen Minuten kennengelernt hatte. Doch ihr kleinlicher Zoff mit Nußbaum erschien ihr angesichts des gewaltsamen Todes der jungen Frau belanglos.

Rabea wollte unbedingt erfahren, was hier geschehen war.

Die Polizei traf innerhalb von kurzer Zeit ein. Die uniformierten Beamten drängten nur die inzwischen eintreffenden Trauergäste für das Begräbnis von Frau Weger vom Sarg weg und forderten die Kriminalpolizei und die Spurensicherung an.

„Das Begräbnis muss verschoben werden, es könnten sonst Hinweise auf den Täter vernichtet werden“, erklärte der wenig später ankommende Kommissar Schaller. Er war ein blasser Mann mit kahlem Schädel und dicker Hornbrille. Während sich die Spurensicherungs-Spezialisten in ihren weißen Overalls an die Arbeit machten, wurden Zeugen befragt. Auch Rabea und Jannis mussten warten, bis sie an der Reihe waren.

„Du kannst einem echt leidtun, Rabea. Kaum triffst du in Bensersiel ein, schon hast du eine Leiche vor der Nase. Aber du hältst dich tapfer, das muss ich dir lassen.“

Obwohl Jannis‘ Worte gewiss als Kompliment gemeint waren, fühlte sich Rabea von ihm herablassend behandelt. Sie wollte gleich ein paar Dinge zurechtrücken.

„Ich halte mich tapfer? Und was ist mit dir selbst, Jannis? Du musst mir nicht den harten Mann vorspielen, den nichts erschüttern kann. Du bist doch kaum älter als ich, allerhöchstens vierundzwanzig. Willst du mir erzählen, dass du so viel mehr Leichen als ich gesehen hättest?“

„Ja, ich glaube schon“, gab Jannis ernsthaft zurück. „Ich war nämlich als Zimmermann für ein Entwicklungshilfe-Projekt in Afrika und habe dort mehr Tod und Elend gesehen, als gut für mich war. Aber wir konnten wenigstens etwas für die Menschen dort tun, und darum war es zu ertragen. – Ansonsten hast du mich gut geschätzt, ich bin nämlich dreiundzwanzig.“

Das war also der Grund, weshalb Jannis reifer und erwachsener wirkte als viele andere Typen in seinem Alter. Rabea hatte sich durch seine Ausstrahlung sofort zu ihm hingezogen gefühlt. Natürlich konnte er ihr auch Blödsinn erzählen, um anzugeben. Doch ob er Entwicklungshilfe gemacht hatte oder nicht, das ließ sich nachprüfen. Sie fühlte sich jedenfalls in seiner Gegenwart einfach nur wohl.

Dennoch wollte Rabea sich Jannis nicht gleich an den Hals werfen. Sie hatte schlechte Erfahrungen damit gemacht, sich spontan zu verlieben. An der Uni war ihr das mit dem Frauenheld Oliver Sanders passiert. Er hatte im Bett seinen Spaß mit ihr gehabt und sie am nächsten Morgen nicht mehr kennen wollen. So etwas sollte Rabea nicht noch einmal passieren, wenn es nach ihr ging.

Sie schaute zu dem Spurensicherungs-Team hinüber, das am anderen Ende der Leichenhalle arbeitete.

„Und du kanntest die Ermordete auch nicht, Jannis?“

„Nein, sie stammt gewiss nicht aus Bensersiel. Und auch nicht aus einem der umliegenden Orte. Ich habe mein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht, abgesehen von dem einen Jahr in Afrika. Mir ist völlig unklar, wie sie in den Sarg kommen konnte.“

„Der Mörder hat sie dort hinein gelegt, was denn sonst? Es war doch purer Zufall, dass der Sarg noch einmal geöffnet wurde. Überleg mal, Jannis – wenn das nicht geschehen wäre, hätte man die Leiche

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Olivia Prodesign, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2020
ISBN: 978-3-7487-4886-1

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