Kea Kühn lächelte die Furcht weg, als der Jet mit dem Landeanflug auf den JFK Airport von New York City begann. Gleich würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben amerikanischen Boden betreten.
Sie gab ihr ganzes bisheriges Leben auf, ihre Familie und ihre Freunde. Ein völliger Umschwung innerhalb von vierzehn Tagen. Und das alles nur wegen ...
Tom nahm ihre Hand.
„Geht es dir gut, Schatz? Die Flugangst wird dich doch nicht noch kurz vor dem Ziel erwischt haben, oder?“
Kea schüttelte den Kopf.
„Nein, ich fühle mich wohl.“
Das war nur teilweise geschwindelt, denn sie wurde nicht von einer irrationalen Panik vor einem Absturz gebeutelt. Vielmehr begriff Kea erst in diesem Moment so richtig, dass sie schon bald ein komplett neues Leben beginnen würde. Es gab nur einen Menschen, auf den sie sich noch verlassen konnte.
Und der saß jetzt neben ihr und hielt ihre Hand, als wenn es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre.
Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass Tom sich in sie verlieben könnte.
„Nie wieder Kerle!“
Das hatten Kea und ihre beste Freundin Ines sich am letzten Silvesterabend geschworen, als Kea sich wegen Frank die Augen ausgeheult hatte. Und jetzt, ein halbes Jahr später, wanderte sie mit Tom nach Amerika aus.
Als sie die Linienmaschine verlassen hatten und sich auf die Einreisekontrolle zu bewegten, straffte Kea sich. Sie hatte die schlimmsten Geschichten über die US Immigration Officers gehört. Nur langsam bewegte sich die Menschenschlange auf die Abfertigungsschalter zu. Kea hatte also mehr als genug Zeit, um sich selbst innerlich verrückt zu machen.
Ob sie verdächtig wirkte? Nein, das hielt sie für unwahrscheinlich. Kea trug einen beigen Hosenanzug, in dem sie ziemlich bieder wirkte. Ihr brünettes Haar reichte ihr bis zu den Schultern, sie kam sich ordentlich und vielleicht sogar ein bisschen langweilig vor.
„Könntest du das in dein Handgepäck tun?“
Mit diesen Worten drückte Tom ihr eine kleine Ledermappe in die Hand. Sie sah aus wie ein etwas überdimensioniertes Kosmetiktäschchen.
„Warum willst du nicht selbst damit durch die Kontrolle gehen?“, fragte sie schüchtern zurück.
Tom schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.
„Du und ich, wir sind doch jetzt ein Team. Also tu mir bitte einfach den Gefallen.“
Kea wollte nicht zickig sein. Außerdem würde ein Streit womöglich die Aufmerksamkeit der Uniformierten erregen. Also schob Kea schnell die Mappe in ihre große Umhängetasche, obwohl sich das mulmige Gefühl in ihrem Inneren dadurch nur noch verstärkte.
Warum tat Tom das?
War es eine Art Test, um ihr Vertrauen zu prüfen?
Was befand sich in der Ledermappe?
Kea zwang sich dazu, tief durchzuatmen. Tom stand direkt hinter ihr, sie würde sich also zuerst den Einreiseformalitäten unterziehen müssen. Kea besaß nur ein Touristenvisum, während Tom ein Investorenvisum vorweisen konnte. Immerhin wollte er in den Staaten ein Unternehmen gründen.
Wenn nun etwas Illegales in der Mappe war?
Dann konnte er seine Hände in Unschuld waschen, denn auf dem Papier gab es keine Verbindung zwischen Kea und Tom. Der Plan war, dass sie in Las Vegas heiraten würden. Dann war es auch für sie kein Problem mehr, längerfristig in Amerika zu bleiben.
Das ältere japanische Ehepaar hatte nun die Kontrolle erfolgreich hinter sich gebracht. Kea war an der Reihe. Sie überreichte der jungen schwarzen Uniformierten ihren Reisepass mitsamt Visum. Keas Kiefermuskeln schmerzten schon, weil sie so verkrampft lächelte.
Es roch nach Desinfektionsmittel und Schweiß.
Angstschweiß?
„Der Zweck Ihres Aufenthalts in den Vereinigten Staaten?“, fragte der weibliche Immigration Officer. Kea fragte sich, wie oft sie diesen Satz Tag für Tag herunterbeten musste. War es angesichts dieser Routine überhaupt möglich, Gefährder aus der Menge an Passagieren herauszufiltern?
„Äh, touristisch. Also ein touristischer Aufenthalt“, stammelte Kea. „Ich möchte mir Ihre großartige Stadt anschauen, den Broadway, den Central Park, die China Town, und ...“
„Willkommen in den Vereinigten Staaten.“
Mit diesen Worten stempelte die Uniformierte Keas Pass. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Allerdings hatte sie nicht bedacht, dass sie auch noch die Zollkontrolle hinter sich bringen musste.
Der dortige Beamter war in den Fünfzigern, hatte einen stechenden Blick und schien Freude an der Schikane zu haben. Ein scharfer Hund, wie Keas Vater gesagt hätte. Der US Customs Officer winkte Kea gleich heraus. Sie vermied es im letzten Moment, einen verzweifelten Blick in Toms Richtung zu werfen. Kea war schließlich eine erwachsene Frau. Sie musste mit ihren Problemen allein fertigwerden.
Am meisten ärgerte sie sich über sich selbst. Kea hätte wetten können, dass der Zollheini sie sich nur vorknöpfen wollte, weil sie so unsicher wirkte. Warum konnte Kea nicht so cool und souverän wie andere Frauen sein? Vielleicht würde sie das in den Staaten endlich lernen, sozusagen als erwünschten Nebeneffekt ihres Neuanfangs an Toms Seite.
Der Uniformierte hieß laut seinem Namensschild Bradley. Und Bradley hielt sich gar nicht erst mit der Frage auf, ob er Keas Handgepäck kontrollieren durfte. Er forderte sie dazu auf, es ihm zu überreichen.
Routiniert durchforstete Bradley mit seinen behandschuhten Fingern die Umhängetasche. Und natürlich stieß er sofort auf die verflixte Mappe. Misstrauisch kniff er seine kleinen bösen Augen zusammen.
„Was ist hier drin, Miss?“
„Ich, äh ...“
Keas Atem stockte, ihr Kreislauf spielte verrückt. Woher sollte sie das wissen? Einen Moment lang wurde sie sauer auf Tom, weil er sie in diese Situation gebracht hatte. Kea sah sich schon in einem amerikanischen Gefängnis. Und sie glaubte nicht, dass es dort so unterhaltsam zugehen würde wie in der Serie Orange is the new Black.
Geduld schien nicht zu Bradleys stärksten Charaktereigenschaften zu gehören. Jedenfalls wartete er die Antwort auf seine Frage nicht ab, sondern zog den Reißverschluss auf. Tastete vorsichtig ins Innere der Ledermappe hinein. Bradley zog einen Gegenstand hervor.
Es war ein Schnuller für Babys.
Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches gewesen, wenn Kea ein Kind bei sich gehabt hätte. In ihrer Umhängetasche fehlten auch Windeln, Feuchttücher, Puder und andere Baby-Utensilien. Das musste Bradley natürlich auch erkannt haben. Kea bemerkte an seiner Hand einen Ehering. Er war gewiss Vater vielleicht sogar inzwischen Opa.
Auf jeden Fall war sein Misstrauen jetzt erst richtig geweckt. Das konnte Kea deutlich spüren. Anklagend hielt er ihr den Schnuller unter die Nase.
„Was soll das, Miss? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“
Jetzt musste Kea sich eine überzeugende Ausrede einfallen lassen. Sie hatte kein Kind, war auch noch niemals schwanger gewesen. Ihre bisherigen Beziehungen waren nie bis ins Stadium der Familienplanung gereift. Mit Tom war das anders. Kea wollte gern von ihm schwanger werden. Doch damit das geschehen konnte, musste sie zunächst diese Situation bewältigen.
„Das ist ... ein Erinnerungsstück, verstehen Sie? Ich hatte eine Fehlgeburt.“
Sie stieß diese Sätze hervor und begann zu weinen. Kea gehörte nicht zu den Frauen, die auf Kommando Krokodilstränen hervorbringen können. Sie heulte jetzt vor Angst und nicht aus Trauer, denn in Wirklichkeit was das niemals geschehen. Die Lüge schien ihr immerhin glatt über die Lippen gegangen zu sein.
Jedenfalls glaubte sie durch den Tränenschleier zu erkennen, dass Bradleys harte Gesichtszüge weicher wurden.
Er schob den Schnuller in die Ledermappe zurück, zog den Reißverschluss zu und gab Kea ihre Tasche.
„Entschuldigen Sie meine Frage, Miss. Ich mache hier nur meinen Job, okay? Ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt in unserem Land.“
Kea nickte und trocknete ihre Tränen, während sie mit der anderen Hand ihre Umhängetasche an sich presste.
Tom wartete jenseits der Sperre auf sie.
Kea lag die Frage auf der Zunge, was er sich dabei gedacht hatte. Weshalb musste sie mit dem Schnuller durch die Kontrollen gehen? War das eine Art Test? Wollte er überprüfen, ob sie würdig war, von ihm vor den Traualtar geführt zu werden?
Nein.
Wahrscheinlich machte sie nur aus einer Mücke einen Elefanten.
Tom hatte einen seltsamen Sinn für Humor. Wenn sie ihn darauf ansprach, würde er gewiss einfach nur lachen und an ihrem Ohrläppchen ziehen, wie sie das so gern hatte.
In diesem Moment sah er besorgt aus.
„Du hast geweint“, stellte er fest.
Kea winkte ab.
„Das war halb so wild, der Zollonkel ist mir zu sehr auf den Wecker gegangen. Willst du deine Mappe gleich wiederhaben?“
„Nein, das kann warten. Ich zeige dir jetzt erst mal das Apartment. Unser neues Zuhause, Kea.“
Den letzten Satz sprach er mit einem so warmen Unterton aus, dass sie die unangenehme Episode sofort vergaß.
Tom nahm ihre Hand, und wieder einmal genoss Kea das Gefühl, an seiner Seite sein zu dürfen. Er überragte sie um einen Kopf, doch nicht nur seine Größe und sein selbstsicheres Auftreten hatten Kea vom ersten Augenblick an beeindruckt. Sie hatte sich seit der Pubertät immer einen Freund gewünscht, der ihr keine Schwierigkeiten machte.
Stattdessen war sie immer nur an Problemfälle geraten.
Matthias, das Muttersöhnchen, Ralf, der Säufer, Bernd, der Psychopath ...
Ha! Kein Ex von mir hätte den Mumm für eine Auswanderung in die Staaten gehabt. Die haben es ja noch nicht einmal hingekriegt, mit mir im Sommer nach Spanien zu fliegen.
Kea verdrängte den Gedanken an die Vergangenheit, konzentrierte sich lieber ganz auf die Gegenwart.
Tom lotste sie durch die Abflughalle, die von Reisenden aus allen Teilen der Welt bevölkert wurde. Blau uniformierte Cops ließen ihre misstrauischen Blicke über die Menschenmenge schweifen. Kea führte sich vor Augen, dass diese Stadt mehrere furchtbare Terroranschläge überstanden hatte.
Tom strebte auf die Schlange von wartenden Taxis zu, hielt für Kea die hintere Tür auf und ließ sich neben ihr auf das Sitzpolster fallen. Er nannte dem indischen Fahrer eine Adresse, und der Taxler setzte das gelbe Checkers-Cab in Gang.
Kea lehnte sich an Toms Schulter und genoss den Ausblick. Sie war noch niemals zuvor in New York City gewesen.
Plötzlich klingelte Toms Handy.
Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und rückte etwas von ihr ab.
„Da muss ich rangehen, Schatz. - Yeah, what‘s the matter?“
Tom benutzte nun die englische Sprache, und er wurde schlagartig aggressiv.
Diese Seite an ihm kannte sie noch gar nicht. Ihr Freund wirkte sonst stets ausgeglichen. Allerdings hatte Kea Tom bisher immer nur in seiner Freizeit erlebt. Sie wusste, dass er ein Software-Start-up gründen wollte.
Und dass in der amerikanischen Geschäftswelt mit harten Bandagen gekämpft wurde, hatte sie schon oft genug gehört oder gelesen.
Kea bekam von dem Gespräch nicht viel mit, da ihr Schulenglisch eher dürftig war.
Doch sie konnte den Hass ihres Freundes beinahe körperlich spüren.
So hatte sie Tom noch niemals erlebt.
Wer ging ihm so dermaßen auf den Wecker, dass sich sein männlich-markantes Gesicht in eine Fratze des Widerwillens und Abscheus verwandelte? Mit was für Menschen musste Tom sich in seinem Job abgeben?
In Kea regten sich leise Zweifel, während das Yellow Cab langsam auf dem vielspurigen Expressway Richtung Manhattan glitt. Und sie fragte sich, wie ihre eigene berufliche Zukunft aussehen würde. Als Grafik-Designerin hatte sie den Vorteil, überall auf der Welt Kunden gewinnen zu können. Falls sie also mit der Mentalität hiesiger Auftraggeber nicht zurechtkam, konnte sie immer noch auf ihre alten Kontakte in Deutschland und Österreich zurückgreifen. Das war ein sehr beruhigendes Gefühl.
Kea zwang sich zu ruhigem Atmen und dazu, nicht in Toms Richtung zu sehen. Allmählich ließ das unangenehme Gefühl in ihrer Magengegend nach. Plötzlich war das Telefonat vorbei. Im nächsten Moment nahm Tom ihre Hand. Sie fühlte sich warm und sanft an. So, wie sie es gewohnt war.
Er warf ihr einen Seitenblick zu, wobei er ein entschuldigendes Lächeln aufsetzte.
„Verzeih mir, Schatz. Es ist unhöflich, in deiner Gegenwart Jobgespräche zu führen. Aber manche Dinge gestatten einfach keinen Aufschub.“
„Kein Problem“, schwindelte Kea. „Ich hoffe, du hattest Erfolg.“
„Erfolg? Ja, sicher. Ich lasse mir die Butter nicht vom Brot nehmen“, murmelte Tom. Er wirkte nun geistesabwesend. Wahrscheinlich war er innerlich immer noch mit dem Gespräch beschäftigt. Kea wollte nicht nachhaken, obwohl sie sehr neugierig war.
Doch wollte sie die Wahrheit wirklich wissen?
Tom ist zu schön, um wahr zu sein.
Dieser Satz ihrer besten Freundin ging ihr nun wieder durch den Kopf. Kea presste die Lippen aufeinander. Unsinn! Nina war bloß neidisch, weil Tom nicht nur viel besser aussah als ihr Kevin, sondern auch noch im Berufsleben ein echter Siegertyp war. Während Ninas Herzblatt bei einer Krankenversicherung arbeitete und das wohl auch bis zur Rente tun würde, machte Tom sich gerade mit einem brandheißen Software-Startup in New York City selbständig.
Welche Karriere hatte wohl mehr Glamour?
Kea schob ihre Beklemmungen zurück und bestaunte die breiten Boulevards mit den typischen Hydranten, die Leuchtbänder am Times Square und die zahlreichen Wolkenkratzer von Midtown. Es war ein himmelweiter Unterschied, diese Stadt im Fernsehen oder in der Wirklichkeit zu erleben. Kea wurde umfangen von den Geräuschen und Gerüchen, diesem völlig fremden und doch so anziehenden New-York-Flair.
Das Taxi hielt an einer Adresse in der Upper West Side.
Tom bezahlte den Fahrer und nahm das Gepäck. Die Tür wurde ihnen von einem Doorman geöffnet, dessen Uniform Kea an die eines Operettenadmirals erinnerte.
Sie fuhren mit dem Lift in das elfte Stockwerk hinauf.
„Hier haben wir unsere Ruhe“, meinte Tom lässig, als er die Tür aufschloss. „Diese Etage gehört uns ganz allein, Schatz.“
Keas Atem stockte.
Sie schritt über den weichen Velours-Teppichboden, direkt auf die bodentiefen Panorama-Fensterscheiben zu.
New York lag ihr nun zu Füßen.
Natürlich war die elfte Etage für die hiesigen Verhältnisse nicht wirklich hoch, doch Kea hatte noch nie zuvor eine solche Wohnung gehabt. Sie war in einem Einfamilienhaus aufgewachsen und hatte in Deutschland zuletzt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand gelebt, bevor sie an Toms Seite in die Staaten geflogen war.
Er trat hinter sie und berührte sanft ihre Schultern.
„Da hinten ist der East River. Den kannst du jetzt nicht sehen, weil er durch die Häuser verdeckt wird. Und da drüben beginnt Brooklyn. Bei Nacht haben wir ein Lichtermeer vor der Nase.“
„Es ist wunderschön.“
„Du bist wunderschön“, raunte Tom und küsste sie auf den Nacken.
Kea schloss die Augen. Ihr Herz klopfte lauter. Sie gab sich ganz den Gefühlen hin, die durch Toms Berührungen erzeugt wurden.
Das leise metallische Geräusch empfand sie als lästig. Tom schien es genauso zu gehen.
„Verflucht, was sind das für Töne? - Hey!“
Das letzte Wort schrie Keas Freund. Sie erschrak, schlug die Lider auf und wirbelte herum.
Zwei bewaffnete Männer waren in die Wohnung eingedrungen. Sie trugen Sturmhauben über ihren Köpfen.
Special Agent Lenita Borges saugte am Strohhalm. Doch der Rest ihres Seven Up war bereits warm. Sie stellten den Plastikbecher auf die Bodenmatte des Ford Crown Victoria und streckte ihre langen Beine aus.
Ihr Dienstpartner Chuck Jablonski hockte auf dem Fahrersitz. Er warf ihr grinsend einen Seitenblick zu.
„Sind deine Gesäßmuskeln eingeschlafen, Bellissima? Wir parken noch keine fünf Minuten hier.“
Borges schnaubte verächtlich.
„Bellissima ist ein italienisches Wort, du Trottel. Meine Großeltern sind aus Portugal hierher eingewandert, kapiert? Und ich bin wirklich immer wieder innerlich bewegt, wie viele Gedanken du dir über meinen Hintern machst. Wahrscheinlich träumst du auch nachts von meiner Kehrseite.“
„Das willst du nicht wissen. Ich stelle nur fest, dass du eine miserable Laune hast. Die musst du aber nicht an mir auslassen. Mir sind Observierungen auch ein Graus, da geht es mir nicht anders als dir. Aber wir können uns beim FBI nicht nur die Rosinen herauspicken. Der Alte wird sich schon etwas dabei gedacht haben, dass er uns auf diesen Berger angesetzt hat. Immerhin konnten wir dem sauberen Pärchen bisher unbemerkt vom JFK hierher folgen.“
Borges zuckte mit den Schultern.
„Wollen wir es hoffen. Hoffentlich funktioniert die Überwachung der Telekommunikation.“
Jablonski nickte.
„Das klappt, zumindest bei Bergers Smartphone. Jim hat mir gerade eine Textnachricht geschrieben. Berger wurde von Rossini angerufen, als er gerade im Taxi saß. Angeblich ist Berger fuchsteufelswild geworden.“
„Weswegen?“
„Keine Ahnung. Das werden wir gewiss bei der Einsatz-Nachbesprechung heute Abend gründlich durchkauen.“
„Wenn wir bis dahin nicht vor lauter Langeweile eingegangen sind wie die Primeln“, seufzte Borges. „Was ist eigentlich mit dieser blonden Schnalle? Ist sie eine Komplizin oder nur Bergers Betthäschen?“
„Laut den Kollegen vom deutschen Bundeskriminalamt hat Kea Kühn eine weiße Weste. Keine Vorstrafen, keine Verbindung zu kriminellen Kreisen.“
„Wenn man von ihrem Kontakt zu Berger absieht“, schränkte Jablonski ein.
„Also weiß sie gar nicht, was für ein hundsgemeiner Dreckskerl ihr Romeo ist? Das kann ich mir nicht vorstellen. Es sei denn, sie ist wirklich dämlich. Naja, bei der Haarfarbe ...“
Jablonski hob die Augenbrauen.
„Also wirst du dir dein Haar nicht platinblond färben? Ich hatte gehofft, dass du mich an meinem Geburtstag damit überraschen würdest.“
„Träum weiter“, gab Borges trocken zurück. „Ob ich mir wohl mal eben die Nase pudern gehen kann? Mir platzt gleich die Blase.“
„Nach nur einem Seven Up? Da merkt man, dass du lange Undercover warst und kaum Erfahrung mit Observierungen hast. Blasentraining gehört zu den wichtigsten Disziplinen, wenn es um Beobachtung von Verdächtigen geht.“
Borges öffnete die Beifahrertür.
„Du bist nicht witzig, Chuck. Tut mir leid, dir diese schockierende Neuigkeit unter die Nase reiben zu müssen. - Ich melde mich für drei Minuten ab. Wenn jemand nach mir fragt, ich bin im Ladies Restroom von dem Diner da vorn.“
Jablonski hob grüßend die Hand und schloss die Tür des Dienstwagens wieder. Borges strich die Jacke ihres taubengrauen Hosenanzugs glatt und eilte auf die Coffeebar zu.
Eigentlich war Jablonski schwer in Ordnung. Es gab beim FBI weit unangenehmere Zeitgenossen als ihn. Trotz seiner bulligen Gestalt hielt er sich mit Macho-Sprüchen auffallend zurück, und im Einsatz konnte sie sich keine bessere Rückendeckung vorstellen als ihren Dienstpartner.
Borges hoffte nur, dass bei diesem spektakulären Kidnapping-Fall für sie mehr herausspringen würde als endlose Stunden auf dem Beifahrersitz eines geparkten Crown Vic.
Borges steuerte weiterhin auf das Diner zu, als plötzlich die Tür des Apartementhauses aufgestoßen wurde. Die FBI-Agentin hielt inne. Wollten Berger und seine Gespielin sich etwa schon wieder verdrücken?
Nein, sie waren es nicht, die das Gebäudes verließen.
Der Doorman kam nach draußen getorkelt. Man hätte ihn für sturzbetrunken halten können. Doch da war die heftig blutende Wunde an seiner Schläfe. Er hatte ein Taschentuch gegen seinen Kopf gepresst, doch es war ebenfalls schon rot gefärbt. Das Blut lief an seinem bleichen Gesicht und an seinem Hals hinab.
„Hilfe!“, brachte er krächzend hervor.
Da hatte Borges bereits ihre Dienstwaffe gezogen und war auf ihn zu gerannt. Auch Jablonski war ausgestiegen und eilte dem Verletzten zu Hilfe.
Borges präsentierte ihren FBI-Ausweis.
„Wir sind Bundesagenten, Sir. Was ist geschehen?“
Der Doorman starrte die Agentin an, als ob er eine Außerirdische vor sich hätte. Er stand offensichtlich unter Schock. Doch dann beantwortete er stammelnd ihre Frage.
„Zwei Gentlemen kamen in die Eingangshalle. Noch bevor sie von der Überwachungskamera erfasst werden konnten, zogen sie sich Masken über. Ich wollte den Alarmknopf drücken. Bevor es mir gelangt, flankte einer von ihnen über meinen Tisch und schlug mich mit seiner Waffe nieder. Es ging so unglaublich schnell, ich ...“
„Wir brauchen dringend Verstärkung und eine Ambulanz“, murmelte Jablonski und griff zum Funkgerät.
Borges konzentrierte sich weiterhin auf den Verletzten.
„Hilfe für Sie ist im Anmarsch, Sir. Wie lange waren Sie bewusstlos?“
„Ich weiß nicht, vielleicht nur ein paar Minuten.“
Borges überlegte. Es gab für sie keinen Zweifel daran, dass die Maskenmänner Berger einen Spontanbesuch abstatten wollten. Sie hatte die beiden „Gentlemen“ natürlich auch gesehen, als sie das Gebäude betraten. Die Kerle waren in ihren dunklen Anzügen und mit ihren Aktenkoffern in diesem Teil Manhattans höchst unauffällig. Sie hatten als Banker oder Börsianer durchgehsen können. Wer ahnte schon, dass sich in den Köfferchen Masken und Waffen befanden?
Borges schaute auf die Uhr.
Es waren keine sechs Minuten vergangen, seit die Männer das Haus betreten hatten. Obwohl Borges noch nicht über viel FBI-Erfahrung verfügte, war ihr klar, dass während dieser kurzen Zeitspanne unendlich viel geschehen konnte.
Sie wandte sich an den Doorman.
„Mein Kollege hat eine Ambulanz verständigt, sie muss gleich hier sein. Setzen Sie sich auf den Boden, Sie sind hier draußen in Sicherheit.“
Das Opfer warf ihr einen zweifelnden Blick zu, folgte aber ansonsten der Anweisung.
Eine Gaffermenge fand sich im Handumdrehen zusammen. Die Leute hielten Abstand, filmten aber ungeniert mit ihren Smartphones. Borges hatte jetzt keine Zeit, sich darüber aufzuregen.
„Wir müssen diese Maskenmänner stoppen, bevor sie zu viel Unheil anrichten!
Berger hat das Apartment in der elften Etage gemietet, nicht wahr?“
„Ja, aber wir sollten besser auf Verstärkung warten.“
Borges schaltete ihre Ohren auf Durchzug, ging in die Empfangshalle und drückte den Liftknopf. Es gab zwei Aufzüge, von denen der eine im fünfzehnten Stockwerk verharrte. Die Digitalanzeige des zweiten Lifts zeigte hingegen an, dass die Kabine sich schnell dem Erdgeschoss näherte.
„Du machst ja doch, was du willst“, murmelte Jablonski. Auch er hielt seine Pistole schussbereit in der Hand.
Borges zuckte mit den Schultern.
„Meinetwegen kannst du mich beim Alten anschwärzen.“
„Du weißt genau, dass ich das niemals tun würde.“
Sie klimperte mit den Wimpern.
„Mein Held in schimmernder Rüstung!“
„Und das, obwohl du noch nicht mal platinblond bist.“
Als sich die Liftkabine öffnete, waren die Agents auf alles vorbereitet. Doch sie war leer. Nur ein Hauch von teurem After Shave hing in der Luft.
Borges und Jablonski betraten schweigend die Kabine. Der bullige Agent drückte den Knopf mit der Aufschrift 11.
Borges‘ Herz pochte schnell, als sich der Aufzug nach oben bewegte. Sie trug ihre Schutzweste und wiederholte innerlich alles, was sie in der Ausbildung über Schusswaffeneinsatz gelernt hatte. Dies war vermutlich ihre Feuertaufe, denn bisher hatte sie im Dienstalltag noch nicht schießen müssen. Und sie fragte sich, ob das Warten auf Verstärkung nicht doch sinnvoller gewesen wäre.
Jetzt war es leider zu spät.
Ein leises Glockengeräusch ertönte, als die Stahltüren sich in der elften Etage öffneten.
Die Apartmenttür stand weit offen. Die Agents gingen langsam hinein, wobei sie sich gegenseitig Deckung gaben.
Es war, als ob sie ein Schlachthaus betreten würden.
Wenige Minuten zuvor brach Keas Welt in Zeitlupe zusammen.
Es ploppte, als ob Sektflaschen entkorkt würden. In Wirklichkeit feuerten die Maskierten mit schallgedämpften Waffen auf Tom.
Und sie trafen ihn.
Der Entsetzensschrei blieb in Keas Kehle stecken, als die Kugeln in den Körper ihres Freundes schlugen. Der größere Attentäter schoss zweimal kurz hintereinander. Ein Geschoss jagte in Toms Brust, das andere in seinen Kopf. Das Blut spritzte Kea ins Gesicht. Sie stand wie zu einer Salzsäule erstarrt neben ihm. Sie hätte sich zu Boden werfen oder anderweitig Deckung suchen müssen, doch der Schock lähmte sie.
Kea war unfähig, auch nur den kleinen Finger zu rühren.
Ihr Herz raste, der Kreislauf spielte verrückt, ihr wurde schwindlig. Vielleicht wäre sie einfach umgefallen. Doch es war, als ob jemand ihre Füße mit großen Zimmermannsnägeln am Boden befestigt hätte.
Auch der zweite Maskierte traf sein Ziel. Er betätigte den Abzug nur einmal. Seine Kugel traf Tom seitlich an der Hüfte.
Keas Freund stürzte zu Boden. Er hatte Augen und Mund weit aufgerissen.
Doch sie begriff instinktiv, dass er niemals wieder atmen würde.
Es war vorbei.
Den Grund für diesen hinterhältigen Angriff verstand sie nicht. War das hier ein Raubüberfall? Doch warum hatten die Kerle ohne Vorwarnung geschossen?
Das Masken-Duo wandte sich nun Kea zu.
Aber bevor die Männer ihre Waffen auf sie richten konnten, wurde plötzlich das Gitter des Lüftungsschachts aus der Verankerung katapultiert.
Eine Frau sprang aus der Röhre. Sie war schlank, wirkte durchtrainiert und trug einen schlichten blauen Arbeits-Overall.
Doch es handelte sich wohl kaum um eine Reinigungskraft.
Das wurde Kea klar, als die Frau ein Wurfmesser hervorzog und es auf den größeren Attentäter schleuderte. Die Waffe durchtrennte seine Kehle beinahe vom einen zum anderen Ohr. Er ließ seine Pistole fallen, während er sich röchelnd und gurgelnd an den Hals griff. Das Blut spritzte im hohen Bogen aus der großen Wunde.
„Jimmy, zum Henker ...“, begann der zweite Pistolenmann. Auch für ihn hatte die Unbekannte ein Wurfmesser reserviert. Bevor er sie niederschießen konnte, erledigte sie ihn ebenfalls. Der Messergriff blieb zitternd in seiner Brust stecken, als er genau wie sein Kumpan zu Boden ging.
Die Maskierten hörten nicht auf zu bluten.
Die Overall-Frau stieg über ihre Körper hinweg, kniete sich neben Tom und tastete nach dessen Halsschlagader. Erst jetzt fiel Kea auf, dass sie dünne schwarze Lederhandschuhe trug.
Sie war dunkelhaarig und recht hübsch, obwohl sie Kea finster anstarrte. Die Frau roch nach Schmieröl, Schweiß und billigem Parfüm. Eine penetrante Mischung. Kea wunderte sich darüber, dass sie so viele Details wahrnahm. Vielleicht lag das daran, dass ihr Verstand die wichtigste neue Information noch nicht verarbeitet hatte.
Tom war tot.
Das wurde nun von der Fremden bestätigt.
„Mist, ich bin zu spät gekommen. Diese Trottel haben Tom abgeknipst. - Wo ist Adrian?“
Die Frage war an Kea gerichtet. Die Unbekannte sprach ein gut verständliches Englisch. Trotzdem konnte Kea nicht antworten. Sie hatte keine Ahnung, um was es ging.
Immerhin kamen ihr nun die Tränen. Die erste normale Reaktion, seit die Metzelei begonnen hatte.
Die Frau packte sie hart am Handgelenk.
„Hör mit der Heulerei auf! Wenn ich mit dir fertig bin, dann wirst du erst recht allen Grund zum Flennen haben. Komm mit, wir müssen fort. Ich wette, dass das FBI Tom schon im Visier hatte. Die Feds werden jeden Moment hier sein.“
Kea verstand immer noch nichts.
Doch sie fürchtete sich viel zu sehr, um Widerstand zu leisten.
Die Fremde zerrte Kea hinter sich her. Sie öffnete die Tür zum Not-Treppenhaus. Dort war die Luft abgestanden, und flackernde Neonröhren stellten die Lichtquelle dar.
Kea musste sich konzentrieren, um auf den steilen Stufen nicht zu stürzen. Einen vernünfitgen Gedanken konnte sie momentan sowieso nicht fassen.
Ihr Verstand wiederholte stets dasselbe Mantra:
Tom ist tot! Tom ist tot! Tom ist tot! Tom ist tot!
Und - diese messerschwingende Furie kannte seinen Namen. Das war schlimm genug.
Kea bekam Atembeklemmungen. Sie wusste, dass es am Stress lag. Doch diese Erkenntnis nutzte nichts. Ihr Körper war trotzdem der Meinung, ersticken zu müssen. Sie rang röchelnd nach Atem.
Die Fremde hielt inne, drehte sich zu ihr um.
„Ist das ein mieser Trick von dir?“
„N-nein, ich ...“
Kea riss ihre verweinten Augen auf, ihre Flanken bebten. Es wollte einfach keine Luft in ihren Lungen ankommen.
„Das haben wir gleich“, kündigte die Unbekannte an.
Sie boxte Kea in die Magengrube. Der plötzliche Schmerz zuckte wie ein Blitz durch ihren Körper. Aber die reale Pein überlagerte den eingebildeten Erstickungstod. Kea hustete, doch nun waren ihre Lungen wieder frei.
„Du kannst mir später danken“, sagte die Fremde und zwang Kea dazu, die letzten Stufen zu bewältigen.
Die Frau stieß eine Metalltür auf. Die Hinterfront des Wohngebäudes sah ziemlich bescheiden aus. Auf dem Hof roch es nach Müll und Rattenkot. Die Unbekannte öffnete den Kofferraum eines alten zerschrammten Chevrolets. Plötzlich hatte sie eine kleine Pistole in der Hand.
„Rein da!“
Keas Herz krampfte sich zusammen. Als Tom starb, hatte sie im ersten Moment ebenfalls nicht mehr leben zu wollen. Doch nun war Kea bereits wieder anderer Meinung.
Sie wollte nicht in einem dreckigen Hof enden, ohne Antworten auf ihre Fragen gefunden zu haben.
Also kletterte sie in den Kofferraum.
Die Fremde schlug den Deckel zu.
„Willkommen in den Staaten!“
Borges und Jablonski benötigten keine drei Minuten, um das Apartment zu checken. Der bullige Agent deutete mit einer Kinnbewegung auf die angelehnte Tür zum Nottreppenhaus.
„Auf diesem Weg dürfte der Killer verschwunden sein. Glaubst du, dass Kea Kühn an diesem Massaker beteiligt war?“
Borges schüttelte den Kopf. Sie ging zwischen den Leichen der beiden Maskierten und dem toten Tom Berger hin und her, den Blick auf den Boden gesenkt.
„Wir haben ein Zeitfenster von nur wenigen Minuten, Chuck. Die Kollegen in der Zentrale sollen sämtliche Verkehrsüberwachungskameras im Umkreis von zwanzig Blocks checken. Noch wissen wir nicht, ob der Mörder mit einer Karre flieht. Davon gehe ich erst mal aus. Er wird nämlich Kea Kühn als Geisel genommen haben. Und die kann er sich ja nicht gut unter den Arm klemmen. Wenn es die Glücksgöttin gut mit uns meint, fällt der Verbrecher durch seinen Fahrstil auf.“
Jablonski nickte und griff zum Hand-Funkgerät. Er gab die Informationen durch. Wenig später kam die Bestätigung von der Federal Plaza.
„Die Kollegen tun, was sie können.“
„Dann wollen wir das auch mal versuchen“, murmelte Borges. „Ich glaube übrigens nicht, dass wir es mit einem männlichen Täter zu tun haben. Vermutlich wurden die beiden Maskierten von einer weiblichen Hand gekillt.“
Jablonski hob seine Augenbrauen.
„Wie kommst du darauf?“
Borges kniete sich neben eine Leiche.
„Folgendes Szenario: Das junge Glück aus Germany schneit herein. Noch bevor sie das Bett einweihen können, tauchen die beiden Ganoven auf und schießen Berger ohne großes Geschwafel über den Haufen. Dann wollen sie sich seine Freundin vorknöpfen. Doch nun betritt ein neuer Player das Spielfeld: Die Killerin.“
Mit dramatischer Geste deutete Borges auf den Lüftungsschacht und das abgesprengte Gitter.
„Dann muss die Täterin topfit sein, wenn sie durch eine so schmale Röhre kriechen konnte“, meinte der Agent.
„Jedenfalls dürfte sie nicht so breite Schultern wie du haben, Chuck. - Wie auch immer, sie erledigt die Bösewichter mit ihren Wurfmessern. Übrigens eine ausgefallene Kampfmethode. Es könnte sich lohnen, unsere Datenbanken unter diesem Aspekt ein wenig zu bearbeiten. Jedenfalls schnappt sie sich Kea Kühn und haut mit ihr durch das Nottreppenhaus ab.“
„Und wie kommst du darauf, dass eine Frau die beiden Kerle getötet hat, Lenita? In den Lüftungsschacht würde auch ein zierlich gebauter Mann passen.“
Borges nickte.
„Ja, aber schau dir die Schuhabdrücke genauer an. Beide Frauen sind durch das frisch vergossene Blut gelatscht, wodurch sie deutlich sichtbare Schuhabdrücke auf dem Teppich hinterlassen haben.“
Jablonski trat näher.
„Trotzdem könnte es sich um einen schmalbrüstigen Kerl handeln“, beharrte er. „Bei der einen Spur gebe ich dir recht, die stammt eindeutig von Frauenschuhen. Doch die andere wurde durch Sportschuhe mit Profilsohle verursacht. Die hätte genausogut ein Mann tragen können.“
„Wir müssen uns nicht streiten, womöglich werden die Überwachungskameras schon bald Licht ins Dunkel bringen“, beschwichtigte Borges. „Lass uns lieber mal schauen, mit wem wir es hier zu tun haben.“
Sie hatte sich bereits Latex-Handschuhe übergezogen und befreite die Köpfe der Toten nun von ihren Masken.
Borges kniff die Augen zusammen.
„Diese Gesichter sagen mir nichts.“
„Aber mir“, entgegnete Jablonski. „Das sind Mike Callahan und Louie Murray. Zwei Revolverschwinger des irischen Mobs. Sie stehen auf der Lohnliste von Old Barns.“
Borges pfiff durch die Zähne.
„Ah, ich kapiere! Der alte Gangster dreht doch sowieso schon am Rad, seit sein Enkel spurlos verschwunden ist. Aber warum lässt er Tom Berger umlegen, anstatt den Aufenthaltsort des Kindes durch Folter zu erfahren? Ob der kleine Adrian schon in Europa getötet wurde?“
Kea fühlte sich im Kofferraum wie in einem fahrenden Blechsarg.
Der Chevrolet schwankte hin und her, hielt gelegentlich an einer Ampel an oder legte sich in eine Kurve. Geräusche drangen auf Kea ein: Hupen, das Wummern von Bässen in Auto-Stereoanlagen, das Heulen von Polizeisirenen. Es roch nach Benzin.
Kea ertastete ihre Umgebung. Das Reserverad konnte sie an seiner Form und dem penetranten Gummigestank leicht erkennen. Und es gab auch einen kleinen Benzinkanister.
Plötzlich kam ihr eine Idee, wie sie ihrem Leben ein Ende setzen könnte.
In ihrer Umhängetasche befand sich ein Feuerzeug. Kea rauchte nicht einmal, dieses Ding gehörte ihrer Freundin Jasmin. Kea hatte das Feuerzeug eingesteckt, als Jasmin es nach einem Restaurantbesuch liegengelassen hatte. Und danach hatte sie es schlicht und einfach vergessen.
Konnte das ein Zufall sein?
Daran glaubte Kea nicht. Es wäre alles ganz einfach. Sie musste nur den Kanister öffnen und ihre Kleidung mit Benzin tränken. Dann das Feuerzeug in Gang setzen. Und - Whooosh!
Sie hatte einmal gelesen, dass der Flammentod äußerst schmerzhaft sei.
Das war schon möglich, doch andererseits wäre sie dann wieder mit Tom vereint. Falls es ein Jenseits gab. Nun, das würde sie dann schon herausfinden.
Kea begann in ihrer Umhängetasche zu suchen.
Sie verstand nicht, warum ihr Freund hatte sterben müssen. Und wer war diese Furie, von der sie verschleppt worden war? Vermutlich verdankte sie der Fremden ihr Leben, doch es bedeutete ihr nichts mehr.
Sie war allein auf einem fremden Kontinent. Die Existenz, die sie sich erträumt hatte, war mit Tom gestorben. Was sollte sie in diesem Land, mit nur ein paar Dollar in der Tasche?
Abgesehen davon, dass die Messerheldin sie garantiert töten würde. War es nicht besser, ihrem Leben selbstbestimmt von eigener Hand ein Ende zu setzen?
Noch nie zuvor hatte Kea an einen Freitod gedacht.
Doch jetzt war plötzlich alles anders. Tom war aus der Welt gerissen worden, also hatte die Welt Kea nichts mehr zu bieten.
Ihre Hand umklammerte das Feuerzeug. Sie zog es aus der Tasche. Schon wollte sie sich den Kanister angeln, als sie zögerte. Kea beschloss, das Ding zuerst zu testen. Wenn sie sich mit dem Benzin übergoss und das Feuerzeug dann gar nicht seinen Dienst tat ...
Kea drückte auf den Knopf. Und es geschah nichts.
Ob sie etwas falsch gemacht hatte? War sie zu dämlich, um ein Feuerzeug anzuzünden? Kea presste die Lippen aufeinander. Ihre Hände waren schweißnass. Das verflixte Ding entglitt ihr.
Ihre Gedanken kreisten nur noch um ihr bevorstehendes Feuerende. Es gelang Kea, in der Finsternis das Feuerzeug wiederzufinden. Doch es funktionierte immer noch nicht. Sie war völlig vertieft in ihre Tätigkeit. Kea bemerkte gar nicht, dass der Wagen angehalten hatte.
Die Kofferraumklappe wurde wieder geöffnet. Als die Unbekannte das Feuerzeug erblickte, schlug sie es Kea sofort aus der Hand.
„Spinnst du? So leicht kommst du mir nicht davon! Hast du dir eingebildet, dich als Flammensäule davonmachen zu können? Das läuft nicht.“
„Sie hätten ja den Benzinkanister nicht im Kofferraum lassen müssen!“
Kea konnte selbst nicht sagen, warum sie diese patzige Antwort gab. Das entsprach normalerweise nicht ihrem Naturell. Doch alles, was gewohnt und vertraut gewesen war, lag nun weit hinter ihr.
Vielleicht wurde es kurz vor ihrem unausweichlichen Tod Zeit für ein paar neue Charakterzüge.
Die Fremde quittierte die Frechheit mit einer Ohrfeige. Dann packte sie Kea am Kragen und zerrte sie aus dem Chevrolet.
Die Frauen befanden sich im Inneren einer ehemaligen Fabrikhalle. Die Oberlichter waren schon längst zerschlagen worden, scharfkantige Glassplitter ragten in den grauen New-York-Himmel. Verrostete Maschinen zeugten von ehemaliger Produktivitiät. Auf dem Boden hatten sich Wasserpfützen gebildet, auf denen Ölfilme schwammen. Die Stahlträger der Dachkonstruktion waren mit Graffiti übersät.
Die Unbekannte stieß Kea in einen kleineren Raum, der früher vermutlich ein Werkmeisterbüro gewesen war. Sie fesselte ihre Gefangene mit Kabelbinder an einen Stuhl. Dann musterte sie Kea von oben bis unten.
„Es ist Zeit für eine kleine Plauderstunde. Weißt du, wer ich bin?“
„Nein“, erwiderte Kea wahrheitsgemäß.
„Mein Name ist Lucia. Und ich habe Adrian vom ersten Moment an geliebt. Ich würde alles für ihn tun. Verstehst du das?“
„Ich weiß nicht, wer das sein soll.“
„Falsche Antwort.“ Lucia griff sich Keas Umhängetasche. „Willst du so enden wie dein Stecher?“
„Nennen Sie ihn nicht so!“, rief Kea unter Tränen. „Wir wollten ... er hat ... wieso musste Tom überhaupt sterben?“
Lucia hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen.
„Gegenfrage: Warum ist dein Tom in die USA gekommen?“
„Er wollte hier ein Start-Up gründen.“
Lucia schnaubte verächtlich.
„Ja, selbstverständlich. Ein Kidnapper-Start-Up.“
„Warum sagen Sie so etwas? Sie kannten doch Tom gar nicht.“
Die dunkelhaarige Frau beugte sich so weit vor, dass sich ihre und Keas Nasen beinahe berührten.
„Woher willst du das wissen, hm? Glaubst du, ich wäre rein zufällig durch den Lüftungsschacht in dieses Luxus-Apartment gekrochen? Und es tut mir übrigens leid, dass dein Freund tot ist. Aber nur, weil ich ihn nun nicht mehr persönlich ausquetschen kann.“
Keas Hals fühlte sich staubtrocken an. Wann hatte sie das letzte Mal etwas getrunken? Das musste im Flugzeug gewesen sein. Eine Coca Cola, als Einstimmung auf ihre neue Heimat, wie sie scherzhaft bemekrt hatte. Plötzlich hatte Kea furchtbaren Durst. Die Ironie ihrer Lage wurde ihr bewusst. Vor wenigen Augenblick hatte sie sich noch selbst verbrennen wollen, um ihrem Leid ein Ende zu setzen. Und nun bestand ihr größter Wunsch in einem möglichst großen Glas Flüssigkeit, am besten Wasser.
Ihr Körper schien sie verhöhnen zu wollen, insbesondere ihre Zunge.
„K-könnte ich etwas zu trinken bekommen, bitte?“
Lucia hob ihre Augenbrauen, dann ließ sie ein wölfisches Grinsen sehen.
„Natürlich, Sweetheart. Wenn du zu plaudern beginnst, dann hole ich dir gleich einen eiskalten Softdrink.“
„Ich weiß doch nichts!“, beteuerte Kea.
„Schon wieder eine falsche Antwort“, stellte Lucia fest. Kea rechnete damit, erneut geschlagen zu werden. Doch ihre Peinigerin schien daran momentan kein Interesse zu haben. Stattdessen griff sie sich Keas Umhängetasche und leerte den Inhalt auf einem Blechtischchen aus.
Puderdose, Geldbörse, Reisepass, Impfpass, Smartphone, eine Packung Papiertaschentücher sowie anderer Krimskrams fiel heraus.
Und natürlich Toms Mappe.
Lucia schien zu wittern, dass dies der wichtigste Gegenstand war. Sie hielt ihn hoch und schaute Kea in die Augen.
„Was haben wir denn hier Schönes?“
Kea wäre zu Boden gegangen, wenn sie nicht schon gesessen hätte. Sie begriff, dass sie jetzt so richtig Probleme bekommen würde.
„Ich ...“
Lucia wartete nicht auf eine Antwort, sondern zog den Reißverschluss auf. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie packte den Babyschnuller mit Daumen und Zeigefinger, hielt ihn Kea unter die Nase.
„Und was ist das, du falsche Schlange? Fast hätte ich dir geglaubt. Ich hielt dich für ziemlich naiv und gutgläubig. So kann man sich täuschen. Zum letzten Mal: Was habt ihr mit Adrian gemacht?“
Erst jetzt realisierte Kea, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie erblickte Lucia wie durch einen Schleier.
„Bitte ...“
Lucia warf den Schnuller auf den Tisch, zeigte mit dem Daumen darauf.
„Ich habe dieses Ding höchstpersönlich für Adrian gekauft! Also spiel nicht weiterhin die Unwissende!“
„Adrian ist ein Baby?“, brachte Kea mit zitternder Stimme hervor.
Lucia antwortete nicht. Sie schien keine Vorliebe für Gegenfragen zu haben. Jedenfalls zog sie ihre Pistole und richtete die Mündung auf Keas Stirn.
Es war seltsam. Im Kofferraum hatte sie noch sterben wollen. Doch nun erschien ihr diese Aussicht überhaupt nicht mehr attraktiv. Ganz im Gegenteil, sie hatte große Angst vor der Kugel, die im Magazin der Waffe für sie reserviert zu sein schien.
„Willst du nicht allmählich mit der Lügerei aufhören?“, stieß Lucia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Was bin ich deiner Meinung nach?“
Kea wusste nicht, was sie sagen sollte. Doch sie begriff, dass von ihr eine Reaktion kommen musste. Sie konnte es sich nicht leisten, Lucia noch mehr zu verärgern.
„Ich lüge nicht“, beteuerte sie. „Und Sie ... sind eine Killerin.“
Lucia lachte, doch sie klang nicht amüsiert.
„Falsch geraten, Sweetheart. Ich bin ein Kindermädchen!“
Kea musste ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut haben. Lucia ließ zögernd die Pistole sinken. Doch sie machte keine Anstalten, Kea loszubinden. Als sie wieder den Mund öffnete, sprach sie mit sich selbst.
„Ich hätte mit nach Europa reisen sollen, dann wäre Adrian nichts geschehen. Aber das ging nicht. Seine Eltern sind am Boden zerstört. Adrians Dad besäuft sich Tag und Nacht, und die Mom des Kleinen dreht völlig am Rad. Sie ist auf dem Psycho-Trip, liest nur noch in so einem verflixten Buch über das Lindbergh-Baby. Du weißt, was mit dem Lindbergh-Baby passiert ist, oder?“
Kea spürte, dass Lucia wegen Adrians rätselhaftem Schicksal völlig aufgewühlt war. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Stattdessen durchforstete sie ihr Gedächtnis. Sie erinnerte sich an Gespräche und Situationen mit Tom. Hatte es irgendwelche versteckten Hinweise gegeben, die sie nicht erkannte? Was war mit dem Telefonat im Taxi? Tom hatte nicht gesagt, mit wem er geredet hatte. Er war zornig geworden, so viel stand fest.
Schlagartig wurde Kea die Tragweite ihrer Gedanken klar.
Inzwischen ging sie selbst davon aus, dass ihr Freund in das Kidnapping verwickelt war.
Lucia wirkte nun eher verzweifelt als hasserfüllt. Sie tat Kea beinahe leid, obwohl sie das noch vor kurzem für völlig unmöglich gehalten hätte.
„Hören Sie“, sagte sie mit metallisch klingender Stimme. „Im Taxi hat Tom mit jemandem telefoniert. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, worum es ging. Er wurde jedenfalls sehr wütend.“
Lucia hakte sofort nach.
„Wer war das? Ein Mann oder eine Frau? Klang die Stimme alt oder jung? Konntest du heraushören, ob es ein interkontinentaler Anruf war? Hat er womöglich mit Europa gesprochen?“
„Ich weiß nicht, ich ...“
„Was weißt du denn überhaupt?“ Lucia schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. „Ich bin so eine Idiotin! Warum habe ich nicht das Smartphone deines Stechers mitgenommen, bevor wir abgehauen sind?“
„Sie sollen ihn nicht so nennen!“
„Ach, wirklich?“, höhnte Lucia. „Und was willst du dagegen tun? Mir den Mund mit Seife auswaschen?“
„Könntet ihr eventuell etwas leiser streiten, Ladies?“
Kea und Lucia hielten inne. Keine von beiden hatte den schlanken jungen Mann bemerkt, der in das ehemalige Werkmeister-Büro eingetreten war. Er trug einen violetten Morgenmantel über einem Pyjama und hatte sich eine schwarze Schlafmaske hoch auf die Stirn geschoben.
Er schien keinen Anstoß daran zu nehmen, dass Kea gefesselt war und Lucia eine Pistole in der Hand hielt.
Das Kindermädchen verdrehte genervt die Augen.
„Haben wir deinen Schönheitsschlaf gestört, Bruderherz?“
Der Pyjamaträger lächelte.
„Zugegeben, im ersten Moment war ich ungehalten. Doch wenn ich mir deine charmante neue Freundin genauer ansehe, ist meine schlechte Laune schon wieder vergessen.“
Lucia deutete mit dem Pistolenlauf in Keas Richtung.
„Sie ist nicht meine Freundin, sondern ene verklemmte deutsche Bitch, die als Anhängsel von Adrians Kidnapper in unser Land gekommen ist. Sie heißt Kea, wenn du es unbedingt wissen musst.“
Der Mann zwinkerte Kea verschwörerisch zu.
„Meine Schwester ist nicht immer so ruppig. Und mein Instinkt sagt mir, dass du mit den dramatischen Ereignissen um das Baby nicht das Geringste zu tun hast.“ Er machte eine kurze Pause. „Wo wir schon bei der Vorstellungsrunde sind, Lucia - willst du Kea nicht ein paar Worte zu meiner Person sagen?“
Lucia seufzte theatralisch.
„Wenn es unbedingt sein muss. - Dieser komische Vogel ist mein Bruder Mario, ein verkrachter Harvard-Studienabbrecher, Ex-Klapsmühlen-Insasse, Darknet-Surfer, Nachteule und hauptberuflicher Computerkrimineller. Ach ja, und er macht gern auf intellektuell. Vor allem, wenn er eine Schlampe ins Bett kriegen will.“
Mario breitete in komischer Verzweiflung seine Arme aus.
„Die stärkste Charaktereigenschaft meiner lieben Schwester ist ihre kompromisslose Ehrlichkeit, wie du schon bemerkt haben wirst. Oder wie Jean-Paul Sartre sagte: Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann.“
„Denk daran, was ich über Marios Intellektualität gesagt habe. Als Nächstes fasst er dir an die Möpse. - Aber ich habe dieses dumme Flittchen nicht als dein Sex-Spielzeug hierher geschleppt, Bruderherz. Sie soll uns alles über Adrians Schicksal verraten.“
Lucias erste Sätze waren an Kea, die letzten an Mario gerichtet gewesen.
Kea hatte durch das unerwartete Auftauchen des jungen Mannes etwas von ihrer Beklommenheit verloren. Er schien ihr berechenbarer und kontrollierter zu sein als seine Brutalo-Schwester. Ob Lucia wirklich ein Kindermädchen war? Ihre starken Gefühle für das verschwundene Baby Adrian schienen jedenfalls echt zu sein.
Kea hätte ihr wirklich gern geholfen. Und das nicht nur, weil sie Kinder liebte. Sie hatte mit Tom eine große Familie gründen wollen. Dieser Gedanke ließ die schwarze Verzweiflung in ihrem Inneren schon wieder an die Oberfläche ihrer Seele steigen.
Fest stand nur, dass sie nicht das Geringste über ein gekidnapptes Kleinkind wusste.
Lucia trat einen Schritt auf Kea zu.
Sie war nun so nahe, dass ihr Schweißgeruch durch ihr billiges Parfüm nicht mehr verdeckt wurde. Die Peinigerin suchte Keas Blick, obwohl sie ihren Kopf zur Seite drehte.
Lucia packte sie am Kinn.
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Du bist ein Weichei, das habe ich sofort erkannt. Wahrscheinlich muss ich dir noch nicht mal einen einzigen Fingernagel ausreißen, damit du singst.“
Sie deutete auf Keas sorgfältig manikürte Hände. Der Besuch im Nagelstudio vor dem Abflug nach New York hatte ein halbes Vermögen gekostet. Plötzlich bereute Kea, dass sie sich wegen Tom mit ihren Eltern entzweit hatte. Wenn sie jetzt in Delmenhorst statt in dieser gruseligen New Yorker Fabrikhalle wäre ...
Das Heimweh traf sie so hart und unfair wie ein Tiefschlag bei einem Boxkampf.
Kea hatte immer noch entsetzlichen Durst. Doch sie traute sich nicht, nach einem Getränk zu fragen. Sie brachte überhaupt kein Wort über die Lippen. Ihre einzige Reaktion bestand darin, heftig den Kopf zu schütteln.
Lucia stieß ein hartes Lachen aus.
„Gleich werden wir sehen, aus welchem Holz du geschnitzt bist.“
Sie griff nach einer rostigen Kneifzange, die auf einer verstaubten und mit Spinnweben befallenen Metallkommode lag. Kea fragte sich, wie viele Geständnisse die Furie mit diesem Werkzeug schon erpresst hatte. Doch eigentlich wollte sie es gar nicht wissen.
„Muss das sein?“, fragte Mario, als Lucia Keas rechtes Handgelenk packte. Kea hatte gehofft, dass er ihr helfen würde. Doch er stand wie angewurzelt mitten im Raum, ungefähr eine Mannslänge von den beiden Frauen entfernt. Seine Hände hatte er untätig in die Taschen seines Morgenmantels versenkt.
Keas Zähne begannen zu klappern, ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie verachtete sich selbst dafür, dass sie so eine Memme war. Doch sie konnte nicht aus ihrer Haut. Und dabei hatte Lucia Keas Finger mit der Zange noch gar nicht berührt.
Ein Telefon klingelte.
Lucia fluchte und fischte ein Smartphone aus der Tasche.
Kea hörte, wie jemand aufgeregt ein paar Sätze hervorstieß. Ihre Peinigerin stand schließlich nahe genug bei ihr.
„Jetzt gleich? Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen ... ich bin auf dem Weg. Ciao.“
Lucia steckte ihr Telefon wieder ein und warf Kea einen langen Blick zu.
„Heute ist dein Glückstag, Blondie. Du darfst dich in der Gesellschaft meines Bruders noch eine Zeitlang an deinen zehn hübschen Fingernägeln erfreuen. Doch ich komme wieder.“
Sie wandte sich an Mario.
„Wirst du es schaffen, eine halbe Stunde lang auf die dumme Kuh aufzupassen, ohne sie zu vergewaltigen?“
Keas Herz blieb beinahe stehen, aber er lachte nur.
„Hör nicht auf meine Schwester, ihr Humor ist gewöhnungsbedürftig. So einer bin ich nicht.“
Lucia ließ die Bemerkung unkommentiert. Sie eilte aus dem Werkmeisterbüro. Wenig später konnte Kea hören, dass der Chevrolet-Motor angelassen wurde. Lucia fuhr davon.
Mario näherte sich Kea mit schleichenden, aber kraftvollen Bewegungen.
Wie ein Raubtier.
Ob er wirklich in der Psychiatrie gewesen war? Oder hatte Lucia sich alles, was sie über ihren Bruder erzählt hatte, nur aus den Fingern gesogen? Wenigstens schien er wirklich mit ihr verwandt zu sein. Wenn man ihre Gesichter verglich, war die Familienähnlichkeit unübersehbar.
„Du musst keine Angst haben“, sagte er mit einem strahlenden Zahnpasta-Lächeln. „Lucia liebt Adrian wirklich, sie hat sich für den Kleinen aufgeopfert. Meine Schwester hatte dunkle Vorahnungen, als Jim und Valeria mit dem Baby und ohne sie nach Europa aufgebrochen sind. Und leider haben sich ihre Befürchtungen als zutreffend erwiesen.“
Mario konnte sich gewählt ausdrücken, er war nicht ungebildet. Ob er wirklich die amerikanische Elite-Universität Harvard abgebrochen hatte? Aber aus welchem Grund?
„Jim und Valeria sind Adrians Eltern?“, vergewisserte Kea sich.
Mario nickte.
„Du hast wirklich nicht die geringste Ahnung, worum es hier geht, nicht wahr?“
Sein Tonfall drückte Mitgefühl aus. Ob sie ihm trauen konnte? Oder war er wirklich ein Frauenschänder? Würde er in dem Fall nicht schon über sie hergefallen sein? Oder wollte Mario Kea noch etwas zappeln lassen, um sie in Sicherheit zu wiegen?
„Ich weiß wirklich nichts. Und ich habe entsetzlichen Durst.“
„Warum hast du das nicht schon längst gesagt? Du musst mich wirklich für einen miserablen Gastgeber halten.“
Mit diesen Worten eilte Mario zu einem kleinen Kühlschrank in der Ecke. Erst jetzt realisierte Kea das sonore Summen eines Generators. Logischerweise musste von irgendwo her ja die Elektrizität kommen, und an das Stromnetz war diese stillgelegte Fabrik gewiss schon längst nicht mehr angeschlossen.
Mario holte eine Dose mit Limonade aus dem Kühlschrank und kam damit zu Kea zurück.
Sie hätte über sich selbst lachen können, wenn ihre Lage nicht so bescheiden gewesen wäre. Kea hatte ihre große Liebe verloren und ernsthaft einen Selbstmord geplant. Und nun wünschte sie sich nichts sehnlicher, als diese Büchse austrinken zu dürfen und von der Fingernagel-Folter und einer Vergewaltigung verschont zu werden.
Ihr Verstand funktionierte seltsam. Ob sie unter Schock stand? Ja, ganz gewiss.
Oder wurde sie allmählich verrückt?
Kea konnte sich selbst trinken, da Lucia ihr die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte. Mario öffnete die Dose und setzte sie an ihre Lippen.
Die eiskalte Flüssigkeit war mit Kohlensäure versetzt und schmeckte nach Orangenaroma. In diesem Moment kam es Kea so vor, als ob sie noch niemals zuvor etwas so Köstliches getrunken hätte.
„Gut?“, fragte Mario mit einem charmanten Lächeln.
Sie konnte nur begeistert nicken.
„Dann sollst du noch mehr bekommen.“
Kea schluckte die Limonade gierig herunter. Doch dann geschah es.
Mario verschüttelte mindestens die Hälfte des Inhalts, der sich auf Keas Bluse und ihre Jacke ergoss.
Sie schrie auf, mehr aus Überraschung und weniger, weil sie die plötzliche Kälte auf ihrer Haut als unangenehm empfand.
Kea blickte an sich herab und stellte entsetzt fest, dass sie wie Miss Wet T-Shirt aussah. Der BH zeichnete sich unter ihrer Bluse deutlich ab.
Ihr kam ein entsetzlicher Gedanke.
Ob Mario die Limonade absichtlich verschüttet hatte, um sich besser an ihrem Körper ergötzen zu können?
Er rang nach Atem, wirkte peinlich berührt.
„Entschuldige bitte, was bin ich doch für ein Tollpatsch! Du wirst dich in den nassen Sachen erkälten. Zum Glück dürftest du ungefähr dieselben Körpermaße wie meine Schwester haben. - Ich bin gleich zurück.“
Mario stürmte davon und ließ Kea mit ihren Gedanken allein.
Die nasse und kalte Bluse fühlte sich wirklich unangenehm an, doch das war jetzt ihre geringste Sorge. Ob dieser Kerl nur ein grausames Spiel mit ihrer Hoffnung abzog?
Und wie sollte sie Lucia davon überzeugen, dass sie nichts von Toms Geschäften gewusst hatte?
Ob ihr Freund wirklich in eine Kindesentführung verwickelt gewesen war?
Kea ließ diese Vorstellung einfach nicht zu. Es musste eine andere Erklärung geben. Doch woher kannte Lucia Toms Namen? Und warum war sie zur Stelle gewesen, als die Schießerei losging?
Kea musste Antworten auf diese Fragen finden, sonst würde sie noch verrückt werden.
Das Knarren der Türangeln riss sie aus ihren Grübeleien.
Mario kehrte mit einem Arm voller Textilien zurück. Er hatte sich auch umgezogen, trug nun nicht mehr seinen Morgenmantel, sondern Jeans und einen grauen Rollkragenpullover aus Baumwolle.
„So, ich habe wahllos ein paar Sachen gegriffen. Ich muss gestehen, dass ich ein Modemuffel bin. Also weiß ich nicht, ob die Kleider dir passen oder dir überhaupt gefallen. Und mit dem Handtuch kannst du dich abtrocknen.“
Wie soll ich das mit gefesselten Händen schaffen?
Es war, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Mario löste den Kabelbinder von Keas Handgelenken.
„Ich werde ein Gentleman sein und mich in mein eigenes Schlafzimmer zurückziehen, dann kannst du dich hier in Ruhe unbeobachtet umziehen. In zehn Minuten kehre ich dann zurück und erzähle dir alles, was ich über Adrians Verschwinden weiß. In Ordnung?“
Kea nickte nur, während sie ihre Gelenke massierte. Allmählich kehrte das Leben in ihre kalten Finger zurück, das Blut zirkulierte besser.
Mario deutete eine Verbeugung an, bevor er ihr den Rücken zudrehte und das Werkmeisterbüro verließ.
War das die Chance zur Flucht?
Kea ließ zunächst die Hüllen fallen und frottierte sich den Oberkörper, bevor sie in Lucias Kleider stieg. Es war eine Ironie des Schicksals, dass sie nun Sachen ihrer größten Feindin anzog.
Kea hatte keinen Zweifel daran, dass dieses angebliche Kindermädchen sie foltern würde, um an Informationen zu kommen. Immerhin hatte Lucia die beiden Killer
äußerst schnell und effizient ins Jenseits befördert.
Wo sich Marios Schlafzimmer wohl befand?
Es konnte überall in diesem großen und unübersichtlichen Fabrik-Komplex sein. Ob zehn Minuten ausreichten, um das Gelände zu verlassen? Und wenn Lucia sie nun bei ihrem Fluchtversuch erwischte?
Keas Finger zitterten so stark, dass sie kaum den Reißverschluss der Jeans hochziehen konnte.
Wenigstens war auf Marios Augenmaß Verlass.
Die Kleider passten so gut, als ob Kea sie selbst gekauft hätte. Allerdings entsprachen sie überhaupt nicht ihrem Geschmack. Die Blue Jeans hatte dekorative Löcher an den Knien und den Oberschenkeln, das Sweatshirt war in einem schreienden Pink gehalten und der dunkleblaue Hoodie trug den Schriftzug BROOKLYN TIGERS.
Kea kam sich reichlich verkleidet vor.
Laut ihrer Armbanduhr waren gerade erst vier Minuten vergangen, seit Mario sie allein gelassen hatte. Keas größte Feindin war in diesem Moment ihre eigene Angst. Ihr brach der Schweiß aus, als sie einen Schritt Richtung Tür machte. Die Atembeklemmungen verursachten ihr Schwindelgefühle. Doch der zweite und dritte Schritt funktionierte schon besser.
Sie ermahnte sich selbst dazu, nicht so ein Schneckentempo vorzulegen. Wenn Lucia jetzt auftauchte, war sie erledigt. Darüber machte sie sich keine Illusionen.
Als Kea die Tür geöffnet hatte, ließ sie ihren Blick durch die große Fabrikhalle schweifen.
Marios Schlafzimmer konnte überall und nirgends sein.
Wirklich?
Er war durch den Lärm der beiden Frauen beim Schlafen gestört worden, das hatte er zumindest behauptet. Also vermutete Kea, dass sich sein Gemach in der Nähe befand.
Ein Grund mehr, so schnell wie möglich den Ausgang zu suchen.
Doch als Kea mit butterweichen Knien quer durch die Halle schlich, stieß sie plötzlich mit dem Fuß gegen eine leere Blechkonserve.
Das scheppernde Geräusch erschien ihr so laut wie der Krach beim Einsturz eines Wolkenkratzers.
Wenn Mario nicht plötzlich taub geworden war, konnte er es unmöglich überhört haben.
Kea begann zu rennen.
In der Schule war sie gut in Leichtathletik gewesen, allerdings hatte ihre Kondition in den letzten Jahren gelitten. Aber ihre Todesangst peitschte sie voran wie ein Sklaventreiber mit einer Reitgerte.
Ihre Augen brannten.
Sie konzentrierte sich auf das große Schiebetor vor ihr. Ob Lucia mit ihrem Chevy hier hindurch gefahren war? Der Ausgang bot jedenfalls genug Platz für ein Auto. Andere Fluchtwege konnte Kea momentan nicht erblicken.
Zehn Minuten!
Sie wollte nicht auf die Uhr schauen, obwohl ihrer Meinung nach der Zeitraum schon verstrichen sein musste. Kea rechnete jeden Moment mit Marios Erscheinen. Was würde Lucias Bruder tun, wenn er sie beim Wegrennen erwischte? Bisher war er ja sehr nett zu ihr gewesen, jedenfalls unter den gegebenen Umständen. Doch wenn sie ihm Schwierigkeiten machte ...
Kea zwang sich dazu, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Stattdessen packte sie mit beiden Händen den eisernen Griff der Schiebetür.
Zog daran.
Nichts.
Der Schweiß lief Kea über den Rücken, durchtränkte ihre neue Kleidung. Wie war das möglich? Das Torschloss schien kaputt zu sein. Außerdem gab es einen schmalen Spalt zwischen Wand und Torrand. Es musste also möglich sein, den Ausgang zu öffnen.
Kea war bisher zu zaghaft gewesen.
Aber es ging um ihre Freiheit und ihr Leben, das ihr inzwischen wieder kostbar genug erschien. Sie biss die Zähne zusammen und stemmte sich mit den Füßen gegen den Betonboden. Ihre eigenen Schuhe (und ihre Unterwäsche) hatte sie behalten.
Und wirklich bewegte sich das schwere Tor, wenn auch nur um wenige Zentimeter. Es würde nur ein schmaler Spalt nötig sein, damit sie hindurchschlüpfen konnte. Zum Glück war sie schlank, beinahe mager. Tom hatte ihr immer so süße Komplimente wegen ihrer Figur gemacht, und ...
Nein!
Sie wollte jetzt nicht an ihn denken. Kea benötigte ihre ganze Kraft, um das Tor zu öffnen. Noch niemals zuvor hatte sie sich körperlich so sehr anstrengen müssen. Lucia hatte doch das Tor ebenfalls auf bekommen, wenn sie mit dem Chevrolet davongefahren war. Ob dieses Killer-Kindermädchen wirklich so sehr viel stärker war als sie selbst?
Kea wusste es nicht.
Für sie stand nur fest, dass sie diese Furie und ihren Bruder niemals wiedersehen wollte.
Endlich hatte Kea das Tor so weit geöffnet, dass sie in die Freiheit hinaus gleiten konnte.
Mario lehnte an der Außenwand des Fabrikgebäudes und rauchte eine Zigarette. Er lächelte Kea an.
„Du musst geahnt haben, dass man von hier aus einen Panoramablick auf Manhattan hat. Bei Nacht ist es traumhaft schön, wenn man die unzähligen Lichter der Wolkenkratzer sieht.“
„Jemand muss Old Barns davon überzeugt haben, dass sein Enkel nicht mehr lebt“, sagte Borges, während sie ihre Gedanken mit der Diktierfunktion ihres Smartphones festhielt. „Das ist die einzig logische Erklärung für den Mord an Tom Berger. Der Gangsterboss hätte dem Kidnapper kein Haar gekrümmt, wenn es kleinen Adrian noch gutgehen würde. Doch der Mord an dem Kind lässt den Alten blindwütig um sich schlagen.“
Jablonski schüttelte den Kopf.
„Ich glaube erst an den Tod des Babys, wenn wir eine Bestätigung durch die Kollegen aus Europa kriegen. Nach unseren letzten Informationen war es doch keineswegs sicher, dass der Kleine noch in Germany festgehalten wird. Angeblich wurde Adrian inzwischen nach Belgien geschafft.“
Borges runzelte die Stirn.
„Also ein Täuschungsmanöver? Es wäre mir auch lieber, wenn der Säugling noch am Leben wäre. Du weißt, wie sehr ich Kindsmörder hasse. Wie auch immer, Old Barns muss eine aus seiner Sicht vertrauenswürdige Quelle haben. - Die Killerin hingegen dürfte davon überzeugt sein, dass Adrian nicht tot ist. Nur aus diesem Grund hat sie Kea Kühn am Leben gelassen. Die Deutsche soll ihr verraten, wo das Baby festgehalten wird.“
„Und wenn Kea Kühn es gar nicht weiß?“, fragte Jablonski.
„Dann hat die Deutsche ein Problem. Ehrlich gesagt ist mir ihr Schicksal ziemlich egal. Wer sich mit einem dreckigen Kindesentführer einlässt, kann nicht auf mein Mitgefühl hoffen. Auf jeden Fall besteht die Möglichkeit, dass diese Kea Adrians Aufenthaltsort kennt.“
„Dann sollten wir sie uns schnappen, bevor sie von der Killerin zu Tode gefoltert wird“, meinte Jablonski.
„Das weiß ich selbst“, fauchte Borges. Etwas ruhiger fügte sie hinzu: „Immerhin sprichst du inzwischen ebenfalls von einer Killerin.“
Der bullige Agent grinste.
„Klar, ich weiß doch, wie gern du recht behältst. Und meistens irrst du dich ja auch nicht.“
Der Wortwechsel zwischen den beiden Mitgliedern der FBI-Spezialeinheit zur Bekämpfung von Kindesentführungen fand in dem blutüberströmten Luxusapartment statt, das Thomas „Tom“ Berger angemietet hatte.
Bald bekamen sie Gesellschaft. Ein Spurensicherungsteam rückte an, ebenso uniformierte Cops vom zuständigen Revier sowie ein Mordermittlungsteam vom New York Police Department. Das Erscheinen der Detectives war allerdings nur eine Formsache. Da die Morde offensichtlich im Zusammenhang mit einem FBI-Fall standen, würden die Bundesbehörden weiterhin ermitteln.
„Wir sind nicht traurig, wenn wir die Arbeit euch überlassen können“, sagte ein grauhaariger Detective Sergeant zu Jablonski. „Auch ohne diesen Fall haben wir schon genug zu tun.“
„Kann ich mir vorstellen.“
Borges schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Sie begriff immer noch nicht, wie die Entführung über die Bühne gegangen war. Der Barns-Clan hatte viele Feinde. Man konnte davon ausgehen, dass mehrere Gorillas Jim und Valeria Barns sowie ihr Kind bewacht hatten.
Und doch war es mitten in Berlin verschleppt worden.
Borges fand es höchst seltsam, dass die Eltern daraufhin zur deutschen Polizei gerannt waren. So etwas taten normale Bürger, aber keine Familienmitglieder eines alteingesessenen Mobster-Clans. Solche Leute lösten ihre Probleme üblicherweise selbst, und zwar mit Schlagring und Pistole.
Irgend etwas an der ganzen Geschichte stimmte ganz und gar nicht.
Jablonskis Stimme riss sie aus ihren Betrachtungen.
„Wollen wir zurück zur Federal Plaza fahren oder willst du noch ein wenig vom Frühstück bei Tiffany‘s träumen?“
„Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du nicht witzig bist, Chuck?“
„Ungefähr zwanzig Mal am Tag.“
Die Agents verabschiedeten sich von dem Spurensicherungsteam, das bereits mit der Arbeit begonnen hatte. Ein Gerichtsmediziner war inzwischen ebenfalls vor Ort. Über die Todesursache gab es weder bei den irischen Killern noch bei Tom Berger Zweifel. Trotzdem war es möglich, dass die Obduktion der Leichen weitere nützliche Informationen liefern konnte.
Als Borges und Jablonski im FBI Field Office New York angekommen waren, begannen sie in ihrem gemeinsamen Büro sofort mit der Computerrecherche. Durch die Zusammenarbeit mit dem NYPD konnten sie auf sämtliche Verkehrsüberwachungskameras der Metropole zugreifen.
Es gab nur ein kleines Zeitfenster für die Flucht vom Tatort. Jablonski erstellte zunächst ein Raster, indem er sich auf die Kameras der umliegenden sechs Blöcke konzentrierte.
Für einen Laien waren die Verkehrsströme auf den mehrspurigen Avenues und Boulevards nichtssagend. Doch die Ermittler wussten, wonach sie Ausschau hielten.
Borges deutete auf ihren Monitor.
„Was hältst du von dem grünen Chevy, Chuck? Er hat auffallend oft die Fahrspur gewechselt.“
„Du meinst die Karre, die vom Tatort aus auf der Fifth Avenue Richtung Süden fährt? Vielleicht ein Auswärtiger, dessen Navi nicht richtig funktioniert.“
Die Agentin schüttelte den Kopf.
„Das habe ich auch erst gedacht. Aber der Wagen hat ein New Yorker Kennzeichen.“
„Kannst du es vergrößern, Lenita?“
„Ja, an der Ecke Eighth Street musste der Chevrolet an einer roten Ampel halten. Ich ... verflixt nochmal!“
Sie pfiff durch die Zähne und spürte, wie sie vom Jagdfieber gepackt wurde.
„Treffer?“, vergewisserte Jablonski sich.
„Irgendwie schon. Dieser Chevy wurde vor drei Tagen in Queens als gestohlen gemeldet. Passt doch gut, oder? Wäre ich eine Killerin, dann würde ich jedenfalls nicht mit meinem eigenen Hobel aufkreuzen, um den Job durchzuziehen.“
„Dann ist doch der Wagen sowieso schon zur Fahndung ausgeschrieben, oder?“
„Du hast es erfasst, Chuck. Allerdings sollten wir uns nicht darauf verlassen, dass irgendeine übermüdete Streifenwagen-Besatzung einen lichten Moment hat und die Karre findet. Ich möchte wissen, wohin die Killerin abgedampft ist.“
„Die grobe Richtung haben wir ja schon mal. - Ich tippe darauf, dass ihr Ziel die Brooklyn Bridge oder die Manhattan Bridge war.“
Mit dieser Vermutung behielt Jablonski recht.
Die Agents erweiterten den Suchradius und scannten die Verkehrsüberwachungskameras in Brückennähe ab.
„Wir müssten eine brauchbare Aufnahme vom Gesicht der Fahrerin kriegen“, murmelte Borges. „Damit unsere Gesichtserkennungssoftware mal richtig orgeln kann.“
„Dein Wunsch wird dir erfüllt“, gab ihr Dienstpartner zurück. „Hier, was hältst du von dem Bild?“
Jablonski hatte ein Foto vergrößert und schickte es auf Borges‘ PC hinüber. Sie runzelte die Stirn.
„Ziemlich grobkörnig, aber eine bessere Qualität kriegen wir wohl nicht hin.“
Sie setzte die Gesichtserkennungssoftware in Betrieb.
Jablonski stand auf, ging hinaus und kehrte gleich darauf mit zwei Bechern Kaffee zurück.
„Danke“, sagte Borges, als er einen davon vor sie hinstellte. „Wer könnte denn ein Interesse daran haben, Old Barns vom Tod seines Enkels zu überzeugen?“
„Jeder, der dem alten Gangster das Herz brechen will“, mutmaßte Jablonski. „Bei seinen illegalen Machenschaften sitzt der irische Mistkerl fest im Sattel, wie du weißt. Die Yakuza hätte garantiert keine Hemmungen, ihm einen seelischen Tiefschlag zu versetzen. Das Gleiche gilt für die Triaden.“
Borges war skeptisch.
„Das Kidnapping ging in Berlin über die Bühne. Sind die Asiaten dort so gut vernetzt?“
„Wo nicht?“, gab Jablonski zurück, während er genüsslich seinen Kaffee schlürfte. „Außerdem hat Rossinis Organisation die Entführung eingefädelt.“
„Das weiß ich auch“, sagte Borges gereizt. „Und dieser Tom Berger war nur ein Laufbursche. Obwohl man zugeben muss, dass sein Apartment für einen Handlanger nicht übel ist.“
„Die Bude wird doch sowieso von Rossini bezahlt“, meinte der bullige Agent. „Und da Berger jetzt tot ist, nützt ihm die Traumimmobilie auch nichts mehr. - Wenn du mich fragst, dann haben die Asiaten auf irgendwelchen kriminellen Kanälen von dem Kidnapping Wind bekommen. Die Pressegeier wissen ja immer noch nicht, dass Adrian verschleppt wurde. Jedenfalls hoffe ich das. Und ob es nun die Yakuza oder die Triaden waren, spielt keine Rolle. Beide Vereinigungen haben das allergrößte Interesse daran, Old Barns aus dem Markt zu drängen. Angeblich ist der Alte herzkrank. Würde mich nicht wundern, wenn er am Tod seines Enkels zugrunde geht. Und zwar unabhängig davon, ob das Kind wirklich umgebracht wurde.“
Borges hob die Augenbrauen.
„Du meinst, uns steht ein Unterweltkrieg ins Haus?“
„Nicht direkt. Für einen Krieg benötigt man bekanntlich mindestens zwei Parteien, die gegeneinander kämpfen. Wer soll das bei den Iren sein, wenn Old Barns ins Gras beißt? Seinen Sohn Jim halte ich für einen Schwächling. Okay, es gibt ein paar Lieutenants, die gewiss gern das Ruder übernehmen würden. Doch die Typen werden sich beim Kampf um die Vorherrschaft untereinander abschlachten. Und bis es eine Entscheidung gibt, sitzt längst ein Asiate auf dem Unterwelt-Thron von Manhattan.“
Die Agentin hatte den weitschweifigen Ausführungen ihres Dienstpartners nur mit einem Ohr zugehört. Während der Programm zur Gesichtserkennung immer noch arbeitete, hatte sie parallel die NCIC-Datenbank geöffnet und pflügte sich durch die Profile tausender weiblicher Gewaltverbrecher.
„Der Einsatz von Wurfmessern sah für meinen Geschmack ziemlich professionell aus“, murmelte sie. „Die Täterin dürfte damit früher schon in Erscheinung getreten sein.“
In diesem Moment ertönte ein akustisches Signal.
Jablonski kam zu seiner Kollegin hinüber.
„Hast du einen Treffer?“
Borges nickte.
„Die Gesichtserkennung identifiziert die Frau in dem Chevy mit fünfundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit als eine gewisse Lucia Lezzi, zweifach vorbestraft wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Da gibt es nur ein Problem.“
„Nämlich?“, fragte Jablonski.
„Lucia Lezzi ist angeblich tot.“
Kea begann zu zittern, als Mario sanft seinen Arm um ihre Schultern legte.
„Keine Angst“, raunte er. „Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte, und danach blickst du gewiss ein wenig besser durch. Willst du das?“
Sie nickte. In Wirklichkeit wäre sie lieber so weit fortgelaufen, bis sie niemand mehr einholen konnte. Nicht Mario und schon gar nicht seine verflixte Schwester. Doch momentan blieb Kea nichts anderes übrig als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
„Es gibt eine gewisse Rivalität zwischen Lucia und Valeria, der Mutter des kleinen Adrian“, begann Mario. „Du hast meine Schwester ja schon kennengelernt. Sie kann ein wenig dominant sein. Manchmal hat sie sich so aufgeführt, als ob sie das Kind auf die Welt gebracht hätte. Und ich glaube ihr sogar, dass sie Adrian liebt wie ihr eigen Fleisch und Blut. - Das war jedenfalls der Grund dafür, dass Valeria und Jim ohne Lucia nach Europa aufgebrochen sind. Meine Schwester hat getobt, das war schon nicht mehr schön.“
Kann ich mir lebhaft vorstellen, dachte Kea.
Mario fuhr fort: „Die erste Station der Europareise war Berlin. Ich kenne keine Details, aber Rossini hat einen von Jims Bodyguards töten lassen. Der Typ war vermutlich für den Schutz des Kindes zuständig. Seitdem ist Adrian verschwunden. Das war vor zwei Wochen.“
Er machte eine Pause.
„U-und von dem Kind gibt es kein Lebenszeichen?“, fragte Kea.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Mario.
Sie musste an den Schnuller denken, den sie für Tom ins Land geschmuggelt hatte. Wenn ihr Freund unschuldig gewesen war - warum wollte er dann nicht, dass dieser Gegenstand bei ihm gefunden wurde?
Sie führte sich vor Augen, wie Tom ihr zum ersten Mal von seinen Amerika-Auswanderungsplänen erzählt hatte.
Das war vor vierzehn Tagen gewesen.
Konnte das ein Zufall sein?
Keas Familie und ihre Freunde hatten sie für verrückt erklärt, weil sie so kurzfristig ihr ganzes bisheriges Leben aufgab und diesem Mann in die Fremde folgte.
Mario legte den Kopf schräg und schaute Kea prüfend an.
„Alles okay bei dir? Du bist so blass geworden.“
„Es geht mir gut“, log sie. „Die Luft hier draußen ist angenehm.“
Zumindest dieser Satz stimmte. Gewiss, der Wind wehte einen Hauch von Maschinenöl zu ihnen hin. Aber es gab auch diesen unverwechselbaren Meeresgeruch, der daran erinnerte, wie nahe der Atlantik war.
„Hier in den Staaten gibt es eine Art Netzwerk für Kindesentführung“, fuhr Mario fort. „Ein Drahtzieher für die Ostküstenstaaten heißt Anselmo Rossini. Der Mann ist ein Geist. Obwohl ich mich in der Unterwelt verflixt gut auskenne, konnte ich keinen Hebel ansetzen, um ihn oder seine Handlanger zu finden. Bis vor kurzem wusste ich auch noch nicht, dass Rossini in Europa ebenfalls seine Befehlsempfänger hat. Man lernt eben nie aus.“
Kea versuchte, die Informationen zu verarbeiten.
„Und du bist sicher, dass dieser Rossini das Kind verschleppen ließ?“
„Ja, denn er nahm über einen Mittelsmann Kontakt mit Old Barns auf. Die Forderung war eindeutig: Adrians Großvater sollte fünf Millionen Dollar in bar auftreiben, wenn er das Baby lebendig wiedersehen wolllte. Für die Geldübergabe wollte Rossini einen gewissen Tom Berger aus Germany hinüberschicken.“
Keas Verstand weigerte sich immer noch beharrlich, die Rolle ihres Freundes in diesem Drama einfach hinzunehmen. Sie fühlte sich dazu verpflichtet, ihren ermordeten Geliebten zu verteidigen.
„Das ist doch Unsinn!“, brach es empört aus ihr hervor. „Wenn dieser Rossini hier überall in Amerika seine Leute hat, wozu würde er dann einen Komplizen aus Europa einfliegen lassen?“
„Ein guter Einwand“, stimmte Mario zu. „Old Barns ist ein knallharter Geschäftsmann, musst du wissen. Er wollte einen konkreten Beweis, dass der Kleine sich in Rossinis Gewalt befindet. In Berlin kommen anscheinend öfter Babys abhanden. Es hätte also genausogut auch sein können, dass Adrian bereits von irgendeinem Kinderhändlerring entführt wurde. Es stand nur fest, dass Old Barns‘ Enkel verschwunden war. Doch Rossini musste zeigen, dass er Adrian hatte.“
„Der Schnuller“, brachte Kea mit tonloser Stimme hervor. „Lucia hat den Schnuller sofort wiedererkannt. Ich schwöre, dass ich von der ganzen Sache nichts gewusst habe - obwohl ich das Ding für Tom durch den Zoll schmuggeln musste.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Und während sie weinte, fielen ihr sehr gute Gründe dafür ein.
Sie trauerte um Tom, obwohl er sie hintergangen hatte. Hinzu kam das Gefühl, schäbig ausgenutzt worden zu sein. War Tom überhaupt nur deshalb in ihrer Begleitung gereist, um den Schnuller unauffällig ins Land schaffen zu können? So ein Gegenstand wirkte im Gepäck einer jungen Frau jedenfalls unverdächtiger als bei einem Mann. Und der Zöllner hatte ihre improvisierte Story von der Totgeburt ja auch anstandslos geglaubt.
Und schließlich vergoss Kea auch noch Tränen wegen ihres eigenen Schicksals. Mario traute sie nicht zu, dass er sie töten würde. Bei Lucia war sie nicht so sicher. Die Furie hatte ja schon in Toms Apartment bewiesen, dass ihr ein Menschenleben nichts bedeutete.
Mario strich ihr sanft über das Haar, doch seine Berührung hatte nichts Forderndes oder Besitzergreifendes. Es kam Kea eher so vor, als ob sie eine Katze wäre, die von ihrem Besitzer liebkost wurde. Trotz ihrer Verzweiflung tat ihr die Berührung gut.
Obwohl sie auch Mario nicht vertraute.
„Das Geschäft Kind gegen Geld hätte problemlos über die Bühne gehen können“, fuhr er fort. „Allerdings behauptete irgendein Gangster aus Germany, dass Adrian schon längst tot wäre. Ich weiß nicht, wie dieser Informant heißt. Entscheidend ist, dass Old Barns die Behauptung geglaubt hat. In dem Moment schickte er seine Killer los, um sich zu rächen. Dein Freund musste leider als erster über die Klinge springen. Ich vermute, dass Old Barns nun keine Kosten und Mühen scheuen wird, um Rossinis gesamte Organisation zu zerschmettern.“
„Und Lucia hat mich gerettet, weil sie nicht an Adrians Tod glaubt?“
Mario beantwortete Keas Frage mit einem Nicken.
„Sie will von dir erfahren, wo das Kind versteckt ist.“
„Ich weiß es doch nicht!“, sagte Kea. Es kam ihr so vor, als ob ihr Todesurteil bereits feststünde. Marios Schwester war Richterin und Henkerin in einer Person. Sie hatte Kea bisher nur deshalb nicht gefoltert, weil ihr Bruder dazwischengefunkt hatte. Doch wenn sie zurückkehrte, würde sie das Versäumte nachholen. Und da Kea keinen blassen Schimmer vom Aufenthaltsort des Babys hatte, wäre ihr Tod der logische Schlusspnnkt dieser ganzen verkorksten Affäre.
Doch seltsamerweise empfand sie keine Furcht mehr. Sie wollte nur noch, dass es vorbei war.
Nun fand Kea es schon beinahe komisch, dass sie sich selbst hatte umbringen wollen. Das würde Lucia viel gründlicher und kompromissloser erledigen.
„Ich werde mit meiner Schwester reden“, sagte Mario beruhigend. „Sie gibt sich gern ruppig, aber eigentlich hat sie ein gutes Herz. Deine Story ist plausibel, Kea. Dieser Tom brauchte eine Frau an seiner Seite, um bei der Einreise kein Aufsehen zu erregen. Weshalb hätte er dich in seine Pläne einweihen sollen?“
„Eben. Ich bin ja nur ein dummes Blondchen“, grollte Kea voller Selbstverachtung.
„So habe ich das nicht gemeint“, stellte er richtig. „Bei einer so komplexen Operation wie einer hochkarätigen Kindesentführung muss man die Anzahl der Mitwisser auf ein Minimum beschränken. Es wäre zu riskant gewesen, dir reinen Wein einzuschenken.“
„Das klingt, als ob du mit solchen Dingen Erfahrung hättest.“
Mario lachte.
„Ich habe noch kein Baby gekidnappt, falls du das meinst. Dennoch bin ich ziemlich kriminell, das kann man nicht beschönigen. Letztlich folgen viele Delikte einem vergleichbaren Muster, nämlich ... oh, verflixt.“
Kea bemerkte, dass Mario seinen Kopf nach links gedreht hatte. Sie folgte seinem Beispiel und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können.
Jenseits des löchrigen Maschendrahtzauns, von dem das Gelände umhegt wurde, fuhr ein Streifenwagen langsam heran. Ein zweites Einsatzfahrzeug folgte. Die Autos mit Polizeilackierung blieben stehen. Nun rollte noch ein dunkler Van mit getönten Scheiben heran.
„Wie wäre es mit einem kleinen Bootsausflug, Kea? So kann ich dir die schönsten Seiten New Yorks zeigen.“
Und bevor sie protestieren konnte, zerrte Mario Kea zu einer steilen Betontreppe an der Schmalseite des Areals. Sie führte zu einem halb vermoderten Bootssteg, an dem ein teuer und neu aussehendes Speedboat vertäut war.
Es gab nur drei Menschen auf der Welt, denen Lucia vertraute. Einer davon war sie selbst, der zweite ihr Bruder.
Und von dem dritten hatte sie einen Anruf bekommen.
Lucia runzelte die Stirn, während sie den gestohlenen Chevrolet Richtung Bronx lenkte.
Gordon war kein Wichtigtuer. Es gehörte zu seinen festen Ritualen, dass er wichtige Dinge grundsätzlich nicht am Telefon besprach. Vielleicht hatte Gordon Lucia auch nur zu sich zitiert, weil er sie mal wieder sehen wollte.
Doch er würde es nicht wagen, sie ohne einen wichtigen Grund aus ihrem Versteck zu locken.
Mindestens jeden dritten Blick widmete Lucia dem Rückspiegel. Sie bemühte sich, einen möglichst normalen New Yorker Fahrstil an den Tag zu legen. Nicht kreuzbrav wie eine Betschwester aus dem Mittleren Westen, aber auch keinen Kamikaze-Attitüde der mit Goldketten behängten Maulhelden.
Unauffälligkeit war ihre beste Tarnung.
Einmal erschien ein Streifenwagen hinter ihr, doch das Einsatzfahrzeug bog am nächsten Häuserblock wieder rechts ab. Niemand konnte Lucia an der Nasenspitze ansehen, dass sie noch vor kurzem zwei Maskenmänner mit dem Messer erledigt hatte.
Die Straßen wurden rauer, als Lucia sich ihrem Fahrtziel näherte. Die South Bronx stellte heutzutage nicht mehr das Höllenloch dar, das sie in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gewesen sein musste. Doch es war immer noch keine Gegend, in der man ohne Waffe einen Mondscheinspaziergang unternehmen konnte.
Es sei denn, man hieß Lucia Lezzi.
Sie fuhr langsam durch die Birchall Avenue. Ihr Blick scannte die Umgebung nach einem möglichen Hinterhalt ab. Gordon hatte nicht so geklungen, als ob ihm jemand einen Revolver gegen die Schläfe drücken würde. Doch Lucia hatte auf die harte Tour gelernt, dass man stets mit allem rechnen musste.
Ihr Freund hatte sich zweifellos eine bizarre Wohngegend ausgesucht.
Die Sozial-Mietblöcke waren von hier aus so weit entfernt wie der Mond.
Die Birchall Avenue durchzog als öde Gewerbestraße die Industriebrache zwischen dem Güterbahnhof und dem Bronx River Parkway.
Man hörte sowohl das sonore Rauschen des nicht abreißenden Straßenverkehrs als auch das Scheppern und Quietschen der rangierenden Güterzüge auf den Gleisanlagen.
In dieser Gegend war niemand zu Fuß unterwegs.
AMTRAK hatte sich vor einigen Jahren ein hochmodernes neues Stellwerk geleistet. Einen Steinwurf weit entfernt stand noch das halb verfallene ehemalige Kontrollgebäude, übersät mit Graffiti und die Fenster mit Brettern zugenagelt.
Dort lebte Gordon.
Lucia parkte den Chevy so, dass sie im Notfall sofort durchstarten konnte und nicht erst wenden musste. Zwar war weit und breit kein Feind zu sehen, doch auf eine trügerische Sicherheit verließ sie sich schon lange nicht mehr.
Sie ließ eines ihrer Wurfmesser in ihre Hand gleiten, als sie die nicht abgeschlossene Metalltür einen Spalt breit öffnete.
Es tat immer wieder gut, die kalte Klinge zwischen den Fingerkuppen zu spüren.
Messer hatten keine Ladehemmung.
Und sie waren leise.
In Lucias Augen konnte es keinen größeren Vorteil geben.
Lauschend stieg sie die steile Steintreppe hoch. Es war kalt und feucht, ein penetranter Geruch nach nasser Pappe und Dieselöl lag in der Luft.
Gordon war wirklich äußerst anspruchslos, was seine Wohnsituation anging.
Lucia glaubte ja, dass ihr Versteck in der ehemaligen Fabrik ziemlich spartanisch war. Doch im Vergleich zu der Behausung ihres Freundes kam ihr Refugium ihr vor wie das Luxus-Loft einer Manhattan-Millionärstochter.
Sie stieg seitwärts die Treppe hoch, wobei sich nach links, rechts und oben sicherte.
Plötzlich ertönte ein metallisches Klicken, und im nächsten Moment wurde eine Schnellfeuerwaffe auf ihren Kopf gerichtet.
Ein lautes Klicken war zu hören.
Dann vernahm sie Gordons Stimme.
„Alles okay, das war nur ein Testlauf! Ist nichts passiert!“
Wütend überwand Lucia die letzten Stufen, bis sie in dem größten Raum des ehemaligen Stellwerks angelangt war. Er diente Gordon als gleichermaßen als Schlafplatz, Labor, Wohnbereich und Meditationsraum.
„Hast du mich hierher gelotst, weil du ein Versuchskaninchen für deine dämliche Selbstschussanlage brauchst?“, wütete sie.
Gordon war ein großer Mann. Er hatte sanfte Augen, doch die zahlreichen Knast-Tattoos auf seinen Armen und seiner Brust und seinem Hals bewiesen, dass er auch in einer absolut lebensfeindlichen Umgebung zu existieren verstand. An diesem Tag trug er eine zerschlissene Jeans und eine schwarze Lederweste über dem nackten Oberkörper. Seine Muskelpakete waren nicht zu übersehen.
Seine Stimme war so samtig wie die eines Märchenerzählers.
„Du siehst gut aus“, sagte er, als Lucia in sein Blickfeld trat. „Und du wirst dich gleich noch viel besser fühlen.“
„Das ist gut, denn momentan geht es mir miserabel“, grollte sie. „Ich hasse Geheimniskrämerei und Zeitverschwendung. Am Allerschlimmsten ist es, wenn jemand durch blöde Rätsel meine eigene Lebenszeit verplempert.“
„Meinst du damit vielleicht mich? Entspann dich und trink eine Cola.“
„Ich will keine Cola, ich will wissen, weshalb ich hier bin!“
Lucia verschränkte die Arme vor der Brust und blitzte Gordon zornig an.
Er verbannte das lässige Lächeln von seinem Gesicht und zog einen zerschrammten Tablet PC hervor. Betätigte eine App.
Lucia runzelte die Stirn.
„Willst du jetzt mit mir einen Video-Abend veranstalten?“
Gordon antwortete nicht, sondern deutete nur auf das Tablet. Dort lief wirklich ein Videoprogramm.
Der Clip zeigte ein Baby, das in einer Wiege lag, sich hin und her drehte und mit einer Gummiente spielte.
Direkt neben der Wiege stand ein Fernseher, in dem eine Nachrichtensendung lief. Es gab keinen Ton, doch das war nicht notwendig. Entscheidend waren das Datum und die Bilder des Londoner Terroranschlags, der am gestrigen Tag stattgefunden hatte.
Lucias Mund trocknete aus. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Kind abwenden.
Es war Adrian.
Sie hätte ihn zwischen hundert anderen Babys erkannt.
Er lebte und schien gesund zu sein.
Lucia brach in Tränen aus. Sie weinte vor Erleichterung. Weder ihr Verstand noch ihr Herz hatten den Tod des Kleinen abzeptieren wollen. Sie beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie nicht der Falschmeldung aufgesessen war.
Zumindest gestern war Adrian noch lebendig und unversehrt gewesen.
Jetzt musste bloß noch die Frage geklärt werden, wo er sich befand.
Gordon hatte eine Dose Cola geholt und drückte sie ihr in die Hand.
„Hier, trink. Das wird dir guttun.“
Lucia öffnete die Büchse. Sie fühlte sich eiskalt an. Die prickelnde Limonade perlte über ihre Sandpapierzunge.
„Danke, Gordon“, sagte sie mit belegter Stimme. „Wo wurde das Video aufgenommen?“
„Ich habe ein wenig recherchiert. Die TV-News stammen von dem Sender BVN. Er sitzt in Belgien, ist aber über Satellit überall auf der Welt zu empfangen. Trotzdem würde ich behaupten, dass der Clip in Belgien aufgenommen wurde.“
„Wieso?“
Gordon zeigte auf das Fenster hinter der Wiege.
„Schau dir das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. Solche schmalen Fassaden und braunen Ziegelsteine findet man vorzugsweise im nördlichen Belgien und in Holland.“
Lucia glaubte ihm. Sie selbst konnte nicht mitreden. Ihre Familie war zwar vor hundert Jahren aus Italien eingewandert, doch sie kannte Europa nicht aus eigener Erfahrung. Sie hatte die Staaten noch niemals verlassen.
Sie strich über Gordons Wange, obwohl Zärtlichkeiten nicht gerade ihre starke Seite waren.
„Danke. Jetzt ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Woher hast du dieses Video?“
„Ich hab natürlich gemerkt, wie sehr du unter Adrians Entführung gelitten hast. Also wollte ich unbedingt herausfinden, was mit dem Kind geschehen ist.“
„Und das hast du auch geschafft“, bekräftigte Lucia. „Du solltest aber meine Frage beantworten, Gordon. Woher stammt der Clip?“
Er atmete tief durch.
„Die Antwort wird dir nicht gefallen.“
Lucias Stimmung schlug wieder um.
„Spuck es endlich aus!“
Gordon schwieg noch einen Moment lang, bevor er wieder den Mund öffnete.
„Ich habe das Darknet durchforstet und bin auf eine Börse für Pädophile gestoßen. Dort gibt es eine Art Versteigerung. Man kann das Baby kaufen. Offensichtlich wollen sich die Entführer nicht darauf verlassen, dass Old Barns wirklich das Lösegeld bezahlt.“
„Lucia Lezzi ist tot?“
„Das habe ich doch gerade gesagt, Chuck. Bist du ein Papagei?“
Jablonski ging auf den Spruch seiner Dienstpartnerin nicht ein. Er meinte: „In der Akte müsste ja stehen, auf welche Art die Verdächtige den Löffel abgegeben hat.“
„Welch eine hochintelligente Anmerkung.“ Borges beugte sich über ihren Monitor. „Ja, die Lezzi erlitt bei einer Schlägerei unter Insassinnen im Albion Frauengefängnis einen Schädelbasisbruch. Ist gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.“
Jablonski schnippte mit den Fingern.
„Da haben wir ja schon des Rätsels Lösung! Das Albion ist doch ein einziger Korruptionssumpf. Die Lezzi wird vermutlich in einem Wäschewagen Richtung Freiheit gedüst sein, während auf dem Anstaltsfriedhof ein Sandsack beerdigt wurde und der Gefängnisdoc für den Totenschein ein kleines Vermögen kassiert hat.“
„Oder ein großes“, ergänzte die Agentin. „Wo du Recht hast, hast du Recht. Schön, dann ist also die Lezzi die Messerwerferin. Das passt auch zu ihrer Strafakte. Hier steht, dass sie immer schon eine Vorliebe für Blankwaffen hatte. Wenn sie keine scharfe Klinge zur Hand hat, tut es notfalls auch ein Schraubenzieher. Fragt sich bloß, weshalb Lucia Lezzi die Deutsche verschleppt haben könnte. Es muss ja irgendeine Verbindung zwischen ihr und dem gekidnappten Baby geben.“
„Vielleicht war die Lezzi Adrians Kindermädchen?“, vermutete Jablonski.
Borges verdrehte genervt die Augen.
„Du kannst noch so oft versuchen, mich mit deinem goldenen Humor zu beeindrucken. Es wird nicht funktionieren. - Lass uns lieber weiter nach dem grünen Chevy Ausschau halten. Gehen wir davon aus, dass die Lezzi sich Richtung Brooklyn abgesetzt hat.“
Ihr Dienstpartner nickte.
Wieder erweiterten sie den Suchradius, bezogen noch ein paar Dutzend weiterer Verkehrsüberwachungskameras in ihr Raster ein.
Als Jablonski wieder den Mund öffnete, war seiner Stimme die Aufregung deutlich anzuhören.
„In Red Hook ist das verdächtige Fahrzeug auf ein verlassenes Fabrikgelände gefahren! Sind wir uns einig, dass man dort die Deutsche erstklassig verstecken kann?“
Borges kam zu ihm hinüber und linste ihm über die Schulter.
„Also, auf dem Gelände könnte man eine ganze Kompanie Geiseln unterbringen! Wir sollten keine Zeit verlieren. Ich werde beim zuständigen Revier anrufen, damit die Cops vorab ein paar Streifenwagen dorthin schicken. Wir benötigen von hier aus mindestens eine Dreiviertelstunde, bis wir dort sind. Ich will nicht, dass dieses Biest uns entkommt!“
Kea hatte noch niemals zuvor in einem Speedboat gesessen.
Es gab überhaupt viele Erfahrungen, die sie momentan zum ersten Mal machte. Und auf die meisten davon hätte sie dankend verzichten können.
Momentan war sie viel zu aufgeregt, um über die Vergangenheit und die Zukunft nachdenken zu können.
Der Atlantikwind fetzte ihr alle Grübeleien aus dem Kopf, als Mario den Bootsmotoren richtig Zunder gab. Sie musste sich mit beiden Händen an der Reling festhalten, um nicht ins Wasser der Hudson Bay geschleudert zu werden. Die Maschinen röhrten so laut, dass sie sich mit Lucias Bruder nur schreiend verständigen konnte.
Breitbeinig stand er im Cockpit des schneidigen Bootes, das die Wellen ritt wie ein Cowboy einen ungezähmten Stier. Kea musste über sich selbst schmunzeln, weil ihr dieser Vergleich soeben eingefallen war.
Ein erster Einfluss der Neuen Welt?
Und dann gab es noch eine andere Sache, die sie irritierte.
So etwas wie ein Lächeln war über ihre Lippen gekommen. So kurz nach Toms Tod? Verwandelte sie sich unter dem Einfluss von Lucia und Mario in ein gefühlloses Monster?
Gedankenfetzen schwirrten durch ihren Kopf. Es fiel Kea ungeheuer schwer, ihre eigene Euphorie zuzulassen.
Dieser Speedboat-Ritt war einfach ... geil!
Das Adrenalin jagte durch ihren Körper. Mario drehte sich grinsend halb zu ihr um.
„Nicht übel, was? Leider kann ich dir nicht allzu viel vom Hafen zeigen. Die Cops sind nicht dumm. Sie werden einen Hubschrauber anfordern. Uns bleiben höchstens fünf Minuten, dann müssen wir an Land untertauchen!“
Nur so kurze Zeit? Es kam Kea so vor, als ob das Boot bereits seit Stunden durch die Fahrrinnen und den breiten Zugang zum Atlantik schießen würde. Plötzlich erblickte sie die Freiheitsstatue auf Liberty Island. Die Skulptur schien zum Greifen nahe, Kea hätte am liebsten die Hand danach ausgestreckt. Doch sie traute sich nicht, den Stahl der Reling loszulassen.
Ihre Furcht war nicht überwunden, nur in den Hintergrund gedrängt worden.
Es spielte keine Rolle. Sie wollte jeden Moment genießen. Bald würde die düstere Wirklichkeit sie wieder einholen, lauernd wie ein Monster in der Finsternis.
Jetzt war Kea einfach nur glücklich, weil ihr die Gischt ins Gesicht spritzte und die starken Windböen an ihren Haaren zerrten. Sie blinzelte das Salzwasser aus ihren Augen weg, um die Fahrt noch besser genießen zu können.
Mario lenkte das Speedboat so souverän, als ob er ein professioneller Rennbootpilot wäre. Womöglich traf das sogar zu. Sie wusste nicht, ob sie seine Selbstauskünfte glauben sollte oder nicht.
Fest stand, dass er den schwerfälligen Hafenschleppern mit ihren starken Motoren ebenso geschickt auswich wie der Staten-Island-Fähre, von der aus die Touristen ihre Kameras auf das schnittige Boot richteten.
Wäre es nach Kea gegangen, dann hätte die Fahrt noch ewig so weitergehen können. Ein Verlustgefühl schnürte ihre Kehle zu, als Mario das Tempo drosselte und das Wasserfahrzeug längsseits einer Kaimauer brachte. Er warf ein Tau über einen Poller, sprang an Land und streckte Kea seine Hand entgegen.
„Komm, bitte!“
Einen verrückten Moment lang dachte sie daran, die Leine einfach wieder loszumachen und mit dem Boot davonzubrausen. Doch ihre Feigheit machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Abgesehen davon, dass sie noch niemals ein Speedboat gefahren hatte.
Kea kam an Land. Ihre Knie fühlten sich weich wie Pudding an. Trotzdem wirkte die Begeisterung bei ihr nach.
„Das war toll“, traute sie sich zu sagen.
„Freut mich, dass die Spritztour dir gefallen hat“, erwiderte Mario augenzwinkernd. „Wir müssen jetzt trotzdem den langen Schuh machen. Wir sind jetzt zwar in einem anderen Staat, doch die New Yorker Cops werden ihre Kollegen in New Jersey schon bald auf uns hetzen.“
Ein anderer Staat?
Für Kea sah es hier genauso aus wie in der öden Gegend, wo sich das aufgegebene Gewerbegebäude befunden hatte. Sie erblickte nur Maschendrahtzäune, Baracken mit Wellblechdächern, Containerplätze, Kräne und Autofriedhöfe.
Mario schien sich jedenfalls gut auszukennen.
Er hielt sie bei der Hand und zerrte sie hinter sich her. Man hätte die beiden für ein Liebespaar halten können, das vor einem unbarmherzigen Feind flieht.
Die Trauer kehrte mit voller Wucht zurück. Kea schluchzte.
„Was ist mit dir?“
Lucias Bruder stellte diese Frage, ohne anzuhalten. Er lief so schnell, dass sie kaum hinter ihm her kam. Wenn er sie nicht mitgeschleift hätte, wäre sie zurückgeblieben.
..Mein Freund ... ich kann immer noch nicht glauben, dass er getötet wurde.“
„Solche Dinge sind schwer hinzunehmen, ich verstehe dich. Unsere Eltern starben auch keines natürliches Todes. Seitdem haben Lucia und ich nur uns. Kannst du nun verstehen, weshalb ich so an meiner Schwester hänge? Auch, wenn sie etwas schwierig ist?“
Das ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte Kea. Aber sie traute sich nicht, diesen Satz laut auszusprechen. Am Ende des Piers stand ein Motorrad.
„Bist du schon mal mit so einer Maschine gefahren, Kea?“
„Nein, ich ...“
Sie beendete den Satz nicht. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass sie es sich bisher nicht getraut hatte. Doch das war unnötig. Kea zweifelte nicht daran, dass Mario sie mindestens für genauso feige hielt wie Lucia es tat.
Womit beide recht hatten.
„Dann wird es endlich mal Zeit dafür!“
Mit diesen Worten schwang Mario sich in den Sattel der schweren Maschine. Kea setzte sich unaufgefordert hinter ihn. Sie war diesem Mann nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das fand sie allerdings immer noch besser als in Lucias Hände zu fallen.
Er gab ihr den Helm, der am Lenker gehangen hatte. Mario selbst schien es nicht für nötig zu halten, seinen Kopf zu bedecken. Fürchtete er keinen Unfall? Es war, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.
„Wenn wir in eine Verkehrskontrolle geraten, muss ich sowieso Vollgas geben. Die Polizei darf mich nicht in die Finger kriegen.“
Bevor Kea an diesem Punkt nachhaken konnte, hatte er den Kickstarter betätigt. Der Motor röhrte auf.
Kea klammerte sich instinktiv an Mario, als die Maschine einen Satz nach vorn machte.
Lucias Bruder schien sich an keine Geschwindigkeitsbeschränkung zu halten. Das Helmvisier war geschlossen, daher spürte Kea den Fahrtwind nicht im Gesicht. Allerdings pfiff er duch ihre Kleidung. Ihr Körper vibrierte, das Motorrad jagte über urbane amerikanische Boulevards hinweg. Aus dem Augenwinkel erblickte Kea Geschäfte mit asiatischen Schriftzeichen auf den Ladenschildern, Liquor Stores mit dicken Stahlgittern vor den Schaufenstern, KFC, Dunkin Donuts, Tankstellen, Seven Eleven, Schnellreinigungen, Pfandleihen und triste Wohnblöcke.
Das Schicksal hat wirklich einen seltsamen Humor, dachte Kea.
Der Mann an ihrer Seite war ausgetauscht worden, kaum dass sie US-Boden betreten hatte. Anstelle von Tom war sie nun hundertprozentig abhängig von Mario, über den sie praktisch nichts wusste.
Außer, dass er netter war als seine Psycho-Schwester und sich bisher nicht an ihr vergangen hatte.
Und nach Lage der Dinge war das alles, was sie momentan erwarten konnte.
Das schmerzhafte Schrillen einer Polizeisirene unterbrach ihren Gedankengang. Sie drehte den Kopf nach links und sah einen Streifenwagen, der auf der Parallelfahrbahn zu ihnen aufzuschließen versuchte.
Auf dem Beifahrersitz befand sich eine uniformierte Polizistin. Panisch bemerkte Kea, dass der weibliche Cop eine Pumpgun in der linken Hand hielt. In der rechten hatte sie das Mikrofon des Außenlautsprechers.
„Lucia und Mario Lezzi, stoppen Sie das Motorrad und legen Sie die Hände hinter den Kopf!“
Der Sinn dieser Warnung drang mit leichter Verspätung in Keas Bewusstsein.
Die halten mich für meine Peinigerin! Das Schicksal ist wirklich ein ganz mieser Komiker!
Mario reagierte auf die Lautsprecherstimme, indem er die Maschine noch weiter beschleunigte. In der nächsten Kurve war Kea fest davon überzeugt, dass sie einen fürchterlichen Unfall bauen würden. Doch entgegen ihren Befürchtungen behielt er das Motorrad unter Kontrolle.
Das Polizeifahrzeug blieb an ihnen dran.
Nun folgte die nächste Botschaft.
„Das ist die letzte Warnung, bevor wir von der Schusswaffe Gebrauch machen! Stoppen Sie endlich das Motorrad!“
Mario bremste.
Schon glaubte Kea, dass er sich fügen wollte. Doch stattdessen riss er den Lenker herum, scharf nach rechts. Er fuhr über den Bürgersteig, wobei einige Passanten kreischend zur Seite sprangen. Mario raste in eine enge Gasse. Dorthin konnte der Streifenwagen natürlich nicht folgen.
Aber was nützte das?
Kea erinnerte sich daran, was er zuvor über Helikopter gesagt hatte.
Nun glaubte sie bereits, das eintönige Rotorengeräusch über ihnen zu hören. Die Motorradreifen rumpelten über Unrat und Müll. Kea hätte schwören können, dass auch eine oder zwei Ratten unter den Reifen zermalmt wurden.
Plötzlich brachte er die Maschine doch zum Stehen. Er drehte sich halb zu Kea um.
„Kannst du klettern?“
„Ich ...“
„Du bist sportlich, das wird schon gehen.“
Mario sprang hoch und angelte nach der untersten Sprosse einer Feuerleiter, die sich an einem Federgewinde befestigt nach unten ziehen ließ. Kea grübelte nicht mehr über ihr Tun nach, sie handelte wie in Trance.
Ehe sie es sich versah, war sie gemeinsam mit Mario ins zweite Stockwerk hoch geklettert.
Er warf sein Smartphone weg.
„Das Ding kann geortet werden“, sagte Mario, als er Keas fragenden Blick bemerkte. „Wir machen uns unsichtbar, das ist gar nicht so schwer.“
Mit diesen Worten machte er sich an einem Fenster zu schaffen und schob es hoch.
Er reichte Kea die Hand. Sie kletterten in ein kleines, aber sauberes und aufgeräumtes Apartment.
Ein Hauch von Normalität wehte durch diese Räume.
Ein Gefühl, das Kea schon fast vergessen hatte. Jedenfalls kam es ihr so vor.
„Wie sollen wir uns unsichtbar machen?“
Sie war wirklich gespannt, was Mario antworten würde.
„Du wirst festgestellt haben, dass die Cops dich für Lucia halten. Logisch, wegen des Helms konnten sie dein Gesicht nicht sehen. Und deine Kleidung stammt von meinem Schwesterherz. Es ist ihr typischer Stil. Die Polizei weiß ziemlich viel über Lucia. Kein Wunder, denn sie hat eine Menge Menschen auf dem Gewissen.“
Bildete Kea es sich nur ein, oder schwang so etwas wie Bruderstolz in seinen Worten mit?
Bevor sie nachhaken konnte, fuhr Mario fort: „Den Cops geht also der Hintern auf Grundeis, deshalb hat die Polizistin auch gleich mit der Pumpgun herumgefummelt. Sie werden zusätzliche Kräfte zusammenziehen und die ganze Gegend absperren, außerdem können wir uns auf den Besuch durch eine Spezialeinheit gefasst machen.“
„Ich bin aber gar nicht Lucia.“
Kaum war Kea dieser Satz über die Lippen gekommen, als sie sich dafür auch schon in Grund und Boden schämte. Diese Tatsache musste sie Mario nun wirklich nicht unter die Nase reiben, schließlich war er mit dieser Furie blutsverwandt. Kea hatte zur Bekräftigung ihrer Worte den Helm abgenommen.
Wenn schwer bewaffnete Polizisten das Apartment stürmten, würden sie sofort erkennen, dass sie nicht die Killerin vor sich hatten. Und deshalb musste Kea sich auch nicht vor ihren Kugeln fürchten.
Oder?
Es war, als ob Mario in ihrem Gesicht lesen könnte wie in in einem offenen Buch.
„An deiner Stelle würde ich mich nicht darauf verlassen, dass den Cops keine Verwechslung passiert. Immerhin trägst du Klamotten von meinem Schwesterherz - typischer Lucia-Style, sozusagen.“
Kea fiel keine passende Erwiderung ein. Doch das machte nichts, denn Mario hörte sich selbst offenbar gerne reden.
„Und selbst wenn du unverletzt bleibst - hast du dir mal überlegt, wie es mit dir weitergehen soll?“
Kea zuckte mit den Schultern.
„Ich schätze, man wird mich nach Deutschland zurückschicken.“
Mario schüttelte lächelnd den Kopf, als ob er es mit einem uneinsichtigen Kind zu tun hätte.
„Glaubst du das wirklich? Dein Freund ist tot, aber das FBI interessiert sich immer noch brennend für das Schicksal des gekidnappten Babys. Die Medien sitzen den Feds im Nacken. Die Ungewissheit von Adrians Schicksal macht die Story besonders dramatisch, das ist ein gefundenes Fressen für die Pressegeier. Also stehen die Agents unter einem enormen Erfolgsdruck, sie müssen liefern. Und sie werden sich an dich halten. Wenn du ganz großes Pech hast, landest du unter dem Verdacht der Mittäterschaft an einer Kindesentführung hinter Gittern. Und glaub mir eins: Du willst kein Bundesgefängnis von innen sehen.“
Ich weiß doch nichts!
Dieser Satz schien allmählich zu Keas Mantra zu werden. Doch sie sprach ihn nicht schon wieder aus. Wozu? Ihr schien sowieso niemand zu glauben. Außer vielleicht Mario, doch der war selbst ein Krimineller.
Keas Herz krampfte sich zusammen, als sie das näher kommende Geräusch von Polizeisirenen hörte. Sie saß hier in einem Apartment, in das sie eingebrochen waren, und hielt einen gemütlichen Plausch mit dem Bruder dieser Killerfurie.
Währenddessen kamen die Cops immer näher.
„Sollten wir nicht weiter fliehen?“, schlug sie schüchtern vor.
Mario lachte, als ob sie einen Witz gemacht hätte.
„Ja, obwohl es erst brenzlig wird, wenn die Spezialeinheit anrückt. Das dauert aber erfahrungsgemäß noch ein paar Minuten. Es gibt jedenfalls keinen Grund, bis zur letzten Sekunde zu warten. Wir wollen doch deine Nerven nicht überstrapazieren, nicht wahr?“
Er wartete keine Antwort ab, sondern nahm Kea wieder bei der Hand und zog sie hinter sich her. Mario öffnete die Apartmenttür von innen. Sie traten ins Treppenhaus, wo es nach Fettgebackenem und kaltem Zigarettenrauch stank. Kea stolperte hinter ihm her, bis sie den Keller erreicht hatten. Mario bewegte sich mit einer traumwandlerischen Sicherheit, als ob er in dieser Mietskaserne aufgewachsen wäre.
Vielleicht war das ja auch so?
Sie wusste praktisch nichts über ihn. Und die wenigen Dinge konnten Lügen sein.
Mario holte eine Art Multifunktions-Imbus aus der Tasche und öffnete damit das Schloss einer Metalltür im Keller. Luft schlug Kea entgegen, die noch feuchter und kälter war als jene im Untergeschoss.
Ihr Begleiter ging in die Knie und öffnete ächzend einen Kanaldeckel. Dann knipste er eine Taschenlampe an.
„Nun wirst du New Jersey aus einer ganz anderen Perspektive kennenlernen.“
Kea lief ein Schauer über den Rücken, als sie das Pfeifen der Ratten hörte.
KINDERSCHÄNDER.
In Lucias Fantasie erschien dieses Wort als riesengroße blutrote Leuchtschrift am Times Square. So gewaltig, dass man es auch noch aus hundert Meilen Entfernung hätte sehen können.
Ihr Magen rebellierte.
Sie hatte Dinge getan, vor denen es die meisten Menschen grauste. Lucia lebte in einer Welt des Faustrechts. Wer nicht als erster zuschlug, wurde geschlagen. Sie akzeptierte die ungeschriebenen Regeln, die unter ihresgleichen herrschten. Doch selbst unter Berufsverbrechern gab es Tabus.
Und wer sich an Kindern vergriff, konnte nicht auf Gnade hoffen.
Lucia kämpfte ihre aufsteigende Übelkeit nieder. Sie durfte sich jetzt nicht in düstere Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Ekel fallenlassen.
Adrian brauchte sie.
Es sah so aus, als ob ihm momentan niemand anders helfen könnte. Auch wenn er sich auf einem anderen Kontinent befand.
Gordons Information drang tiefer in Lucias Bewusstsein, wie ein langsam wirkendes Gift. Sie presste ihre Fäuste gegen die Schläfen.
„Verflucht, verflucht, verflucht! Warum konnte ich nicht verhindern, dass Old Barns‘ Revolverschwinger diesen elenden Deutschen abgeknallt haben? Wenn das Lösegeld nicht gezahlt wird, werden die Perversen das Kind ...“
Selbst eine abgebrühte Kriminelle wie Lucia konnte den Satz nicht beenden.
Gordon hob die Hand, um ihr beruhigend über den Kopf zu streichen. Aber im letzten Moment zuckte er zurück, als ob elektrische Spannung durch ihren Körper jagen würde.
Er ahnte, dass sie jetzt nicht berührt werden wollte.
„Noch ist nichts geschehen, Lucia. Jedenfalls glaube ich das.“
„Da bin ich ja erleichtert!“, fauchte sie. „Wir dürfen nichts riskieren, Gordon! Du musst unbedingt mitbieten, kapierst du? Wenn diese Dreckskerle den Jungen versteigern, dann wirst du eben den Zuschlag bekommen. Und wenn sie die Kohle wollen, kriegen sie stattdessen eine Messerklinge. Oder eine Kugel. Oder beides!“
„Im Darknet zahlt man mit Bitcoins.“
„Was du nicht sagst, Gordon! Meinetwegen kannst du auch Glasperlen bieten. Hauptsache, diese Widerlinge lassen Adrian in Ruhe. Das werden sie doch, oder?“
Bei der letzten Frage klang Lucia plötzlich nicht mehr wie eine blutrünstige Amazone, sondern wie ein ängstliches kleines Mädchen.
Gordon nickte langsam.
„Das nehme ich stark an. Das Baby ist für diese Leute nur eine Ware, die sie in erstklassigem Zustand verkaufen wollen. Darauf basiert schließlich ihr Ruf in den Pädophilen-Kreisen. Ich werde mein Möglichstes tun.“
Lucia nickte grimmig.
„Ja, und ich bleibe auch nicht untätig! Als du angerufen hast, wollte ich gerade das Betthäschen von diesem toten Deutschen so richtig ausquetschen. Mir spielt sie die Unschuld vom Land vor, aber ich glaube ihr kein Wort. Sie wird wissen, wo und wie die Lösegeldübergabe erfolgen soll. Und ich werde sie so lange bearbeiten, bis sie singt.“
Gordon bemerkte das Glitzern in Lucias Augen.
„Ich möchte nicht in der Haut dieser Schnalle stecken.“
Lucia lachte rau.
„Damit hast du verdammt recht! Machst du noch Geschäfte mit Gomez?“
„Sicher, gute falsche Papiere kann man immer gebrauchen. - Willst du nach Belgien fliegen?“
„Jedenfalls werden die Perversen mir Adrian wohl kaum mit einem Paketdienst frei Haus liefern. Wie lange wird es dauern, bis Gomez in die Gänge kommt?“
„Ich rufe ihn gleich mal an“, erwiderte Gordon. „Warum nimmst du nicht einen italienischen Reisepass? Gomez meinte neulich, die wären einfacher zu fälschen als unsere amerikanischen.“
„Ja, warum nicht?“, murmelte Lucia zerstreut. „Eine Verbeugung vor der Heimat meiner Familie, oder wie? Es ist mir ehrlich gesagt egal. Ich will endlich Adrian in Sicherheit bringen.“
„Ich klinke mich gleich in diese Versteigerung ein“, verkündete Gordon und fuhr seinen Hochleistungs-PC hoch. Lucia gab ihm in einer plötzlichen Aufwallung von Dankbarkeit einen Kuss auf die Wange.
„Du meldest dich, wenn es Neuigkeiten gibt, ja? Ich mache jetzt erstmal diese Schlampe aus Germany platt.“
Sie verließ das ehemalige Stellwerk und fuhr zurück zu ihrem Versteck. Lucia biss sich wütend auf die Unterlippe, denn sie konnte die rotierenden Rot-Blau-Lichter der Streifenwagen schon von weitem sehen.
Ob Mario und Kea hinter Gittern saßen?
Borges kochte vor Wut, als sie und Jablonski die Industriebrache in Red Hook erreicht hatten. Obwohl das Gelände und die stillgelegte Fabrik unübersichtlich war, konnte man dort einen grünen Chevy nicht gut verstecken.
Die Cops hatten das Fahrzeug nicht mehr angetroffen. Und von Lucia Lezzi fehlte ebenfalls jede Spur.
Die FBI-Agentin massierte ihren Haaransatz. Es brachte nichts, jetzt auszuflippen. Wahrscheinlich hatten nur wenige Minuten zwischen der gelungenen Flucht der Verdächtigen und dem Eintreffen der Streifenwagen gelegen.
„Ich will, dass die Spurensicherung hier jeden Stein umdreht“, forderte Borges, während sie sich Latexhandschuhe überstreifte. „Und ich möchte von dir keinen dummen Spruch darüber hören, dass es hier mehr als genug Steine gibt.“
Jablonski hob abwehrend die Handflächen.
„Ich habe keinen Ton von mir gegeben.“
Er griff zum Funkgerät, um ein CSI-Team anzufordern.
Borges bewegte sich währenddessen im Zeitlupentempo durch die verödete Fabrikhalle. Sogar den Obdachlosen schien es hier zu trist gewesen zu sein. Jedenfalls fehlten die typischen Hinterlassenschaften von Straßenmenschen, die man sonst oft in leeren Gebäuden fand: keine Plastiktüten, keine leeren Dosen, keine Kondome, keine Spritzen.
Dafür fand Borges etwas anderes.
„Diese Reifenabdrücke könnten von einem Chevrolet stammen!“, sagte sie und deutete auf die schmutziggrauen Spuren auf dem Betonfußboden. Die Agentin machte mit ihrem Smartphone Fotos.
„Dann sind wir uns also darüber einig, dass die Verdächtige hier gewesen ist?“
Borges nickte geistesabwesend.
„Ja, und sie war nicht allein. Die Cops haben auf dem ganzen Gelände niemanden mehr angetroffen. Also muss die Lezzi immer noch in Begleitung der Deutschen unterwegs sein. Doch weswegen haben sie hier einen Zwischenstopp eingelegt?“
Jablonski erwiderte nichts, doch Borges hatte ohnehin nur laut nachgedacht.
Sie öffnete nun vorsichtig die Tür zu einem Raum, der in früheren Zeiten ein Werkmeisterbüro gewesen sein mochte.
Sie pfiff durch die Zähne.
„Das musst du dir anschauen, Chuck!“
Borges deutete triumphierend auf die Frauenkleider, die zerknüllt und zerknittert auf dem Boden lagen.
Der bullige Agent zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht stammen die Klamotten ja von der Lezzi selbst.“
„Männer!“, stieß Borges verächtlich hervor, während sie in die Knie ging und die Bluse sowie den Blazer genauer untersuchte. „Ich glaube nicht, dass dieser Stil zu unserer Messerkillerin passt. Stattdessen dürften die Sachen Kea Kühn gehört haben.“
„Die Lezzi hat ihr also die Kleider vom Leib gerissen?“
Borges nickte düster.
„Davon gehe ich aus. Wir müssen uns immer vor Augen führen, dass die Killerin den Aufenthaltsort des Babys erfahren will. Ich tippe darauf, dass sie die Deutsche gefoltert hat.“
„Ich sehe hier kein Blut“, gab Jablonski zu bedenken.
„Das nicht, aber diese Bluse ist feucht. Wahrscheinlich hat die Lezzi ihr Opfer mit kaltem Wasser übergossen. Sie wird die Marter langsam steigern. Womöglich ist sie inzwischen schon zur nächsten Phase übergegangen.“
„Möglich“, stimmte Jablonski zu. „Und weshalb sind diese beiden ungleichen Ladys abgehauen? Es wäre doch zu schön gewesen, wenn wir sie hier überrumpelt hätten.“
„Wem sagst du das“, knurrte Borges. „Darüber können wir nur spekulieren. Und das bringt bekanntlich nichts. Ich frage mich, ob die Deutsche jetzt nackt im Chevy-Kofferraum liegt oder ob die Lezzi ihr andere Kleider besorgt hat. Unsere bisherigen Personenbeschreibung können wir jedenfalls vergessen.“
Die Agentin wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment klingelte ihr Smartphone.
„Was gibt es?“, fragte sie ungehalten.
Jablonski versuchte, die Veränderung auf den Gesichtszügen seiner Dienstpartnerin zu interpretieren. Die Gefühle reichten offenbar von Erstaunen bis zu Verwirrtheit. Oder Furcht?
„Okay, Danke.“
Mit diesen Worten beendete Borges das Telefonat.
Jablonski schaute sie gespannt an.
„Das war ein Kollege von der Spurensicherung, der sich gerade den Tatort in Tom Bergers Apartment genauer anschaut“, erklärte sie. „Er hat Mini-Kameras an den Jacken der beiden toten irischen Killer gefunden. Das bedeutet ...“
„Wenn Lucia Lezzi keine Maske getragen hat, wird Old Barns jetzt wissen, wer seine Männer getötet hat“, stellte Jablonski fest.
Borges nickte.
„Es wäre besser für die Killerin, wenn sie zuerst uns in die Hände fällt.“
Old Barns umklammerte sein Whiskyglas wie ein Ertrinkender ein Stück Treibholz.
Sein wässriger Blick schweifte über den schönen großen Garten seines Hauses auf Long Island. Vom Salon aus hatte er eine unverbaubare Aussicht auf den Atlantik. Jenen majestätischen Ozean, an dessen anderem Ende die alte Heimat wartete.
Irland.
Ob er das Land seiner Väter noch einmal sehen würde?
Oder würde es sein Sarg sein, der einst dorthin überführt werden würde? So hatte der Gangsterboss es in seinem Testament verfügt.
Er wäre schon jetzt am liebsten tot gewesen.
Es kam ihm ungerecht vor, dass er sich mit seinen vierundsiebzig Jahren bester Gesundheit erfreute (wenn man von den Krampfadern in den Beinen absah), während sein süßer Enkelsohn von grausamen Psychos ermordet worden war.
Old Barns kannte nur eine Form der Trauer, nämlich Rache.
Als ihn die Todesnachricht erreichte, hatte er sofort seine besten Männer in Marsch gesetzt.
Früher hätte Old Barns es sich nicht nehmen lassen, höchstpersönlich mit Tom Berger abzurechnen.
Dieser verlogene Deutsche war doch wirklich für Lösegeldverhandlungen angereist, obwohl Adrian schon längst nicht mehr lebte!
Für diese Frechheit gab es nur eine Strafe, nämlich den Tod.
Old Barns kannte sich selbst gut genug. Er bezweifelte, dass er seinen Körper hundertprozentig im Griff hatte.
Womöglich würde er weinen, wenn er Berger erschoss.
Das durfte nicht geschehen. Am Ende bildete sich dieser Kerl noch ein, dass er es mit einem schwächlichen Tattergreis zu tun hatte.
Nein, mit diesem Triumph wollte Old Barns seinen Feind nicht ins Jenseits befördern.
Also hatte er seine Handlanger geschickt, um Bergers Leben auszulöschen. Dank der modernen Technik hatte Old Barns von seinem Haus in Long Island aus per Live-Übertragung auf sein Notebook dabei sein können.
Voller Genugtuung hatte der Gangsterboss gesehen, wie Berger niedergeknallt wurde und dessen Mistress heulend zusammenbrach.
Doch dann waren die Dinge aus dem Ruder gelaufen.
Plötzlich erschien das Kindermädchen, das sein Sohn für Adrian angeheuert gehabt hatte.
Und diese Furie killte seine Männer mit Wurfmessern!
Old Barns hatte in seinem langen Leben schon viel erlebt. Doch die kalte Präzision dieser Amazone flößte sogar ihm für Momente Furcht ein. Dann hatte Lucia (falls das ihr Name war) die Mistress des Deutschen gepackt und war mit ihr verschwunden.
Old Barns verstand die Welt nicht mehr, was bei ihm nur selten vorkam.
Nachdem er seine Leute sterben sah, hatte er sich mit Whisky betäubt. Doch der starke Alkohol wollte bei ihm nicht mehr richtig wirken.
Seit Adrian nicht mehr lebte, fühlte der Alte sich innerlich ohnehin tot.
Warum?
Dieses Wort verfolgte ihn wie ein immer wiedergekehrender Albtraum. Old Barns wusste kaum etwas über Lucia. Er war schon froh, dass er sich ihren Namen merken konnte. Anfangs hatte er geglaubt, sie würde Larissa heißen.
Nein, sie hieß Lucia. Und sie konnte töten. Das hatte sie nicht zum ersten Mal getan. Für so etwas hatte er einen Blick.
Warum engagierte sein Sohn so eine Furie als Kindermädchen?
Sollte Lucia für Adrian eine Leibwächterin sein? Aber weshalb hatten sein Sohn und seine nichtsnutzige Schwiegertochter dann Lucia nicht mit nach Europa genommen?
Und - aus welchem Grund hatten Old Barns‘ Männer sterben müssen?
Der Gangsterboss erhoffte sich Antworten von seinem Sohn. Leider war Jim seit der Todesnachricht so besoffen, dass Old Barns kein vernünftiges Wort aus ihm herausbekommen konnte.
Daher hatte er einige seiner Handlanger damit beauftragt, seinen Sohn wieder halbwegs nüchtern zu bekommen. Und auf das Ergebnis dieser Bemühungen wartete er nun, obwohl Geduld nicht seine stärkste Charaktereigenschaft war.
Als junger Mann hatte Old Barns geglaubt, dass er mit zunehmendem Alter gelassener werden würde. Doch das stimmte nicht. Je näher sein unausweichliches Rendezvous mit dem Sensenmann rückte, desto unruhiger wurde er.
Gewiss, in diesem Moment saß er unbeweglich wie eine Statue in seinem Lehnstuhl, bekleidet mit einem Hausmantel mit eingesticktem grünen Kleeblatt auf der Brust. Doch in seinem Inneren brodelte es.
Old Barns vergaß Zeit und Raum. Es kam ihm so vor, als ob er eine halbe Ewigkeit lang dort am Fenster hocken würde die eine Spinne im Netz. Endlich ertönte ein leises Klopfen an der Tür.
„Ja!“
„Ihr Sohn ist jetzt da“, verkündete eine Männerstimme mit hartem irischen Akzent.
„Schick ihn rein.“
Old Barns drehte sich nicht um, als die Schritte ertönten. Er wusste auch so, dass Jim eingetreten war. Seinen Sprößling erkannte er am Gang.
Jim war ein Leisetreter, schon immer gewesen.
Old Barns hatte alles versucht, um aus seinem Sohn einen richtigen Mann zu machen. Doch mit diesem Vorhaben war er grandios gescheitert. Irgendwo hatte er mal gehört, dass Söhne von Machtmenschen es nicht leicht hätten, in die Fußstapfen ihrer Erzeuger zu treten.
Old Barns musste zugeben, dass die Eierköpfe von irgendeiner Elite-Universität mit dieser Behauptung vielleicht sogar recht hatten.
Aber was hätte er anders machen sollen?
Eine illegale Organisation musste mit harter Hand geführt werden, und das hatte er Zeit seines Lebens getan.
Seit Old Barns als Neunzehnjähriger noch höchstpersönlich einem rivalisierenden Dealer die Kehle durchgeschnitten hatte, war sein Ruf als harter Hund gefestigt. Da konnte man nicht zurückrudern, nur weil man plötzlich Vater geworden war.
„Setz dich“, raunzte er seinen Sohn an, ohne Jim eines Blickes zu würdigen. „Steh nicht herum wie ein Ölgötze.“
Ein leises Knarren ertönte. Der Beweis dafür, dass Jim der Anordnung Folge geleistet hatte. Ja, er würde seinem Dad niemals widersprechen. Dafür war seine Feigheit viel zu groß.
„Bist du halbwegs klar im Kopf?“
„Ja, Dad.“
„Hast du mitgekriegt, dass wir diesen Erpresser Berger umgelegt haben?“
„Ja, Dad.“
Kannst du auch noch etwas anderes sagen? Diese Frage lag dem Gangsterboss auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Nicht aus Rücksicht auf Jims Gefühle. Aber wenn er von seinem Sohn etwas erfahren wollte, dann durfte er ihn nicht zu sehr herunterputzen. In dem Fall würde Jim nämlich lügen. Zwar bekam Old Barns die Schwindeleien früher oder später heraus, doch das war zeitaufwändig.
„Und - was hältst du davon?“
„Ich finde es gut, dass du Rache für Adrian genommen hast, Dad. Auge um Auge, Zahn um Zahn. So steht es schon in der Bibel.“
Der Alte seufzte.
„Ja. In der Heiligen Schrift ist aber keine Rede davon, aus welchem Grund dein Kindermädchen meine Männer getötet hat.“
Jim begann aufgeregt zu stammeln, nachdem Old Barns diese Information vom Stapel gelassen hatte. Offensichtlich war die Neuigkeit noch nicht zu Jim durchgedrungen. Kein Wunder, er hatte schließlich die Zeit nach dem Verschwinden seines Babys hauptsächlich im Sauf-Koma verbracht.
Old Barns war es gewesen, der mit den Kidnappern verhandelt hatte. Diese Aufgabe lag besser in den Händen des Familienoberhauptes.
„L-Lucia hat deine Leute umgelegt?“
Die Frage klang ungläubig.
„Sieh selbst.“
Mit diesen Worten drehte der Boss sein Notebook so, dass sein Sohn den Monitor sehen konnte. Und dann spielte er die kurze Filmsequenz noch einmal ab.
Jim bekam große Augen.
„Das ist Lucia!“, stellte er dümmlich fest.
„Ich habe auch Augen im Kopf, Sohn! Hast du sie damit beauftragt, meine Männer zu erledigen?“
Kaum hatte Old Barns diese Frage gestellt, als er sie auch schon für sich selbst beantworten konnte. Nein, natürlich nicht. Jim war eine viel zu große Memme, um sich gegen seinen übermächtigen Vater aufzulehnen. Ihm fehlten die Eier. Er würde einen solchen Befehl nicht geben, geschweige denn selbst zur Waffe greifen.
„Nein, Dad - so etwas würde ich nie tun!“
Jims Stimme zitterte. Sein Blick glitt sehnsüchtig zu der halb leeren Whiskyflasche auf der Anrichte hinüber. Doch er traute sich nicht, um einen Drink zu bitten.
„Schön“, fuhr sein Vater etwas ruhiger fort. „Aber du kennst diese Lucia, immerhin ist sie euer Kindermädchen. Kann jemand anders sie mit dem Mord beauftragt haben?“
„I-ich weiß nicht. - Wohin ist sie mit der Frau gegangen?“
„Das wüsste ich selbst gern“, knurrte Old Barns. „Die Frau ist übrigens die Freundin von dem deutschen Erpresser, der dein Kind verschleppt hat. Ich vermute, dass Lucia aus der Schlampe herausprügeln will, wo Adrian versteckt ist.“
Jim zuckte zusammen und riss die Augen noch weiter auf.
„Mein Sohn lebt?“
„Zumindest besteht die Möglichkeit“, räumte der Alte ein. „Ansonsten wäre es ja sinnlos, die Deutsche foltern zu wollen. Höchstens aus Spaß an der Freude.“
Eine kurze Pause entstand.
„Du hättest den Kidnapper nicht abknallen lassen dürfen“, sagte Jim mit tonloser Stimme. „So werden wir nie erfahren, wo sie meinen Sohn gefangenhalten.“
Old Barns wusste selbst, dass er einen Fehler begangen hatte. Doch er wollte verdammt sein, wenn er es diesem Schwächling Jim gegenüber zugab.
„Wir müssen einfach nur die Deutsche auftreiben“, stellte er klar. „Dann werden wir schon erfahren, wo ihre Freunde meinen Enkel festhalten.“
„Ja, Dad.“
„Wenn du heute noch einmal Ja, Dad sagst, dann ramme ich dir die Whiskyflasche in den Hintern!“, wütete Old Barns. „Erzähl mir lieber von Lucia. Wie seid ihr auf die Idee gekommen, diese Frau als Kindermädchen anzuheuern?“
Jim antwortete nicht sofort. Der Alte wollte ihm schon für diese Respektlosigkeit eine Maulschelle verpassen, als er dann doch den Mund öffnete.
„Ich lernte Lucia kennen, als sie gerade meinen besten Freund abgestochen hatte.“
Mit dieser Antwort hatte Jims Vater nicht gerechnet.
„Sean? Ich dachte, das seien die Schlitzaugen gewesen. Wir haben ihn nur nicht gerächt, weil er nicht zu unserer Organisation gehört hatte. - Dieses Miststück tötet also deinen Freund, und du greifst nicht ein? Ich wusste immer schon, dass du ein Versager bist. Doch so eine Feigheit hätte ich noch nicht einmal dir zugetraut!“
Falls Jim die offene Verachtung seines Vaters etwas ausmachte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Es war nicht so, wie du denkst. - Ich habe nichts unternommen, weil Sean meine Frau vergewaltigen wollte. Wenn Lucia nicht gewesen wäre, hätte er die Ehre unserer Familie befleckt. Als ich nach Hause kam, lag er schon in seinem Blut. Mit heruntergelassener Hose.“
Old Barns nickte langsam. Auf so ein Verbrechen stand in seinen Kreisen die Todesstrafe. Und er bezweifelte, ob Jim Manns genug gewesen wäre, seine Frau im entscheidenden Moment zu verteidigen. So gesehen war Lucias Eingreifen ein Gottesgeschenk gewesen.
„Dann kennt also deine Frau diese Lucia näher?“
„Ja, sie waren Schulfreundinnen, bis Lucia von der Penne geflogen ist. Sie hatten sich wohl zufällig wiedergetroffen. Wir haben dann gemeinsam Seans Leiche beseitigt. Dass sie später gefunden wurde, war einfach Pech.“
„Du hättest mir sagen sollen, was wirklich geschehen ist“, grollte der Alte.
„Ich weiß, dass du mich für einen Taugenichts hältst“, gab Jim mit entwaffnender Ehrlichkeit zurück. „Du hättest mich bestimmt dafür verspottet, dass ich meine Frau nicht allein verteidigen konnte - obwohl ich doch gar nicht daheim war, als Sean über sie herfallen wollte.“
Old Barns musste sich eingestehen, dass er wahrscheinlich wirklich so reagiert hätte.
„Okay, Lucia hatte also ihre Fähigkeiten als Killerin bewiesen. Aber wie kamt ihr auf die Schnapsidee, sie als Kindermädchen anzustellen?“
Jim lächelte plötzlich.
„Lucia nahm stark Anteil an Valerias Schwangerschaft. Es war, als wenn sie selbst ebenfalls in anderen Umständen wäre. Die beiden Frauen wurden unzertrennlich. Und ich hatte immer ein sicheres Gefühl, wenn Lucia bei Valeria war. Sie würde meine Frau und das Baby mit ihrem Leben verteidigen.“
Dabei wäre sie wahrscheinlich erfolgreicher als du selbst, sagte Old Barns in Gedanken zu seinem Sohn.
„Das verstehe ich, doch warum habt ihr sie nicht mit nach Europa genommen?“
Jim druckste herum. Der Alte spürte, dass sein Sohn ihm etwas Wichtiges verheimlichen wollte. Er hob drohend die flache Hand. Bevor Jim sich eine Backpfeife einfing, begann er lieber zu sprechen.
„Lucia hat keine Papiere, und sie wird von der Polizei gesucht.“
Old Barns legte die Hand hinter sein linkes Ohr und tat, als ob er nicht richtig gehört hätte.
„Wie bitte?! Du lässt meinen Enkel von einer Frau betreuen, hinter der die Cops her sind? Ist dir überhaupt bewusst, dass den Bullen jeder Vorwand recht ist, um mir das Leben schwer zu machen?“
„Lucia wird ja nicht in New York gesucht, sondern nur in New Jersey und Maryland. Sie hat dort ein paar Leute umgelegt.“
Der Alte fand, dass sein Sohn sich für diese schwache Rechtfertigung nun wirklich eine Strafe verdient hätte. Er bewegte seinen Rollstuhl auf Jim zu und verpasste ihm mit der flachen Hand einen gewaltigen Schlag. Jim traute sich nicht, dem Angriff auszuweichen.
Er jaulte wie ein getretener Hund.
„Sie hat in der Provinz ein paar Lebenslichter ausgeblasen!“, höhnte Old Barns. „Das beruhigt mich ja maßlos. Da werden die Cops schon mal ein Auge zudrücken, wenn sie Lucia in die Finger bekommen, oder?“
„Ich ...“
„Und deshalb konntest du für das Miststück auch keinen falschen Reisepass machen lassen“, fuhr der Alte fort. „Abgesehen davon, dass so ein Dokument eine Stange Geld kostet - mit der neuen Gesichtserkennungssoftware würde man an jedem Airport kapieren, dass eine gesuchte mehrfache Mörderin unser Land verlassen will.“
Jim ließ den Kopf hängen.
„Wir wollten ja nicht lange in Europa bleiben“, murmelte er. „Valeria wollte so gern Paris, London und Berlin sehen. Und wir hatten ja auch Liam als Bodyguard für unser Kind mitgenommen.“
„Liam wurde in Berlin von den Kidnappern abgeknallt, als sie Adrian entführt haben“, rieb der Alte seinem Sohn unter die Nase. „Du warst natürlich nicht Manns genug, Valerias blöde Europa-Pläne zu durchkreuzen. Ich habe erst von dieser schwachsinnigen Reise erfahren, als der Flieger schon in der Luft war. Ansonsten hätte ich schon zu verhindern gewusst, dass ihr mit meinem Enkel einen so weiten Trip unternehmt.“
Jim schwieg.
Old Barns wusste, dass er seinem Sohn diesen Vorwurf schon oft genug gemacht hatte. Dass Jim sich gegenüber Valeria durchsetzen könnte, wäre schlicht und einfach gegen seine Natur gewesen.
Als der Alte sich wieder an seinen Sohn wandte, klang seine Stimme wesentlich ruhiger.
„Bergers Mistress wird wissen, wo Adrian gefangen gehalten wird. Und da Lucia die Deutsche momentan in ihrer Gewalt hat, müssen wir zuerst an diese Furie herankommen. Du hast doch behauptet, dass Lucia und Valeria solche Busenfreundinnen sind. Dann wirst du jetzt deine Frau ausquetschen. Sie soll dir verraten, an welchen Orten sich Lucia mit ihrer Gefangenen verkriechen könnte. Und ich rate dir dringend, nicht ohne Ergebnisse bei mir aufzukreuzen. - Denn wenn du aus Valeria nichts Brauchbares herausbekommst, dann nehme ich sie mir vor. Das willst du bestimmt nicht!“
Jim schüttelte heftig den Kopf.
In seinen Augen stand die nackte Angst.
Keas Knie waren weich wie Butter.
Sie hatte ständig das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Doch sie war sogar zum Kotzen zu schwach. Abgesehen davon, dass in ihrem Magen gähnende Leere herrschte.
Sie konzentrierte sich ganz auf die Gegenwart. Einen Schritt nach dem anderen gehen, und dabei möglichst nicht in diese widerliche Brühe neben den glitschigen Steinen fallen.
Marios Taschenlampe war die einzige Lichtquelle. Allmählich gewöhnten sich Keas Augen an die allumfassende Finsternis in der Kanalisation, auch der penetrante Gestank konnte sie nach einer Weile nicht mehr schocken. Die Helligkeit der starken Stablampe schmerzte in ihren Augen, aber es war auszuhalten.
Kea stumpfte ab.
Sie hatte die Trauer um Tom irgendwo tief in ihrem Inneren vergraben.
Auch die Furcht vor Lucia rückte in den Hintergrund, weil Marios durchgeknallte Schwester schlicht und einfach nicht anwesend war. Wäre es nach Kea gegangen, würden die beiden Frauen sich ohnehin niemals wiedertreffen.
Der Gedanke, Lucia nie wieder zu begegnen, baute Kea ein wenig auf.
Sie war unaufmerksam und wäre beinahe mit ihrem Fuß abgerutscht.
Kea schrie vor Schreck und klammerte sich an Mario fest, der unmittelbar vor ihr ging.
Er blieb abrupt stehen, senkte den Lichtstrahl auf den Abwasserkanal neben ihnen.
„Bist du okay?“
„J-ja, ich wäre nur beinahe weggerutscht.“
„Du solltest auf keinen Fall in diese Brühe fallen, da holst du dir die übelsten Krankheiten. - Wir haben es bald geschafft, du machst das sehr gut, Kea. Ich wette, dass du dir deine erste Zeit in den Staaten anders vorgestellt hattest, oder?“
„Das kann man wohl sagen.“
Kea zwang sich dazu, nicht an Tom zu denken. Das konnte sie jetzt nicht brauchen. Bei ihr hatte sich etwas geändert. Obwohl es noch nicht lange her war, konnte sie ihre eigenen Selbstmord-Absichten nicht mehr verstehen. Im Kofferraum hatte Kea sich ernsthaft umbringen wollen. Sie war froh, dass dieses Vorhaben gescheitert war.
Trotz aller Ausweglosigkeit klebte sie plötzlich wieder am Leben, auch wenn es sich so widerwärtig anfühlte wie im Moment.
Marios Stimme riss sie aus ihren Grübeleien.
„Nur noch ein paar Yards, dann müsste ein Ausstieg kommen. Wir haben die Zone, die von den Cops abgesperrt wird, schon hinter uns gelassen.“
„Du kennst dich ja gut aus.“
Kea hatte plötzlich das Bedürfnis, etwas Nettes zu sagen. Mario lachte leise.
„Ja, ich musste schon oft genug vor dem Gesetz fliehen.“
„Ich bin auch abgehauen!“, stieß Kea hervor. „Ich wollte mein ganzes bisheriges Leben hinter mir lassen, neu anfangen mit ... mit Tom.“
„Das hast du ja nun auch geschafft, obwohl dein Freund dabei auf der Strecke geblieben ist. - Sorry, ich wollte nicht unnötig grausam sein. Wir reden weiter, wenn wir in Sicherheit sind, okay?“
Kea antwortete nicht. Momentan erschien es ihr völlig utopisch, jemals wieder so etwas wie Festigkeit oder Verlässlichkeit zu erleben. Würde ihr gesamtes zukünftiges Dasein darin bestehen, durch Kanalisationsschächte zu irren und vor psychopathischen Furien zu fliehen?
Der Hunger schärfte ihre Sinne. Fieberhaft dachte sie über einen Ausweg nach. Mario mochte sie, das musste Kea für sich ausnutzen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es bis zum nächsten Treffen mit Lucia dauern würde.
Sie wusste nur, dass sie diesen Termin auf jeden Fall schwänzen wollte.
Mario hatte nun einen gemauerten runden Schacht erreicht, in den Steigeisen eingelassen waren. Wenn man dort hinauf kletterte, gelangte man wahrscheinlich wieder ins Freie.
„Du musst dich gut an den Eisen festhalten, sie sind feucht“, erklärte Lucias Bruder. „Ansonsten kann nichts passieren, ich öffne oben den Kanaldeckel für uns.“
Mit diesen Worten begann er selbst damit, im dem Schacht hochzuklettern. Das Licht seiner Lampe tanzte hin und her, weil er sie in seinen Hosenbund gesteckt hatte. Es sah unheimlich aus, als seine Brust und sein Gesicht von unten her beleuchtet wurden.
Diese Illumination verlieh Mario etwas Dämonisches.
Und wenn er nun viel schlimmer war als seine Brutalo-Schwester?
Kea musste sich eingestehen, dass sie erst vor kurzem bereits einmal auf einen Blender hereingefallen war. Nämlich auf Tom. Sie empfand immer noch etwas für ihn. Doch wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was sie jetzt über ihn gehört hatte, war er ein völlig anderer Mensch gewesen.
Ein Kindesentführer und Verbrecher.
Und Mario?
War es nicht allzu verständlich, dass er sich selbst Kea gegenüber viel besser darstellte als seine Schwester es getan hatte?
Was, wenn Lucia gar nicht übertrieb und er wirklich ein Vergewaltiger war?
Sie würde erst in dem Moment die Wahrheit erkennen, wenn er über sie herfiel. Und das durfte nicht geschehen. Kea hatte an diesem Tag schon so viel Horror erlebt, sie wollte sich nicht auch noch missbrauchen lassen.
Während ihr diese Überlegungen durch den Kopf schwirrten, war Mario schon beinahe aus ihrem Blickfeld verschwunden. Wie hoch der Schacht wohl war? Zehn Meter? Zwanzig Meter? Oder noch mehr?
Wenn sie jetzt wegrannte, konnte sie einen guten Vorsprung herausholen. Es würde einige Zeit dauern, bis Mario wieder hinabgestiegen war. Außerdem konnte Kea ihn mit seiner Lampe erkennen, während sie die absolute Finsternis wie einen Tarnumhang nutzen konnte.
Doch kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als sie ihn auch schon wieder verwarf. Dieser Plan musste an ihrer eigenen Feigheit scheitern. Die Vorstellung, mit der Dunkelheit, dem Gestank und den Ratten allein zu sein, ließ sie innerlich erstarren.
Kea hatte nicht die geringste Ahnung, wo es andere Ausstiege gab, durch die sie die Kanalisation verlassen konnte.
Momentan war sie Mario auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Auch, wenn es ihr überhaupt nicht schmeckte.
Sie hörte ein lautes Keuchen, gefolgt von einem scharrenden Geräusch. Dann erklang seine Stimme.
„Du kannst jetzt auch hochklettern, Kea. Und zwar möglichst schnell, bevor uns jemand bemerkt!“
Folgsam griff sie nach den Eisensprossen. Den Aufstieg hatte sie sich schlimmer vorgestellt. Es ging eigentlich ganz gut, wenn man nicht nach unten schaute. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ein Cop auf Mario oder sie selbst aufmerksam werden würde.
Doch was dann?
Womöglich würde sie sich wegen Beihilfe zur Kindesentführung vor Gericht verantworten müssen. Dass Kea von Toms Machenschaften nichts gewusst hatte, würde sich wohl kaum beweisen lassen.
Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: Momentan war sie in Marios Gesellschaft am besten aufgehoben.
Trotz ihrer miesen Lage freute Kea sich über das Tageslicht, als sie nach dem Aufstieg aus dem Kanalisationseinstieg kletterte. Mario reichte ihr galant die Hand. Dann zwinkerte er ihr verschwörerisch zu.
„Die Cops dürften wir zwar abgeschüttelt haben, doch wir verströmen nicht gerade die Wohlgerüche Arabiens. Anders ausgedrückt: Durch diesen Ausflug in die Kanalisation stinken wir wie eine ganze Müllkippe. Ich schlage vor, dass wir uns zunächst einmal gründlich reinigen, bevor uns der nächsten Aufgabe widmen.“
„Und die wäre?“, fragte Kea, obwohl sie die Antwort ahnte.
„Ich spreche natürlich vom Wiedersehen mit meiner lieben Schwester.“
„Agent Borges, kommen Sie bitte mal?“
Es war ein CSI-Spezialist, der nach ihr rief. Borges und Jablonski befanden sich immer noch in dem verlassenen Fabrikgebäude in Red Hook. Sie folgte der Stimme des Kollegen, der in einem fensterlosen Verschlag gearbeitet hatte. Jablonski folgte ihr wie ein treues Hündchen.
Der Raum schien bis vor kurzem bewohnt gewesen zu sein. Auf einem Tisch standen mehrere große Computer-Monitore, eine Hochleistungs-Workstation befand sich direkt daneben. Es gab einen Kleiderschrank, ein ungemachtes Bett sowie ein Bücherregal, das Borges als Erstes in Augenschein nahm.
„Technische Manuals, das I Ging, Bücher von Nietzsche, Kant und Schopenhauer ... wer hier haust, hat einen merkwürdigen Geschmack“, murmelte sie.
„Was ist denn das I Ging?“, wollte ihr Kollege wissen.
„Ein altes chinesisches Orakelbuch. - Wetten, dass hier keine Frau gelebt hat?“
„Die Wette würde ich halten“, mischte sich der CSI-Spezialist ein, indem er den Kleiderschrank öffnete. „Es sei denn, diese Frau trägt besonders gern Feinripp-Unterhosen und keine BHs.“
Borges verzog den Mund.
„Sie sind ja ein noch größerer Komiker als Jablonski. - Wie ein Liebesnest sieht diese Bude nicht gerade aus, eher wie das Refugium eines verrückten Intellektuellen.“
„Hat die Lezzi nicht so jemanden in der Familie?“, dachte Borges‘ Dienstpartner laut nach. „Ihr Bruder oder Cousin oder was immer er sein mag.“
Die Agentin nickte.
„Ihr Bruder heißt Mario, ist genauso kriminell wie die Lezzi selbst. Der hauptsächliche Unterschied besteht in den Delikten. Und darin, dass wir die Lezzi bis vorhin für tot hielten, während Mario Lezzi in der Klapsmühle verweilt.“
Jablonski breitete die Arme aus.
„Offenbar nicht, sonst würde er nicht hier gehaust haben. Es sei denn, dass jemand anders diese Luxussuite bezogen hat.“
„Das wird sich schnell feststellen lassen.“
Borges griff zu ihrem abhörsicheren Smartphone. Sie erfuhr schnell, in welche Klinik Mario Lezzi nach seiner letzten Verurteilung eingeliefert worden war. Bald stellte sich heraus, dass er wegen eines für günstig gehaltenen Krankheitsverlaufs nicht mehr hinter den Mauern der Psychiatrie saß.
Fluchend beendete sie das Telefonat.
„Noch wissen wir nicht, ob wirklich Mario Lezzi hier gelebt hat“, erinnerte ihr Kollege.
„Schauen Sie mal, was ich gefunden habe.“
Mit diesen Worten mischte sich der CSI-Mann erneut ein. Er präsentierte den Agents einen Karton, in dem sich mehrere Führerscheine aus Pennsylvania, Maryland, Texas und Oklahoma befanden. Sie alle schienen falsch zu sein. Auf jeden Fall zeigten sie ausnahmslos das Gesicht desselben jungen Mannes.“
Borges nickte grimmig.
„Ja, jetzt haben wir Gewissheit. Das ist Mario Lezzi. - Verflixt, warum mussten diese Eierköpfe ihn wieder auf die Menschheit loslassen?“
Jablonski schnaubte ironisch.
„Du erwartest keine ernsthafte Antwort auf diese Frage, oder? Die Psycho-Docs waschen doch ihre Hände grundsätzlich in Unschuld, wenn einer ihrer Schützlinge wieder zu metzeln beginnt.“
Borges ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Mario ist kein Killer. Er ist anders als seine Schwester.“
Der bullige Agent hob die Augenbrauen.
„Das klingt, als ob du ihn kennen würdest.“
„Ja, das tue ich auch. - Hast du schon mal von den de-Jong-Ermittlungen gehört?“
„Aber sicher. Dieser de Jong war doch ein Finanzschwindler, der im großen Stil die Wall Street über den Leisten gezogen hat und Millionenbeträge auf die Konten seiner Scheinfirmen auf den Cayman-Inseln schaufelte. Soweit ich weiß, hat er sich im Gefängnis umgebracht.“
„Und im Gegensatz zu Lucia Lezzi ist de Jong wirklich tot“, bestätigte Borges nicktend. „Ich war nämlich bei seiner Obduktion anwesend und habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Gerichtsmediziner ihn aufgeschnitten haben. Der kommt also höchstens als Geist zurück, um uns zu nerven.“
„Schön, allerdings kapiere ich den Zusammenhang mit Lucias Bruderherz noch nicht.“
„Mario Lezzi gehörte zu de Jongs Netzwerk, er war ein hochklassiger krimineller Hacker. Ich war zu der Zeit undercover tätig, um gegen ihn und einige andere Computerkriminelle Beweise zu sammeln.“
„Du?“
Borges kniff die Augen zusammen.
„Das klingt, als wenn du mir diese Aufgabe nicht zutrauen würdest.“
Jablonski hob die Hände.
„Ich traue dir buchstäblich alles zu.“
„Ein zweifelhaftes Kompliment, ich lasse es aber trotzdem gelten. - Mario Lezzi ist eine Intelligenzbestie. Er hat wesentlich mehr Gehirnschmalz als seine Schwester. Er wird sicher nicht nur seine Nietzsche-Bücher und seine Unterhosen hier deponiert haben. Mario wird Lucia dabei helfen, die Deutsche zum Reden zu bringen.“
Jablonski sagte nichts, also redete Borges einfach weiter.
„Mario ist unberechenbar. Er hat in Harvard studiert, ist aber achtkantig von der Uni geflogen. Er war in das spurlose Verschwinden eines Verbindungsstudenten verwickelt. Obwohl niemals nachgewiesen werden konnte, dass überhaupt ein Verbrechen geschehen ist, wollte die Hochschulleitung ihn loswerden. Ich glaube, er genoss dieses Image als fauler Apfel oder Outlaw sogar. Als Mario später wegen Beihilfe zur Unterschlagung und wegen Betruges vor Gericht gestellt wurde, kam er nicht ins Gefängnis, sondern in die Psychiatrie. Und ich weiß bis heute nicht, ob bei ihm überhaupt eine Geisteskrankheit vorliegt. Es könnte nämlich auch sein, dass dieser ausgekochte Halunke die Nervenärzte hinters Licht geführt hat. Womöglich war er die ganze Zeit lang völlig normal.“
„Das klingt, als ob du ihn ganz gut gekannt hättest.“
„Mario ist hochintelligent, doch meine Tarnung hatte er nicht durchschaut“, bemerkte Borges mit unverhohlenem Stolz. „Er hielt mich für eine unterbelichtete Latina, die in der Tankstelle von Alvarez jobbte. Das war nämlich der Ort, wo er sich mit seinen Hacker-Kumpels in der realen Welt traf. Gelegentlich wollten sie nämlich nicht nur online kommunizieren.“
„Ausgerechnet an einer Tankstelle?“, fragte Jablonski zweifelnd.
„Schlimmer noch - an einer Tankstelle auf Staten Island! Kannst du dir eine größere Einöde vorstellen? Meilen und Meilen von billigen kleinen Vorstadthäusern wie Perlen auf einer Schnur, und dazwischen die Mobil Gas Station an der Bay Street. Eigentlich war das ein idealer Ort für konspirative Treffen. In dieser ungemütlichen Atmosphäre hält sich kaum jemand länger auf als unbedingt nötig.“
„Kann ich mir vorstellen“, warf der bullige Agent ein.
„Dort hockten also Mario und seine Freunde an der kleinen Kaffeetheke des Tankstellenshops und hielten ihren Tech-Talk ab, von dem sie glaubten, dass ich ihn nicht verstehen würde.“
„Und in Wirklichkeit warst du Auge und Ohr des FBI in dieser Klitsche, Lenita! Wie habt ihr eigentlich herausgefunden, dass dieser Ort als geheimer Treffpunkt diente?“
„Das war einfach, ein FBI-Team hat einen anderen Mann aus de Jongs Organisation auf dem Weg dorthin observiert. Als wir kapierten, was dort läuft, musste der alte Alvarez nur noch eine neue Aushilfe einstellen, nämlich mich.“
„Und wie lange hat es gedauert, bis ihr de Jongs Handlanger hochgehen lassen konntet?“
„In etwa ein halbes Jahr“, gab Borges zurück. „Ich habe nie zuvor so viel schlechten Kaffee getrunken und so viel Kaugummi gekaut. Aber was tut man nicht alles, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.“
Jablonski lachte, und auch Borges selbst genehmigte sich ein Grinsen.
Sie hatte ihrem Kollegen alles erzählt, was er über diesen Undercover-Einsatz wissen musste.
Dass sie mit Mario Lezzi auch im Bett gewesen war, ging Jablonski überhaupt nichts an.
Lucia war selten ratlos.
Nachdem sie ihre erste Panikattacke beim Anblick der Streifenwagen weggeatmet hatte, fuhr sie ganz einfach an ihrem aufgeflogenen Versteck vorbei.
Zum Glück kannte sie ihren Bruder besser als jeden anderen Menschen auf der Welt, außer vielleicht Gordon.
Wie hatte Mario reagiert, als die Cops das Gelände stürmten?
Sie selbst wäre vermutlich mit der Waffe in der Hand im Cop-Kugelhagel krepiert, wie sie sich selbstkritisch eingestehen musste. Lucia wich ungern einem Kampf aus, auch wenn er für sie völlig aussichtslos war.
Nein, ihr Bruder war anders, nicht so impulsiv. Er verfügte über einen Weitblick, den Lucia auch gern besessen hätte.
Sie und Mario hätten gemeinsam die Welt aus den Angeln heben können, wenn sie an einem Strang ziehen würden. Davon war sie fest überzeugt.
Leider mangelte es ihrem Bruder an Durchhaltevermögen. Seit seiner Verhaftung wegen dieser verfluchten de-Jong-Geschichte war er nicht mehr derselbe. Ihr kam es so vor, als ob ihn diese Niederlage im Innersten erschüttert hätte.
Doch warum nur?
Niederlagen musste man als Kämpfer wegstecken können.
Und immerhin hatte Mario es geschafft, der Klapsmühle zu entrinnen. War die neu erlangte Freiheit nichts, worauf man stolz sein konnte?
Lucia kurvte durch Brooklyn, während ihr diese Gedanken kamen. Manchmal wurde sie nicht schlau aus ihrem Bruder, aber das machte nichts. Die Hauptsache war, dass sie ihn wiederfand.
Solange Lucia nichts von einer Verhaftung erfuhr, ging sie davon aus, dass ihm die Flucht gelungen war.
Natürlich beging sie nicht den Fehler, auf seinem Handy anzurufen. Entweder hatte er es zurückgelassen oder ausgeschaltet. Lucia wollte auf keinen Fall von den Cops geortet werden.
Immer wieder schaute sie in den Rückspiegel. Aktuell gab es keine Anzeichen dafür, dass sie verfolgt wurde. Trotzdem bog sie oft ab, wechselte die Fahrspuren und achtete generell darauf, dass hinter ihr nicht immer dieselben Autos fuhren.
Es war eigentlich ganz einfach.
Wenn Mario geflohen war - und noch lebte - würde er sie früher oder später von einer Telefonzelle oder einem neu gekauften Prepaid-Handy aus anrufen. Sie musste einfach nur darauf warten.
Lucia warf einen Seitenblick auf ihr eigenes Gerät, das auf dem Beifahrersitz lag. Es hatte noch siebzig Prozent Ladekapazität, also mehr als genug.
Und was war mit dieser Deutschen?
Wenn Mario allein abgehauen war, würde das Miststück Kea sich jetzt in der Gewalt der Cops befinden. Mit anderen Worten: Sie war vor Lucias Zugriff sicher!
Die Killerin presste die Fäuste gegen ihre Schläfen, als sie vor der nächsten roten Ampel stand. So viel Pech konnte man doch gar nicht haben!
Lucia brach der kalte Schweiß aus. Sie ermahnte sich selbst dazu, nicht auszuflippen. Es war seltsam. Wenn sie einen Widersacher vor sich hatte und töten musste, blieb sie kühl und konzentriert. Doch sobald sie ihren eigenen Überlegungen und Befürchtungen ausgeliefert war, entpuppte Lucia sich selbst als ihr größter Feind.
Wenn sie Adrian nicht so sehr geliebt hätte, wäre alles einfacher gewesen.
Manchmal kam es ihr so vor, als ob sie den Kleinen selbst zur Welt gebracht hätte.
Ihre eigene Kindheit war ein schwarzes Loch. Ein Abgrund, in den sie nur in ihren Alpträumen eintauchte.
Adrian ist das Baby, das ich niemals sein durfte. Ich war ein Bremsklotz, ein Anhängsel, ich war überflüssig, niemand brauchte mich, niemand wollte mich. Das fand ich erst traurig, dann war es mir egal. Und jetzt finde es es gut, wenn den Leuten bei meinem Anblick das Blut in den Adern gefriert. Mich muss niemand lieben, außer vielleicht Gordon, und wenn er es nicht tut, dann ist das auch kein Beinbruch. Mario liebt mich sowieso, er weiß es eben nicht besser. Das wird sich auch nicht ändern, denn er hat ja niemanden sonst auf der Welt. Angeblich stört ihn das nicht, aber diese Lüge geht ihm viel zu glatt über die Lippen. Egal, ich will Adrian in Sicherheit wissen, es soll ihm gutgehen. er hat einen Schwächling als Vater und meine bekloppte Freundin Valeria als Mutter, aber das macht nichts, weil er perfekt ist. Und wenn einer dieser Perversen ihm auch nur ein Haar krümmt, dann werde ich dem Freak bei lebendigem Leib die Haut abziehen!
Lucia sortierte ihre Gedanken, während sie vorschriftsmäßig wie eine Fahrschülerin die Flatbush Avenue hinunter gondelte.
Sie hatte Red Hook hinter sich gelassen, ohne die Aufmerksamkeit der Bullen zu erwecken. Das war ein gutes Zeichen. Lucia setzte sich kleine Ziele, die sie nach und nach erreichen wollte.
Erst Mario wiedertreffen und in Erfahrung bringen, was mit der deutschen Bitch geschehen war. Währenddessen würde Gordon hoffentlich bei dieser kranken Auktion sämtliche abartigen Mitbieter ausstechen, so dass dem Baby nichts geschah.
Das lautes Klingeln ihres Handys erschreckte Lucia so sehr, dass sie das Lenkrad verriss.
Ihre Hand zitterte, als sie die Freisprecheinrichtung betätigte.
Kea empfand das Bad als eine ungeheure Wohltat.
Brooklyn Lotus Dream war eine bizarre Mischung aus Badehaus, Massagesalon und vermutlich auch Bordell.
So stark war Kea an der ganzen Wahrheit gar nicht interessiert. Sie empfand so etwas wie Dankbarkeit gegenüber Mario.
Sie lag in dem duftenden warmen Wasser und kaute langsam und genüsslich einen süßen Reiskuchen, den eine mandeläugige Schönheit namens Suyin ihr serviert hatte.
Kea hätte ewig so liegenbleiben können. Oder zumindest, bis das Wasser kalt wurde. Sie hatte gerade den Reiskuchen aufgegessen und mit einer Schale Jasmintee heruntergespült, als Suyin wieder auf der Bildfläche erschien.
„Wünschen Sie jetzt eine Massage?“, fragte sie mit ihrer glockenhellen Stimme.
Kea lag die Bemerkung auf der Zunge, dass sie vor allem ihre Freiheit wünschte. Aber sie hielt lieber ihren Schnabel, und das aus zwei Gründen.
Erstens wusste sie nicht, inwieweit Suyin mit Mario unter einer Decke steckte.
Und zweitens war sie überhaupt nicht sicher, was ihre Freiheit ihr jetzt nützen sollte.
Freiheit hieß für Kea momentan nichts anderes, als vor dem Nichts zu stehen.
Also nickte sie einfach nur, erhob sich aus der Edelstahlwanne und ließ sich von den geschickten Händen der Asiatin frottieren.
Wenig später lag Kea mit geschlossenen Augen auf einer Massageliege und spürte, wie Suyins kräftige Finger warmes Öl auf ihrer Haut verteilten.
Obwohl die junge Frau ihr völlig fremd war, empfand sie die Berührung als liebevoll und erfüllend. Und doch konnte Kea nicht vergessen, dass die Begegnung mit Lucia wie ein Damoklesschwert über ihr schwebte.
Ob es eine Möglichkeit gab, sich davor zu drücken?
Kea beschloss, einen zaghaften Vorstoß zu wagen.
„Kommt Mario oft hierher?“, fragte sie im Plauderton.
Suyin antwortete nicht sofort. Kea vermutete, dass sie seinen Namen nicht kannte.
„Ich spreche von dem Mann, der mich mitgebracht hat“, verdeutlichte sie.
„Wir nennen ihn nur Mr. Black Jack“, erklärte Suyin kichernd. „Weil die Spieltische in Las Vegas ihn nämlich reich gemacht haben.“
Diese Information war für Kea neu. Andererseits: Sie durfte nicht alles, was sie von Mario selbst oder von seiner unsäglichen Schwester gehört hatte, für bare Münze nehmen. Womöglich war dieser Typ wirklich nur ein Zocker, der von seinen Glückspielgewinnen lebte.
Wäre das nicht immer noch besser, als sich durch das Kidnapping von Babys zu finanzieren?
Diese Frage ließ sie unweigerlich an Tom denken. Gleichzeitig wurde Kea bewusst, dass sie sich seit mindestens einer halben Stunde innerlich nicht mehr mit ihrem toten Freund befasst hatte.
Konnte sie so schnell vergessen?
Oder hatte Kea durch ihre aktuelle Lage einfach keine Zeit zum Trauern?
Suyin sprach weiter:
„Sie haben großes Glück, Miss. Mr. Black Jack ist ein wundervoller Mann, charmant und großzügig. Er wird Sie auf Händen tragen.“
Suyin ging offenbar davon aus, dass Kea Marios aktuelle Freundin war. Eine naheliegende Vorstellung - warum sollte die Asiatin davon ausgehen, dass Kea eine Geisel wäre, die gemeinsam mit ihrem Geiselnehmer auf der Flucht vor der Polizei war?
Und dass die beiden in stinkenden Klamotten im Brooklyn Lotus Dream aufgetaucht waren (nachdem Mario in New Jersey ein Auto geklaut hatte), schien für die Belegschaft auch nicht besonders erwähnenswert zu sein. Kea konnte nur darüber spekulieren, womit man in diesen Kreisen Aufsehen erregen konnte.
„Kommt, äh, Mr. Black Jack öfter mit Frauen hierher?“
Kea hätte selbst nicht sagen können, weshalb sie diese Frage stellte.
Suyin gab jedenfalls bereitwillig Auskunft.
„Nein, nicht oft. Sie sind erst die dritte. Die anderen Ladys habe ich nie wiedergesehen.“
Obwohl der letzte Satz eigentlich unverfänglich war, ließ er das Blut in Keas Adern gefrieren.
Sie durfte sich von Marios Freundlichkeit nicht blenden lassen!
Dass seine Schwester eine eiskalte Mörderin war, hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Es gab keinen Beweis dafür, dass er auch nur einen Deut besser war.
Womöglich lebten die Frauen, mit denen er im Brooklyn Lotus Dream gewesen war, schon gar nicht mehr?
Wenn Mario sich nun an ihnen vergangen und sie anschließend getötet hatte?
Kea presste die Lippen aufeinander.
Plötzlich konnte sie die Massage gar nicht mehr wirklich genießen. Das entging auch Suyin nicht.
„Sie sind völlig verspannt, Miss“, stellte die Asiatin mit mildem Tadel in der Stimme fest.
„Es ist nur ... ich weiß nicht so recht, woran ich bei Mr. Black Jack bin“, hörte sie sich selbst sagen.
Suyin kicherte.
„Sie müssen auf Ihr Herz hören.“
Eine unverfängliche Binsenweisheit, wie Kea fand. Und doch ließ dieser Spruch sie in Tränen ausbrechen.
Als sie das letzte Mal auf ihr Herz gehört hatte, war sie an Tom geraten. Und genau deshalb war sie dort, wo sie sich jetzt befand.
Am liebsten wäre Kea einfach weggelaufen. Momentan hatte sie allerdings buchstäblich keinen Faden am Leib. Und sie wusste außerdem nach wie vor nicht, wohin sie sich wenden sollte.
Es klopfte an der Tür. Gleich darauf trat lächelnd eine andere junge Asiatin ein. Sie verbeugte sich und gab Suyin einen kleinen Stapel mit sorgfältig gefalteten Kleidern.
Kea hob den Kopf und erkannte die Sachen, die ihr beziehungsweise Lucia gehörten. Die Asiatin sagte noch etwas in einer fremden Sprache zu Suyin und verschwand dann wieder.
Suyin wandte sich an Kea.
„Mr. Black Jack lässt Ihnen ausrichten, dass er Sie erwartet, sobald die Message beendet ist.“
Kea nickte. Während die Masseurin weiterhin ihre Haut knetete, zerbrach sie sich den Kopf über eine Fluchtmöglichkeit.
Wenn sie nun Suyin bat, die Cops zu rufen?
Schließlich war sie ein Entführungsopfer. Und sie würde der Polizei gewiss deutlich machen können, dass sie nichts mit dem Kidnapping in Berlin zu tun hatte.
Wirklich?
Kea erkannte, dass ihr Story nach wie vor nicht plausibel klang.
Außerdem wusste sie nicht, wie die Asiatin reagieren würde.
„Mr. Black Jack“ schien ja in diesem Haus sehr beliebt zu sein. Bisher war Lucias Bruder sehr nett zu Kea gewesen, obwohl er sie schon einmal bei einem Fluchtversuch erwischt hatte. Das würde sich vermutlich ändern, wenn sie ihn jetzt an die Cops verraten wollte.
Kea kapitulierte wieder einmal vor ihrer eigenen Feigheit. Das Risiko erschien ihr zu groß. Und dafür verachtete sie sich selbst.
Ihre Anziehsachen rochen jetzt nicht mehr nach Kloake, sondern nach einem Jasmin-Weichspüler. Nachdem Kea komplett bekleidet war, wurde sie von Suyin hinunter in den Salon gebracht, der mit antik wirkenden rot lackierten Möbeln im China-Stil ausgestattet war.
Mario sprang von einem Sessel auf und stelle eine Teeschale zur Seite. Er strahlte Kea an, als ob er in sie verliebt wäre.
Ob das zutraf?
Wäre es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
„Du siehst fabelhaft aus“, sagte er zu ihr. „Wir können sofort aufbrechen. Ich habe mit meiner Schwester telefoniert. Wir werden sie schon bald treffen.“
„Das Police Department von Jersey City hat einen Autodiebstahl gemeldet.“
Jablonski schnaufte ironisch, nachdem Borges diesen Satz von sich gegeben hatte.
„Ein Autodiebstahl? In Jersey City? Ich dachte immer, dass sämtliche Verbrechen von dort nach New York City ausgelagert wurden.“
Die Agents saßen wieder in ihrem dunklen Ford Crown Victoria, der nicht nur wegen seiner besonderen Antenne für jeden ausgebufften Ganoven als unmarkiertes FBI Fahrzeug zu erkennen war.
„Die dummen Witze kannst du dir sparen, Chuck. Ich hatte die Cops sowohl in New York als auch in New Jersey gebeten, auf Autodiebstähle durch mehrere Personen zu achten. Der Polizei drüben in Jersey City ist ein Pärchen durch die Lappen gegangen, bei denen es sich um Lucia und Mario Lezzi handeln könnte. Die beiden flohen zunächst auf einem Motorrad, dann verliert sich ihre Spur. Also verbarrikadieren sie sich entweder in einem Versteck oder sie haben den fahrbaren Untersatz gewechselt.“
„Das ist nachvollziehbar.“
„Eben.“ Borges zeigte ihrem Kollegen ihr Smartphone. „Hier, das Foto habe ich eben aus Jersey City bekommen. Es stammt von einer Überwachungskamera vor einem Drugstore. Der Typ könnte Mario Lezzi sein. Siehst du, da knackt er ein Auto. Selbst die cleversten Verbrecher machen mal einen Fehler.“
„Wieso, war der Diebstahl nicht erfolgreich?“
„Doch, sie sind mit der Karre weggegondelt“, erwiderte Borges. „Allerdings hat der Trottel im Eifer des Gefechts einen Wagen mitgehen lassen, der über GPS geortet werden kann.“
„Das ist wirklich blöd. - Und seine Begleiterin, das ist aber nicht seine Schwester, oder?“
„Von den Klamotten her könnte es Lucia sein“, sagte Borges. „Vielleicht trägt sie eine Perücke, oder sie hat sich blond gefärbt. Wäre natürlich auch möglich, dass er die Deutsche im Schlepptau hat.“
„Meinst du? Und wo ist dann Marios Schwester abgeblieben?“
„Die wird irgendwo auf der Welt neues Unheil anrichten“, knurrte die Agentin. „Ich hoffe darauf, dass es zu einer großen Wiedervereinigung des Gangster-Geschwister-Dreamteams kommt.“
„Weil wir uns mit Hilfe des GPS-Senders an Mario dranhängen?“
Borges verzog spöttisch den Mund.
„Deine Intelligenz beeindruckt mich immer wieder. - Wir bringen jetzt die Ortung des Fahrzeugs auf den Weg. Und sobald sich die drei getroffen haben, schnappt unsere Falle zu. Ich sorge dafür, dass genügend Verstärkung in der Nähe postiert wird. Noch einmal darf uns dieses mörderische Biest nicht durch die Lappen gehen!“
„Wohin fahren wir?“
Kea stellte diese Frage, während Mario den Wagen durch die Nacht steuerte. Das Auto war ein dunkler Lincoln Navigator. Kea hatte es bequem auf dem Beifahrersitz. Die Air Condition war von Mario eingeschaltet worden, und aus dem Radio ertönte leiser Bar Jazz.
Sie waren soeben über eine Brücke gedüst, und Kea erblickte eine beeindruckende Skyline mit Millionen von Lichtern. So hatte sie sich Amerika immer vorgestellt, als sie noch in Deutschland gewesen war.
Nun, da dieser Traum real geworden war, hatte er seine Strahlkraft verloren.
Obwohl Kea tief in ihrem Inneren immer noch ein wenig beeindruckt war.
„Lass dich überraschen“, sagte Mario. „Für mich ist es eine Reise in die Vergangenheit. Wir werden einen Ort aufsuchen, an dem ich einmal sehr glücklich gewesen bin.“
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Lucias Bruder redete einfach weiter: „Dort, wo wir gleich ankommen werden, gab es eine Frau. Eine Frau, nur für mich Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick? Ich hielt diese Vorstellung früher für kitschig und reaktionär - bis ich meine Seelenverwandte traf. Wir passten perfekt zusammen, aber nichts hält ewig. Ich werde sie niemals wiedersehen.“
Und warum nicht? Weil er sie ermordet hat?
Kea schoss dieser Gedanke durch den Kopf, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie wäre jetzt gern unsichtbar gewesen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an - und zwar so lange, bis sie Beklemmungen an der Brust bekam und laut husten musste.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Mario besorgt.
„D-doch, alles bestens!“
Kea würde ganz gewiss nicht von ihm erfahren wollen, was aus dieser Frau geworden war.
Sie fürchtete nun, dass ihr das gleiche Schicksal drohte.
Jenseits der Brücke hielt der SUV an einer roten Ampel. Kea schaute auf den Bürgersteig hinüber. Wenn sie nun einfach aus dem Auto sprang, in einen der Läden stürmte und um Hilfe rief?
Dann würde Mario gar nichts machen können, denn es gab zu viele Zeugen. Er würde vermutlich Vollgas geben, um nicht verhaftet zu werden.
Bevor Kea sich selbst innerlich Mut zusprechen konnte, war die Ampel schon wieder umgesprungen. Der Lincoln Navigator rollte wieder an.
„Es ist nicht mehr weit, Kea. Allmählich macht mir unser kleiner Ausflug Spaß. Anfangs war ich etwas genervt, weil meine Schwester immer so viel Chaos verursacht. Und ich muss gestehen, dass ich eingerostet war. Dafür haben wir uns aber wacker geschlagen, oder? Immerhin konnten wir den Cops entwischen.“
Mario lachte und warf Kea einen Seitenblick zu. Sie rang sich ein Grinsen ab.
„Unsere Welt folgt gewissen Regeln“, sagte er, nun wieder ernsthaft. „Man nennt uns Gesetzlose, doch dieses Wort trifft den Nagel nicht auf den Kopf. Wir missachten die Polizei und die Gerichte, das stimmt. Doch wir haben unseren eigenen Ehrenkodex. Jede Gang verfügt über strenge Verhaltensweisen, die unbedingt eingehalten werden müssen. Lucia und ich gehören keiner Bande an, falls du das glaubst.“
„Warum erzählst du mir das alles?“
„Weil du jetzt eine von uns bist.“
Mario klang so erstaunt, als ob Kea etwas Selbstverständliches hinterfragt hätte.
„Aber ich bin nicht kriminell!“, rutschte es ihr heraus.
„Da ist die Polizei höchstwahrscheinlich anderer Meinung“, feixte Lucias Bruder. „Ich sehe nicht, wie du beweisen willst, dass du von der Kindesentführung nichts gewusst hast. Kea, du hast sehr schöne Augen - aber kein Generalstaatsanwalt wird sich darauf verlassen, dass diese Augen nicht lügen können.“
Mario lachte über seinen eigenen Scherz.
Kea hingegen war geschockt von der Zukunftsperspektive, die er ihr soeben unter die Nase gerieben hatte.
Das Fatale war, das es stimmte.
Es gab keine Garantie dafür, dass Kea nicht umgehend im Gefängnis landen würde, wenn sie sich stellte. Ein Freispruch war äußerst ungewiss. Womöglich glaubte das Gericht ihr noch nicht einmal, dass Lucia sie verschleppt hatte. Dafür gab es nämlich keinen Beweis.
Kea erblickte vor sich eine hell beleuchtete Tankstelle. Zu der Mobil Gas Station gehörte auch eine Autowaschanlage, außerdem ein kleiner Shop.
Sie hatte angenommen, dass Mario einfach nur tanken wollte. Doch er fuhr auf den kleinen Parkplatz neben dem Carwash und stellte den Motor ab.
Kea schaute ihn fragend an.
„Wir sind da. An diesem Ort werden wir Lucia wiedertreffen“, sagte Mario.
Eine halbe Stunde zuvor war Lucia ihren grünen Chevrolet losgeworden. Sie fuhr nun einen alten Buick, den sie in einer stillen Seitenstraße auf Staten Island aufgebrochen hatte. Das vorsintflutliche Modell verfügte noch über keine moderne Diebstahlsicherung.
Lucia traute den Cops zwar nicht allzu viel zu, doch dass sie den Chevy inzwischen auf dem Radar hatten, war durchaus möglich. In dem Chevy fühlte sie sich einfach sicherer.
Eigentlich scheute sie kein Risiko. Doch Lucia konnte es nicht riskieren, hinter Gittern zu landen oder in eine Cop-Kugel zu laufen.
Wenn sie nicht mehr da war, wer sollte dann Adrian retten?
Sie kurvte durch die stillen Wohnstraßen von Staten Island. Lucia bildete sich ein, dass sie einen sechsten Sinn für Polizeifallen hatte. Nichts deutete darauf hin, dass New Yorks Finest an der Bay Street auf sie lauerte.
Trotzdem wartete sie in sicherer Entfernung von der Tankstelle ein wenig ab, obwohl Geduld nicht gerade ihre stärkste Eigenschaft war. In der Dunkelheit wirkte die hell beleuchtete Mobil Gas Station wie eine Lichtinsel.
Momentan stand nur ein Toyota Van an einer der Zapfsäulen. Der Fahrer war ein dicker Chinese, der seine Rechnung zahlte und dann Richtung Norden wegfuhr. Lucia ließ ihren Blick über das Gelände schweifen.
In dem Car Wash wurden momentan keine Fahrzeuge gereinigt. Auf dem kleinen Parkplatz herrschte gähnende Leere. Ob sie es riskieren konnte, ihren Buick auf dem Areal abzustellen? Nein, das war keine gute Idee.
Wenn ein Streifenwagen die Tankstelle ansteuerte und ein übereifriger Cop auf die Idee kam, das Nummernschild zu checken, war sie geliefert. Jedenfalls dann, wenn der Diebstahl schon bemerkt worden war.
Daher parkte Lucia lieber einen halben Block weiter an der Bay Street. Sie näherte sich der Mobil Gas Station zu Fuß. So wie eine Anwohnerin, die spätabends noch Appetit auf etwas Süßes oder eine Cola bekommt.
Erinnerungen wurden wach.
Viel hatte sich nicht geändert, seit Lucia das letzte Mal hier gewesen war. Es roch immer noch nach Benzin, altem Motoröl und den überquellenden Abfalleimern. Die Reklametafeln warben für andere Produkte als damals. Die Automatiktür war endlich ersetzt worden, nachdem sie damals schon oft genug nicht funktioniert hatte.
Lucia hatte ein Messer wurfbereit, als sie den Tankstellen-Minishop betrat. Es war kein Kunde zwischen den Regalen voller Chipstüten und den Kühl-Glasschränken mit Softdrinks und Bier zu sehen. Es gab auch eine kleine Theke mit einigen Barhockern, an der sie sich damals oft mit ihrem Bruder getroffen hatte. Später auch mit seinen Freunden.
Und hinter diesem Tresen thronte neben seiner Registrierkasse der alte Alvarez. Er war schon vor Jahren ein Greis gewesen. Doch es schien, als ob er nicht weiter altern würde. Lucia dachte sich, dass er auch in zehn Jahren noch diesen Platz einnahm. Es gab Menschen, von denen sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals starben.
Sie selbst gehörte nicht dazu.
Alvarez blickte von seiner Sportzeitung auf. Sein Vollmondgesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, und er entblößte alle drei verbliebenen Zähne. Offenbar hatte er Lucia erkannt.
Der Tankstellenbesitzer beugte sich vor, wobei das schmuddelige weiße Hemd sich über seinem gewaltigen Bauch noch mehr spannte.
„Sei mir gegrüßt, Darling! Bist du wieder bei einer Pflegefamilie ausgerissen?“
Lucia erwiderte das Grinsen und gab sich selbst Entwarnung. Daher schob sie das Wurfmesser unauffällig in ihren Ärmel zurück.
„Immer noch der alte Charmeur! Sooo jung bin ich nicht mehr, auf mich wartet höchsten der Knast, falls die Bullen mich krallen.“
Alvarez blinzelte ihr freundlich zu.
„Chaos, dein Name lautet Lucia! So kennen und lieben wir dich eben. - Cola gefällig?“
„Ja, gute Idee. Mit viel Eis bitte.“
Der Alte nickte, griff zum Eispickel und löste einen großen Brocken gefrorenen Wassers aus einer Packung auf seiner Arbeitsfläche, tat ihn in ein Glas und füllte es mit der dunklen Limonade auf.
Lucia nahm einen Schluck.
„Schmeckt immer noch so gut wie damals.“
„Bist du der alten Zeiten wegen zurückgekehrt? Oder warst du zufällig in der Gegend?“
Sie grinste breit.
„Du bist jedenfalls immer noch so neugierig wie damals.“
Alvarez hob die Schultern.
„Ich bin ein alter Mann. Wenn ich schon selbst nichts Aufregendes mehr erlebe, dann will ich wenigstens ein wenig an den Abenteuern meiner Kunden teilhaben.“
Lucia schnaubte ironisch.
„Den meisten deiner Kunden dürfte kaum jemals etwas Spannenderes zustoßen als auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit einen Platten zu bekommen.“
Er lachte.
„Das ist wohl wahr. Ich dachte dabei eigentlich an ganz spezielle Kunden - so wie dich und deinen Bruder.“
„Warst du eigentlich damals bei Marios Verhaftung dabei?“
Der Tankstellenmann schien sich plötzlich nicht mehr besonders wohl in seiner Haut zu fühlen.
„Ja, natürlich. Ich bin doch immer hier. Und ich hatte wirklich keine Ahnung, dass meine Aushilfe eine FBI Agentin im Undercover-Einsatz war!“
Lucia winkte ab. Es spielte keine Rolle, ob Alvarez in diesem Punkt die Wahrheit sagte oder nicht. Sie wusste, wie die Bundesbehörden arbeiteten. Das FBI würde ihn so unter Druck gesetzt haben, dass er die Kooperation überhaupt nicht verweigern konnte.
Es sei denn, er wollte seine Tankstellenlizenz aufs Spiel setzen.
Sie zwinkerte dem Alten zu.
„Mach dir keinen Stress, Alvarez! Ich bin heute nicht hier aufgeschlagen, um dir die Kehle durchzuschneiden. Die Vergangenheit ist vergessen. Außerdem ist mein Bruderherz schon längst wieder auf freiem Fuß. Er konnte die Gehirnklempner nachhaltig davon überzeugen, dass er einen Sprung in der Schüssel hat. Und später mimte er den Musterknaben, woraufhin sie ihn aus der Klapsmühle entließen.“
Alvarez wirkte erleichtert.
„Dann ist ja alles okay. Ich habe mich immer gefreut, wenn Mario und seine Kumpels Leben in die Bude gebracht haben. Ich verstand zwar kein Wort von ihrem Tech-Gelaber, trotzdem war es eine schöne Zeit.“
Lucia nahm noch einen Schluck Cola.
„Das sehe ich auch so. Und deshalb haben wir beschlossen, deine Tankstelle heute Nacht als Treffpunkt zu benutzen. Ich erwarte meinen Bruder jede Minute.“
„Der Zeitpunkt ist gut gewählt“, meinte der Alte. „Die Cops waren vor einer Dreiviertelstunde hier, um nach dem Rechten zu sehen. So wie jeden Abend. Falls nichts Außergewöhnliches passiert, schauen sie frühestens in drei Stunden wieder rein.“
Lucia fand es beruhigend, dass die Patruillenfahrten der Vorstadt-Polizisten immer noch genauso abliefen wie vor Jahren. Das war die Art von Vorhersehbarkeit, die sie schätzte.
Ein sirrendes Geräusch ertönte, als die Automatiktüren aufgingen.
Mario und dieses deutsche Luder betraten den Minimarkt.
Während Lucias Bruder ein breites Grinsen aufgesetzt hatte, wirkte Kea wie eine Todeskandidatin auf dem Weg zum elektrischen Stuhl. Sie war totenbleich, taumelte und konnte Lucia nicht in die Augen sehen.
Aus ihrer Sicht war diese Haltung durchaus verständlich. Lucia hatte schließlich genug wüste Drohungen ausgesprochen, um sie zum Reden zu bringen.
Verständlich, dass Kea diesem Treffen nicht gerade entgegenfieberte.
„Alvarez, altes Haus!“, rief Mario jovial. „Mach uns doch bitte mal zwei Glas Cola, meine Freundin kann dringend einen kleinen Kreislaufkick gebrauchen. Und ein paar Donuts wären auch schön!“
„Wenn es weiter nichts ist ...“
Der Alte kam der Bestellung schnell nach, auch er schien sich über das unerwartete Wiedersehen zu freuen.
„Setz dich“, blaffte Lucia Kea an. Die ließ sich gehorsam auf einen Barhocker gleiten. Dann wandte die Killerin sich an ihren Bruder.
„Wir sollten hier keine Wurzeln schlagen. Mit den Cops können wir erst wieder in ein paar Stunden rechnen. Ich will trotzdem nichts riskieren. Je weniger Leute uns zusammen in der Öffentlichkeit sehen, desto besser.“
„Entspann dich, Schwesterherz. Eine kleine Pause hat noch niemandem geschadet. Wer verirrt sich schon in diese Tanke? Und ich wette, dass die Überwachungskameras immer noch nicht richtig funktionieren. Oder, Alvarez?“
Der Tankstellenmann schmunzelte.
„Sie würden schon funktionieren, wenn es keine Attrappen wären.“
„Da hörst du es“, sagte Mario und kniff Lucia übermütig in die Wange.
„Hallo? Geht‘s noch?“, fauchte sie. „Wir trinken jetzt aus, essen die verfluchten Donuts und zischen ab.“
„Zunächst sollten wir uns überlegen, wohin wir überhaupt verschwinden wollen“, gab Mario zu bedenken. „Die alte Fabrik ist ja wohl für uns verbrannt, oder?“
„Darauf kannst du wetten!“, grollte Lucia. „Als ich dort vorbeigefahren bin, konnte man das Grau der Mauern hinter dem vielen Blau der Cop-Uniformen schon gar nicht mehr erkennen.“
Sie machte eine kurze Pause, wobei sie Kea unheilverkündend anschaute. Dann fuhr Lucia fort: „Es sollte ein Ort sein, wo niemand die Schreie dieses Flittchens hören kann.“
„Nun mach mal halblang!“, forderte Mario. „Kea ist so brav gewesen, seit wir vor den Cops geflohen sind. Sie hätte schon mehrfach die Chance zum Durchbrennen gehabt, ohne sie zu nutzen.“
„Du willst dich doch bloß als ihr ritterlicher Held aufspielen, um sie besser flachlegen zu können“, behauptete Lucia. Sie kannte ihren Bruder zwar eigentlich besser, doch sie wollte sich vor Alvarez keine Blöße geben.
Ihr Image hatte sie sich schließlich hart erarbeitet.
„Es gibt da Upstate eine Jagdhütte, ungefähr siebzig Meilen nördlich von New York City“, murmelte Mario nachdenklich. „Dort könnten wir ...“
Er beendete den Satz nicht, denn in diesem Moment kamen zwei Kerle durch den Notausgang hereingestürmt.
Brutale Visagen, rasierte Schädel, Lederjacken, dunkle Jeans und Lederhandschuhe.
Sie hielten .357er Magnum Revolver in den Fäusten.
Einer von ihnen hatte eine lange Messernarbe auf der linken Wange. Lucia saß mit dem Rücken zum Notausgang, was ihr zum Verhängnis wurde. Messernarbe drückte ihr sofort seine Revolvermündung in den Nacken.
„Wenn du auch nur atmest, bist du tot!“, drohte er. Der Bastard schien genau zu wissen, wonach er suchen musste. Jedenfalls riss er ihr mit der linken Hand die Jacke herunter.
Die Wurfmesser, die in den Ärmeln versteckt gewesen waren, klirrten zu Boden. Der Bastard grunzte befriedigt und verpasste Lucia eine Kopfnuss mit dem Revolvergriff.
„Das ist dafür, dass du unsere Freunde abgemessert hast!“
Der Schmerz zuckte durch Lucias Schädel.
„Ihr seid Männer von Old Barns!“, stieß sie hervor. Lucia sah, dass ihr Bruder ihr helfen wollte. Sie warf Mario einen warnenden Blick zu. Der zweite Angreifer hielt seinen Revolver die ganze Zeit auf Mario gerichtet, während er ihn mit der freien Hand abtastete.
„Der Typ ist sauber, Greg“, sagte er zu Messernarbe.
Greg nickte.
„Der Boss hat gesagt, dass wir nur die Deutsche brauchen“, betonte er.
Dann schwenkte Greg seine Waffe herum und erschoss Alvarez.
Die Aufprallwucht des Geschosses katapultierte den Alten rückwärts gegen die Wand. Er gab einen gurgelnden Laut von sich und rutschte langsam zu Boden. Auf seinem unsauberen weißen Hemd wuchs mit enormer Geschwindigkeit ein Blutfleck.
Niemand achtete in diesem Moment auf Kea.
Sie griff sich den Eispickel, der immer noch auf der Theke lag.
Dann rammte sie das Werkzeug bis zum Anschlag in Gregs Hals.
Keiner der Anwesenden hätte mit dieser überraschenden Attacke gerechnet.
Vielleicht noch nicht mal Kea selbst.
Greg schrie, als ob ihm jemand bei lebendigem Leib die Haut abziehen würde. Seine Revolvermündung bewegte sich von Lucia weg, auf Kea zu.
Da sprang ihn Marios Schwester wie eine Raubkatze an, riss ihn zu Boden und entwand ihm die Waffe.
Währenddessen blieb sein Kumpan nicht untätig.
Der andere Killer wollte Kea erschießen, um Greg zu rächen. Dafür musste er seinen Revolver von Mario weg bewegen, auf die junge Deutsche zu.
Doch Lucias Bruder hob blitzschnell eines von den Wurfmessern auf und rammte es in den Leib des Mobsters. Als der Verletzte seitwärts taumelte, verpasste Lucia ihm den Fangschuss.
Im Handumdrehen hatte sich der Tankstellen-Minishop in ein Schlachtfeld verwandelt.
Alvarez und die beiden Iren waren tot oder schwer verletzt. Blut floss aus mehreren Quellen auf den gefliesten Boden.
Ein Entsetzensschrei ertönte aus Richtung Eingang.
Keiner hatte bemerkt, dass eine Kundin eingetreten war. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte zu ihrem Auto zurück.
Lucia hob den erbeuteten Revolver, doch Mario fiel ihr in den Arm.
„Lass das! Jeden Augenblick können noch mehr Zeugen auftauchen. Wir sollten besser den langen Schuh machen.“ Dann wandte er sich an Kea. „Wir verdanken dir unser Leben.“
„Du kannst ihr auch später noch die Zunge in den Hals stecken“, fauchte Lucia. Sie musste sich eingestehen, dass sie einige Momente lang wehrlos gewesen war. Und das passte ihr überhaupt nicht.
„Abflug!“, kommandierte Mario. Er nahm Kea an die Hand, griff sich den Revolver des toten Killers und rannte durch den Notausgang davon. Lucia blieb nichts anderes übrig als den beiden zu folgen.
Ihr Bruder hatte offenbar einen SUV geklaut. Jedenfalls warf er sich auf den Fahrersitz eines Lincoln Navigator. Kea und Lucia stiegen ebenfalls ein, dann brauste das Fahrzeug davon.
Borges und Jablonski erhielten die Meldung von der Schießerei im Tankstellen-Shop, als das Gebiet rund um die Bay Street noch nicht vollständig abgeriegelt war. Das FBI wurde vom Police Department und der Highway Patrol unterstützt.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, wütete die Agentin. „Kann man denn Lucia Lezzi keine fünf Minuten aus den Augen lassen, ohne dass sie jemanden massakriert?“
Die Information war jedenfalls eindeutig. Es gab zwei Tote und einen Schwerverletzten, bei keinem von ihnen handelte es sich um Kea Kühn oder das Geschwisterpaar Lezzi.
Die Personenbeschreibungen passten einfach nicht.
„Um das Feuergefecht sollen sich die Cops kümmern“, entschied Borges. „Jedenfalls so lange, bis klar ist, ob es sich überhaupt um einen FBI Fall handelt. Wir müssen uns auf die Killerin fokussieren.“
Die momentane Ermittlung war für sie schon lange kein Routinefall mehr. Und das lag nicht nur an ihrer zurückliegenden Affäre mit Mario Lezzi.
Borges konnte es einfach nicht ausstehen, wenn sie verschaukelt wurde. Schon gar nicht von einer Kriminellen.
Die Agentin hatte es sich auf dem Beifahrersitz des FBI Dienstwagens bequem gemacht. Sie balancierte ein Tablet auf dem Schoß. Mit Hilfe eines Tracking-Programms konnten sie die Route des Fluchtfahrzeugs verfolgen.
Jablonski lenkte den Ford Crown Victoria nach Borges‘ Anweisungen.
„Na, toll!“, fauchte sie. „Jetzt fangen diese Dorftrottel von der Highway Patrol an, ihre Straßensperre zu errichten. Dabei sind die Verbrecher schon zwölf Meilen nördlich von hier unterwegs, haben den Punkt längst passiert. Halte mich vom Funkgerät fern, sonst garantiere ich für nichts.“
Ausgerechnet in diesem Moment wurden sie angefunkt, allerdings vom FBI Field Office und nicht vom Highway Patrol Command.
Der vorgesetzte Special Agent in Charge erkundigte sich, ob Borges und Jablonski Verstärkung brauchten.
„Das ist nicht nötig, Sir“, versicherte die Agentin. „Wir müssen verhindern, dass die Verdächtigen misstrauisch werden. Die Flucht führt nach Norden, in dünn besiedelte Gegenden. Dort wäre es zu auffällig, wenn gleich mehrere Wagen dem Fluchtfahrzeug folgen.“
„Wie Sie meinen, Agent Borges. Aber wenn der Zugriff misslingt, mache ich Sie persönlich verantwortlich.“
„Das wird nicht geschehen, Sir“, versicherte sie und brach den Funkkontakt ab.
Einige Momente lang herrschte Schweigen im Auto.
Dann sagte Jablonski:“Jetzt hast du dich aber ganz schön weit aus dem Fenster gelehnt.“
„Wenn ich deine Kommentare gebrauchen kann, werde ich mich schon melden. Hast du nichts anderes zu tun, wie zum Beispiel fahren oder in der Nase bohren?“
Der bullige Agent grinste breit. Er hatte ein dickes Fell. Das brauchte man vermutlich auch, um mit Borges auszukommen. Sie machte sich über ihren eigenen Charakter keine Illusionen.
„Lucia Lezzi ist brandgefährlich“, fuhr sie etwas ruhiger fort. „Du hast doch mitgekommen, dass es an der Tankstelle schon wieder Tote gegeben hat.“
„Noch kennen wir die Umstände nicht. Wir hatten noch nicht mal Zeit, einen Blick auf den Tatort zu werfen, Bellissima.“
„Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst.“
„Stimmt. Jetzt mache ich es extra, um dich zu ärgern.“
„Blödmann“, gab Borges mit einem verkniffenen Grinsen zurück. Jablonski hatte es doch tatsächlich geschafft, sie ein wenig aufzuheitern.
„Wir verlieren die Kriminellen nicht“, beteuerte er. „Unser Wagen befindet sich außerhalb ihrer Sichtweite. Doch falls es nötig ist, kann ich die Distanz schnell verringern.“
Borges nickte und senkte ihren Blick auf den Tablet PC.
„Es geht Richtung Albany. Weiß der Henker, was diese Schwefelbande plant.“
„Lucia Lezzi ist auf der Flucht“, stellte Jablonski fest. „Ich finde es nicht besonders plausibel, dass sie ein Massaker veranstaltet und dabei eine Augenzeugin laufen lässt. Es war doch eine Frau, die den Notruf alarmiert hat,oder? Wenn ich vor dem Gesetz abhauen müsste, würde ich bestimmt nicht so viel Aufsehen erregen wollen.“
„Du darfst bei der Killerin keine normalen Maßstäbe anlegen, Chuck. Die Lezzi handelt erst und denkt dann nach. Sie wirkt auf den ersten Blick süß und harmlos. Doch sobald sie ein Messer oder eine Pistole in der Hand hält, sieht die Sache schon ganz anders aus.“
„Das klingt so, als ob du Erfahrungen mit ihr gemacht hättest.“
„Sie ist mir bei einem Undercover-Einsatz gelegentlich über den Weg gelaufen“, gab Borges zu.
„Jetzt bin ich neugierig geworden.“
„Da gibt es kein großes Geheimnis, das gelüftet werden müsste“, behauptete die Agentin. „Bei dieser Ermittlung war Lucia Lezzi nur eine Randfigur. Trotzdem kapierte ich schon damals, dass die Frau ein ungeheures Aggressionspotenzial hat.“
„Musstest du dich mal mit ihr prügeln?“
„Ich hatte immer schon den Verdacht, dass du auf Frauen-Schlammcatchen stehst. Aber ich muss dich enttäuschen, mein Lieber. Eine solche Show mit Lucia Lezzi und mir hat es nie gegeben.“
„Man wird ja noch träumen dürfen“, seufzte Jablonski.
„Aber nur, wenn du nicht die nächste Abfahrt versäumst!“, mahnte Borges und tippte mit der Fingerkuppe auf ihr Tablet.
„Keine Panik, ich habe es schon gesehen.“
Jablonski setzte den Blinker und fuhr von dem Interstate Highway herunter, wie es kurz zuvor auch schon der Lincoln Navigator getan hatte.
Die Agents kurvten nun durch eine zersiedelte Vorstadtgegend, wo sich Gehölze mit einzelnen Häusern und verwaist aussehenden Gewerbegebieten abwechselten. Borges vermutete, dass die Grundstückspreise so weit weg von Manhattan spottbillig waren. Zumindest wirkten die Gebäude so, als ob ihre Besitzer wenig Geld hätten. Das war sogar nachts im fahlen Licht der Scheinwerfer gut erkennbar.
Die Straßenbeleuchtung entlang dieser drittklassigen Gemeindestraße hielt sich in Grenzen.
Die Flüchtenden fuhren durch Orte, von denen Borges noch nie etwas gehört hatte. Alle Geschäfte hatten nachts geschlossen, was für Einwohner Manhattans unvorstellbar war.
„Wo wollen die bloß hin?“, dachte Borges laut nach.
„In dieser öden Gegend kann man doch hervorragend auf Tauchstation gehen. Allerdings besteht die Gefahr, dass man vor Langeweile stirbt.“
„Das wäre eine Todesart, an die ich bei einer Verbrecherin wie Lucia Lezzi ganz gewiss nicht denken würde. - Verflucht, der Straßenbelag wird immer mieser!“
Jablonski konnte Borges nicht widersprechen.
Der SUV vor ihnen war nun von der Gemeindestraße auf einen unbefestigten Waldweg abgebogen. Links und rechts der Fahrbahn erhoben sich mächtige Douglas-Tannen. Sie waren so hoch, dass ihre Wipfel im Licht der Scheinwerfer schon gar nicht mehr zu sehen waren. Und sie standen dicht neben der Straße. Einige Zweige berührten die Karosserie.
Es war, als ob der Wald nach dem Auto greifen würde.
„Halt an!“, rief Borges. „Die Ganoven haben ebenfalls gestoppt. Und mach die Scheinwerfer aus, sonst entdecken sie uns noch.“
„Schon gut“, brummte ihr Dienstpartner und tat, was sie wollte. „Du hast es nicht mit einem Anfänger zu tun.“
„Kommt mir aber manchmal so vor“, murmelte Borges.
Sie starrte in die Finsternis vor sich, die ihr allumfassend erschien. Der Himmel war bewölkt, so dass man noch nicht einmal den Mond und die Sterne erkennen konnte. Der Wald schien mit dem Nachthimmel zu verschmelzen.
Sie saßen mitten im schwarzen Nirgendwo.
„Wenn du mich fragst, dann haben die Kriminellen hier einen Unterschlupf, eine Jagdhütte oder so etwas in der Art. Sie werden sich hier verkriechen wollen, bis der Fahndungsdruck nachlässt.“
„Darauf können sie lange warten“, gab Borges grimmig zurück. Sie wollte die Beifahrertür öffnen.
„Was hast du vor, Lenita?“
Es war ungewohnt für sie, von Jablonski mit ihrem Vornamen angeredet zu werden.
„Na, was schon? Überleg doch mal, auch wenn es schwer fällt. Der Flucht-SUV ist gestohlen. Er wird wohl kaum Nachtsichtgeräte an Bord gehabt haben. Wir hingegen sind mit diesen praktischen Apparaten ausgerüstet. Also können wir uns in aller Ruhe anschleichen und die Lage peilen. Unsere Gegner müssen Taschenlampen benutzen, wenn sie im Wald überhaupt irgend etwas sehen wollen. Wir können sie also deutlich erkennen, sie uns aber nicht.“
„Wäre es nicht sinnvoll, zuerst Verstärkung anzufordern?“
„Nicht, bevor ich die Lage gepeilt habe“, beharrte Borges. „Wenn es hier eine Blockhütte gibt, dann halten sich dort womöglich noch weitere Personen auf. Bei einem Zugriff sollten wir zumindest wissen, mit wie vielen Gegnern wir es zu tun haben und wie ihre Bewaffnung aussieht.“
Jablonski konnte diesem Argument nichts entgegensetzen. Zumindest hielt er den Mund, während er genau wie Borges ausstieg. Sie schlossen leise die Wagentüren und lauschten.
Doch es war nur ein sanfter Wind zu vernehmen, der die Äste bewegte und ein Rascheln und Knistern verursachte. Nichts deutete darauf hin, dass die Agents entdeckt worden waren.
Sie holten die Nachtsichtgeräte aus dem Kofferraum und legten sie an.
„Okay, du gehst auf der Ostseite vor, ich auf der Westseite. Wir bleiben über die Smartphones in Verbindung. Schalte den Ton aus, damit ich dir Textnachrichten schicken kann.“
„Sollten wir nicht besser zusammenblei ...“
Bevor Jablonski den Satz beenden konnte, hatte Borges sich bereits ins Unterholz geschlagen.
Womöglich wäre es wirklich sinnvoll gewesen, zusammenzubleiben. Doch sie brauchte jetzt dringend ein paar Minuten für sich allein. Jablonski war kein übler Kerl, doch manchmal ging ihr seine zögerliche Art auf den Wecker. Ein Feigling konnte er nicht sein, sonst wäre er für den FBI-Dienst gänzlich ungeeignet gewesen.
Doch der Zeitpunkt war denkbar ungeeignet, sich über Jablonski den Kopf zu zerbrechen.
In diesem Moment war Borges wieder auf sich allein gestellt.
So wie damals, als sie Undercover gewesen war.
Eigentlich hatte sie dieses Gefühl vermisst. Einerseits die ständige Gefahr, durch eine Verkettung unglücklicher Umstände aufzufliegen.
Andererseits hatte dieses Risiko einen Nervenkitzel hervorgebracht, der süchtig machen konnte.
Manchmal fehlte ihr dieses Gefühl, obwohl es in ihrem routinemäßigen Dienstalltag ebenfalls gefährliche Situationen gab.
Borges‘ Nachtsichtgerät funktionierte hervorragend. Sie konnte sich in der Finsternis vorwärts bewegen, ohne dabei gegen Bäume zu laufen oder unnötige Geräusche zu verursachen.
Sie ging durch den dichten Wald, wobei sie den in geringer Entfernung verlaufenden Forstweg im Auge behielt. Logischerweise musste der geklaute SUV ihrer Widersacher irgendwo hier in der Nähe parken. Die Baumstämme standen dicht an dicht. Es war praktisch unmöglich, hier querfeldein zu fahren.
Und wirklich dauerte es nicht lange, bis sie das Fahrzeug entdeckt hatte. Sie griff zum Smartphone, um ihrem Dienstpartner die gute Neuigkeit zu texten. Doch auf dem Geräte-Display erschien nur eine ernüchternde Information:
KEIN NETZ.
Na toll! dachte Borges. Aber sie musste sich selbst eingestehen, dass dieser Umstand ihr nicht ungelegen kam.
Nun konnte sie nicht durch ihren Vorgesetzten zurückgepfiffen werden, weil sie auf Verstärkung warten sollte.
Borges presste die Lippen aufeinander. Sie wollte Lucia und Mario Lezzi auf jeden Fall selbst verhaften. Mit diesem sauberen Geschwisterpaar hatte sie immer noch eine Rechnung offen. Lucia war nach Borges‘ Meinung einfach nur eine durchgeknallte Furie. Am besten sperrte man sie ein und warf den Schlüssel weg.
Mario hingegen ...
Ihre Empfindung für ihn ließ sich am besten als Hassliebe beschreiben.
Sie wusste, dass dieser Mann nicht gut für sie war.
Doch sie hatte mit ihm gemeinsam einiger der glücklichsten Stunden ihres bisherigen Lebens verbracht.
Diesen Gedanken musste sie jetzt verdrängen.
Borges hielt ihre Dienstwaffe längst in der behandschuhten Rechten. Genau wie ihr Kollege hatte sie ihre dunkelblaue Einsatzjacke mit den drei großen weißen Buchstaben FBI übergezogen. Kein Krimineller sollte später behaupten können, dass sie und Jablonski sich nicht als Bundesagenten zu erkennen gegeben hatten.
Außerdem trug sie natürlich ihre Schutzweste.
In den Geruch nach feuchter Walderde und nach Tannennadeln mischte sich nun auch der Gestank von verbranntem Holz. Ein offenes Feuer konnte Borges nirgendwo erkennen. Aber sie hielt es sowieso für unwahrscheinlich, dass die Flüchtenden hier irgendwo ein Lagerfeuer entzündet hatten.
Stattdessen tippte sie auf eine Blockhütte mit einer festen Feuerstelle oder einem Kamin.
Gleich darauf wurde aus der Vermutung Gewissheit. Auf einer kleinen Lichtung unweit des geparkten SUVs stand eine Jagdhütte oder Eremitenklause. Auf jeden Fall eine Behausung weitab der Zivilisation, in der man sich gut vor dem Gesetz verbergen konnte.
Aber nicht, wenn das Gesetz Lenita Borges heißt, dachte die Agentin grimmig, während sie näher heran schlich.
In der Hütte gab es kein elektrisches Licht.
Mario hatte eine Petroleumlampe in Gang gebracht, die über dem einzigen Tisch hing und ein warmes anheimelndes Licht verbreitete. Außerdem prasselte ein Feuer im aus grob behauenen Steinen errichteten Kamin.
Der Unterschlupf war einfach, aber zweckmäßig eingerichtet. Allerdings gab es nur ein einziges Bett.
Das ist doch egal, dachte Kea schicksalsergeben. Sie glaubte inzwischen nicht mehr, dass sie diese Nacht überleben würde. Also musste sie sich auch nicht den Kopf darüber zerbrechen, dass sie möglicherweise mit Mario und Lucia unter einer Decke würde nächtigen müssen.
Mario spielte den Gastgeber. Offenbar war er es auch gewesen, der diesen Unterschlupf gut kannte. Zumindest hatte Lucias Bruder den SUV so zielsicher hierher gelenkt, als ob er die Strecke tagtäglich fahren würde.
Er öffnete eine Dose Corned Beef und verteilte den Inhalt auf einem Teller.
„Ihr solltet etwas essen, das beruhigt. Und wie wäre es mit einem Whisky? Später können wir auch noch Tee trinken, aber etwas Alkoholisches wird uns allen nach den Aufregungen nicht schaden.“
Lucia warf ihm einen gereizten Blick zu, aß aber etwas von dem Rindfleisch. Mario goss Whisky in drei Gläser, die er aus dem einzigen Küchenschrank geholt hatte. Einen Kühlschrank gab es nicht.
Er hob sein Glas.
„Ich trinke auf Kea, ohne die wir jetzt nicht hier wären.“
Lucia runzelte die Stirn.
„Spinnst du? Ich stoße doch nicht mit Adrians Kidnapperin an!“
Mario ließ einen langen Seufzer aus seinen Lungen.
„Liebste Schwester, du bist zwar kein Pferd - über Scheuklappen verfügst du aber trotzdem. Willst du dir nicht eingestehen, dass wir ohne Kea jetzt schon tot wären? Diese beiden irischen Kartoffelköppe standen garantiert auf Old Barns‘ Lohnliste. Kea hätte ihnen nur folgen müssen. Wir wären von ihnen umgelegt worden, weil wir lästige Zeugen sind. So, wie es Alvarez passiert ist.“
Mario bekreuzigte sich, als er den Namen des Alten aussprach.
Lucia zuckte mürrisch mit den Schultern.
„Okay, dann hat deine Süße eben ausnahmsweise Mumm bewiesen. Das wurde auch mal Zeit. Seit ich Kea kenne, heult und jammert sie nur herum und kriegt vor Angst die Zähne nicht auseinander. Und plötzlich killt sie eiskalt den irischen Schläger, als ob sie den ganzen Tag lang nichts anderes tun würde.“
Da platzte es aus Kea heraus.
„Ja, und weißt du auch, warum? Weil ich schon einmal getötet habe!“
Sie stieß diese Worte unter Tränen hervor. Ihr Gesicht war gerötet, sie begann zu zittern
Lucia und Mario blickten einander an. Ihnen schien klar zu sein, dass Kea keine Show abzog.
„Getötet? Du?“ Lucia klang skeptisch. „Du kommst mir nicht wie eine Killerin vor, eher wie ein Weichei.“
Mario stieß seine Schwester leicht mit dem Fuß an, was Kea nicht entging. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte traurig. Sie trank den Whisky aus, bevor sie sprach.
„Ja, es stimmt. Ich bin furchtsam wie ein Häschen, gehe jedem Konflikt aus dem Weg und will es immer allen Anderen recht machen. Ich wollte vergessen, dass ich schon einmal einen Menschen getötet habe.“
Mario schaute ihr prüfend ins Gesicht.
„Willst du uns erzählen, wie es dazu kommen konnte? Du kannst dir vorstellen, dass Lucia und ich jetzt richtig neugierig geworden sind.“
Kea nickte langsam.
„Es war auf einem Zeltausflug mit meinen Eltern, meiner Freundin Ulrike und ihrer Mama und ihrem Papa. Ich war damals acht Jahre alt. Wir fuhren in den Taunus, das ist ein wunderschönes Waldgebiet in Germany. Dort gab es einen kleinen Campingplatz mitten in der Natur. Es war wunderbar warm, Ulli und ich spielten den ganzen Tag lang in dem angrenzenden Gehölz. Doch irgendwann stritten wir uns wegen einer Nichtigkeit. Ich weiß gar nicht mehr, worum es eigentlich ging.“
„Du wurdest wütend auf deine Freundin?“
„Ja, Lucia. Oder nein, Wut ist der falsche Ausdruck. In dem Moment hasste ich sie richtig. Ich kann mich noch gut an das Gefühl erinnern. Es war wie eine lodernde Flamme in meinem Inneren. So kommt es mir jedenfalls in der Erinnerung vor. Ich bemühe mich wirklich ernsthaft, nicht mehr daran zu denken.“ Sie machte eine Pause. „Allerdings träume ich manchmal von diesem Tag.“
„Alpträume?“, vermutete Mario.
„Ja, natürlich. Für euch ist es wohl irgendwie normal geworden, etwas Böses zu tun. Aber ich hatte mich bis zu diesem unglückseligen Ausflug immer für ein liebes und braves kleines Mädchen gehalten. Als Ulli nicht damit aufhöre, mich zu piesacken, verlor ich die Beherrschung. Wir spielten Fangen. Sie rannte vor mir weg und rief immer wieder: ‚Du kriegst mich nicht, du lahme Ente‘. Schließlich stolperte sie am Rand von diesem verdammten Teich.“
Mario und Lucia wechselten einen Blick. Sie ahnten, was jetzt kommen würde.
Kea fuhr fort: „Ich verlor völlig die Beherrschung. Ich weiß noch, dass ich Ulli am Hals packte und unter Wasser drückte. Sie strampelte, und da waren jede Menge Luftblasen. Doch ich hörte nicht auf. Ich wollte, dass es ihr richtig schlecht geht. Und dass sie mich niemals wieder verspottet. Irgendwann erschlaffte sie. Es stiegen auch keine Blasen mehr aus diesem modrigen Wasser auf. Als wir nicht zum Mittagessen kamen, suchten unsere Eltern nach uns. Mein Vater fand mich neben der Leiche. Ich heulte und erzählte ihm die Wahrheit. Denn ich bin dazu erzogen worden, nicht zu lügen.“
Einen Moment lang herrschte Stille. Dann sagte Lucia: „Ich hätte vermutlich eine Show abgezogen und behauptet, dass ein böser Mann meine Freundin ertränkt hätte. Sie wären dir niemals auf die Schliche gekommen.“
Kea zuckte mit den Schultern.
„Nein, vermutlich nicht. So durchtrieben war ich als Kind nicht. Und wahrscheinlich bin ich es auch heutzutage nicht.“
„Wie ging es dann weiter?“, wollte Mario wissen.
„Mit acht Jahren war ich ja noch nicht strafmündig. Nachdem meine Eltern so richtig begriffen hatten, was geschehen war, schleppten sie mich zu einem Kinderpsychologen. Ich war eine Zeitlang bei ihm in Behandlung.“
„Lass mich raten: Seit dieser Zeit hast du immer alles dafür getan, nicht aufzufallen, das Negative nicht in dein Leben zu lassen und bei allen Mitmenschen beliebt zu sein“, vermutete Mario.
„So könnte man es nennen.“
„Wie langweilig!“, gab Lucia mit einem verächtlichen Schnauben von sich. Und doch schaute sie Kea jetzt mit etwas mehr Respekt als zuvor an.
„Ich habe euch noch nicht alles berichtet“, murmelte Kea, nachdem Mario ihr Glas wieder aufgefüllt hatte. „Da war dieses Gefühl, das ich mit aller Macht unterdrückt hatte. Als ich den Schläger abstach, kochte es wieder hoch. So wie eine Krankheit, die in Schüben auftritt. Es war wieder genauso wie damals bei Ulli. Ich hatte in dem Moment die absolute Macht über ein Menschenleben.“
„Das kann süchtig machen“, meinte Lucia. Kea war überzeugt davon, dass sie wusste, wovon sie sprach.
Mario stand auf.
„Ich danke dir für deine Offenheit, Kea. Trotzdem - diese Neuigkeiten muss ich erst mal sacken lassen. Ich sehe dich jetzt in einem neuen Licht. Wenn mich die Ladies entschuldigen würden - ich gehe einen Moment lang frische Luft schnappen.“
„Lauf nicht zu weit weg, sonst holt dich noch der große böse Wolf“, meinte seine Schwester.
Mario war verwirrt.
Er hatte sich immer viel auf seine Menschenkenntnis eingebildet. Aber dass Kea ein düsteres Geheimnis hatte, war für ihn eine komplette Überraschung gewesen.
Sicher, er kannte die Deutsche noch nicht wirklich lange. Doch meistens gelang es ihm innerhalb weniger Minuten, sein Gegenüber richtig einzuschätzen.
Nun war Mario mehr denn je davon überzeugt, dass Kea mit der Kindesentführung nichts zu tun hatte.
Eine solche Tat passte einfach nicht zu einer überangepassten furchtsamen jungen Frau wie ihr. Nein, Kea war unschuldig. Er hoffte, dass diese Erkenntnis sich auch bei seiner Schwester durchsetzen würde.
Mario sog den Duft der Tannennadeln und des feuchten Waldbodens in seine Lungen. Er liebte die Stille hier draußen in der Natur, obwohl man auch mitten in New York City Oase des Friedens finden konnte. Mehr, als es für Außenstehende vorstellbar war. Touristen hetzten nur vom Broadway zur Freiheitsstatue und ließen sich in coolen Bars das Geld aus der Tasche ziehen. Ihr New-York-Bild war so falsch und kitschig wie die Brooklyn Bridge aus Plastik, die in den Souvenirshops verkauft wurde.
Das Knacken eines trockenen Astes riss Mario aus seinen Überlegungen. Er hatte sich bisher nur wenige Schritte von der Hütte entfernt. Was ihm fehlte, war eine Lichtquelle. Er bildete sich zwar einiges auf sein Orientierungsvermögen ein. Trotzdem wäre er nicht auf die Idee gekommen, sich weiter in den Wald hinein zu bewegen. Zwischen den dicht an dicht stehenden Bäumen konnte man noch nicht einmal das fahle Licht der Sterne erkennen.
Ob sich jemand in der Nähe befand?
Mario lauschte intensiv, aber er hörte nur, wie der Wind durch die Tannenäste rauschte. Es musste ein kleines nachtaktives Tier gewesen sein, das auf den Zweig getreten war. In der absoluten Stille des Waldes kam einem jedes Geräusch unendlich viel lauter vor als in einer Millionenstadt wie New York City.
Mario konnte noch nicht einmal das Gespräch zwischen Lucia und Kea hören, da er die Tür geschlossen hatte.
Oder redeten sie überhaupt nicht? Schwiegen sie sich gegenseitig an?
Beste Freundinnen würden die beiden Frauen wohl niemals werden. Mario hoffte trotzdem, dass seine Schwester ihre Vorbehalte gegen Kea aufgeben würde.
Nun bemerkte er eine Bewegung am Waldesrand. Nein, das war kein Tier, das war ...
Eine Pistolenmündung wurde gegen seinen Hals gedrückt.
„Keinen Mucks, mein Lieber“, raunte eine wohlbekannte Stimme. „Wenn du die Ladies warnst, wirst du es bereuen!“
„Lenita!“
Sie war es, daran gab es keinen Zweifel. Die Undercover-Agentin vom FBI, in die er sich damals ernsthaft verliebt hatte. Eine Frau, die er meistens nur in Jeans und einem billigen Kunststoffkittel mit Tankstellen-Emblem sah. Oder nackt in seinen Armen, wenn er eine Nacht mit ihr verbracht hatte.
Als Mario dann Lenita vor Gericht wiedergesehen hatte, trug sie ein dunkelgraues Geschäftskostüm und sah ganz so aus, wie man sich eine FBI Agentin vorstellte.
„Ja, ich bin es - in voller Lebensgröße“, flüsterte sie. „Und du wirst mir jetzt verraten, wer sich noch in dieser Hütte aufhält.“
Mario zögerte.
Sie verstärkte den Druck mit der Waffe.
„Du weißt, dass ich nicht lange fackle!“
„Ja, ich habe dein Temperament schon immer geliebt. - Es sind nur meine Schwester Lucia und diese Kea Kühn aus Germany in der Behausung. Sonst niemand. Und dieses Nachtsichtgerät steht dir wirkich nicht.“
Trotz der Dunkelheit konnte Mario im Mondlicht nämlich die Apparatur sehen, die Lenita sich über den Kopf gezogen hatte.
„Wir sind hier ja auch nicht bei der Wahl zur Miss America“, zischte Lenita. „Ich sage dir, was du jetzt tust. Du wirst ...“
Mario drückte ihren Waffenarm zur Seite und sprang die Agentin an. Dank seines Gewichts und der unerwarteten Attacke gingen sie gemeinsam zu Boden.
Er rief so laut wie möglich: „Haut ab, das FBI ist hier!“
„Ach du Schande!“
Lucia sprang auf, als ob sie einen elektrischen Schlag bekommen hätte.
Sie lief zu einem der Fenster hinüber, stieß den Riegel weg und öffnete die hölzernen Läden.
Kea hatte sich ebenfalls erhoben.
„Steh nicht herum wie ein Ölgötze!“, fauchte Lucia. „Du kannst jetzt Farbe bekennen: Wenn du mit Adrians Entführung nichts zu tun hattest, kommst du mit mir. Andernfalls bleib in der verdammten Hütte und lass dich von den Feds verhaften!“
Keas Gedanken rasten.
Die Vorstellung, dass Mario jetzt in Handschellen auf dem Waldboden lag, erschreckte sie. Noch fürchterlicher fand sie allerdings den Gedanken, bei endlosen Verhören durch die amerikanische Bundespolizei ihre Unschuld beweisen zu müssen.
Sie hatte nun mal diesen verflixten Schnuller ins Land gebracht, das ließ sich beweisen. Und warum sollte das FBI die Freundin eines Kidnappers für unschuldig halten?
Nein, sie wollte weiterhin frei sein.
Dafür nahm Kea sogar eine gemeinsame Flucht mit dieser Furie Lucia in Kauf.
Obwohl die Lampe in der Hütte ein eher trübes Licht hervorgebracht hatte, empfand Kea die tintenschwarze Dunkelheit ala extremen Kontrast.
Lucia nahm sie an die Hand.
„Los, lauf!“
Kea stürmte vorwärts, ließ sich von der Killerin leiten. Lucia kam ihr vor wie eine Fledermaus, die mit traumwandlerischer Sicherheit auch in der Finsternis ihren Weg findet.
Eine laute Männerstimme ertönte.
„FBI! Stehenbleiben!“
Lucia fackelte nicht lange. Sie zog die Pistole, die sie einem der Iren in der Tankstelle abgenommen hatte. Dann feuerte sie zweimal in die Richtung, in der sie den Agent vermutete.
Kea hatte angenommen, dass ihre Begleiterin den SUV starten würde. Doch das war ein Irrtum. Trotz der schlechten Sichtverhältnisse konnte sie erkennen, dass sie an dem Wagen vorbei liefen.
Natürlich, das FBI wird den Waldweg gesperrt haben!
Dieser Gedanke schoss Kea durch den Kopf. Sie stolperte hinter Lucia her, bis die Killerin plötzlich stoppte.
Trotz der schlechten Lichtverhältnisse bemerkte Kea die Umrisse eines anderen Wagens, der ein Stück weit hinter dem Lincoln Navigator auf der Zufahrt zur Hütte parkte.
Lucia stieß einen Triumphschrei aus.
„Los, steig ein!“, kommandierte sie.
Kea umrundete die Motorhaube, während Lucia die Fahrertür aufriss.
„Sogar der Zündschlüssel steckt, Kea! Da war wohl jemand sehr selbstsicher, uns überrumpeln zu können.“
Lucia hatte die Innenbeleuchtung eingeschaltet, um sich besser orientieren zu können.
Sie sagte: „Das ist ein Ford Crown Victoria, Standardfahrzeug beim FBI und diversen anderen Polizeieinheiten. Mit Funkgerät und allem drum und dran. Wir werden die Karre leider bald loswerden müssen, weil sie sich zu leicht orten lässt. Aber momentan will ich einfach nur hier weg!“
Lucia fuhr den FBI Crown Vic rückwärts, da sie auf dem schmalen Weg zwischen den Bäumen nicht wenden konnte.
„Was ist mit Mario? Sollten wir nicht versuchen, ihn zu befreien?“
Kea hatte diese Fragen kaum gestellt, als Lucia einen anerkennenden Pfiff ausstieß.
„Kaum hast du dich als Killerin geoutet, schon willst du die harte Gangsterbraut spielen? Deine Idee ist an sich nicht schlecht, aber nicht durchführbar. Am Ende wären wir beide entweder verhaftet oder tot.“
Darauf erwiderte Kea nichts, deshalb redete Lucia einfach weiter.
„Du hältst mich für hartherzig, weil ich meinen Bruder im Stich lasse? So ist es aber nicht. Mario und ich haben darüber gesprochen, was wir in einem solchen Fall tun wollen. Wenn ich ins Gras beißen muss oder hinter Gittern lande, dann erwartet Adrian ein furchtbares Schicksal. Willst du das? Willst du, dass ein Baby leiden muss?“
„Natürlich nicht“, murmelte Kea und senkte den Blick. Sie schämte sich, weil sie nicht so weit im voraus gedacht hatte.
Doch Lucia hatte recht. Es gab nur wenige Menschen auf der Welt, die dem Kleinen wirklich helfen konnten.
Die Killerin öffnete wieder den Mund. Kea wusste nicht so genau, ob sie mit sich selbst oder mit ihr sprach.
„Ich frage mich, wo die anderen Agents bleiben. Sie haben sich Mario gekrallt, und ich habe auf einen von ihnen geballert. Weitere Fahrzeuge habe ich bisher nicht gesehen. Dafür kann es nur eine Erklärung geben. Wahrscheinlich hatten wir es nur mit zwei FBI-Bullen zu tun.“
„Glaubst du wirklich, dass man uns nur durch so ein Duo hätte verfolgen lassen? Und wie hat uns das FBI überhaupt gefunden?“
„Wahrscheinlich hatte der geklaute SUV einen GPS-Tracker. Daran hätte man denken müssen. Leider ist es weder meinem Bruderherz noch mir rechtzeitig eingefallen. Da sieht man es mal wieder: Es gibt kein perfektes Verbrechen.“
Lucia lachte ohne Humor.
„Du scheinst es ja nicht allzu schwer zu nehmen, dass dein Bruder verhaftet wurde.“
Kaum hatte Kea diesen Satz ausgesprochen, als sie ihre Bemerkung auch schon bereute.
Lucia warf ihr einen heimtückischen Seitenblick zu.
„Bist du jetzt auch noch Hobby-Psychologin? Deine Analysen solltest du dir dringend abgewöhnen, wenn du alle deine schönen weißen Zähne behalten willst. Zu deiner Information: Ich liebe Mario mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Aber er kann sich sehr gut allein helfen. Vielleicht wird er wieder vor den Gehirnklempnern eine Show abziehen, damit sie ihn in die Klapsmühle sperren. Dort ist es auf jeden Fall angenehmer als im Knast, schätze ich. Und man kann sich auch besser aus dem Staub machen. Nein, um Mario mache ich mir keine Sorgen. - Und Adrian aber schon.“
„Entschuldige, Lucia, ich wollte nicht ...“
„Und hör auf, dich zu entschuldigen! Das ist ein Zeichen von Schwäche, kapierst du? Hast du vergessen, dass ich dich foltern wollte? Bei so einer Hexe willst du um Verzeihung bitten?“
Einen Moment lang herrschte Stille im Auto. Man hörte nur das Brummen des Motors. Dann sagte Kea: „Ich glaube nicht, dass du eine Hexe bist. Du sorgst dich um das Schicksal eines Babys, das sagt genug über dich aus.“
„Schon gut, ich werde meinen Heiligenschein später polieren“, erwiderte Lucia mit einem schiefen Grinsen. „Im nächsten Provinzkaff klauen wir uns eine möglichst alte Karre, damit uns der Schnitzer mit der GPS-Ortung nicht nochmal passiert. Und dann kehren wir in den Big Apple zurück und gehen zu Gordon.“
„Wer ist das?“
„Der einzige Mensch außer Mario, dem ich vertraue. Er wird uns dabei helfen, Adrian zu retten.“
Borges hatte ihre Schrecksekunde schnell überwunden. Nach Marios überraschender Attacke kämpfte sie sich frei, indem sie ihren Pistolengriff gegen seinen Schädel knallte.
Ihr Ex-Liebhaber stöhnte. Er war nicht bewusstlos, nur benommen. Immerhin leistete er nun keinen Widerstand mehr. Sie konnte ihm problemlos Handschellen anlegen.
Doch während die Agentin sich mit Mario beschäftigte, blieben die Luder in der Hütte nicht untätig. Borges hörte verdächtige Geräusche. Vermutlich hatten sie auf der anderen Seite des Gebäudes ein Fenster geöffnet, um herauszuspringen.
Borges kam auf die Beine. Sie schaute Mario an, der flach auf dem Bauch lag.
„Du rührst dich nicht von der Stelle, kapiert?“
„Diese Absicht liegt mir fern. Ich hatte schon fast vergessen, wie leidenschaftlich du sein kannst.“
„Nicht lustig. - Wenn du einen miesen Trick versuchst, während ich fort bin, lernst du mich erst richtig kennen!“
Borges umrundete mit schussbereiter Waffe in der Hand die Hütte. Da hörte sie einen Ruf.
„FBI! Stehenbleiben!“
Jablonski hatte die Frauen also gestellt! Doch bevor Borges sich darüber freuen konnte, ertönten zwei Schüsse.
Dank ihres Nachtsichtgerätes hatte die Agentin freies Sichtfeld, doch sie konnte vor sich keine Personen mehr erblicken. Also war im Wald geschossen worden. Sie biss sich auf die Unterlippe, rannte so schnell wie möglich in die Richtung, wo sie die Flüchtenden vermutete.
Für Borges stand fest, dass dieses Biest Lucia Lezzi geballert haben musste. Chuck würde niemals auf zwei Frauen feuern, von denen die eine vermutlich eine Geisel war. Er würde ...
„Oh, verflucht!“
Borges sah seine imposante Gestalt auf dem Waldboden liegen. Immerhin lebte ihr Dienstpartner, denn er gab ein schmerzverzerrtes Stöhnen von sich.
Sie kniete sich neben ihn, riss seine Jacke auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Beweg dich nicht, Chuck, ich bin bei dir. Halt durch, hörst du? Lass mich nicht allein ...“
„Alles gut, ich werde schon nicht ins Licht gehen“, brachte er hervor. „Der eine Schuss hat mich verfehlt, den anderen habe ich in die Weste gekriegt.“
Erleichtert stellte Borges fest, dass Jablonski seine Schutzweste angelegt hatte. Die Kugel war in dem Material steckengeblieben.
„Versuchter Mord an einem Bundesagenten“, grollte Borges. „Dafür wird dieses Flittchen bezahlen, das schwöre ich dir.“
Aus weiterer Entfernung war zu hören, wie ein Automotor angelassen wurde.
„Sorg lieber dafür, dass sie nicht entkommt“, murmelte Jablonski. „Ich stehe gleich wieder auf, wenn der Schmerz nachlässt.“
Borges strich ihm zärtlich über die Wange, was sie bisher noch niemals getan hatte. Er sollte sich bloß keine Schwachheiten einbilden! Aber dann schnellte sie aus ihrer hockenden Position hoch und rannte Richtung Waldweg.
Es war nicht erstaunlich, dass Lucia den SUV stehengelassen hatte. Der Zugang zur Straße wurde schließlich durch das FBI-Fahrzeug versperrt. Borges unterdrückte einen Fluch.
Die Furie hatte ihren Dienstwagen geklaut!
Die Agentin hörte noch das Motorengeräusch. Sie sah die Scheinwerfer, die sich schnell entfernten. Lucia fuhr in einem bemerkenswerten Tempo rückwärts davon.
Borges musste sich zusammenreißen.
Am liebsten hätte sie geschossen, den gesamten Inhalt ihres Magazins in Richtung des Ford Crown Victoria gejagt. Doch zu groß war die Gefahr, Kea Kühn zu treffen. Noch konnte niemand sagen, was für einen Status diese Frau hatte. Womöglich wurde sie wirklich von Lucia als Geisel gehalten.
Außerdem graute es Borges vor den diplomatischen Verwicklungen, falls sie eine deutsche Staatsbürgerin abknallte. Unabhängig davon, ob Kea Kühn wirklich in die Baby-Entführung verwickelt war.
Die Agentin hatte gehört, dass in Germany die Verbrecher mit Samthandschuhen angefasst wurden.
Diese Überlegungen brachten sie dazu, schweren Herzens ihre Waffe zu senken.
Außerdem hatte sie immer noch den SUV, um die Verfolgung aufzunehmen. Zuvor musste Borges sich allerdings um ihren verletzten Dienstpartner kümmern und Mario in den Lincoln Navigator verfrachten.
Sie eilte zunächst zu Jablonski, der inzwischen vergeblich versucht hatte, aufzustehen.
„Komm, ich helfe dir ... ganz langsam.“
Borges fasste ihm unter die Achseln und drückte ihn hoch. Dabei machte sich bemerkbar, dass der bullige Agent einen Kopf größer als sie war und mindestens zwanzig Pfund mehr wog.
Er kicherte.
Sie runzelte die Stirn.
„Was ist so witzig?“
„Nichts, aber deine Haare kitzeln mich in der Nase.“
„Dann genieße diesen Moment, denn so nahe wirst du mir so schnell nicht wieder kommen“, gab sie zurück. Und war insgeheim doch froh, dass es ihrem Kollegen wieder einigermaßen gut ging.
Er hätte schließlich auch tot sein können.
Sie berichtete ihm, dass der Dienstwagen verschwunden war.
„Schöner Mist, im Field Office werden sie damit wochenlang aufziehen“, meinte Jablonski.
„Immerhin konnte ich Mario Lezzi verhaften. Ich hole ihn, und dann verlassen wir in dem SUV diese Einöde.“
„Klingt nach einem guten Plan. - Du musst mich nicht mehr stützen, so angenehm das auch ist. Schließlich habe ich keine Kugel in die Beine gekriegt.“
„Okay, dann treffen wir uns gleich beim Auto.“
Mit diesen Worten eilte Borges zu der Stelle zurück, wo sie Lucias Bruder auf dem Waldboden zurückgelassen hatte.
Doch er war verschwunden!
Borges rang nach Luft.
Irgendwie musste dieser Satansbraten es geschafft haben, auf die Beine zu kommen und fortzulaufen. Ob Mario auch die Handschellen losgeworden war?
Sie konnte die Stahlfesseln jedenfalls nirgendwo in der Umgebung erblicken.
„Mario!“, rief sie gellend. „Bleib stehen, du Psycho! Wenn ich dich in die Finger bekomme, kannst du was erleben!“
Borges rannte los. Sie wusste nicht, in welche Richtung Mario verschwunden war. Doch sie hatte immer noch ihr Nachtsichtgerät vor den Augen. Sie bemerkte einige Tannenzweige, die abgeknickt waren.
Sie nahm diese Spur auf und vergegenwärtigte sich, dass der Verbrecher ohne eine Lichtquelle durch einen dunklen Wald rannte. Das war ihm schlecht bekommen, wie sie schon wenig später feststellen musste.
Mario Lezzi lag stöhnend unter einer Tanne. Offenbar war er aus vollem Lauf gegen den Baumstamm gerannt. So konnte jedenfalls die Platzwunde an seiner Stirn entstanden sein.
Borges zerrte ihn auf die Beine.
„Ich wollte dir eigentlich eine Abreibung verpassen, aber das hast du ja schon selbst erledigt.“
„Sag nicht, dass du an meiner Stelle keinen Fluchtversuch riskiert hättest! Konnte wenigstens meine Schwester entkommen?“
„Kein Kommentar.“
„Ich werte das als ein Ja.“
„Leck mich!“
„Mit dem größten Vergnügen. Allerdings hatte ich kaum zu hoffen gewagt, dass du unsere Beziehung wieder aufleben lassen willst.“
Borges packte Mario am Kragen.
„Wenn du meinem Dienstpartner gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lässt, dass wir mal etwas miteinander hatten, vergesse ich mich!“
„Meine Lippen sind versiegelt, Lenita. Ich will doch nicht deine Gefühle verletzen.“
Borges verkniff sich einen weiteren Kommentar. Sie kannte schließlich Marios Art. Und es hatte seine Gründe gegeben, dass sie sich damals mit ihm eingelassen hatte. Obwohl sie wusste, dass er ein Krimineller war. Seine Gegenwart ließ ihr Herz nach wie vor schneller klopfen.
Trotzdem würde sie ihn nicht davonkommen lassen.
Die Agentin stieß Mario vor sich her. Jablonski hatte in der Zwischenzeit den Lincoln Navigator angelassen und die Scheinwerfer eingeschaltet.
„Fahrzeugtechnisch haben wir einen guten Tausch gemacht“, meinte Borges‘ bulliger Dienstpartner. „Mir fehlt allerdings das Funkgerät.“
„Sobald wir mit den Handys wieder Empfang haben, lösen wir eine Großfahndung aus. - Deine Schwester wird nicht weit kommen!“
Der letzte Satz war an Mario gerichtet. Er grinste frech.
„Wie viel würdest du darauf wetten?“
Borges öffnete die linke hintere Tür.
„Stoß dir nicht den Kopf, wenn du einsteigst.“
Gordon hatte einen leichten Schlaf.
Im Gegensatz zu vielen anderen Hackern und sonstigen Computerfreaks lebte er gesund, achtete auf gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung. Wenn er sich zur Ruhe begab, wachte er üblicherweise ausgeruht und entspannt auf.
Alpträume waren ein Fremdwort für ihn.
Doch in dieser Nacht wurde er durch seinen Überlebensinstinkt aus dem Schlummer gerissen.
Gordon griff nach der Glock, die neben seinem Futon auf einem Tischchen lag. Als er den kalten Stahl der Pistole in seinen Fingern spürte, fühlte er sich sofort besser.
Nun hatte er auch das Geräusch erkannt. Es stammte vom Motor, durch den der Schwenkarm seiner Selbstschussanlage bewegt wurde.
Gordon rechnete damit, im nächsten Moment das Wummern der Automatikwaffe zu hören.
Stattdessen klingelte sein Smartphone.
Er meldete sich.
„Ja?“
„Ich bin es“, fauchte Lucia. „Hättest du die Güte, deine Eingangssicherung kurz mal auszuschalten? Ich wollte nicht als Schweizer Käse zu dir kommen.“
„Okay, kein Problem.“
Gordon zog schnell Jeans und ein Sweatshirt über. Er war erleichtert, weil Lucia nach wie vor auf freiem Fuß war und lebte. Beides hatte Gordon nicht als selbstverständlich vorausgesetzt.
Er deaktivierte seine Türsicherung und öffnete.
Lucia war nicht allein. Doch das überraschte ihn nicht. Bei einer Frau wie ihr musste man damit rechnen, dass sie um drei Uhr früh aufkreuzte. Warum sich dann noch darüber wundern, wenn sie jemanden mitbrachte.
Lucia nickte ihm zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre blonde Begleiterin.
„Hallo, Gordon. Das ist Kea.“
Er hob die Augenbrauen.
„Das Betthäschen des toten Deutschen?“
Kea zuckte zusammen. Lucia bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick.
„Was? Das waren deine eigenen Worte, Lucia. Ich habe lediglich zitiert.“
„Du solltest uns lieber einen Kaffee kochen, den können wir jetzt brauchen“, murmelte die Killerin.
„Ihr seht wirklich aus, als ob ihr eine harte Nacht hinter euch hättet.“
Mit diesen Worten ging Gordon zu seiner Küchenzeile hinüber, wo er einen Wasserkocher in Gang setzte.
„Das kann man wohl sagen“, gab Lucia zurück. „Erst wollten uns ein paar von Old Barns‘ Revolverschwingern killen, aber Kea hat einen von ihnen abgestochen. Wir konnten abhauen. Leider blieb uns das FBI auf den Fersen. Sie haben jetzt Mario in ihren Krallen.“
Gordon grinste.
„An deinem Bruder werden die Feds nicht viel Freude haben. Er hält dicht und wird ihnen gewaltig auf die Nerven gehen.“
Gordon war nicht entgangen, dass Lucias Verhältnis zu dieser Kea sich verändert hatte. Während sie bei ihrem letzten Besuch die Frau aus Germany noch hatte foltern wollen, schien jetzt zwischen den beiden eine gewisse Eintracht zu herrschen. Während das Wasser kochte, wandte Gordon sich noch einmal an Lucia.
„Kann ich vor Kea offen reden?“
„Wenn es um Adrian geht - auf jeden Fall. Kea weiß nicht, wo er versteckt wird. Ich glaube ihr.“
„Ich habe vielleicht etwas herausgefunden“, sagte Gordon.
Sofort hatte er Lucias ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu. Also redete er weiter.
„Ich konnte bei der Versteigerung den Zuschlag bekommen.“
„Ja!“, rief Lucia und schlug mit der Faust in die Luft.
Kea schien eingeweiht zu sein. Jedenfalls fragte sie nicht, um welche Art von Versteigerung es sich handelte. Arbeitete sie wirklich für die Kidnapper oder war sie von Lucia informiert worden?
Gordon beschloss, dass die Antwort auf diese Frage ihn nichts anging. Auf Lucias Menschenkenntnis war Verlass. Falls die Entführer allerdings checkten, dass er den Kaufpreis für das Baby gar nicht zahlen wollte, konnte es auch für Gordon gefährlich werden.
Er schaute Kea prüfend an, was Lucia nicht entging.
„Sie ist sauber, Gordon! Kea hätte schon öfter die Chance gehabt, abzuhauen. Sie will jetzt dabei mithelfen, Adrian zu retten.“
„Weshalb?“, fragte er. „Du kennst doch das Kind gar nicht. Oder vielleicht doch?“
Lucia wurde sauer, aber Kea schaute ihn einfach nur an.
„Ich fühle mich schuldig, weil mein Freund an dieser Entführung beteiligt war und ich ihn nicht durchschaut habe.“
„Und das ist der einzige Grund?“, hakte Gordon nach.
„Was wird das hier, ein Verhör?“, fauchte Lucia. Doch Kea hob die Hand.
„Nein, lass nur. Die Frage ist berechtigt. - Ich will mitmachen, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Nach Germany kann ich nicht zurück, und hier kenne ich außer Lucia und Mario niemanden.“
Gordon nickte langsam.
„Also gut. Ich habe den Kaufpreis in Bitcoins schon bezahlt. Ihr müsst innerhalb der nächsten drei Tage nach Antwerpen in Belgien fliegen. Ich habe eine Mobilfunknummer bekommen, die ihr dort anrufen könnt. Dann wird euch mitgeteilt, wo ihr Adrian in Empfang nehmen könnt.“
„Du gibst Unsummen aus, um eine Telefonnummer zu kriegen?“, fragte Lucia.
Gordon hob die Schultern.
„Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Aber immerhin haben sie mir ein neues Lebenszeichen von Adrian zukommen lassen.“
Er holte ein Tablet, schaltete es ein und zeigte den Frauen eine Bilddatei.
Auf dem Foto war ein Baby in einer Wiege zu sehen, das neugierig in die Kamera schaute. Neben dem Bettchen lag eine Zeitung. Auf dem Titelblatt war deutlich das Datum des gestrigen Tages zu erkennen.
„Die Tageszeitung heißt Gazet van Antwerpen. Ich muss euch wohl nicht erklären, in welcher Stadt sie erscheint.“
„Nein, Sherlock Holmes“, erwiderte Lucia. „Aber wir brauchen noch dringend einen Reisepass für Kea. Ich hoffe, dass meine Dokumente fertig sind?“
„Ja, Signorina Christina Alassio.“
„Ist das mein neuer Name?“
Gordon nickte.
Lucia verdrehte die Augen und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Jetzt kann ich wirklich einen Kaffee vertragen.“
Nachdem er in den SUV gestiegen war, hatte Mario kein Wort mehr gesagt. Das war Borges einerseits recht, weil er nicht über ihre Affäre redete. Andererseits hielt sie sein Schweigen für kein gutes Zeichen.
Mario hielt nämlich immer dann den Mund, wenn er intensiv nachdachte. So war es damals gewesen. Und der Agentin fiel kein Grund ein, warum sich das inzwischen geändert haben sollte.
Sie fuhr, weil Jablonski verletzt war. Ihr Dienstpartner behauptete zwar, dass er trotz des Treffers in seine Schutzweste Autofahren könnte, aber Borges setzte sich durch.
So wie meistens, wenn die beiden unterschiedlicher Meinung waren.
Jablonski wollte sich nützlich machen. Er versuchte immer wieder, mit seinem Smartphone das New York Field Office des FBI zu erreichen. Bisher vergeblich.
Borges schaute immer wieder in den Rückspiegel.
Mario saß brav wie ein Musterknabe auf der Rückbank. Seine Platzwunde am Kopf hatte die Agentin höchstpersönlich verarztet. In dem Lincoln Navigator war zum Glück ein Verbandskasten gewesen.
Lucias Bruder randalierte nicht. Borges war auch sicher, dass er keinen weiteren Fluchtversuch unternehmen würde. Er hatte jetzt seine Taktik geändert. Und sie bezweifelte inzwischen, dass seine Verhaftung allzu viel nützen würde.
„Wohin will Lucia, Mario?“
Er atmete tief durch, blieb aber stumm wie ein Fisch.
„Wenn du uns einen Hinweis gibst, kann sich das strafmildernd für dich auswirken.“
Marios Lippen blieben verschlossen.
„Früher oder später erwischen wir deine Schwester sowieso, und dann kann ich nichts mehr für dich tun.“
Diesmal ließ der Verbrecher ein ironisches Schnauben hören, doch Wörter konnte Borges ihm nicht entlocken.
„Lass ihn doch, er will offensichtlich nicht mit uns reden.“
Mit diesen Worten mischte Jablonski sich ein.
„Halt dich da raus!“, fauchte Borges. „Mario liebt solche Spielchen. Er will austesten, wie weit er bei uns gehen kann. Früher oder später wird jemand einknicken, und ich werde es ganz gewiss nicht sein.“
„Das klingt ja so, als ob du den Verdächtigen sehr gut kennen würdest“, meinte der bullige Agent, während er seiner Dienstpartnerin einen seltsamen Seitenblick zuwarf.
Borges hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Erst hatte sie sie sich davor gefürchtet, dass Mario etwas ausplaudern könnte - und nun schaffte sie es ganz allein, Jablonskis Misstrauen zu wecken!
Sie fühlte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit brannten.
„Unsinn, wie kommst du denn darauf? Das ist ganz allgemein eine beliebte Masche von Verbrechern, das solltest du eigentlich wissen.“
Darauf erwiderte Jablonski nichts. Aber Borges hätte darauf wetten können, dass er sich seinen Teil dachte.
Zum Glück beschäftigte er sich jetzt wieder mit seinem Smartphone. Und nun kam endlich eine Verbindung zustande. Der Agent berichtete knapp von den Ereignissen und gab eine Fahndungsmeldung nach dem gestohlenen FBI-Fahrzeug sowie eine Personenbeschreibung von Lucia Lezzi und Kea Kühn heraus. Dann beendete er das Telefonat.
„Der Special Agent in Charge wird morgen einen ausführlichen schriftlichen Bericht von uns erwarten“, sagte Jablonski zu Borges.
Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dachte sie verdrossen.
***
Doch am nächsten Tag sah die Welt schon erfreulicher aus.
Und das, obwohl Borges von den schlimmsten Befürchtungen geplagt wurde, als sie frühmorgens frisch geduscht und in ihrem besten Geschäftskostüm im Field Office New York erschienen war.
Zwar hatte sie ein gewaltiges Donnerwetter durch ihren Vorgesetzten über sich ergehen lassen müssen, doch wenigstens war sie nicht von dem Fall abgezogen worden. Das war nämlich ihre größte Befürchtung gewesen.
Borges durfte sogar das erste Verhör mit Mario führen. Dabei wurde sie von ihrer Kollegin Agnes Poulsen begleitet, da Jablonski krankgeschrieben war. Aufgrund der Aufprallwucht des Schusses war bei ihm eine Rippe angebrochen.
Borges mochte Poulsen nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch sie war bereit, sogar diese Kröte zu schlucken, solange sie an dem Fall weiterarbeiten konnte.
Also erläuterte Borges ihrer Kollegin den Fall, und zwar so einfach wie möglich. Sie hielt die blasse blonde Poulsen nämlich für eine fantasielose Streberin, die allenfalls Gesetzestexte auswendig lernen konnte.
„Was genau werfen wir diesem Lezzi denn vor?“, fragte Poulsen.
„Beihilfe zum Mord oder Mord, außerdem Entführung“, knurrte Borges. „Hast du nicht zugehört, als ich über das Blutbad in der Tankstelle gesprochen habe?“
„Doch, selbstverständlich. Mir ist bloß nicht klar, wen Lezzi umgebracht haben soll.“
„Wie wäre es mit den beiden Todesopfern? Gregory Nolan und Samuel O‘Leary, zwei irische Mobster. Sie gehörten offenbar zu den Männern von Old Barns. Willst du dir die Namen vielleicht notieren?“
„Ich habe ein gutes Gedächtnis“, behauptete Poulsen. „Und wir haben noch keine kriminaltechnischen Auswertungen des Tatorts, oder?“
„Noch nicht“, unterstrich Borges. „Tatsache ist, dass Lezzi zusammen mit seiner Schwester und dieser Deutschen vor dem Gesetz geflohen ist.“
„Und die Deutsche wurde entführt? Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie den Geschwistern freiwillig gefolgt ist?“
Borges warf der anderen Agentin einen gereizten Blick zu.
„Wer bist du, Mario Lezzis Verteidigerin? Natürlich wurde sie gekidnappt, aus welchem Grund sollte diese brave Spießerin bei den beiden Kriminellen bleiben wollen?“
„Das weiß ich nicht“, gab Poulsen ernsthaft zurück. „Und Lezzi hat keine Verteidigerin, sondern einen Verteidiger. Und zwar Dr. Hidalgo, um genau zu sein. Ich habe vorhin mitgekriegt, dass er in den Arresttrakt geführt wurde.“
Borges nickte grimmig.
Dr. Hidalgo war ein stadtbekannter Mafia-Anwalt, der mit harten Bandagen kämpfte und die schmutzigsten Tricks kannte. Justitia war in seinen Augen eine Hure. Und entsprechend diesem Glaubenssatz führte er sich vor Gericht auf.
Borges stieß einen langen Seufzer aus.
„Wenn Lezzi mit seinem Rechtsbeistand palavert, müssen wir uns wohl auf eine längere Wartezeit einstellen. Willst du auch einen Kaffee?“
„Ich trinke nur Pfefferminztee“, erwiderte Poulsen.
Wie kommt es, dass mich das nicht wundert? dachte Borges verdrossen. Sie hätte sich jetzt gern eine Zigarette angezündet, um ihre momentane Dienstpartnerin zu ärgern. Aber erstens rauchte sie gar nicht, und zweitens herrschte im gesamten Gebäude sowieso ein striktes Tabakverbot.
Borges schob sich wenigstens einen Streifen Kaugummi in den Mund. Sie griff sich ihre Unterlagen und ging noch einmal die bisher bekannten Fakten zu dem Fall durch. Zu gern hätte sie einen Blick auf den Tatort in der Tankstelle geworfen. Doch dafür war momentan keine Zeit.
Sie wollte es nachholen, sobald Mario wieder in der Arrestzelle saß. Die Agentin zweifelte nicht daran, dass der Richter Untersuchungshaft anordnen würde.
Nach einer gefühlten halben Ewigkeit waren der Verdächtige und sein Rechtsbeistand zum Verhör bereit.
Mario saß im Verhörraum neben Dr. Hidalgo. Der Mafia-Anwalt war ein älterer Mann mit Spitzbart und randloser Brille, der einen altmodischen Nadelstreifenanzug trug. In dieser Kleidung erinnerte er Borges an Figuren aus Gangsterfilmen der Zwanzigerjahre, was sie sehr passend fand.
Marios Kopfverband war inzwischen von einem Arzt erneuert worden. Er hatte seine mit Handschellen gefesselten Hände auf dem Tisch gefaltet, als ob er beten wollte.
Borges nickte den beiden Männern zu, wobei sie Agent Poulsen und sich selbst vorstellte. Außerdem belehrte sie Mario noch einmal über seine Rechte.
„Ja, mein Mandant gilt vor dem Gesetz als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist“, schnarrte der Verteidiger. „Vielleicht hätten Sie etwas früher daran denken sollen, Agent Borges.“
Sie runzelte die Stirn.
„Wie meinen Sie das?“
Der Anwalt straffte sich.
„Ich informiere Sie darüber, dass ich eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Sie auf den Weg bringen werde.“
Borges‘ Kinnlade klappte herunter.
„Wieso das denn?“
„Wegen übertriebener Gewaltanwendung bei der Verhaftung meines Mandanten.“ Dr. Hidalgo deutete auf Marios Stirn. „Sie haben ihn mit Ihrem Pistolengriff geschlagen, obwohl er sich bereits ergeben hatte und außerdem unbewaffnet war. Ganz abgesehen davon, dass die Verhaftung unbegründet war.“
Borges schaute ihren Ex-Liebhaber an. Er saß ihr gegenüber, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Am liebsten hätte sie ihm sofort die Augen ausgekratzt. Doch den Gefallen würde sie ihm ganz gewiss nicht tun. Mario wartete doch nur darauf, dass sie die Hand gegen ihn erhob.
Sie atmete erst einmal tief durch, bevor sie wieder den Mund öffnete.
„Das ist eine Lüge. Mr. Lezzi versuchte zu fliehen und rannte in der Finsternis mit voller Wucht gegen einen Baum. Wenn man die Platzwunde genauer untersucht, wird sich herausstellen, dass sie gar nicht durch einen Hieb mit einem Pistolengriff entstanden sein kann. - Und angesichts von zwei Toten war die Verhaftung selbstverständlich sehr wohl begründet!“
„Ach, wirklich?“ Dr. Hidalgo beugte sich vor. „Dann gibt es also Zeugen, die Mr. Lezzi bei der Tatausführung beobachtet haben? Oder Bilder einer Überwachungskamera, die ihn mit einer Pistole oder einem Messer in der Hand zeigen?“
„Noch nicht, aber ...“
„Mein Mandant hat psychische Probleme und muss regelmäßig seine Medikamente nehmen“, fuhr der Anwalt fort. „Er hat Sie mehrfach darum gebeten, ihm seine Medizin zu geben, was Sie ihm aber verwehrt haben.“
Borges hätte Mario den Hals umdrehen können. Nun schaute Poulsen sie von der Seite an, als ob sie ein ekliges Insekt wäre. Vermutlich glaubte diese Streberin den Käse, den der Winkeladvokat jetzt auftischte.
„Das ist nicht wahr“, sagte Borges. Ihre Stimme zitterte vor mühsam unterdrücktem Zorn. In diesem Moment wünschte sie sich so sehr, dass Jablonski an ihrer Seite wäre.
Seine ruhige Art und seine unbezweifelbare Loyalität hätten ihr Kraft gegeben. Chuck würde nicht zulassen, dass sie in diesem FBI-Verhörraum auseinandergenommen wurde.
Aber ihr Dienstpartner war nicht hier.
Nur diese Schnepfe Poulsen, von der sie keine Unterstützung erwarten konnte.
Dr. Hidalgo schien zu wittern, dass er Borges‘ blonde Kollegin auf seine Seite ziehen konnte. Er wandte sich nun direkt an sie.
„Agent Poulsen, hat Agent Borges Sie über die Medikation meines Mandanten informiert?“
Bevor eine Antwort erfolgen konnte, fuhr Borges dazwischen: „Natürlich nicht! Das ist ja auch alles erstunken und erlogen! Mario Lezzi war schon mal in der Klapsmühle, und er ist wieder auf die Menschheit losgelassen worden. Ich wette, dass er überhaupt keine Pillen schlucken muss!“
Schon während ihres Ausbruchs wurde ihr bewusst, dass sie sich gerade um Kopf und Kragen redete. Aber es gab kein Zurück mehr. Außerdem schien sie die Kontrolle über ihre Zunge verloren zu haben. Es war, als ob sich die Worte von allein formten und unbedingt ihren Mund verlassen mussten.
Dr. Hidalgo ignorierte Borges jetzt komplett. Er konzentrierte sich ganz auf die andere Agentin.
„Mir ist bekannt, dass Agent Borges bereits bei einer früheren Ermittlung mit meinem Mandanten zu tun hatte. Es ist für mich offensichtlich, dass sie eine persönliche Abrechnung plant. Und dafür sollte sich das FBI nicht missbrauchen lassen, oder?“
„Die Mordermittlungen sind noch nicht abgeschlossen“, brachte Borges hervor. Sie durfte sich jetzt nicht irritieren lassen. „Ihr Mandant ist auf jeden Fall in die Entführung der deutschen Staatsangehörigen Kea Kühn verwickelt. Und seine Schwester hat versucht, meinen Dienstpartner zu töten!“
„Das ist ihr aber zum Glück nicht gelungen“, bemerkte der Anwalt süffisant. „Und hier geht es ja auch nicht um Lucia Lezzi, sondern um Mario Lezzi. Außerdem: Woher wollen Sie wissen, dass Kea Kühn entführt wurde? Mein Mandant gibt an, dass Miss Kühn und seine Schwester befreundet sind.“
„Der lügt doch, wenn er den Mund aufmacht!“, rief Borges empört.
Der Verteidiger stand auf.
„Wenn Sie keine Beweise gegen meinen Mandanten vorbringen können, dann sehe ich dem Haftprüfungstermin mit großer Gelassenheit entgegen. - Agents, es war mir ein Vergnügen.“
Mario wurde von einem anderen Kollegen zurück in seine Arrestzelle gebracht. Borges schaute ihm nach. Sie war ihm ins offene Messer gelaufen, ohne seine Tricks rechtzeitig zu durchschauen.
Eigentlich hätte sie ihn dafür hassen sollen.
Stattdessen waren ihre Gefühle für ihn wieder schmerzhaft intensiv aufgeflammt.
Borges kannte sich selbst nicht mehr.
Poulsen öffnete den Mund, wollte etwas sagen.
„Eine dumme Bemerkung von dir, und du bist reif für die Intensivstation“, drohte Borges ihrer Kollegin.
Lucia flogen vom Newark International Airport nach Brüssel in Belgien.
Die Killerin wusste nicht, ob die Ausweiskontrollen in New Jersey laxer waren als im von Terroranschlägen gebeutelten New York. Auf jeden Fall wurden weder Lucias falscher italienischer Pass noch Keas gefakte österreichische Personalpapiere beanstandet. Vielleicht hatte auch Gomez einfach nur gute Arbeit geleistet.
Lucia betrat zum ersten Mal in ihrem Leben europäischen Boden und fühlte sich sofort heimisch.
Vielleicht lag es daran, dass Brüssel sie sofort an gewisse Teil Brooklyns erinnerte: schäbig, abgewohnt und schmuddlig, aber vertraut. Es gab auch ein paar Hochhäuser zu sehen, die aber nicht mit den New Yorker Wolkenkratzern zu vergleichn waren.
Doch die beiden Frauen waren ja auch nicht nach Belgien gekommen, weil sie das Land touristisch erkunden wollten.
Lucia war von Gordon mit einer Kreditkarte sowie einem Haufen Euros ausgestattet worden. Sie hatte gehört, dass man in Europa immer noch Barzahlung bevorzugte.
Und für einige Käufe, die sie tätigen wollte, waren Banknoten im Vergleich zu Plastikgeld gewiss die bessere Wahl.
„Wir mieten ein Auto“, entschied Lucia. Sie hatte auch einen falschen italienischen Führerschein. Im Handumdrehen konnten die beiden Frauen über einen Porsche Cayenne verfügen. Lucia programmierte das Navi, und dann raste sie auf die Autobahn Richtung Antwerpen.
„Ich war noch nie zuvor in Belgien“, sagte Kea. Sie war während des Fluges ziemlich ruhig gewesen, was Lucia nicht wirklich störte. Die Killerin wusste immer noch nicht so genau, was sie von ihrer deutschen Begleiterin halten sollte.
Inzwischen war Lucia zwar überzeugt davon, dass Kea wirklich nichts mit Adrians Kidnapping zu tun hatte. Doch sie begriff nicht, weshalb Kea wie eine Klette nicht mehr von ihrer Seite wich.
Zuerst hatte Lucia angenommen, dass Kea sich in Mario verknallt hätte. Da wäre sie ja nicht die erste gewesen. Ihr Bruder war nun mal ein Frauentyp, vor dieser Tatsache konnte sie die Augen nicht verschließen. Bisher hatte es sie auch nicht wirklich gestört - außer dieses eine Mal, als Marios damals aktuelle Flamme sich als eine FBI-Undercover-Agentin entpuppt hatte. Wie war noch mal ihr Name gewesen?
Lucia hatte ihn vergessen. Es war schlimm genug, dass ihr Bruder damals verhaftet worden war. Doch dank seiner Intelligenz hatte er eine Geisteskrankheit simuliert und war nach nicht allzu langer Zeit als „geheilt“ entlassen worden.
Diesmal würde er gewiss eine ähnliche Nummer abziehen. Nein, um Mario machte sie sich keine Sorgen.
Wie auch immer - er war jetzt nicht bei ihnen. Und Kea hatte schon unzählige Chancen gehabt, um sich aus dem Staub zu machen.
Was war nur mit dieser Frau los?
Lucia machte sich keine Illusionen darüber, wie sie selbst auf andere Leute wirkte. Ganz abgesehen davon, dass sie Kea ziemlich mies behandelt hatte, als sie die Deutsche noch für eine Komplizin der Kidnapper hielt.
Die Killerin beschloss, in Zukunft etwas netter zu sein. Jedenfalls dann, wenn Kea ihr nicht allzu sehr auf den Wecker ging.
Lucia wurde plötzlich bewusst, dass sie auf Keas Bemerkung über Belgien noch gar nicht eingegangen war. Konversation gehörten nicht zu Lucias Stärken. Trotzdem versuchte sie nun, ein lockeres Gespräch in Gang zu bringen.
„Wir suchen uns zunächst ein Hotel, dann muss ich einige Einkäufe machen - und schließlich werde ich diese Nummer anrufen. Wir haben nur noch einen Tag, bis die Frist abläuft. Ich möchte nicht wissen, was diese Bastarde dann mit Adrian machen.“
„Wie willst du das Baby zurück in die Staaten schaffen?“, fragte Kea.
„Darum kümmere ich mich, wenn ich den Kleinen erst mal in meinen Armen halte.“
Lucia bemerkte selbst, dass ihre Stimme plötzlich sehr mütterlich und weich klang.
„Warum hast du keinen Kinder?“
Die Killerin konnte nicht glauben, dass Kea diesen Satz über die Lippen bekommen hatte. Am liebsten hätte sie ihr sofort eine geklatscht. Aber sie hatte sich ja vorgenommen, freundlicher zu sein. Also sagte sie einfach nur: „Das geht dich überhaupt nichts an.“
„Ich bin unfruchtbar, jedenfalls glaube ich das“, gestand Kea.
Lucia hob die Augenbrauen.
„Glauben kannst du in der Kirche. Hast du mal mit deinem Frauenarzt darüber gesprochen?“
Kea schüttelte den Kopf.
„Dann kannst du es auch nicht wissen“, sagte Lucia. „Vielleicht hast du nur noch nicht den richtigen Typen getroffen. Mein Bruder würde dich garantiert gern schwängern!“
Lucia fragte sich, warum sie das Gespräch auf Mario gebracht hatte. Sie wusste es selbst nicht so genau.
„Du denkst also, dass er mich mag?“
„Darauf würde ich wetten! Das merke ich ihm immer deutlich an, schließlich bin ich seine Schwester.“
„Ehrlich gesagt finde ich deinen Bruder sehr interessant. Anfangs habe ich mich vor ihm gefürchtet ...“
„Du fürchtest dich doch vor allem.“
Diese Bemerkung konnte Lucia sich nicht verkneifen. Kea schien ihr den Seitenhieb nicht übel zu nehmen.
„Wahrscheinlich hast du recht. Seit ich damals Ulli tötete, wollte ich nie wieder böse sein. Ich gab mir immer so große Mühe, es allen recht zu machen, nirgendwo anzuecken.“
„Klingt für mich nicht nach Spaß.“
„Ich möchte so sein wie du!“
Dieses spontane Geständnis verblüffte Lucia.
„Dir ist schon bewusst, dass ich dich vor nicht allzu langer Zeit noch foltern wollte, oder?“
„Ja, um das Leben eines Kindes zu retten! Ich finde diese ganze Unterscheidung zwischen Gut und Böse ziemlich widersprüchlich und kompliziert, Lucia. Wir sind jetzt unterwegs, um Adrian aus den Klauen dieser Monster zu befreien, nicht wahr?“
Lucia schnaubte ironisch.
„Du meinst also, wir seien die Guten?“
„Jedenfalls kann ich nicht sehen, was an unserer Mission böse sein soll.“
„Warte ab, bis ich diese Kinderschänder in die Finger kriege“, knurrte Lucia.
Das Gespräch versandete. Die Killerin hing ihren Gedanken nach, wahrscheinlich ging es Kea genauso.
Als sie Antwerpen erreichten, kurvte Lucia zunächst einfach nur herum. Sie war logischerweise noch niemals in der Stadt gewesen. Daher ließ sie sich einfach nur von ihrem Instinkt treiben.
Der Porsche Cayenne zog an einem großen Gebäude vorbei, das wie ein Museum aussah. Doch ein genauerer Blick verriet, dass es sich um den Hauptbahnhof handelte.
Lucia setzte den Blinker.
„Statiestraat, Hotel Diana. Das ist die richtige Unterkunft für uns.“
„Woher weißt du das?“
„Intuition.“
Die Statiestraat war gesäumt mit billigen Handyläden, Kebabbuden, Frisörsalons, schäbigen Bars, Automaten-Spielcasinos und chinesischen sowie italienischen Restaurants.
Das Hotel Diana stach zwischen den benachbarten Gebäuden hervor wie eine Eiterblase auf einem Pickel. Der Beherbergungsbetrieb wirkte keineswegs seriöser als die Geschäfte in der Nachbarschaft. Das Hotel Diana war nur einfach wuchtiger.
Die beiden Frauen betraten das Foyer, in dem es nach kaltem Zigarettenrauch stank. Vergilbte Tourismusplakate zeugten davon, dass Antwerpen schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Der Rezeptionist schien aus Indien oder Pakistan zu stammen. Er schaute Lucia und Kea fragend an.
„Wir brauchen ein Zimmer“, verlangte die Killerin auf Englisch.
„Für eine Stunde oder länger?“
„Für ein paar Tage.“
Lucia zahlte bar für drei Tage im voraus. Nachdem sie den Meldezettel mit ihren falschen Namen ausgefüllt hatten, gingen sie in ihr Zimmer im ersten Stock. In den anderen Räumen vergnügten sich die Gäste offenbar mit Sex oder mit arabischen TV-Programmen. Oder mit beidem.
Lucia grinste.
„Bist du geschockt, weil der Typ uns für ein Liebespaar gehalten hat? Ich wette, der kriegt noch viel extremere Leute als uns zu sehen.“
Sie schloss das Zimmer auf. Es gab ein großes französisches Bett, einen Kleiderschrank mit eingeschlagenem Spiegel und einen winzigen Schreibtisch nebst Stuhl. Die Zimmerdecke wurde von einem riesigen Wasserfleck in der Form des Bundesstaates Alabama geziert.
Lucia warf Kea einen Blick zu. Die versuchte angestrengt, sich ihren Abscheu nicht anmerken zu lassen.
„Für ein paar Nächte wird es reichen“, murmelte die Deutsche.
Lucia lachte.
„Das hier ist kein luxuriöses Wellness Resort, darüber bin ich mir im Klaren. Aber wir sind in dieser Gegend genau richtig, glaub mir. Hier werden wir alles finden, was wir für ein Treffen mit den Kinderschändern brauchen.“
„Ich dachte, dein Freund hat den Kaufpreis für das Baby schon bezahlt.“
Diese naive Bemerkung verursachte bei der Killerin ein lang anhaltendes Kopfschütteln.
„Ja, schon. - Aber willst du diesen Monstern unbewaffnet entgegentreten? Ich nicht.“
„Du willst uns also Pistolen besorgen?“
„Richtig. Außerdem Wurfmesser, zumindest für mich. Ich vermute, dass du die Kunst des Messerwerfens nicht beherrscht. Das macht nichts. Schießen ist aber einfach, zumindest in geschlossenen Räumen. Du zielst auf den Bastard und drückst ab. Und wenn er nicht sofort am Boden liegt, drückst du nochmal ab. Vorgang wiederholen, bis er sich nicht mehr rührt. Kapiert?“
„Ich dachte, du kennst niemanden in Europa, Lucia.“
„Das tue ich auch nicht.“
„Und trotzdem willst du uns hier Pistolen kaufen? Wie soll das funktionieren?“
„Illegale Pistolen“, betonte die Killerin. „Ich will in kein Waffengeschäft latschen und dort ganz gesetzmäßig etwas erwerben. Das dauert viel zu lange, und meinen falschen Reisepass müsste ich außerdem noch vorzeigen. Zu riskant.“
„Mir ist immer noch nicht klar, wie du das anstellen willst.“
„Dann komm einfach mit, halt die Klappe und lerne.“
Sie waren nur mit wenig Handgepäck gereist, das sie sich vor ihrem Abflug in Jersey City besorgt hatten.
Lucia und Kea traten auf die Straße hinaus. Männergruppen lungerten hier und da auf dem Bürgersteig, einige von den Typen pfiffen ihnen hinterher. Die Killerin merkte, dass ihre Begleiterin sich unwohl fühlte.
„Vor den Kerlen musst du keine Angst haben, Kea. Sie haben einen guten Instinkt, so wie Tiere. Und daher wissen sie, dass sie uns nicht angreifen dürfen. Oder zumindest mich nicht. Was aufs Gleiche hinauskommt, weil du unter meinem Schutz stehst.“
„Du meinst, sie wittern, dass du gefährlich bist?“
„Ich hätte es nicht treffender ausdrücken können.“
Während die Frauen miteinander redeten, schlenderten sie scheinbar ziellos die Statie Straat hinunter. Plötzlich blieb Lucia vor einem chinesischen Restaurant stehen und studierte die Speisekarte.
„Willst du erst etwas essen gehen?“, fragte Kea.
Die Killerin schüttelte den Kopf.
„Nein. - Was fällt dir an diesen Preisen auf?“
Kea hob die Schultern.
„Ich weiß nicht, ob Restaurantbesuche in Belgien allgemein billiger sind als in Deutschland. Mir kommt dieses Lokal sehr preiswert vor. Wahrscheinlich ist die Qualität nicht gut.“
„Die Qualität ist mir egal. Ich will hier gar nicht essen. Weißt du, warum dieser Chop-Suey-Schuppen so billig ist?“
Kea schüttelte den Kopf.
„Weil es nicht notwendig ist, mit dem Restaurant Gewinn zu machen. Der Laden dient als Geldwaschanlage für die Triaden.“
Die Deutsche wirkte verblüfft.
„Triaden sind so eine Art chinesischer Mafia, oder? Woher weißt du das alles?“
„Erfahrung. - Übrigens sind die Triaden viel gefährlicher als die italienische Mafia. Du hältst weiterhin die Klappe, wenn wir jetzt reingehen, okay?“
Und bevor Kea protestieren konnte, stieß Lucia die mit Schnitzwerk versehene Eingangstür auf.
Drinnen herrschte die übliche China-Restaurant-Atmosphäre mit Lackmöbeln und Rollbildern an den Wänden. Es roch nach gebratenen Garnelen, die musikalische Untermalung bestand aus Canto-Pop vom Band.
Ein junger Asiate in schwarzer Hose und weißem Hemd trat auf sie zu und sagte etwas auf Holländisch.
„Ni hao“, erwiderte Lucia. Dann brachte sie einige weitere Brocken Mandarin hervor und hoffte, dass der Kellner nicht einen anderen chinesischen Dialekt sprach.
Kea warf ihr einen bewundernden Blick zu. Offenbar hatte sie Lucia nicht zugetraut, dass sie über nennenswerte Fremdsprachenkenntnisse verfügte.
Die Killerin wandte sich an Kea.
„Du setzt dich hier hin, trinkst einen Jasmintee und rührst dich nicht von der Stelle, bis ich zurück komme. Verstanden?“
Kea nickte.
Der Kellner forderte Lucia mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Sie verschwand mit ihm gemeinsam hinter einem schweren roten Samtvorhang.
Jablonski konnte sehr hartnäckig sein. Er klopfte so lange an Borges‘ Apartmenttür, bis sie ihm öffnete. Und das, obwohl er es mindestens sechs oder sieben Minuten lang erfolglos versucht hatte.
Dann hörte er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Außerdem wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht.
Seine Dienstpartnerin öffnete und schaute ihn aus geröteten Augen an.
„Was willst du denn hier, Chuck? Bist du gekommen, um mich sexuell zu belästigen?“
„Das liegt mir fern, Lenita. Es sei denn, du willst es.“
„Darauf kannst du lange warten“, gab sie zurück.
Jablonski versuchte, sich von ihrem Erscheinungsbild nicht allzu sehr aus der Bahn werfen zu lassen. Doch das war gar nicht so einfach. Borges war nämlich nur mit einem NEW YORK YANKEES T-Shirt sowie einem Slip bekleidet.
Der bullige Agent hatte nichts gegen halbnackte Frauen einzuwenden. Doch bei halbnackten verzweifelten Frauen wurde eher sein berufliches Interesse als seine Lust geweckt. Vor allem, wenn es sich bei der besagten Person um seine Dienstpartnerin handelte.
Und um Borges‘ Hoffnungslosigkeit zu erkennen, musste man kein Psychologiestudium absolviert haben.
„Darf ich reinkommen?“
„Meinetwegen. Du kannst mir beim Trinken Gesellschaft leisten. Und wenn du mir an die Wäsche willst, dann mache ich dich platt. Angriff auf einen Bundesagenten - mit dieser Anklage kann ich mich von meinem FBI-Job endgültig verabschieden. Obwohl - ich bin ja selbst Bundesagentin, jedenfalls vorerst noch. Gilt der Straftatbestand auch dann noch, wenn er durch einen anderen Bundesagenten durchgeführt wird? Was sagst du dazu, Schlaumeier?“
„Ich finde, du solltest mal eine Trinkpause einlegen, Lenita.“
Jablonski ließ seinen Blick durch das Apartment schweifen. Es unterschied sich nicht von zehntausenden anderer Single-Behausungen überall in Amerika. Es gab ein kombiniertes Wohn-Schlafzimmer, außerdem eine Küchenecke und ein Bad mit Dusche. Borges hatte die Wände mit französischen Filmplakaten dekoriert, ansonsten unterschied sich ihr Apartment kaum von Jablonskis eigener Bude.
Er hatte Bilder von braungebrannten Hawaii-Surferinnen aufgehängt.
Der Agent nahm in Borges‘ Frühstücksecke Platz.
„Ich habe nur vom Alten gehört, dass er dich nach Mario Lezzis Verhör suspendieren musste. Möchtest du mir die ganze Geschichte erzählen? Ich habe Zeit, diese Woche bin ich noch krankgeschrieben.“
„Weichei!“, lästerte seine Dienstpartnerin. „Und das nur wegen einer angebrochenen Rippe.“
Jablonski grinste.
„Als du mich gefunden hast, schienst du aber sehr besorgt um mich zu sein. Es hätte nicht viel gefehlt, und deine Zunge wäre in meinem Mund gelandet.“
„In deinen feuchten Träumen vielleicht“, knurrte Borges.
Doch trotz ihrer ruppigen Art spürte Jablonski ganz genau, wie sehr sie sich über seinen Besuch freute. Borges warf die leere Rotweinflasche in den Mülleimer.
„Naja, ein Kaffee zur Abwechslung wäre ja auch nicht schlecht. Für dich auch einen Becher?“
„Klar, da sage ich nicht nein.“
Borges bestückte ihre Kaffeemaschine. Dann brach sie plötzlich in Tränen aus.
Jablonski ging zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme.
„Verfluchte Heulerei!“, wütete Borges. „Ich habe mir geschworen, niemals in Gegenwart von Kollegen weich zu werden. Das kommt nur von diesem elenden portugiesischen Wein!“
„Ich bin jetzt nicht als Kollege hier, sondern als Freund. Und von mir wird niemand erfahren, dass du geflennt hast.“
Borges löste sich von ihm und putzte sich lautstark die Nase.
„Danke, Chuck. - Dieser durchtriebene Hund Mario Lezzi hat mich nach Strich und Faden verschaukelt. Er wusste genau, welche Knöpfe er bei mir drücken muss, damit ich ausflippe. Und ich bin auf ihn reingefallen wie eine Anfängerin.“
Sie erzählte davon, dass der Verdächtige sie fälschlicherweise beschuldigt hatte, ihm die Kopfwunde zugefügt zu haben. Jablonski runzelte die Stirn.
„Du bist doch eine intelligente Frau. Wie konntest du dich von diesem Kerl aufs Glatteis führen lassen? Ich wette, dass jeder Arzt bestätigen könnte, dass die Verletzung nicht von einem Pistolengriff stammen kann.“
Borges nickte grimmig.
„Ja, das habe ich auch gesagt. Aber es ist sinnlos. Mario spielt die Psycho-Karte aus. Angeblich habe ich ihn an der Einnahme seiner Medizin gehindert, was natürlich auch nicht stimmt. Er hat jedenfalls erreicht, was er wollte. Der Halunke wurde wieder in die Psychiatrie eingewiesen, wo er die blöden Docs um den Finger wickeln kann. Er ist ein Meister der Manipulation, das muss man ihm lassen.“
„Du hörst dich so an, als ob du ihn gut kennen würdest“, sagte Jablonski langsam.
Darauf erwiderte Borges nichts. Sie beschäftigte sich zunächst damit, Kaffee für ihren Kollegen und sie selbst einzugießen. Dann sagte sie: „Kannst du ein Geheimnis für dich behalten, Chuck?“
Er nickte.
Sie holte tief Luft, bevor sie weiterredete.
„Ich hatte etwas mit Mario, als ich Undercover war. Und das, obwohl ich zu dem Zeitpunkt seine kriminellen Aktivitäten schon kannte.“
Jablonski nickte langsam und nahm einen Schluck Kaffee.
„Der ist gut.“
„Mario meinst du aber nicht, oder?“
„Nein, ich spreche vom Kaffee. - Du wirst deine Gründe gehabt haben, Lenita.“
„Ja, die hatte ich! Schieb es meinetwegen auf die verflixten Hormone. Ich war damals bis über beide Ohren in diesen Ganoven verschossen. Da hat buchstäblich mein Verstand ausgesetzt. Und als ich ihn jetzt wiedergesehen habe ...“
Sie beendete den Satz nicht. Das tat Jablonski für sie.
„Du wolltest den Fehler von damals wieder gutmachen. Deshalb war es dir so wichtig, dass wir ohne Backup die Verfolgung aufnehmen. Du hast daraus eine persönliche Abrechnung mit Mario Lezzi gemacht. Doch deine Gefühle sind entweder immer noch da oder wurden durch die neue Begegnung wieder angefacht.“
Borges applaudierte ironisch.
„Brilliant analysiert, Sherlock Holmes! Ernsthaft, damit liegst du genau richtig. Es wäre also am besten, wenn man mich dauerhaft aus dem FBI Dienst entfernen würde.“
„Das ist Unsinn“, sagte Jablonski mit Bestimmtheit. „Nur, weil du Gefühle hast, macht dich das nicht zu einer schlechten Agentin.“
Sie kniff die Augen zusammen.
„Sag mal, kapierst du es nicht? Mario konnte seinen Kopf nur deshalb aus der Schlinge ziehen, weil ich ihn verhaftet habe. Er kennt meine Schwächen wie kein anderer. Wenn du oder ein anderer Agent ihn aus dem Verkehr gezogen hätte, würde Mario jetzt in einem Bundesgefängnis schmoren und sich nicht in einer Klapsmühle von den Strapazen der letzten Tages erholen.“
„Das wissen wir nicht, Lenita. Ich werde dafür sorgen, dass Mario Lezzi in der Nervenklinik unter verschärfte Bewachung gestellt wird. Man muss dem dortigen Personal deutlich machen, wie gefährlich er ist.“
Borges war skeptisch.
„Glaubst du, dass die Götter in Weiß sich von einem einfachen FBI Agenten etwas sagen lassen? Die halten sich doch für unfehlbar.“
„Einen Versuch ist es wert. Außerdem läuft ja die Fahndung nach Lucia Lezzi und Kea Kühn mit ungebremster Intensität weiter.“
Borges nahm einen großen Schluck Kaffee. Sie klang jetzt schon etwas nüchterner.
„Ich bin wirklich froh, dass du zu mir gekommen bist. Noch habe ich keine Ahnung, wie meine Suspendierung wieder aufgehoben werden kann. Aber ich darf mich nicht im Selbstmitleid versinken lassen, das habe ich jetzt kapiert.“
„Ich glaube, dass Mario nur ein Instrument in der Hand seiner Schwester ist“ mutmaßte Jablonski. „Sobald Lucia hinter Gittern sitzt, wird der Kerl erledigt sein.“
Als Lucia um etliche tausend Euro ärmer und mit zwei Pistolen in der Tasche aus dem Hinterzimmer zurückkam, war Kea verschwunden.
Die Killerin kniff die Augen zusammen und ließ ihren Blick durch den fast leeren Gastraum schweifen. Nur ein älteres Ehepaar saß an einem Fensterplatz und schlürfte Wan-Tan-Suppe.
Ob Kea am Ende doch mit den Kidnappern unter einer Decke steckte? Hatte sie äußerst überzeugend die Unschuld vom Land gespielt, um Lucia in eine Falle zu locken? Warteten vor und hinter dem Restaurant womöglich schon ein paar Halsabschneider, um sie zu überwältigen?
Lucia merkte selbst, dass sie von ihrem eigenen Misstrauen beinahe überwältigt wurde. Doch es konnte auch eine völlig harmlose Erklärung für Keas Abwesenheit geben.
Zum Beispiel, dass sie einfach zur Toilette gegangen war.
Lucia schlug nun selbst den Weg ein, der ihr durch die international bekannten Symbole einer Frau und eines Mannes gezeigt wurde. Dabei blieb sie natürlich wachsam.
Und sie beglückwünschte sich selbst dazu, dass ihre beiden frisch erworbenen Waffen geladen und schussbereit waren. Zusätzliche Munition hatte sie natürlich auch noch erworben.
Momentan deutete allerdings noch nichts auf eine unmittelbar drohende Gefahr hin.
Obwohl der enge Gang, der zu den Toiletten führte, für einen Hinterhalt erstklassig geeignet war.
Lucia drückte die Tür mit dem Frau-Symbol auf.
Im Vorraum bei den Waschbecken lag ein feister Kerl mit dunkelblonden Haaren auf dem Kachelboden. Er blutete aus einer Kopfwunde und stöhnte leise. Außerdem hörte Lucia ein Schluchzen, das nicht von dem Verletzten stammte.
Sie zog eine ihrer Pistolen und stieg über ihn hinweg.
„Kea?“
„Ich bin hier“, antwortete die Deutsche.
Es gab drei Toilettenkabinen. Kea befand sich in der hintersten. Die Tür war nicht verriegelt. Als Lucia die Tür öffnete, erblickte sie ihre Begleiterin.
Kea saß vollständig bekleidet auf der Toilette. Allerdings hatte sie ihren linken Schuh ausgezogen und hielt ihn in der Hand. Am Absatz klebte Blut. Über Keas Wangen rannen Tränen.
Lucia deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung in Richtung Vorraum.
„Wollte der Schwabbel dir an die Wäsche?“
Kea nickte.
„Ich musste zur Toilette. Plötzlich griff mir jemand von hinten an die Brüste und stieß mich vorwärts. Ich fiel hin, und dann ging alles ganz schnell. Ich zog meinen Schuh aus und schlug ihn mit dem Absatz nieder.“
„Du hast gute Instinkte“, meinte Lucia anerkennend. „Der Schuhabsatz war die effektivste Waffe, die du zur Hand hattest.“
„Ist er tot?“, flüsterte Kea.
„Nein, so leicht bringt man jemanden nicht um. Aber wir sollten jetzt die Biege machen. Ich glaube zwar nicht, dass die Chinesen die Bullen rufen, aber ich will es nicht darauf ankommen lassen. Immerhin konnte ich uns handliche Artillerie besorgen.“
Sie zeigte Kea eine ihrer Pistolen.
„Wurfmesser hatte der Asiamann nicht im Angebot. Das wäre wohl auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. - Wir müssen dir übrigens noch andere Schuhe besorgen. Diese Pumps sind prächtig geeignet, um Triebtäter auszuknocken. Doch zum Weglaufen sind Tennisschuhe besser. Es kann sein, dass wir gelegentlich einen Sprint einlegen müssen.“
Bevor sie die Damentoilette verließen, trat Lucia dem am Boden Liegenden noch schwungvoll in die Rippen. Er stöhnte erneut.
„Wer meiner Freundin zu nahe kommt, kriegt es mit mir zu tun!“, fauchte sie.
Dann verließen Lucia und Kea das China-Restaurant, als ob nicht geschehen wäre.
„Hast du das ernst gemeint?“
„Wovon redest du?“, fragte die Killerin zurück.
„Dass ich deine Freundin wäre.“
„Unsinn, das habe ich nur so dahingesagt“, behauptete Lucia. „Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein! Ich vertraue niemandem außer meinem Bruder und Gordon, schreib dir das hinter die Ohren.“
In Gedanken fügte Lucia hinzu, dass ihr Verhältnis zu Kea schwer in Worte zu fassen war.
Sie schob diese Überlegung zurück. Das war jetzt nebensächlich. Eigentlich war alles unwichtig, außer Adrians Schicksal.
Ein Stück weiter die Straße herunter kaufte Lucia ein Handy und eine belgische SIM-Karte.
Sie setzte das Gerät in Betrieb und rief die Kidnapper an.
Jablonski spürte eine grimmige Genugtuung, als er die Ergebnisse der Spurensicherung erfuhr.
Bei dem Massaker in der Tankstelle konnten Mario Lezzis Fingerabdrücke auf einer der Tatwaffe nachgewiesen werden.
Nach seiner Krankschreibung war der bullige Agent jetzt wieder im Einsatz. Er fuhr gemeinsam mit Agent Vince Orlando zum Manhattan Psychiatric Center. Dort war der Verdächtige nach seinem Haftprüfungstermin eingewiesen worden.
Jablonski hatte die Freisprechanlage eingeschaltet und rief Borges an. Doch es sprang nur die Mailbox an.
„Lenita? Wenn du das hier abhörst, ruf mich sofort zurück. Lezzi hat diesmal vergeblich den Unschuldsengel gespielt. Er ist in das Tankstellen-Blutbad von Staten Island verwickelt. Das muss er wohl irgendwie vergessen haben zu erwähnen. Wie auch immer, ruf mich zurück. Ich schätze, dass deine Suspendierung demnächt aufgehoben wird.“
Er beendete das Gespräch. Jablonskis neuer Dienstpartner schnalzte mit der Zunge.
„Du stehst wirklich auf Borges, oder? Hast du sie schon mal flachgelegt?“
„Und hast du schon mal die Nase gebrochen bekommen, Vince? Wie redest du über eine FBI-Kollegin?“
Orlando hob die Handflächen.
„Hey, alles cool! Mach dich mal locker, Chuck. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du so ein Moralapostel bist.“
„Man lernt eben nie aus“, knurrte Jablonski. Es nervte ihn gewaltig, dass der Chef ihm diesen selbsternannten Frauenheld Vince Orlando als zeitweiligen Dienstpartner zugeteilt hatte.
„Und wieso sollen wir diesen Lezzi jetzt aus der Klapse abholen? Weil er womöglich einen Mord begangen hat? Wieso ist das überhaupt ein FBI-Fall?“
Wenigstens redet der Blödmann jetzt über unseren Auftrag und nicht mehr über Lenita, dachte Jablonski. Er sagte: „In der Tankstelle auf Staten Island wurden drei Personen getötet: Jesus Alvarez, der Tankstellenpächter, außerdem Gregory Nolan und Samuel O‘Leary. Die beiden Letzteren gehören zum irischen Mob. Wir sind zuständig, weil sich hier Gang-Aktivitäten vorliegen, außerdem auch noch eine mutmaßliche Entführung.“
„Doppelt genäht hält besser“, witzelte Orlando. „Und dieser Lezzi konnte also erfolgreich den armen Irren spielen?“
Jablonski nickte düster.
„Mario Lezzi hat sich schon einmal mit Hilfe eines psychiatrischen Gutachters einer Haftstrafe entzogen. Warum sollte er den Trick nicht noch einmal anwenden? Beim letzten Mal ist er damit durchgekommen.“
„Meinst du, dass ihm die neuen Beweise auf die Füße fallen?“
„Weiß der Henker“, knurrte Jablonski. „Hauptsache, er kommt mit seiner Masche nicht noch einmal durch.“
Die Agents erreichten das wuchtige moderne Gebäude des Manhattan Psychiatric Center. Jablonski stellte den dunklen Ford Crown Victoria auf dem Besucherparkplatz ab.
Sie verschafften sich mit Hilfe ihrer Dienstmarken Zugang zu der Station, wo Mario Lezzi als Patient aufgenommen worden war.
Der Stationsarzt hieß Dr. Tanaka. Er war ein kleiner Mann mit dunkler Brille und blütenweißem Medizinerkittel. Der Psychiater schüttelte den Kopf, als Jablonski sein Anliegen vortrug.
„Aus ärztlicher Sicht kann ich nicht befürworten, dass Mr. Lezzi für eine Befragung ins FBI Field Office gebracht werden soll. Er braucht momentan absolute Ruhe, und ...“
Jablonski fiel dem Weißkittel ins Wort.
„Meinetwegen können Sie sich gern über uns beschweren. Aber wir nehmen Lezzi jetzt mit!“
„Ich protestiere, ich ...“
„Schnauze!“, blaffte Orlando, der offensichtlich auch mal etwas sagen oder tun wollte. Er hielt seine Dienstmarke hoch und wandte sich an eine Krankenschwester, die gerade an den drei Männern vorbei eilen wollte.
„Wo habt ihr Lezzi untergebracht, Süße?“
„Z-zimmer 19“, gab sie zurück und blinzelte den Agent ängstlich an.
Jablonski und Orlando stiefelten los, während Dr. Tanaka hinter ihren Rücken Drohungen ausstieß.
Jablonski riss die Tür des Krankenzimmers auf, ohne anzuklopfen.
„Nur vom feinsten“, kommentierte sein Dienstpartner, während er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ.
„Ja, aber der Patient fehlt. - Wo kann sich Lezzi jetzt aufhalten?“
Die Frage war an den Arzt gerichtet, der ihnen gefolgt war.
„Das verstehe ich nicht“, stammelte Dr. Tanaka. „Die Tür lässt sich normalerweise von innen nicht öffnen. Sie sehen ja selbst, dass sie keine Klinke hat.“
„Aber das Personal verfügt über Spezialschlüssel, nehme ich an?“, wollte Jablonski wissen.
Bevor der Doktor antworten konnte, ertönte ein schriller Schrei aus weiblicher Kehle.
Jablonski und Orlando zogen ihre Waffen und rannten in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
Eine andere Krankenschwester hatte gerade die Tür zum Notausgang geöffnet. Vielleicht, um im Treppenhaus zu rauchen? Jedenfalls lag dort ein bewusstloser Mann in Unterwäsche.
„Wer ist das?“, wollte Jablonski von der Krankenschwester wissen.
„Mr. Robertson, er gehört zu unserer hauseigenen Security.“
Der bullige Agent nickte grimmig. Dann wandte er sich an Orlando.
„Gib eine Fahndungsmeldung heraus, Vince. Lezzi hat in etwa denselben Körperbau wie dieser ausgeknockte Möchtegern-Cop hier. Der Mörder ist also in einer geklauten Security-Uniform flüchtig!“
Lenita Borges hatte einiges Stunden zuvor ihr Smartphone ausgeschaltet. Sie wollte nicht zu erreichen sein, weder für Chuck noch für sonst jemanden. Borges war innerlich hin und her gerissen.
Einerseits hatte es ihr gutgetan, sich Jablonski anzuvertrauen. Andererseits hasste sie es, eine Schwäche zu zeigen. Doch das war nun einmal geschehen und ließ sich nicht mehr ändern.
Verdammter Rotwein!
Nachdem sie wieder halbwegs nüchtern war, zog Borges eine dunkle Jeans und ein marineblaues Sweatshirt mit der Aufschrift NEW YORK HARBOUR an. Sie verließ ihr Apartment und stieg in ihren privaten Toyota.
Das Fahrtziel lautete Manhattan Psychiatric Center.
Borges war immer noch suspendiert. Aber niemand konnte sie daran hindern, Mario in ihrer Freizeit im Auge zu behalten. Sie spürte, dass dieser Halunke etwas im Schilde führte. Wenn ihre Vorgesetzten sowie der Staatsanwalt sich von Marios Verteidiger und seinem psychiatrischen Gutachter einlullen ließen, war das deren Problem.
Borges wusste, dass ihr Ex-Liebhaber mit allen Wassern gewaschen war.
Doch als sie das weitläufige Krankenhausgebäude vor sich erblickte, drohte ihr Mut sie beinahe zu verlassen.
Was wollte sie hier eigentlich tun?
Ihr war bekannt, dass Mario in einer geschlossenen Abteilung therapiert wurde. Dort konnte man nicht so einfach herein marschieren. Sie war beruflich schon oft genug auf vergleichbaren Krankenstationen gewesen. Natürlich konnte sie versuchen, sich als Marios Schwester oder Freundin auszugeben.
Aber was dann?
Nein, sie durfte nicht in seine Nähe kommen. Falls er ihren Vermutungen entsprach, würde er zu entkommen versuchen. Womöglich war er schon fort. Und man hatte sie nicht informiert, weil sie momentan nicht im Dienst war.
Schlimmstenfalls verschwende ich hier eben meine Zeit, dachte Borges verdrossen. Sie parkte so, dass sie den Haupteingang des Gebäudes gut im Blickfeld hatte.
Eine sterbenslangweilige Observierung begann.
Trotzdem hatte Borges das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Obwohl sie genauso gut in ihrem Apartment gegen die Wand hätte starren können. Jedenfalls kam es ihr so vor.
Mit geschultem Blick scannte sie die Menschen ab, die das Hospital betraten und verließen. Besucher und Personal auf dem Heimweg, Patienten, die sich unter dem Einfluss von Medikamenten steifbeinig bewegten ...
Borges erstarrte.
Obwohl sie sich zuvor längere Zeit in einem Dämmerzustand befunden hatte, war sie plötzlich wieder voll da.
Mario trat aus dem Haupteingang. Er schritt in soldatischer Haltung, wozu gewiss auch seine Security-Uniform beitrug. Diese Würstchen in Fantasie-Monturen hatten oft Komplexe, weil sie die echte Aufnahmeprüfung beim New York Police Department versemmelt hatten. Sie kompensierten ihre Minderwertskeitsgefühle, indem sie besonders zackig stolzierten.
Und Mario imitierte diese Körpersprache meisterhaft. Dadurch wirkte er noch überzeugender.
Borges wurde von einer ungeheuren Euphorie erfasst.
Suspendiert oder nicht - sie konnte diesen Mistkerl wieder einfangen und ihre Scharte auswetzen. Die Uniform hatte er garantiert geklaut. Das Hospital und die gutgläubige Staatsanwaltschaft konnten ihr dankbar dafür sein, dass sie die Augen offen gehalten hatte.
Sie nahm ihre Pistole aus dem Handschuhfach und stieß die Fahrertür auf.
Noch hatte Mario sie nicht bemerkt.
Ohne Hast bewegte er sich auf den Parkplatz zu.
Gewiss wollte er ein Auto klauen.
Und wohin würde Mario dann fahren?
Trotz ihrer Aufregung zwang Borges sich zu genauen Überlegungen.
Selbstverständlich gab es für Mario kein wichtigeres Ziel als seine Killer-Schwester wiederzutreffen. Die beiden hatten sich immer schon sehr nahe gestanden.
Borges wusste jetzt, was sie zu tun hatte.
Sie duckte sich und machte einen Bogen um Mario. Sie blieb in Deckung und schaffte es, ungesehen hinter ihn zu gelangen. Auf den Sohlen ihrer Sportschuhe konnte sie sich beinahe lautlos bewegen.
Mario bemerkte sie erst, als sie ihm die Mündung ihrer Waffe in die Nierengegend drückte.
„Die Uniform steht dir gut, Guapo. Du hättest es vielleicht doch mal mit ehrlicher Arbeit versuchen sollen. Oder bist zu verrückt, um eine Schicht von neun bis fünf durchzustehen?“
Mario zuckte zusammen, drehte sich aber nicht um. Das war auch gar nicht notwendig. Borges wusste, dass er sie an der Stimme erkannt hatte.
„Was willst du, Lenita?“
„Geh nach links, dort hinten steht mein Auto. Der weiße Toyota, siehst du? Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug. Wahrscheinlich brennst du schon darauf, dein Schwesterchen wiederzusehen.“
Lucia hasste sich selbst dafür, dass ihre Handflächen feucht wurden. Und sie verzichtete darauf, ihren eigenen Pulsschlag zu checken. Sie wusste natürlich, warum sie so nervös war.
Wenn Lucia nur einen winzigen Fehler machte, würde sie Adrian niemals unverletzt in ihrer Arme schließen können. Sie machte sich keine Illusionen über die Leute, mit denen sie es gleich zu tun bekommen würde.
Wegen solcher skrupellosen Bastarde existierten Auftragskiller.
Und Lucia hätte jeden einzelnen dieser Kindesentführer liebend gern getötet, ohne einen einzigen Cent daran zu verdienen.
Sie atmete tief durch.
Nun konnte sie den Anruf nicht länger hinauszögern. Die Zeit arbeitete gegen sie.
Lucia wischte sich noch einmal den Schweiß von der Stirn und starrte auf das trübe Wasser der Schelde, als ob sich darin ein Geheimnis verbergen würde.
Dann wählte sie die Nummer von Adrians Kidnappern.
Dreimal ertönte das Freizeichen.
Lucias Zuversicht schwand von Sekunde zu Sekunde. Sie hatte buchstäblich nichts in der Hand, um diese Leute zu erreichen. Wenn sie sich einfach nicht an die Absprache mit Gordon hielten, sondern stattdessen das wehrlose Kind an echte Perverser verschacherten ...
Sie wollte diesen Gedanken nicht zu Ende führen, weil er einfach zu schrecklich war.
Es ist schon seltsam, dachte Lucia selbstironisch. An meinen Händen klebt so viel Blut. Und doch gibt es Fantasien, mit denen man sogar mich erschrecken kann.
Eine Männerstimme ertönte.
„Ja?“
Die Killerin machte sich automatisch ein Bild von Leuten, denen sie nur am Telefon begegnete. Das war so eine Angewohnheit von ihr. Und obwohl der Dreckskerl nur dieses eine Wort von sich gab, entstand vor ihrem geistigen Auge sofort eine plastische Vorstellung von ihm.
Er hatte Körpergeruch. Sie konnte selbst nicht genau sagen, weshalb sie davon überzeugt war.
Doch, eigentlich schon.
Er gab nichts auf Hygiene, weil er Frauen nicht mit seinem Äußeren beeindrucken wollte oder musste. Vermutlich fürchtete er sich sogar vor erwachsenen weiblichen Wesen. Deshalb vergriff er sich nur an kleinen Mädchen oder kleinen Jungs.
Sie stellte sich vor, dass er von gedrungenem Körperbau war. Den Kopf hielt er vermutlich gesenkt und warf seinen Gegenüber heimtückische Blicke zu.
Und er war gewiss von falscher Freundlichkeit.
Ein Mann, den Leute mit wenig Menschenkenntnis als einen guten Kumpel oder einen hilfsbereiten Nachbarn einschätzten. Und der tief in seinem verdorbenen Inneren eine schwarze Seele hatte.
Lucia leckte sich über die trockenen Lippen. Sie musste nun ein Gespräch in Gang bringen.
„Ich rufe wegen der Ware an, die wir bestellt haben“, sagte sie auf Englisch. Ihre Stimme klang metallisch, wie sie selbst fand. So stählern wie die Pistole in ihrer Tasche. Und sie verachtete sich selbst abgrundtief dafür, dass sie mit diesen Worten über ihren süßen Adrian sprach. Doch es gab keine andere Möglichkeit. Wenn sie diesen Dreckskerlen gegenüber glaubhaftg wirken wollte, musste sie sich auf deren Spiel einlassen und so reden, wie sie es taten.
„Ja, die Ware ...“, wiederholte der Widerling genüsslich. „Die Ware befindet sich nach wie vor in erstklassigem Zustand.“
Er sprach mit Akzent, worüber sich Lucia nicht wunderte. Sie hatte es vermutlich mit einem belgischen oder deutschen Hurensohn zu tun. Das war ihr ziemlich egal.
„Davon bin ich ausgegangen“, erwiderte sie kalt. „Wir haben schließlich genug für die Ware bezahlt. Wo soll die Übergabe stattfinden?“
„Sie stellen mir doch keine Falle, oder? Ich bin allergisch gegen Blau. Die Farbe macht mich ganz krank.“
Blau? Lucia stutzte nur einen Moment, dann verstand sie die Anspielung. Vermutlich hatten Polizeiuniformen in Belgien dieselbe Farbe wie in den Staaten.
„Ich mag auch kein Blau“, gab sie zurück. „Ich bevorzuge Rot, und zwar Blutrot. Also, können Sie nun liefern oder nicht?“
Sie hörte einen Moment lang nur das schwere Atmen des Mannes. Ob sie den Bogen überspannt hatte? Wenn er wirklich glaubte, mit einer Polizistin zu telefonieren, würde er das Gespräch wohl kaum so in die Länge ziehen. Denn sein Handy ließ sich problemlos orten.
Auch diese Möglichkeit hatte Lucia erwogen, sie aber schnell wieder verworfen. Ein entsprechendes Programm konnte sie problemlos von Gordon bekommen. Doch der Anrufer war gewiss nur ein kleiner Fisch. Es würde unmöglich sein, von ihm aus die Spur bis zu Adrian zurückzuverfolgen. Jedenfalls nicht, bevor diese Monster sich an dem Kind vergreifen konnten.
„Selbstverständlich liefern wir, es geht ja um unseren guten Ruf. - Sind Sie schon in Antwerpen?“
„Ja.“
„Sehr gut. Kommen Sie um Mitternacht zum Park Noordkasteel. Dort gibt es einen See, über den eine Holzbrücke führt. Dort werden wir Ihnen um Punkt zwölf Uhr die Ware übergeben. Und kommen Sie allein. Wenn Sie uns eine Falle stellen, landet die Ware im See.“
Lucias Herz krampfte sich zusammen. Sie wollte nicht daran denken, wie Adrian verzweifelt strampelnd gegen die Tod kämpfte, während seine kleinen Lungen sich immer weiter mit eiskaltem Wasser füllten.
Das durfte auf gar keinen Fall geschehen.
„Selbstverständlich komme ich ohne Begleitung“, gab Lucia zurück. „Ich bin schließlich Profi.“
Der Kindesentführer lachte dreckig und beendete das Gespräch.
Mario war von Lenita überrumpelt worden.
Während er sich von ihr zu ihrem Wagen bugsieren ließ, dachte er fieberhaft über einen Ausweg nach. Leider hatte er momentan keine zündende Idee. Und er kannte seine Ex-Freundin ziemlich gut. Wenn er sich jetzt auch nur den geringsten Fehler erlaubte, würde sie ihm eine Kugel verpassen.
Und zwar, ohne mit der Wimper zu zucken.
Wenn man Lenita Borges wütend gemacht hatte, war mit ihr nicht gut Kirschen essen.
Diese Tatsache war Mario schmerzlich bewusst. Also vermied er zunächst alles, um ihre Stimmung noch weiter zu verschlechtern.
Falls das überhaupt möglich war.
„Du steigst auf der Fahrerseite ein, kapiert?“
Lenita schloss ihr Auto auf, wobei sie Mario weiterhin mit der Waffe bedrohte. Allerdings hielt sie die Pistole so, dass sie von Zeugen nicht bemerkt werden konnte. Man musste schon unmittelbar an den beiden vorbei gehen, um die Lage zu erkennen und den Notruf zu wählen.
Mario gehorchte.
Er konnte nicht losfahren, weil Lenita ihm den Zündschlüssel noch nicht gegeben hatte.
Sie denkt an alles, dachte er verdrossen, während sie die Motorhaube umrundete und sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Dann drückte sie ihm die Schlüssel in die Hand.
„Starte den Motor!“
„Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist ...“
„Nein, das kannst du nicht!“, fauchte Lenita. „Du hast keine Ahnung davon, wie es mir geht. Wegen deinen Lügen und den Taschenspielertricks deines hässlichen Winkeladvokaten wurde ich suspendiert. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das für mich bedeutet? Es ist verflixt schwer, beim FBI angenommen zu werden und die hammerharte Ausbildung hinter sich zu bringen. Ich habe das immer gern gemacht, es war mein Traum. Und wegen einen dreckigen Kriminellen wie dir geht meine Karriere gerade den Bach runter!“
„Ich musste mir etwas einfallen lassen“, verteidigte Mario sich. Er war sich darüber im Klaren, dass dieser Satz sich sehr nach einer faulen Ausrede anhörte. Doch etwas Besseres fiel ihm momentan nicht ein. Immerhin bewies er seinen guten Willen, indem er den Wagen gestartet hatte und vom Psychiatrie-Parkplatz herunter fuhr.
„Das habe ich gemerkt“, gab Lenita gallig zurück. Sie hatte sich so hingesetzt, dass ihre Pistolenmündung immer noch auf seinen Oberkörper zielte. Und sie würde schießen, das wusste er. Diesmal war Mario bei ihr eindeutig zu weit gegangen.
„Wohin soll ich fahren, Lenita?“
„Das weiß ich doch nicht! Auf jeden Fall werden wir jetzt Lucia besuchen. Das kann dir noch nur recht sein. Wahrscheinlich bist du wegen deiner Schwester so schnell aus der Klapsmühle getürmt. Beim letzten Mal hattest du den Erholungsurlaub im Manhattan Psychiatric Center doch viel länger in Anspruch genommen, oder?“
Lenita hatte ihn durchschaut, und das gefiel ihm gar nicht.
Es stimmte: Normalerweise hätte Mario sich Zeit gelassen, bis er als „geheilt“ die Einrichtung hätte verlassen dürfen. Mit dieser Taktik hatte er schließlich gute Erfahrungen gemacht. Außerdem schätzte er die Atmosphäre in der geschlossenen Abteilung, was kaum ein Mensch nachvollziehen konnte.
Es gab dort schwer gestörte Patienten, die ernsthaft Hilfe brauchten. Mario verachtete sie nicht, er fand sie nur einfach interessant. Und es war ihm ein Rätsel, weshalb die Ärzte ihn nicht als Simulanten enttarnen konnten.
Oder machte er sich etwas vor?
War er am Ende tatsächlich psychisch gestört und hielt sich nur selbst für gesund?
Mario lachte.
„Was ist so komisch?“, stieß Lenita zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich habe nicht über dich gelacht ...“
„Das würde ich dir auch nicht geraten haben!“
„ ... sondern über meine Situation. Ich dachte gerade, dass ich vielleicht wirklich ein Irrer bin.“
„Davon bin ich fest überzeugt“, behauptete Lenita. „Und ich schaffe dich gern wieder auf die Funny Farm zurück - aber erst, nachdem ich deine Schwester ebenfalls verhaftet habe.“
„Ich weiß nicht, wo Lucia sich momentan aufhält.“
Kaum hatte Mario diesen Satz ausgesprochen, als seine Ex-Freundin auch schon ihre Pistole härter gegen seine Flanke drückte.
Er fuhr schnell fort: „Aber ich könnte mir vorstellen, wo sie untergetaucht ist. Lucia hat einen guten Freund und Vertrauten, er heißt Gordon. Er hat ihr schon oft geholfen.“
„Schön, dann also auf zu Gordon!“
Mario blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen. Er warf Lenita einen nervösen Seitenblick zu.
„Du bist immer noch suspendiert, nicht wahr?“
„Mann, bist du clever!“, höhnte sie. „Klar, das hier ist mein Freizeitvergnügen. Ich gurke in meiner Privat-Karre durch die Gegend und bedrohe dich nicht mit einer offiziellen FBI-Waffe, sondern mit meiner eigenen Kanone. Ich rufe die Kollegen erst zu Hilfe, wenn ich dich und deine Schwester vor der Mündung meines Ballermanns habe. Dann können die Agents gerne anrücken und euch Handschellen anlegen.“
„Es gibt wohl keine Möglichkeit, wie ich dich noch umstimmen kann?“
„Nein, gibt es nicht. Und ich werde dich bestimmt nicht um der alten Zeiten willen laufen lassen.“
Lenita schnaubte ironisch.
„Lucia will ein Kind retten“, sagte Mario. „Wenn sie jetzt hinter Gittern landet, ist der kleine Adrian verloren.“
„Du wirst verstehen, dass ich deiner Schwester keine allzu große Empathie zutraue. Du sprichst von Old Barns‘ Enkel, oder? Wenn Lucia Informationen zu dem Fall hat, soll sie die an uns weitergeben. Für Kidnappingfälle ist das FBI zuständig.“
„Manchmal sind andere Methoden effektiver, Lenita. Vor allem, weil wir uns nicht an Gesetze halten müssen.“
„Wenn alle so denken würden, kann hätten wir eine Herrschaft des Faustrechts. - Lass uns die moralphilosophische Diskussion auf später verschieben, okay? Wenn du erst mal in Rikers einsitzt, will ich dich gerne besuchen und mit dir über Recht und Unrecht debattieren. Oder ich schildere dir, wie mich mein Freund gevögelt hat, während du hinter Gittern schmoren musst.“
„Du hast doch gar keinen Freund.“
Die suspendierte FBI-Agentin lief rot an.
Volltreffer! dachte Mario. Doch so richtig konnte er sich über diesen kleinen Triumph nicht freuen.
„Na, und wenn schon!“, blaffte Lenita. „Ich werde mir einen Kerl anlachen und es jede Nacht mit ihm treiben. Und weißt du auch, warum? Nur, um dir davon berichten zu können und um dich neidisch werden zu lassen!“
„Das klingt so, als ob du noch etwas für mich empfinden würdest.“
„Einbildung ist auch eine Bildung“, knurrte sie. Und wechselte das Thema: „Hey, in was für eine abgelegene Gegend fahren wir? Wenn du mich austricksen willst ...“
Mario schüttelte den Kopf, während das Auto über die zahlreichen Gleise des Güterbahnhofs rumpelte.
„Gordons Refugium befindet sich in dem alten Stellwerk da vorne.“
Lenita kniff misstrauisch die Augen zusammen.
„Sieht mir aber ziemlich verlassen aus.“
„Deshalb ist es ja so ein guter Unterschlupf.“
„Und ich sehe weit und breit kein Auto und kein Motorrad. Dieser Gordon wird ja nicht auf einen Güterzug springen, wenn er in die City will.“
„Nein, wahrscheinlich nicht. Aber würdest du deine Karre in der Nähe deines Verstecks parken? Dadurch macht man nur unnötig auf sich aufmerksam.“
Sie nickte langsam.
„Okay, das ist plausibel. Aber wenn du mich hinters Licht führst ...“
Mario beobachtete das Stellwerk aufmerksam, während er den Toyota einen Steinwurf weit von dem Gebäude entfernt zum Stehen brachte. In weiter Entfernung wurden Güterzüge rangiert. Aber Mario war sicher, dass die AMTRAK-Eisenbahner nicht auf das achteten, was hier geschah.
Lenita stieg aus und machte eine auffordernde Bewegung mit dem Pistolenlauf.
„Vorwärts, Amigo! Du gehst voran.“
Maro gehorchte und öffnete eine verrostete Metalltür, die nicht abgeschlossen war. Zum eigentlichen Stellwerk hoch führte eine steile Treppe. Ob er Lenita vielleicht dort überwältigen konnte?
Das war der letzte Gedanke in seinem Leben.
Als Mario einige Stufen erklommen hatte, ertönte ein metallisches Geräusch. Gleich darauf wurde sein Körper von einer langen Geschosssalve aus einer Automatikwaffe durchlöchert.
Kea saß in einem Restaurant mit dem Namen Felix Pakhuis.
Es war in einem ehemaligen Lagerhaus im Antwerpener Stadtteil Schipperskwartier untergebracht - einer coolen Gegend in Hafennähe, in der es avantgardistische Museen, modische Bars und jede Menge buntes Partyvolk gab.
Kea fühlte sich wohl, doch das lag nicht etwa an dem knackigen Salat und dem eiskalten Wodka, mit dem sie sich die Zeit bis zu Lucias Rückkehr vertrieben hatte.
Nein, sie durchlebte in ihrer Erinnerung immer wieder die Euphorie des Blutrauschs.
Im ersten Moment war sie furchtsam und wie gelähmt gewesen, als der Triebtäter sie auf der Toilette angegriffen hatte. Doch dann hatten ihre ureigenen Instinkte das Kommando übernommen. Und alles war plötzlich ganz leicht gewesen.
Den Schuh ausziehen.
Zum Gegenangriff übergehen.
Mit ganzer Kraft zuschlagen.
Und sie hatte nicht etwa geweint, weil sie sich noch vor dem Kerl fürchtete.
Vielmehr war sie über ihre eigenen starken Gefühle erschrocken gewesen.
Doch diese Phase lag nun hinter ihr.
Kea hatte etwas zurückgewonnen, das sie seit ihrer Kindheit in die tiefsten Abgründe ihrer Seele verbannt hatte.
Ihren Killerinstinkt.
Kea fühlte sich jetzt erst wieder ganz. So, als ob ein großes und wichtiges Puzzlestück endlich das Gesamtbild von ihr selbst vervollständigte.
Sie winkte der Kellnerin und bestellte noch einen Wodka.
Das muss gefeiert werden! dachte sie. Kea streckte ihre langen Beine aus und grinste. Ihr war nicht entgangen, dass sie einigen jungen Männern in Geschäftsanzügen aufgefallen war. Gewiss ahnte keiner von ihnen, dass hier eine echte Killerin saß.
Eine Frau, die getötet hatte und es wieder tun wollte.
Ich bin nicht mehr ganz nüchtern, stellte sie fest. Trotzdem zweifelte sie nicht an ihren eigenen Gefühlen.
Der Tod ihrer Freundin damals konnte noch als bedauerlicher Unfall durchgehen. Doch bei ihrer Attacke auf den Angreifer in der Tankstelle hatte sie gezielt töten wollen. Auch den Sextäter hätte sie gern ins Jenseits befördert. Allerdings hatte sie wohl nicht fest genug zugeschlagen. Sie nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal besser zu machen.
Kea schaute auf die Uhr.
Lucia war seit einer gefühlten halben Ewigkeit fort. In Wirklichkeit konnte es noch keine Viertelstunde her sein, seit sie zum Telefonieren nach draußen gegangen war. Kea machte sich trotzdem keine Sorgen.
Lucia war zweifellos ein schwieriger Charakter, aber mit ihr war es wenigstens niemals langweilig.
Außerdem hatten die beiden Frauen sich ein edles Ziel vorgenommen. Ein unschuldiges Baby zu retten - konnte es eine bessere Mission geben?
Dafür konnte man getrost über Leichen gehen, wie Kea fand.
Bevor sie sich noch einen weiteren Schnaps genehmigen konnte, kehrte Lucia an ihren Tisch zurück.
Kea erschrak, als Marios Schwester sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen ließ.
Lucia schien dem Leibhaftigen begegnet zu sein.
Sie wirkte verstört und mutlos. Wie ein Mensch, der sich mit einem unausweichlichen schrecklichen Schicksal abgefunden hat.
„Was ist los?“, fragte Kea und nahm Lucias Hand. Sie fühlte sich so kalt an wie die einer Leiche.
„Lass das! Bist du plötzlich eine Leckschwester geworden?“, fauchte Lucia. Doch Kea ließ sie nicht los, und einige Atemzüge später fuhr sie etwas ruhiger fort: „Ich fürchte mich vor diesem Abschaum. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich dir gegenüber so etwas zugeben würde. Ich weiß jetzt, wann und wo Adrian an uns übergeben werden soll. Aber ich habe so große Angst davor, dass wir es verbocken.“
„Dann sollten wir Vorkehrungen treffen“, schlug Kea vor. „Erzähl mir alles, was du erfahren konntest.“
Lucia berichtete stockend von dem Telefonat. Kea hörte genau zu und schaute erneut auf die Uhr.
„Es ist noch früher Nachmittag, wir haben also genügend Zeit für unsere Vorbereitungen. Lass uns zunächst mal diesen Park auskundschaften. Natürlich brauchen wir dafür andere Klamotten.“
„Wieso?“, fragte Lucia verständnislos.
„Wer geht um diese Uhrzeit in einen Park? Junge Muttis, Rentner, Jogger und Büromenschen in der Mittagspause. Die Kidnapper wissen nicht, wie wir aussehen. Wenn wir uns als zwei belgische Tippsen verkleiden und dort auf einer Ruhebank ein Sandwich mampfen, werden wir niemandem auffallen.“
Lucia schaute Kea an, als ob sie die Deutsche zum ersten Mal in ihrem Leben sehen würde.
„Verflucht, du hast recht. Wir dürfen uns nicht ins Bockshorn jagen lassen. Tut mir leid, dass ich eben gerade geschwächelt habe. Aber jetzt kannst du endlich meine Hand loslassen.“
Kea grinste.
„Klar, kein Problem.“
Die beiden Frauen fanden nach kurzem Suchen eine Filiale einer internationalen Modekette. Dort legten sie sich ein biederes Büro-Outfit zu. Es entging Kea nicht, dass Lucia von ihrem marineblauen Kostüm mit knielangem Rock nicht gerade begeistert war.
„Entspann dich, in diesem Outfit ist unsere Tarnung perfekt.“
Lucia seufzte.
„Wenn du das sagst ... kann es übrigens sein, dass du dich verändert hast? Und damit meine ich nicht diese spießigen Klamotten. Oder hat der Wodka deine Zunge gelöst?“
Kea schüttelte den Kopf.
„Ich will dir einfach nur beweisen, dass ich kein Klotz am Bein bin.“
Darauf erwiderte Lucia nichts.
Nachdem sie sich im Diana Hotel umgezogen hatten, fuhren Lucia und Kea mit ihrem gemieteten Porsche Cayenne zum Park Noordkasteel. Unterwegs besorgten sie sich noch Sandwiches in braunen Papiertüten sowie Coffee to go.
„Ich finde, dass wir wie zwei Bürotussis aussehen“, meinte Kea, als sie das Parkgelände betraten.
„Sei leise“, zischte Lucia, „sonst merkt noch jemand, dass wir weder Holländisch noch Französisch sprechen. Was ist das überhaupt für ein komischer Staat, der noch nicht mal eine eigene Landessprache hat?“
„Das musst du die Belgier fragen“, erwiderte Kea kichernd. Doch sie dämpfte ihre Lautstärke.
Es dauerte nicht lange, bis sie die Holzbrücke im Blickfeld hatten. Die Frauen setzten sich auf eine Parkbank und taten so, als ob sie ihre Mittagspause in der Sonne genießen würden.
Kea ließ ihre Blicke unauffällig schweifen. Es kam ihr nicht so vor, als ob die Kidnapper im Park auf der Lauer liegen würden. Doch vielleicht fehlte ihr nur das Gespür für solche Schurken. Oder Adrians Entführer hatten eine ebenso überzeugende Tarnung wie Kea und Lucia.
Ob die junge Mutter mit dem Kinderwagen auf ihrer Lohnliste stand?
Oder dieser asketisch wirkende ältliche Jogger?
Lucias Stimme riss sie aus ihren Überlegungen.
„Für mich sieht das hier nach einem erstklassigen Hinterhalt aus.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Kea.
„Siehst du die Laternen? Eine steht auf der Südseite die andere auf der Nordseite der Konstruktion. In der Dunkelheit wird die Brücke hell beleuchtet, während die Gebüsche am Ufer sich außerhalb der Lichtkegel befinden. Wenn jemand also schießen will, muss er sich nur dort verschanzen. Von der Brücke aus ist er so gut wie unsichtbar.“
„Wir sind aber zu zweit“, erinnerte Kea. „Davon ahnen unsere Feinde nichts?“
„Worauf willst du hinaus?“, wollte Lucia wissen.
„Ich sollte auf die Brücke gehen und Adrian entgegennehmen.“
Lucia öffnete den Mund. Kea konnte ihr anmerken, dass sie zornig war.
„Du kannst gewiss besser schießen als ich, denn ich hatte vor dem heutigen Tag noch nie eine Pistole in der Hand. Und nun hör dir meinen Plan an, bevor du mir den Kopf abreißt.“
Kea verriet der Killerin ihre Überlegungen. Sie merkte, dass Lucia sich allmählich beruhigte. Schließlich quälte sich ihr Gegenüber sogar ein schiefes Grinsen ab.
„Ja, so könnte es funktionieren. - Dann lass uns jetzt von hier verschwinden. Wir schauen uns noch ein wenig um, prägen uns die Umgebung genau ein. Und für das Treffen um Mitternacht brauchen wir definitiv anderer Klamotten.“
Borges warf sich zu Boden, als Marios Körper von den Geschossen durchsiebt wurde.
Die FBI Agentin brachte ihre eigene Waffe in den Anschlag. Obwohl ihr Körper von Adrenalin durchflutet wurde und sie Panik in sich aufsteigen spürte, reagierte sie entsprechend dem tausendfach eingeübten Drill:
Deckung suchen.
Schussfeld klären.
Verstärkung anfordern.
Rückzug sichern.
Während Mario zusammenbrach und sein Blut zwischen die Eisenbahnschienen sickerte, presste Borges die Lippen aufeinander.
Es brach ihr das Herz, diesen Mann tot oder sterbend nur wenige Yards von sich entfernt zu sehen. Und doch konnte sie ihm jetzt nicht helfen. Wenn Borges sich neben ihn kauerte, hatte sie überhaupt keine Deckung. In ihrer momentanen Lage - flach auf dem Bauch, hinter einem niedrigen Stapel von Schwellen - konnte sie sich immerhin ein wenig vor den Kugeln ihres unsichtbaren Widersachers schützen.
Borges erwartete jeden Moment, dass dieser Gordon wie ein Berserker aus dem Stellwerk gestürmt kommen würde. Und zwar mit einer Maschinenpistole in den Fäusten.
Doch das geschah nicht.
Nach der ersten Geschossgarbe fielen überhaupt keine Schüsse mehr.
Eine unheimliche Stille breitete sich aus, die auch von den Fahrgeräuschen der weit entfernten Güterzüge nicht gestört wurde.
Borges‘ Augen brannten.
Waren es Tränen oder der Schweiß, der ihr von der Stirn aus abwärts lief?
Sie blinzelte, wischte sich mit der freien linken Hand über das Gesicht. Die Rechte hielt ihre Waffe umklammert.
Die Agentin fischte ihr Smartphone heraus, schaltete es ein und holte Chucks Nummer aus dem Kurzwahlspeicher. Ihr Dienstpartner meldete sich fast sofort.
„Na, endlich! Hast du deine Mailbox abgehört, Lenita?“
„Was? - Nein, hör mal, ich stecke in der Klemme. Mario Lezzi ist tot oder schwer verletzt, hier ist ein Täter mit Automatikwaffe, vielleicht sogar mehrere.“
„Was hast du getan?“
Sie konnte das Entsetzen in Jablonskis Stimme deutlich hören.
„Gar nichts. - Also, komm vorbei und bring am besten gleich die Kavallerie mit.“
Sie gab ihm ihre Position durch und beendete das Telefonat.
Es war schwer zu ertragen, Marios leblosen Körper vor sich auf dem Boden liegen zu sehen. Doch Borges hing zu sehr am Leben, als dass sie ihm zu Hilfe kommen konnte.
Natürlich hatte sie einen Verbandskasten in ihrem Auto. Doch um die Plastikkiste zu holen, musste sie ohne Deckung an dem Stellwerk vorbei laufen.
Es war auch nicht möglich, Mario in Deckung zu ziehen. Dafür war er einfach zu schwer. Borges hatte zwar mehr Kraft als man ihr ansah, doch die kannte ihre Grenzen.
Außerdem hatte sie sich schon damit abgefunden, dass er nicht mehr lebte. Es musste mindestens zwei Dutzend Kugeln in seinen Körper eingeschlagen sein. Die Verletzungen hätten ihn schreien lassen, als ob man ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen würde.
Doch er gab keinen Mucks mehr von sich.
Borges kämpfte gegen die Trauer, die ihre Kehle zuschnürte.
Mario war ihr nicht gleichgültig gewesen, andernfalls hätte sie wegen ihm nicht ihren Job riskiert. Es gab beim FBI genug Schauergeschichten über Agents, die bei Undercover-Einsätzen zu tief in die Reihen der Gesetzlosen eintauchten. Und dann den Weg zurück vergaßen.
Mit jeder Minute, die verstrich, kam Borges sich feiger und nutzloser vor. Aber sie war kein weiblicher Rambo, und mit der bescheidenen Feuerkraft ihrer Pistole hatte sie gegen eine Automatikwaffe keine Chance.
Also behielt sie die Nerven, so gut es ging. Das Blut rauschte in ihren Ohren.
Nach einer Zeit, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam, ertönte das Sirenengeheul von Einsatzfahrzeugen.
Wenig später kamen ein Ford Crown Victoria und zwei unmarkierte GMC Vans herangeprescht. Die Auto kamen zum Stehen, die Heckklappen der Lieferwagen wurden aufgestoßen.
Schwerbewaffnete SWAT-Teams sprangen aus den Fahrzeugen. Während die eine Gruppe Deckung gab, rückte die andere auf das Stellwerk vor. Ein FBI Kollege warf eine Blendgranate ins Innere des Gebäudes.
Borges schloss die Augen, presste ihr Gesicht auf den Boden und hielt sich die Ohren zu.
Trotzdem nahm sie den schmerzhaft hellen Blitz in abgeschwächter Form war, und der Knall ließ ihre Trommelfelle schlackern. Sie wusste, was nun geschehen würde. Die Spezialeinheit stürmte das Stellwerk.
Und während das geschah, kam eine vertraute Gestalt auf Borges zu. Sie freute sich, Jablonski zu sehen. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, aber leider hatte er diesen selbsternannten Frauenheld Orlando dabei. Der Typ würde garantiert einen dummen Spruch vom Stapel lassen, und das konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen.
Obwohl es in ihren Ohren noch etwas klingelte, konnte sie die Worte ihres Dienstpartners verstehen.
„Bist du verletzt? Brauchst du einen Doc?“
Jablonski wollte ihr vom Boden hochhelfen, aber sie kam selbst auf die Füße. Dann holsterte sie ihre Pistole. Für das Schießen waren jetzt Andere zuständig.
Borges schüttelte den Kopf.
„Mir fehlt nichts.“
„Außer deinem Verstand“, höhnte Orlando. „Was hast du hier zu suchen? Du bist suspendiert, schon vergessen?“
Jablonski öffnete den Mund, wollte sie gewiss verteidigen. Doch Borges kam ihm zuvor.
„Während ihr gepennt habt, konnte Mario Lezzi aus der Klapse abhauen!“, feuerte sie zurück. „Wenn ich nicht vor Ort gewesen wäre, würdet ihr immer noch nach ihm suchen.“
Orlando nickte langsam und schaute sich demonstrativ um.
„Wir sind hier aber ziemlich weit entfernt von der Psychiatrie in Manhattan. Wieso konnte Lezzi durch die halbe Stadt kurven? Du wirst ihn doch nicht etwa in deinem Auto mitgenommen haben, anstatt uns sofort zu alarmieren?“
Borges presste die Lippen aufeinander. Doch sie hatte nicht vor, sich von einem blöden Macho wie Orlando die Leviten lesen zu lassen. Sie ignorierte ihn und wandte sich an Jablonski.
„Ich konnte mit dem Field Office keinen Kontakt aufnehmen, dafür war die Zeit zu knapp. Da war eine schnelle Entscheidung gefragt. Mario wollte mich zu einem gewissen Gordon führen, bei dem sich angeblich seine Schwester versteckt. Er soll in dem ehemaligen Stellwerk hausen.“
Jablonski deutete auf den Leichnam, der inzwischen von einem Sanitäter der Spezialeinheit untersucht worden war. Der Mann schüttelte den Kopf. Man brauchte allerdings keine medizinischen Kenntnisse, um zu erkennen, dass Mario Lezzi nicht mehr lebte.
„Und als Gordon checkte, dass Lucias Bruder eine FBI Agentin im Schlepptau hatte, durchlöcherte er den Verräter“, mutmaßte Orlando.
Bevor Borges oder Jablonski reagieren konnten, verließ der SWAT-Kommandant das Gebäude und trat auf sie zu.
„Meine Boys haben das Stellwerk gesichert, darin hält sich kein Mensch auf“, berichtete er. „Wir haben eine Selbstschussanlage entdeckt, eine bizarre Konstruktion. Das Magazin ist leergeschossen. Vermutlich befinden sich sämtliche Kugeln in seinem Körper.“
Der Einsatzleiter deutete auf den Toten.
„Warum finden Sie die Selbstschussanlage seltsam?“, fragte Jablonski.
„Offenbar werden die Schüsse durch ein Computerprogramm ausgelöst, das den Abzug der Automatikwaffe betätigt.“
„Also eine Fernsteuerung?“, vergewisserte sich der bullige Agent.
„Eben nicht. Es sieht eher so aus, als ob Künstliche Intelligenz darüber entscheidet, ob geschossen wird oder nicht. Die Laborratten werden schon wissen, was sich dahinter verbirgt.“
„Haben Sie schon Hinweise gefunden, wo dieser Gordon abgeblieben ist?“, wollte Borges wissen.
Der Kommandant schüttelte den Kopf.
Jablonski bedankte sich bei ihm, dann wandte er sich an Orlando.
„Ich möchte mit Borges unter vier Augen sprechen.“
Der Agent grinste schmierig.
„Mann, muss Liebe schön sein. - Okay, ich warte im Auto.“
Borges schickte ihm einen giftigen Blick hinterher.
„Was für ein Schmierlappen!“
„Ich weiß. - Es muss der Horror für dich gewesen sein, als Mario vor deinen Augen abgeknallt wurde.“
Sie nickte.
„Ich dachte, meine Gefühle wären verflogen. Aber es war damals gut zwischen ihm und mir. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst.“
„Fest steht, dass du Lucia Lezzi verhaften wolltest. Sonst wärst du nicht hier, oder? Mario sollte dich zu ihr führen?“
„Ja, und ich war so fest davon überzeugt, dass die Killerin sich in dem Stellwerk verkriechen würde. Mario schien es auch zu glauben. Sonst wäre er wohl nicht völlig arglos in den Tod gegangen.“
Borges kämpfte wieder mit den Tränen, wofür sie sich selbst verachtete. Zum Glück war Orlando außer Sichtweite.
„Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben“, versicherte Jablonski. „Wenn wir Gordon, Lucia und Kea erwischen, wird der Alte über deinen Alleingang hinwegsehen. Womöglich finden wir in dem Stellwerk Hinweise auf ihren aktuellen Aufenthaltsort. Ich wüsste jedenfalls zu gern, was Lucia Lezzi gerade treibt.“
Kea konnte jetzt ohne Trauer an Tom denken.
Sie sah ihren toten Freund inzwischen sehr zwiespältig. Dass er sich sein Geld mit Kindesentführungen verdiente, fand sie unverzeihlich. Allein schon aus diesem Grund konnte sie nicht mehr wirklich um ihn trauern.
Andererseits hatte er sie nach Amerika gebracht.
Und ohne die Ereignisse der letzten Tage wäre sie jetzt nicht hier in Antwerpen, an Lucias Seite.
Bei ihrer ersten Begegnung hätte Kea es niemals für möglich gehalten, dass sie der Killerin Sympathie entgegenbringen könnte.
Doch jetzt schien es denkbar, dass sie Freundinnen werden konnten.
Oder waren sie das schon längst?
Diese Überlegungen spukten durch Keas Kopf, während sie sich langsam dem Parkgelände näherte. Auf der anderen Seite der Schelde tobte im Schipperskwartier das Nachtleben. Doch in der Umgebung vom Park Noordkasteel herrschte eine Friedhofsruhe.
Gewiss, von den Kaianlagen her drang metallischer Lärm hinüber. Und das Tuten von Schiffssirenen erinnerte Kea an Laute von großen See-Lebewesen. Doch das Geräusch von Lastwagen-Druckluftbremsen, das Rattern von Güterzügen und andere Nachtarbeit-Klänge waren zu weit entfernt, um Keas Konzentration zu stören.
Sie versuchte, ihre Wahrnehmung auf die unmittelbare Umgebung zu richten. Ihr Plan basierte darauf, dass Lucia ihr Rückendeckung gab.
Kea hatte ihr Leben buchstäblich in die Hände der Killerin gelegt.
Konnte es einen größeren Freundschaftsbeweis geben?
Von Lucia war nichts zu sehen, und das war auch gut so. Wenn sie von Kea nicht bemerkt wurde, dann hoffentlich auch nicht von ihren gemeinsamen Feinden.
Kea durchquerte langsam das Parkgelände.
An anderen Orten im Antwerpener Stadtkern hatte sie tagsüber viele Obdachlose gesehen. Irgendwo mussten diese Menschen die Nächte verbringen. Doch anscheinend verirrte sich keiner von ihnen in den Park Noordkasteel. Oder die Armen tarnten sich perfekt, um nicht von der Polizei oder aggressiven Jugendlichen gestört zu werden.
In Keas Augen waren sie eine Art Soldaten des Elends. Ihr Überleben hing davon ab, nicht aufzufallen.
Das traf auch auf Lucia zu, zumindest in dieser Nacht.
Kea hoffte darauf, dass ihre Freundin nicht die Nerven verlieren würde. Lucia hing wirklich sehr an dem Kind. Deshalb musste man bei ihr mit einer Kurzschlussreaktion rechnen, die sowohl Keas als auch Adrians Leben gefährden konnte.
Sie atmete tief durch.
Es war jetzt etwas spät dafür, an Lucia zu zweifeln. Das hätte sie sich früher überlegen müssen. Und obwohl die Killerin Kea zunächst mit Tod und Folter bedroht hatte, vertraute Kea Lucia mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt.
In diesem Moment blieb ihr auch nichts anderes übrig.
Sie schaute auf die digitale Uhrzeitanzeige auf ihrem Handy-Display. Es waren noch vier Minuten bis Mitternacht.
Kea unterdrückte den Impuls, Lucia anzurufen. Das wäre ein tödlicher Fehler gewesen. Wenn ihre Freundin antwortete, musste sie zwangsläufig ihre Position preisgeben. Und weder Kea noch Lucia konnten einschätzen, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun bekommen würden.
Doch die Kidnapper ahnten nicht, dass sie zu zweit waren. Wenn die beiden Frauen diesen Vorteil verspielten, hatten sie verloren. Und sie würden die Niederlage mit ihrem Leben bezahlen müssen. Daran gab es für Kea keinen Zweifel.
Der Mond hing groß und blass und tief über der nahegelegenen Schelde.
Es roch nach feuchter Erde, denn vor kurzem war ein Regenschauer heruntergekommen. Doch nun hatten sich die Wolken verzogen, und blasser Mondschein fiel auf die weiten Rasenflächen der Grünanlage. Trotzdem war es außerhalb der Laternen-Lichtkegel ziemlich finster.
Es stimmte, was Lucia gesagt hatte.
Auf der hell beleuchteten Brücke würde Kea ein leichtes Ziel bieten.
Noch zwei Minuten.
Je näher Kea der Brücke kam, desto stärker bezweifelte sie, ob die Kindesentführer Wort halten würden. Und es gab nichts, was die beiden Frauen gegen einen Betrug unternehmen konnten.
Was hinderte die Verbrecher daran, mit dem Geld einfach unterzutauchen?
Gordon hatte ja schließlich schon bezahlt.
Und im Darknet spielte es vermutlich keine Rolle, ob man seinen Ruf ruinierte.
Schließlich konnte man unter einem anderen Tarnnamen einfach weitermachen.
Kea betrat die Holzplanken der Brücke. Ihre Schritte kamen ihr selbst unnatürlich laut vor. Das lag natürlich daran, dass der Schall durch das Wasser unterhalb der Brückenkonstruktion zurückgeworfen wurde.
Sie blieb mitten auf der Brücke stehen. Kea umklammerte das Geländer so fest mit ihren Händen, dass die Haut über den Knöcheln weiß wurde.
Kea war enttäuscht, wütend und frustriert.
Sie hätte jetzt gerne jemanden erschossen. Eine geladene Pistole hatte sie immerhin in der Tasche. Allerdings war kein Mensch in Reichweite.
Kea hatte noch nie zuvor auf jemanden gefeuert. Doch sie war sicher, diese Fähigkeit erlernen zu können. Lucia würde es ihr gewiss beibringen.
Ein Knarren ließ sie zusammenzucken.
Es war genau Mitternacht.
Von der östlichen Seite der Brücke näherte sich ihr langsam eine Gestalt. Da Kea ihre Position nicht veränderte und ihren Kopf in Richtung der Person drehte, konnte sie ihr Gegenüber genau betrachten.
Es war eine Frau Anfang zwanzig - strähnige blonde Haare, dunkle Ringe unter den Augen, unsteter Blick. Sie versank förmlich in einem Army-Parka, der ihr viel zu groß war. Darunter hatte die Fremde einen Minirock, Strumpfhosen mit Laufmaschen und Kampfstiefel an.
Doch all diese Detail waren für Kea unwichtig. Sie interessierte sich nur für das Tragegestell, in dem die andere Frau ein Baby vor der Brust trug!
Keas Herz begann zu rasen.
Sie war ohnehin schon unruhig gewesen. Ob die Kidnapper am Ende gar nicht so üble Typen waren? Immerhin hielten sie ihre Zusage ein. Adrian wurde pünktlich um Mitternacht übergeben.
Vorausgesetzt, dass dieses Kind wirklich Adrian war.
Kea hatte ihn ja noch niemals gesehen. Viel war von dem Säugling nicht zu erkennen, nur eine Mütze und ein Jäckchen. Vermutlich schlief er, jedenfalls gab er keinen Laut von sich.
Kea ermahnte sich selbst, nicht zu vertrauensselig zu sein. Deshalb umklammerte sie den Griff ihrer Pistole, die sie in der Tasche hatte. Dann ging sie der anderen Frau entgegen.
„Ist das Adrian?“, fragte Kea auf Englisch. Im nächsten Moment kam sie sich dämlich vor. Welches Baby sollte es denn sonst sein? Die Unbekannte war ganz gewiss keine junge Mutter, die ein zufälliger Mitternachtsspaziergang hierher geführt hatte!
Kea bekam keine Antwort.
Im Näherkommen fiel ihr auf, dass die Stirn der Anderen mit unzähligen kleinen Schweißperlen bedeckt war. Ihre Augenlider flatterten, die Unterlippe des halb geöffneten Mundes zitterte.
Ob sie Kea überhaupt verstanden hatte?
Vom Aussehen her konnte sie sowohl aus Mittel- als auch aus Nord- oder Osteuropa kommen.
Fürchtete sie sich vor Kea?
Oder stand sie unter Drogeneinfluss?
Das wäre auf jeden Fall ein Grund, um ihr das Baby möglichst schnell abzunehmen.
Kea löste ihre Hand von der Waffe und streckte der Fremden ihre ausgebreiteten Arme entgegen. Eine Geste, die man auf der ganzen Welt nicht missverstehen konnte.
Die Unbekannte warf ihr einen seltsamen Blick zu. War sie in Trance? Oder würde sie im nächsten Moment kollabieren?
Jetzt nahm sie das Tragegeschirr ab und überreichte es Kea mitsamt dem Baby. Als ihre Hände sich einen Augenblick lang berührten, merkte Kea, dass die Finger der Anderen eiskalt waren.
Kea schaute Adrian an. Er war ein süßes Kind, das tief und fest schlief. Seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Sie wurde plötzlich von Muttergefühlen überwältigt und befestigte das Tragegeschirr an ihrem eigenen Körper.
Dann warf Kea noch einen Blick auf die andere Frau.
Und nun begriff sie, weshalb die Fremde so durch den Wind zu sein schien.
Sie hatte Todesangst.
Unter dem offenstehenden Parka war ein Sprengstoffgürtel an ihrem Oberkörper befestigt!
Lucia war unsichtbar.
Sie hatte sich so gut wie möglich auf die nächtliche Mission vorbereitet. Unter ihrem schwarzen Neoprenanzug trug sie Thermounterwäsche. Sie konnte stundenlang auf dem kalten feuchten Boden liegen ohne zu frieren.
Von ihrem Gesicht war nur noch die Augenpartie zu erkennen, weil sie sich eine schwarze Motorradmaske übergezogen hatte. Ihre Hände steckten in dünnen dunklen Lederhandschuhen.
Schon kurz nach zweiundzwanzig Uhr hatte die Killerin das Parkgelände betreten. Natürlich war sie nicht über einen der beleuchteten Wege dorthin spaziert, sondern hatte den Zaun überwunden und war danach allen Lichtquellen aus dem Weg gegangen.
Nach längerem Überlegen wählte sie eine Position in einem Gehölz. Von ihrem Platz aus konnte sie die Brücke im Blickfeld behalten, aber auch das Unterholz in der Umgebung kontrollieren.
Leider hatte die Zeit nicht mehr ausgereicht, um ein Nachtsichtgerät zu beschaffen. Das war allerdings für Lucia nicht so schlimm. Viel wichtiger fand sie die beiden Wurfmesser, die sie sich in einem obskuren Laden für Souvenirs aus aller Welt beschafft hatte. Der Inhaber bezog seine Ware offenbar von Seeleuten, die ihm asiatischen Tand, Schrumpfköpfe aus Papua-Neuguinea und Eisenwaren aus Toledo mitbrachten.
Mit den beiden Messern und ihrer Pistole fühlte Lucia sich gut bewaffnet.
Ihrer Meinung nach lauerte die Gefahr nicht auf der Brücke selbst, sondern überall in Schussweite.
Falls ein Heckenschütze ein Scharfschützengewehr mit Zielfernrohr hatte, konnte er natürlich Keas Lebenslicht aus größerer Entfernung ausblasen.
Doch um einen so präzisen Treffer bei Nacht auf eine weite Distanz landen zu können, musste es sich schon um einen erstklassigen Sniper handeln. Und solche Leute hatten andere Möglichkeiten. Sie mussten nicht für eine Kidnapper-Gang die Drecksarbeit machen.
Nein, Lucia ging von einem Angriff auf relativ kurze Distanz aus.
Sie stellte sich vor, dass die Bastarde Kea niederschießen wollten, sobald sie die Brücke betrat. Dann war sie nämlich scheinbar wehrlos und auf dem bestens ausgeleuchteten Holzsteg gut zu treffen.
Diese Suppe wollte Lucia ihren Feinden gründlich versalzen.
Ohne Nachtsichtgerät musste sie sich hauptsächlich auf ihre anderen Sinne verlassen. Vor allem auf das Gehör.
Lucias Geduld wurde nicht lange auf die Probe gestellt. Dreißig Minuten, nachdem sie ihre Position eingenommen hatte, tat sich etwas.
Es raschelte, jemand trat auf einen trockenen Ast. Worte wurden geflüstert. Sie grinste wölfisch. Wenn ihr Widersacher nicht gerade mit sich selbst redete, dann hatte sie es mit mindestens zwei Gegnern zu tun. Das machte ihr nichts aus.
Die Kerle konnten ja nicht ahnen, dass eine menschliche Killermaschine in der Finsternis lauerte.
Lucia orientierte sich.
Der eine Mann ging links von ihr in Stellung. Wenn sie die Entfernung richtig einschätzte, hockte er nur einen Steinwurf weit entfernt unter einem Busch.
Und der andere?
Er war Richtung Norden verschwunden. Allzu weit weg konnte er nicht sein, wenn er einen Hinterhalt an der Brücke legen wollte.
Eins nach dem anderen, sagte sich Lucia. Sie nahm ein Messer zwischen die Zähne und glitt lautlos über das feuchte Gras auf ihren ersten Feind zu.
Als sie das Unterholz erreicht hatte, wurde die Annäherung schwieriger. Um den Kerl zu überrumpeln, musste sie völlig geräuschlos an ihn herankommen.
Der Duft eines teuren After Shaves hing in der Luft.
Sie grinste verächtlich. Amateur! dachte Lucia. Sie selbst hatte sich im Hotel Diana sorgfältig geduscht und mit Kernseife gewaschen, um garantiert keinen Geruch zu verströmen, noch nicht einmal nach Duschgel.
„Guy?“, raunte eine männliche Stimme, leise und fragend.
Lucia presste ihre Lippen aufeinander. So leise, wie sie geglaubt hatte, war sie nicht gewesen. Das ließ sich nun nicht mehr ändern.
Sie ging sofort zum Angriff über, indem sie vorwärts schnellte.
Die Killerin hatte sich nicht getäuscht. Der Mann lag weniger als eine Armeslänge von ihr entfernt auf dem Boden. Sie hielt das Messer nun stoßbereit in der Rechten, während sie ihre behandschuhte Linke auf seinen Mund presste. Er wirbelte herum, sog Luft durch die Nase ein.
Sie rammte die Stichwaffe bis zum Anschlag in seinen Oberkörper. Der Mann zuckte wild, hätte sich beinahe losreißen können. Lucia stach noch einmal zu. Er kämpfte jetzt um sein Leben, versuchte sie zu beißen, um Hilfe zu rufen, an seine eigene Waffe zu gelangen.
Ihr nächster Angriff galt seiner Kehle. Wieder leistete das scharf geschliffene Messer gute Dienste. Sein Widerstand erlahmte allmählich.
Das Töten mit einer Stichwaffe war ein blutiger Kraftakt, nicht vergleichbar mit einem Schuss auf größere Distanz. Lucia schwitzte und rang nach Atem, als sie immer wieder zustieß.
Schließlich rührte sich der Mann nicht mehr.
Ihre Hand schmerzte, weil sie ihre Finger so fest um den Messergriff geklammert hatte. Es kam ihr vor, als ob sie aus einem Rausch erwacht wäre.
Dieses Gefühl war ihr nur allzu vertraut.
Sie hatte schließlich schon oft genug getötet.
Lucia legte sich neben den Toten auf den Rücken und wartete, bis sich ihr Pulsschlag wieder halbwegs normalisiert hatte.
War sie zu laut gewesen?
Hatte sie den anderen Feind unabsichtlich gewarnt?
Das hielt sie für unwahrscheinlich, aber möglich. Sie musste den zweiten Kidnapper ebenfalls ausschalten, bevor er Verdacht schöpfte.
Während Lucia sich in die Richtung ihres nächsten Widersachers bewegte, warf sie einen Blick auf die Uhr.
Nur noch wenige Minuten bis Mitternacht.
Ihr lief die Zeit davon. Kea war zuverlässig, sie würde pünktlich auf der Brücke sein. Wenn Lucia den Heckenschützen stoppen wollte, musste sie sich beeilen. Sie hetzte über den Rasen, wobei sie auf den Fußballen lief, um möglichst wenig Geräusche zu verursachen.
Das blutige Messer hielt sie immer noch in der Hand.
Doch plötzlich bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Hinterkopf.
Lucia ging zu Boden. Sie hatte ihren Feind unterschätzt. Womöglich war der erste Mord doch nicht so leise über die Bühne gegangen.
Ihre Finger erschlafften, sie verlor ihre Waffe.
Der Mann verpasste ihr einen Faustschlag ins Gesicht. Lucia biss sich auf die Zunge, schmeckte ihr eigenes Blut.
Nicht ohnmächtig werden! beschwor sie sich selbst.
Doch ihr Gegner schien sie für bewusstlos zu halten. Er wandte sich von ihr ab und hob den Arm. Im fahlen Licht des Mondes sah Lucia, dass sich nun zwei Personen auf der Brücke aufhielten. Eine von ihnen übergab der anderen eine Art Bündel.
Adrian!
Lucias Herz krampfte sich zusammen. Sie glaubte, dass der Kerl auf ihre Freundin schießen wollte. Das war ein Irrtum, wie sie nun erkannte. Er hatte keine Waffe in der Hand, sondern den Fernzünder einer Bombe.
Zum Glück hatte der Kidnapper sie nicht durchsucht. Blitzschnell zog Lucia ihre Pistole hervor.
Sie erschoss den Hurensohn, bevor er die Sprengladung hochjagen konnte.
Adrian begann zu weinen.
Das Baby hatte sich gewiss genauso erschrocken wie Kea, als ein lauter Knall die nächtliche Stille im Park zerriss.
Die blonde Frau mit dem Sprengstoffgürtel begann hysterisch zu schreien und um sich zu schlagen.
Kea musste verhindern, dass sie den Säugling traf. Also zog sie ihre Pistole und schlug die Fremde mit dem Griff nieder. Zu spät fiel ihr ein, dass sie dadurch womöglich den Bombengürtel zur Explosion hätte bringen können. Doch das geschah nicht.
Kea eilte von der Brücke herunter. Das Baby befand sich weiterhin in gewaltigem Aufruhr.
Lucia kam ihr entgegen. Kea erschrak, als sie ihre Freundin erblickte. Sie war über und über mit Blut beschmiert. Ihr Entsetzen spiegelte sich offenbar auf ihrem Gesicht wider.
„Das Blut stammt von einem Kidnapper“, erklärte Lucia. Dann wurde ihre Stimme ganz weich. „Na, mein Schatz? Hast du deine Lucia vermisst?“
Sie strich mit ihrer blutbefleckten Hand vorsichtig über das Köpfchen des Babys. Lucia strahlte.
„Da kommen noch mehr“, sagte Kea, während sie ihre Pistole hob. Im fahlen Mondlicht waren die schemenhaften Konturen von zwei dunklen Gestalten zu erkennen, die sich schnell auf die Frauen und das Baby zu bewegten.
Mündungsfeuer blitzte auf.
Lucia schoss zurück, und Kea folgte ihrem Beispiel. Sie hielt ihre Waffe einfach in die Richtung und drückte ab. Der Rückstoß ließ sie taumeln, aber beim zweiten Schuss war sie besser vorbereitet. Sie stand breitbeinig, als ob sie sich im Boden verwurzeln wollte.
„Wir müssen verschwinden, sonst fängt sich der Kleine noch einen Kugel ein!“, rief Lucia. Das Kind plärrte jetzt unaufhörlich, denn der Lärm des Feuergefechts ängstigte es wahrscheinlich ganz furchtbar.
Kea konnte nicht sagen, ob sie schon jemanden getroffen hatte. Die beiden Unbekannten befanden sich immer noch auf der Rasenfläche, wie das neuerliche Aufblitzen von zwei Mündungsfeuern bewies.
Nun ließ Lucia wieder ihre Waffe sprechen.
Ein schauerlicher Schmerzensschrei erklang. Jemand rief etwas auf Holländisch, die Stimme klang besorgt.
„Okay, ich habe den einen Mistkerl ins Jenseits befördert, schätze ich“, meinte die Killerin. „Sein Kumpel wird ihm jetzt vermutlich das Händchen halten. Vielleicht ist er auch einfach zu feige, um es noch allein mit uns aufzunehmen. Wir sollten dieses idyllische Plätzchen hinter uns lassen.“
Die Frauen liefen auf den Parkausgang zu, wobei Lucia das Baby fest an sich drückte und sogar ein wenig summte. Kea drehte sich immer wieder um. Einen Verfolger konnte sie nicht erkennen, aber das musste nichts bedeuten. Solange der Mann sich nicht durch einen Schuss selbst verriet, blieb er in der Dunkelheit außerhalb des Laternenlichts so gut wie unsichtbar.
Lucia hatte den Mietwagen am Oosterweelsteenweg geparkt, einer breiten Gewerbestraße.
„Du fährst“, sagte sie zu Kea. „Ich muss mich um Adrian kümmern.“
Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schnallte sich sorgfältig an. Das Baby beruhigte sich allmählich. Ob das an Lucias Gegenwart lag? Oder war es nach den Aufregungen der letzten Minuten einfach nur müde?
Kea ließ den Motor an und tippte die Hoteladresse ins Navi ein.
„Adrian sieht gut aus“, murmelte Lucia und strich wieder über das Köpfchen des Babys. „Natürlich, die Dreckskerle wollten ihn für ihre dunklen Geschäfte in vorzeigbarem Zustand halten.“
Kea berichtete von dem Sprengstoffgürtel, den die Blonde umgeschnallt hatte.
Lucia zog die Augenbrauen zusammen.
„Wieso tun di„Also wollte der Bastard dich, die andere Frau und das Baby mit seinem Fernzünder in die Luft jagen. Was für ein kranker Mist!“
ese Leute das? Gordon hat doch für Adrian bezahlt, oder?“
„Ja, natürlich. Du darfst mich nicht fragen, wie man auf so etwas kommt, Kea. Vielleicht verschafft so eine Hinterhältigkeit den Typen einen Extrakick. Ich habe keine Ahnung. - Warum drückst du plötzlich so auf die Tube?“
„Weil ich glaube, dass wir verfolgt werden“, erwiderte Kea und warf einen Blick in den Rückspiegel.
Der BMW hinter ihnen beschleunigte ebenfalls.
Kea gab noch mehr Gas und bog in die Noorderlaan ab, eine breit ausgebaute Straße. Hier waren trotz der nächtlichen Stunde einige Trucks unterwegs. Der Porsche Cayenne kam leicht ins Schleudern, doch sie bekam wieder die Gewalt über den Wagen.
„Spinnst du?“, rief Lucia. „Wir haben ein Baby an Bord!“
„Das weiß ich. Aber wir wollen diese Typen doch endgültig loswerden, oder?“
Kea wartete keine Antwort ab, sondern drückte das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Sie rasten nun über die Scheldelaan. Ein LKW-Fahrer hupte empört, als Kea ihn schnitt und er in die Eisen steigen musste.
Der BMW war immer noch hinter ihnen.
„Die Bastarde sind hartnäckig“, knurrte Lucia, die immer wieder einen Blick über die Schulter nach hinten warf. „Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um sie loszuwerden.“
„Hast du eine Idee?“
„Vielleicht. Kannst du hinter der nächsten Kurve die Karre zum Stehen bringen?“
„Ja, sicher. Aber wozu soll das gut sein?“
„Das wirst du dann schon sehen.“
Kea erwiderte nichts. Sie verließ sich nun einfach darauf, dass Lucia den Durchblick hatte. Ihre Freundin war zweifellos schon öfter in vergleichbaren Situationen gewesen.
Kea hingegen hatte sich vor Schwierigkeiten und Problemen stets weggeduckt.
Zumindest in ihrem schon fast vergessenen früheren Leben.
Links und rechts der Scheldelaan befanden sich Hafenbassins, die von Hafenkränen gesäumt wurden.
Nun erblickte Kea eine scharfe Rechtskurve. Sie bremste etwas ab, damit der Wagen nicht ausbrach. Zum Glück gab es keinen Gegenverkehr, denn sie geriet auf die entgegengesetzte Fahrbahn. Ihr Herz raste, die Bluse klebte an ihrem verschwitzten Rücken. Sie bremste ab, und wenig später hielt der Porsche Cayenne neben der Bordsteinkante.
Lucia stieg aus, immer noch mit dem Baby vor der Brust.
Die Killerin nahm ihre Pistole in den Beidhandanschlag, als der BMW auf die Kurve zu raste.
Lucia schoss.
Die Kugel zerfetzte den linken Vorderreifen. Offenbar versuchte der Fahrer noch gegenzulenken. Doch es war sinnlos. Der BMW schoss quer über den Bürgersteig, durchbrach einen Maschendrahtzaun und landete mit einem lauten Platschen im dunklen Wasser der Schelde.
„Problem gelöst“, stellte Lucia trocken fest. Dann war sie damit beschäftigt, den inzwischen wieder aufgewachten und weinenden Adrian zu beruhigen.
In der Ferne war das Geheul von Streifenwagensirenen zu hören. Kea konnte nicht einschätzen, ob die Schüsse im Park oder die wilde Verfolgungsjagd die Ordnungsmacht auf den Plan gerufen hatten. Oder beides.
Die Frauen setzten ihre Fahrt fort, wobei Kea nun hauptsächlich Seitenstraßen benutzte und sich penibel an die Verkehrsregeln hielt.
Sie erreichten das Hotel, ohne auch nur einem Streifenwagen begegnet zu sein.
Lucia hatte bereits am frühen Abend Windeln und andere Babysachen gekauft, was Kea für ziemlich optimistisch gehalten hatte.
Doch der Erfolg gab Lucia recht.
Kea ließ sich aufs Bett fallen. Allmählich verschwand die Anspannung der vergangenen Stunden und wich einer bleiernen Müdigkeit.
„Wie geht es jetzt weiter, Lucia?“
„Ich werde Gordon anrufen.“
Auf der anderen Seite des Atlantiks ertönte das Freizeichen. Die Zeitverschiebung zwischen Belgien und New York City betrug sechs Stunden. Aber das spielte sowieso keine Rolle, denn Gordon hatte sowieso keinen normalen Tag/Nacht-Rhythmus.
Endlich meldete er sich. Lucias Herz schlug schneller, als sie seine raue Stimme hörte.
„Hallo?“
„Ich bin es!“, platzte sie heraus. „Wir haben es geschafft - Adrian ist gesund und munter, Kea wechselt gerade seine Windel!“
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Lucia wurde es mulmig zumute.
„Das ist ja eine super Nachricht“, sagte Gordon schließlich. Doch er klang nicht begeistert, eher wie ein Trauerredner auf einer Beerdigung.
„Was ist passiert?“, fragte Lucia inquisitorisch. Ihre Stimme hörte sich nun kalt und hart an, das war ihr selbst klar.
Gordon atmete tief und rasselnd, bevor er antwortete.
„Dein Bruder ... Mario ist tot.“
Lucias Kreislauf spielte verrückt. Ihr brach der kalte Schweiß aus. Kea warf ihr einen besorgten Blick zu. Sie fühlte, wie die Tränen über ihre Wangen flossen, der Schmerz schnürte ihre Kehle zu. Bevor ihr Atem stockte, stieg ein lautes schluchzendes Geräusch aus ihrer Kehle auf.
Lucia konnte plötzlich nicht mehr stehen. Sie plumpste auf das Bett. Ihre Lungen fühlten sich bleiern schwer an. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es dauerte eine Weile, bis ihr Mund wieder verständliche Worte formen konnte.
„Die Cops - haben sie ihn umgelegt?“
Wieder sagte ihr Freund nichts. Und das war schlimmer für sie als jede Antwort.
„Gordon, sag mir die Wahrheit! Du kennst mich, ich kriege sowieso heraus, was geschehen ist. Waren es also nicht die Bullen? Hat Old Barns wieder ein Killerkommando losgeschickt?“
Seine Worte klangen seltsam hohl. So, als ob er sie nur äußerst widerwillig benutzte.
„Nein, Lucia. Du kennst doch meine Selbstschussanlage. Die Konstruktion war völlig genial, sie hätte niemals bei Mario auslösen dürfen.“
„Du hast - deine verfluchte Eingangssicherung hat meinen Bruder niedergemäht?“
„Hör mir bitte zu, bevor du mich verurteilst. Das war alles nicht so geplant. Die Kamera am Eingang wird per Künstlicher Intelligenz gesteuert. Die Waffe wird nur dann ausgelöst, wenn im Blickfeld eine Polizeiuniform auftaucht. Und Mario ... er hat aus irgendwelchen Gründen eine Security-Montur getragen, woraufhin das System ihn für einen Cop gehalten hat ...“
„So, das System hat ihn für einen Cop gehalten!“, höhnte Lucia unter Tränen. „Dann ist ja alles in bester Ordnung! Dann trifft ja niemanden die Schuld - wahrscheinlich ist sein Tod einfach nur ein Betriebsunfall!“
„Ich kann verstehen, dass du sauer bist. Ich bin selbst aus allen Wolken gefallen, als ich einen stillen Alarm auf mein Smartphone bekam. Meine Bude ist mit jeder Menge Spionage-Software ausgestattet, falls wirklich mal jemand dort eindringt. So konnte ich aus sicherer Entfernung die Gespräche der Cops belauschen und mir zusammenreimen, was geschehen sein muss. Ich bin immer noch frei, aber mein Versteck kann ich jetzt natürlich vergessen.“
Lucia stand unter Schock. Trotzdem formulierte sie ihre nächsten Sätze glasklar.
„Du hast meinen Bruder auf dem Gewissen, das werde ich dir nie verzeihen. Ich will dich nie wiedersehen. Und wenn du mir noch einmal unter die Augen kommst, dann werde ich dich töten.“
Mit diesen Worten beendete sie das Telefonat und schaltete ihr Handy aus.
Kea kam zu ihr herüber und nahm sie in die Arme.
„Mario ist tot“, schluchzte Lucia. „Was soll jetzt nur werden?“
„Adrian lebt. Und wir auch.“
Lucia wischte sich mit den Handflächen über ihr feuchtes Gesicht. Sie schaute Kea an.
„Ja, wir leben. Aber in die Staaten können wir nicht zurück. Old Barns will Blut sehen, das hat er oft genug bewiesen. Und sein Enkel ... ich gebe das Kind nicht wieder her, Kea! Es ist mir egal, dass es nicht mein eigenes ist. Ich lasse nicht zu, dass Adrian zu seiner blöden Mutter, seinem Schwächlingsvater und seinem Psycho-Opa zurück muss.“
„Dann behalten wir ihn eben. Die Leute werden uns für ein Lesben-Paar halten, aber das ist mir egal.“
Lucia schaute sie irritiert an.
„Soll das bedeuten, dass du bei mir bleiben willst?“
Kea zuckte mit den Schultern.
„Ich wüsste nicht, wohin ich sonst gehen sollte. In mein altes Leben in Germany kann ich nicht zurück. Und ich will es auch nicht.“
Lucia nickte langsam und nahm Keas Hand.
„Die Welt ist groß, oder? Wir werden irgendeinen Winkel finden, wo wir Adrian in Ruhe großziehen können.“
ENDE
Ann Brockwell wurde verfolgt.
Die junge Frau verbarg sich zitternd hinter einem Bootskran auf dem Promenadendeck der MS Kyrene. Es war wie verhext. Viele Menschen liebten Kreuzfahrten, weil sie sich an Bord eines Luxusliners absolut sicher und geborgen fühlten. Ann hatte auch einmal so gedacht. Aber das war, bevor sie in diese dunkle Geschichte hineingezogen wurde.
Der Angstschweiß stand Ann auf der Stirn, obwohl es nachts auf offener See im Vorfrühling alles andere als heiß war. Aber sie spürte, dass ihr finsterer Verfolger sich ihr näherte. Der Wind heulte um den stählernen Leib des Schiffs, ließ die englische Fahne am Flaggenstock des Hecks laut knattern. Ann lauschte. Ihr Handy hatte sie verloren, damit konnte sie sich nicht bemerkbar machen.
Sie dachte daran, einfach um Hilfe zu rufen.
Ann füllte bereits ihre Lungen mit Luft, um einen gellenden Schrei auszustoßen. Doch im letzten Moment stoppte sie sich selbst. Ann versteckte sich momentan im hinteren Bereich des majestätischen Kreuzfahrtschiffs. Hier befanden sich neben dem Maschinenraum unter Deck zahlreiche Lagerräume und Tanks. Ob der Rudergänger auf der Kommandobrücke sie hören würde, war fraglich. Und die Passagiere in ihren Kabinen? Die MS Kyrene war sehr gut schallisoliert, damit weder Maschinenlärm noch andere störende Geräusche den gut zahlenden Kreuzfahrtreisenden ihren Urlaub verdarben. Das wusste Ann, sie war schließlich Animateurin auf diesem Schiff.
Ann atmete langsam wieder aus, ohne sich lautstark bemerkbar gemacht zu haben. Das war die bessere Entscheidung, hoffte sie. Noch hatte die dunkle Gestalt sie nämlich nicht entdeckt. Aber wenn sie schrie, wurde der Unheimliche garantiert auf sie aufmerksam. Doch ewig konnte Ann nicht in dieser finsteren Ecke beim Bootskran kauern. Es war kein wirklich gutes Versteck. Wenn ihr Verfolger näher kam, musste er sie zwangsläufig bemerken. Und sie fürchtete sich sehr vor dem, was dann geschehen würde. Sie wusste einfach zu viel. Und das konnte sehr gefährlich werden.
Ihre Gedanken waren ein einziges Durcheinander. Sie versuchte, sich halbwegs zu beruhigen und nach einem Ausweg zu suchen. Was für Möglichkeiten hatte sie? Wenn Ann in Panik von Bord sprang, würde das ihren sicheren Tod bedeuten. Die MS Kyrene war viele Seemeilen von der schottischen und der norwegischen Küste entfernt. Falls Ann nicht ertrank, würde sie in dem kalten Atlantikwasser im Handumdrehen vor Kälte erstarren. Das kam nicht in Frage.
Sie musste es irgendwie schaffen, die Kommandobrücke zu erreichen. Diese befand sich in der Mitte des Schiffes. Nachts war sie stets mit dem Rudergänger, einem Funker und dem diensthabenden Offizier besetzt, wie Ann wusste. Diese Männer konnten Ann vor ihrem unheimlichen Verfolger schützen.
Aber wenn ihr Widersacher nicht dumm war, musste ihm das ebenfalls klar sein. Momentan war er nirgendwo zu sehen. Anns Blick glitt über die schwarzen Rümpfe der Rettungsboote, die an den Bootskränen befestigt waren und durch die Schiffsbewegungen sanft hin und her schwangen. Für einen Moment dachte sie daran, unter eine der Abdeckungen zu kriechen und die Nacht in einem der Boote zu verbringen. Aber das war keine gute Idee, wie sie im nächsten Augenblick erkannte. Wenn ihr Verfolger sie unter der grauen Plane entdeckte, hatte sie keine Ausweichmöglichkeit mehr. Dann saß sie endgültig in der Falle.
Nein, Ann musste zu den Wache stehenden Seeleuten gelangen. Sie konnte deutlich den Lichtschein sehen, der aus der hell beleuchteten Kommandobrücke fiel. Doch momentan erschien dieses Ziel ihr fast so unerreichbar wie der Mond, der tief und bleich und schwer über der schwarzen Unendlichkeit der Wellen hing.
Ann kam aus ihrer kauernden Position hoch. Ihre Knie waren weich wie Pudding. Sie hatte gesehen, wozu die dunkle Gestalt fähig war. Und Ann konnte nicht auf Gnade hoffen. Warum hätte er sie verschonen sollen? Weil sie eine Frau war? Ann presste die Lippen aufeinander. Sie durfte sich nicht von ihrer eigenen Panik lähmen lassen. Noch war ihr nichts geschehen, ihr war noch nicht ein einziges Haar gekrümmt worden.
Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, was für ein großes Schiff die MS Kyrene war. 920 Passagierkabinen, vier Bistros, zwei Discos und drei Restaurants befanden sich auf dem 260 Meter langen und 31 Meter breiten hochmodernen Wasserfahrzeug. Wieso sollte sie in dem Gewirr von Gängen und Kabinenfluren keine Chance haben, ihrem Widersacher aus dem Weg zu gehen? Es gab nicht nur eine Möglichkeit, zur Kommandobrücke zu gelangen, sondern mehrere. Sie durfte nur nicht den Fehler machen, ihrem unheimlichen Gegner direkt in die Arme zu laufen.
Ann hastete leise zu einer stählernen Luke hinüber und öffnete sie. Ann schlüpfte hinein und verschloss den Zugang leise wieder hinter sich. Es roch schwach nach Dieselöl. Der saubere aber schmucklose Gang vor ihr führte zu den Vorratsbunkern, wie Ann wusste. Als Animateurin kannte sie nicht nur die luxuriöse Welt der Passagierkabinen und Wellnessoasen an Bord, sondern auch die öden Betriebsräume, in denen diese perfekte Urlaubsmaschinerie namens Kreuzfahrtschiff in Gang gehalten wurde.
Sie schlich weiter Richtung Bug. Wie lange sie wohl brauchen würde, um zur Kommandobrücke zu gelangen? Wenn Ann weiter so langsam war, konnten locker zehn Minuten vergehen.
Da ertönte ein schabendes Geräusch hinter ihr.
Mit Anns Selbstbeherrschung war es im Handumdrehen vorbei. Sie stieß einen gequälten Aufschrei aus. Ihr Verfolger hatte sie entdeckt. Ann rannte los. Geschwindigkeit war ihre einzige Chance, um dem Unheimlichen zu entkommen. Ann hatte Angst davor, hinter sich zu schauen. Jetzt kam es nur noch darauf an, so viel Vorsprung wie möglich zu gewinnen.
Im Laufen begriff sie, dass sie ihren Gegner unterschätzt hatte. Er hatte mit ihr gespielt wie ein Kater mit einer Maus – bevor er das Beutetier erlegte. Wahrscheinlich hatte der Unheimliche die ganze Zeit gewusst, wo sie sich vergeblich vor seinen Blicken verborgen hatte.
Ann fragte sich, warum ihr kein einziges Besatzungsmitglied entgegen kam. Die Antwort lag eigentlich auf der Hand. Es war Nacht, da hatten die Bordrestaurants geschlossen, und auch die Bistros und Discos hatten das Partyvolk längst verabschiedet und auf den nächsten Abend vertröstet. Daher verirrten sich selbst die Küchenhilfen nicht in diesen Gang mit den Vorratsbunkern.
Ann erreichte eine Treppe. Keuchend raste sie die schmalen stählernen Stufen hinauf. Da wurde ihr linkes Fußgelenk hart gepackt. Ann stürzte, trat mit dem rechten Fuß wild um sich. Aber es war sinnlos. Der Verfolger war ihr überlegen. Und er wusste, wie er sie zum Schweigen bringen konnte.
Jade Walker stand vor der Gangway und blickte an der schneeweißen Bordwand der MS Kyrene hoch.
Es kam ihr immer noch seltsam unwirklich vor, dass sie jetzt hier im Hafen von Oslo war und an Bord des Kreuzfahrtschiffes gehen sollte. Noch am Morgen hatte sie im heimatlichen London vor ihrem Tee gegähnt und ernsthaft überlegt, einen mies bezahlten Kellnerinnen-Job anzunehmen. Doch dann war der Anruf gekommen, und nun befand sie sich plötzlich in der norwegischen Hauptstadt. Ein Taxi hatte sie vom Airport zum Hafen gebracht.
Jade blickte auf ihre Uhr. Wenn sie nicht zu spät kommen wollte, musste sie jetzt an Bord gehen. Sie hatte schließlich einen Termin mit dem Kapitän. Aber irgendwie fühlte sie eine innere Scheu vor diesem Schiff. Dabei war Jade eigentlich nicht gerade schüchtern. Sonst wäre sie wohl in ihrem Tourismus-Studium und ihren Jobs als Animateurin eine totale Fehlbesetzung gewesen. Doch die MS Kyrene strahlte eine unbestimmte Bedrohung aus, wie Jade fand. Oder lag diese Stimmung nur an den düsteren Wolken, die sich über den Bergen am Oslo-Fjord ballten?
Jade ärgerte sich über sich selbst. Anstatt sich über diese Riesenchance ein Loch in den Bauch zu freuen, zögerte und zauderte sie wie eine Nichtschwimmerin, die vom Zehn-Meter-Brett springen soll. Sie biss die Zähne zusammen und nahm ihre Reisetasche. Dann stapfte sie entschlossen die Gangway hinauf.
Ein Matrose in blauer Uniform sowie ein Steward in weißer gebügelter Jacke erwarteten sie.
„Guten Tag, Miss.“
Der junge schlanke Seemann schaute sie freundlich an.
„Hallo. -- Ich bin keine Passagierin“, sagte Jade, bevor sie nach einem Ticket oder einer Buchung gefragt werden konnte. „Mein Name ist Jade Walker, ich soll hier als Animateurin anheuern. Kapitän Granger erwartet mich.“
Der Matrose nickte nur und hakte auf einer Clipboard-Liste etwas ab. Doch der Steward starrte in ihr Gesicht, als ob er einen Geist gesehen hätte. Unwillkürlich fragte Jade sich, ob mit ihrem Make-up etwas nicht stimmte. Oder war der Typ von ihrer Schönheit so geblendet? Das konnte eigentlich nicht sein. Jade fand sich selbst zwar nicht gerade hässlich, aber sie gehörte eher zu den sportlich-natürlichen Frauen. Bisher hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Männer meistens stark geschminkten Tussis hinterher glotzten. Aber vielleicht stand dieser Steward ja gerade auf Frauen, die nicht in den Farbtopf gefallen zu sein schienen. Andererseits – er schaute sie nicht wie jemand an, der einen Aufriss plant. Jedenfalls war Jade irritiert, und sie ging in die Offensive.
„Kennen wir uns?“
Jade sprach den Steward direkt an und schaute ihm in die Augen. Seine Ohren wurden sofort rot wie ein Londoner Linienbus.
„Nein, äh, ich bin Henry. Henry Glover. Ich arbeite hier an Bord als Kabinensteward. Und ich bringe dich gern zum Kapitän.“
„Das ist wirklich besser“, gab der Matrose seinen Senf dazu. „Allein findet Miss Walker bestimmt nicht zum Captains Office.“
Jade runzelte die Stirn. Hielt dieser Seemann sie für blöd? Aber sie wollte nicht auf der Sache herumreiten, sonst kam sie wirklich noch zu spät. Jade folgte dem Steward. Doch nachdem sie durch einige Salons geeilt waren und etliche Kabinengänge hinter sich gelassen hatten, musste Jade dem Matrosen recht geben. Die MS Kyrene glich wirklich einem luxuriösen Labyrinth. Auf diesem Dampfer konnte man sich hoffnungslos verlaufen. So viel stand fest.
Der Steward war auffallend schweigsam. Er wirkte eigentlich nicht wie ein verschlossener Typ. Da Jade viel mit Leuten zu tun hatte, konnte sie Menschen meist ganz gut einschätzen. Irgendwie schien dieser Henry durch Jades Anblick völlig von der Rolle zu sein. Sie nahm sich vor, ihn später darauf anzusprechen. Momentan versuchte Jade, sich ganz auf das bevorstehende Vorstellungsgespräch mit dem Kapitän zu konzentrieren. Eigentlich hatte sie den Job ja schon in der Tasche, wie ihr am Telefon zugesichert worden war. Aber trotzdem – sie wollte ihre Chance nutzen und auf keinen Fall einen schlechten Eindruck hinterlassen. Jade war nämlich auf das Geld dringend angewiesen.
Sie musste ihr Touristik-Studium durch Arbeit finanzieren, denn ihre Eltern hielten ihre beruflichen Träume nur für eine dumme unreife Idee. Von Mom und Dad konnte sie erst dann Unterstützung erwarten, wenn sie sich für ein so sterbenslangweiliges Fach wie Jura entscheiden sollte. Das war in den Augen ihres Vaters, der selbst ein kleiner Beamter bei der Justizbehörde war, nämlich etwas „Solides“. Aber Tourismus – damit verbanden John und Ellen Walker nur Sonne, Strand und ewige Party.
Diese Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, während Henry plötzlich anhielt und an eine Tür klopfte.
„Herein.“
Der Steward öffnete, um Jade hineinzulassen. Sie hatte plötzlich starkes Herzklopfen, als sie das Captains Office betrat. Auf den ersten Blick unterschied es sich nicht von einem modernen Büroraum an Land. Allerdings gab es an den Wänden keine Fenster, sondern Bullaugen. Der Kapitän trug eine dunkelblaue Uniform, in der er sehr elegant wirkte. Samuel Granger war ein hagerer Mann mit Adlernase und stahlblauen Augen. Sein Gesicht war tief gebräunt und wettergegerbt. Er stand auf und begrüßte Jade mit einem kräftigen Händedruck.
„Sie müssen Miss Walker sein. Ich bin Kapitän Granger – und ich danke Ihnen im Namen der gesamten Besatzung der MS Kyrene dafür, dass Sie so schnell kommen konnten. – Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Der Offizier deutete auf einen Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch. Dann bat er Henry, einstweilen vor der Tür zu warten. Nachdem der Steward gegangen war, öffnete Jade wieder den Mund. Granger sollte sie schließlich nicht für schüchtern halten.
„Ich freue mich darauf, hier tätig zu werden, Sir. Die Semesterferien haben gerade begonnen, und ich muss wieder einige Monate arbeiten, um mir das nächste Studienjahr leisten zu können. Da kam mir der Anruf von der Arbeitsvermittlung gerade recht.“
Der Kapitän blätterte in seinen Unterlagen.
„Ich sehe, dass Sie trotz ihrer jungen Jahre viel Erfahrung als Animateurin haben, Miss Walker.“
„Ja, ich beherrsche verschiedene Sportarten von Tennis bis Judo. Meine Spezialität ist das Organisieren von Wettkämpfen und das Veranstalten von Kostümpartys, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Für Frauen biete ich eine spezielle Power Fitness Gruppe an, ich kann aber auch Malkurse geben.“
Granger stoppte lächelnd mit einer Handbewegung Jades Redefluss.
„Das klingt alles sehr vielversprechend. Ich hoffe, Sie passen gut zu uns. Wir sind hier an Bord ein internationales Team, obwohl die MS Kyrene unter britischer Flagge fährt. Unsere momentane Reise führt uns hinauf zum Nordkap, wo die Walpurgisnacht am Polarkreis den Höhepunkt der Kreuzfahrt darstellen wird. Wie gesagt, Ihre Referenzen sind wirklich gut. Aber Sie haben noch nie an Bord eines Schiffes gearbeitet, nicht wahr?“
„Nein, Sir. Bisher war ich nur in Ferienclubs in Cornwall und auf Teneriffa als Animateurin tätig. Ist das ein Problem?“
Jade war nicht entgangen, dass sich die Miene des Kapitäns verdüstert hatte.
„Eigentlich nicht, Miss Walker. Sie machen einen guten Eindruck auf mich. Aber ich habe schon schlechte Erfahrungen gemacht. Es ist nämlich so, dass die Unzuverlässigkeit Ihrer Vorgängerin uns in Schwierigkeiten gebracht hat.“
„Wieso, Sir?“
„Ann Brockwell hat es nicht für nötig befunden, zu kündigen. Sie ist einfach hier in Oslo an Land gegangen, ohne sich um ihre Aufgaben zu kümmern. Zum Glück hat die Stadt genug Unterhaltung zu bieten, damit bei unseren Passagieren keine Langeweile aufkommt. Aber es wäre beispielsweise Miss Brockwells Job gewesen, einen geführten Landgang für unsere Reisenden in die Wege zu leiten.“
„Aber – kann ihr nicht auch etwas zugestoßen sein? Ich meine, Oslo ist keine besonders kriminelle Stadt, soweit ich weiß. Aber trotzdem wäre es doch möglich.“
„Sicher, daran haben wir auch gedacht, Miss Walker. Doch es deutet nichts auf ein Verbrechen hin. Ann Brockwell hat ihre Kabine ordentlich verlassen und ihre sämtlichen Kleider und sonstigen persönlichen Gegenstände mitgenommen. Trotzdem – wir haben sämtliche Krankenhäuser Oslos abtelefoniert. Doch dort wurde niemand eingeliefert, auf den Ann Brockwells Beschreibung passt. Für mich steht fest, dass diese junge Lady plötzlich die Lust an ihrem Job verloren hat. Sie werden ja wissen, dass manche Leute sehr sonderbare Vorstellungen von dieser Arbeit haben. Ein Animateur ist in ihren Augen jemand, der ständig Urlaub macht.“
Der Kapitän schnaubte abfällig. Jade wusste, was er meinte. In Wirklichkeit war das, was Jade und ihre Kollegen auf die Beine stellten, reinste Knochenarbeit. Man musste nicht nur ständig gut drauf und freundlich sein, sondern die Feriengäste mit Sport und Spiel aller Art beinahe rund um die Uhr auf Trab bringen. Wer diese Tätigkeit mit Faulenzen am Pool verwechselte, hatte wirklich keine Ahnung, was Sache war.
Dennoch fand Jade Kapitän Grangers Urteil über Ann Brockwell ziemlich hart. Gewiss, Jade kannte ihre Vorgängerin überhaupt nicht. Aber gab es nicht noch andere Möglichkeiten, die Anns abruptes Verschwinden erklären konnten? Wenn sie nun beispielsweise einfach über Bord gefallen wäre? Obwohl – bei einem solchen Unfall hätte sie wohl nicht ihre gesamten Habseligkeiten aus der Kabine bei sich gehabt. Jade hielt es für cleverer, ihre Vorgängerin nicht weiter zu verteidigen. Im Grunde konnte Jade dieser Ann Brockwell sogar dankbar sein. Wäre sie nicht kommentarlos abgetaucht, dann hätte Jade wohl nicht diesen gutbezahlten Job ergattern können.
„Ich nehme jedenfalls meine Verpflichtungen ernst, Sir. Da können Sie fragen, wen sie wollen.“
„Das ist gut, Miss Walker. Ich habe bei der Arbeitsvermittlung um eine besonders zuverlässige Animateurin gebeten. Daraufhin wurden Sie mir empfohlen. – Ja, was soll ich noch sagen? Nochmals willkommen an Bord. Der Steward wird Sie gleich zu Ihrer Kabine führen, in der zuvor Ann Brockwell gelebt hat. Bei der Gestaltung Ihres Unterhaltungsprogramms haben Sie freie Hand. Allerdings sollten Sie berücksichtigen, dass unsere Kreuzfahrtgäste auch bei den Landausflügen Betreuung und Unterhaltung erwarten.“
„Das ist mir bewusst, Sir. – Ich werde mich gleich in meine Aufgaben stürzen, sobald ich ausgepackt habe.“
Nun lächelte der Kapitän wieder.
„Das ist die Einstellung, die ich mir bei meiner Crew wünsche. Wenn Sie Ihre Aufgaben so beherzt anpacken, wird diese Kreuzfahrt für Sie und uns ein großer Erfolg werden.“
Jade nickte. Ihr war nun endgültig klar, dass sie unter großem Druck stand. Granger war offenbar immer noch sauer auf ihre Vorgängerin. Wenn Jade sich auch nur den kleinsten Fehler erlaubte, würde sie den Ärger des Jahrhunderts bekommen. Daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel.
Aber sie setzte sich auch selbst unter Erfolgszwang. Wenn sie den Job auf der MS Kyrene gut erledigte, würde sie genug Geld für das nächste Semester verdienen. Jade wollte ihren Eltern unbedingt beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und ihre Pläne aus eigener Kraft verwirklichen konnte.
Sie versuchte, sich dem Kapitän gegenüber ihren Stress nicht anmerken zu lassen. Trotzdem war sie froh, als er sie verabschiedet hatte und sie in Begleitung des Stewards das Captains Office verließ. Henry hatte inzwischen seine Sprache wiedergefunden. Er zwinkerte Jade vertraulich zu.
„Na, wie war es bei unserem Eisenknochen? Der Alte ist eigentlich ganz umgänglich. Das Kielholen wird nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt, wenn ihm nämlich jemand richtig auf die Nerven geht.“
Henry bemerkte ihren verständnislosen Blick und ergänzte: „Das sollte ein Witz sein, kapierst du? Kielholen, damit haben in früheren Jahrhunderten grausame Schiffsführer aufrührerische Matrosen bestraft. Die armen Kerle wurden an Seilen festgebunden und unter dem Schiffsrumpf durch das Wasser gezogen. Meistens haben sie sich an herausstehenden Nägeln und Muschelbewuchs schlimm verletzt. – Aber so arg ist der Alte gar nicht. Du kennst ja das Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht.“
„Du hast ja schnell einen flotten Spruch auf Lager“, gab Jade cool zurück. „Aber vorhin hast du mich angeglotzt wie eine Kuh, wenn es donnert.“
Ein Schatten legte sich auf Henrys grinsendes Gesicht. Jade hatte scheinbar einen wunden Punkt bei ihm berührt. Das tat ihr leid, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war. Henry war eigentlich ganz nett, obwohl er als Mann überhaupt nicht ihr Typ war. Vielleicht lag das auch daran, dass er ihr äußerlich sogar etwas ähnelte. Sowohl Jade als auch Henry hatten eine brünette Haarfarbe und einen zierlichen Körperbau. Henry war nur unwesentlich größer als Jade. Er wirkte klein und schwächlich. Jade hätte ihm nicht zugetraut, zwei schwere Koffer zu tragen, ohne unter der Last zusammenzubrechen.
Henry hatte sich schnell wieder im Griff.
„Geglotzt, ich? Dabei musst du dir nichts denken, beim Anblick schöner Frauen entgleisen meine Gesichtszüge. – So, hier über uns ist das Promenadendeck. Dort lassen sich die Passagiere in ihren Liegestühlen die Sonne auf den Bauch scheinen, wenn es nicht so kalt und bewölkt ist wie im Moment.“
Jade runzelte die Stirn. Henry hatte wieder mit einer witzigen Bemerkung schnell vom Thema abgelenkt. Sie war sicher, dass es einen anderen Grund für seine seltsame Reaktion auf ihr Erscheinen gab. Aber sie wollte die Sache einstweilen nicht weiter breittreten.
„So, dann willst du mir jetzt also erst das Schiff zeigen, ja?“
„Das bietet sich an, denn wir müssen sowieso die MS Kyrene fast vom Bug bis zum Heck durchqueren, bevor wir deine Kabine erreichen. – Was Bug und Heck bedeutet, weißt du aber, oder?“
„Bug ist vorne, Heck ist hinten.“
„Klingt nicht gerade seemännisch, ist aber richtig“, feixte Henry. „Ansonsten sagen wir nicht links, sondern Backbord. Und Steuerbord ist die rechte Seite. Und das da vor uns ist keine Treppe.“
„Sieht aber aus wie eine Treppe.“
„Okay, aber an Bord eines Schiffes nennt man eine Treppe Aufgang. Oder Niedergang, je nachdem, ob man nach oben oder unten will.“
„Die spinnen, die Seeleute“, murmelte Jade halblaut vor sich hin. Während sie mit Henry ihr neues Umfeld erkundete, begrüßte der Steward die Passagiere, die ihnen begegneten. Die meisten von ihnen schien er mit Namen zu kennen, was Jade verblüffte.
„Wie machst du das?“, raunte sie Henry zu. „Dieses Schiff hat doch 900 Kabinen, oder? Wie kannst du dir die ganzen Namen merken?“
„920 Kabinen, um genau zu sein. Ich habe ein gutes Gedächtnis, Jade. Darauf bilde ich mir nichts ein, das ist angeboren. Die Passagiere fahren darauf ab, wenn sie persönlich angesprochen werden. Je besser sie sich fühlen, desto höher ist das Trinkgeld.“
Jade nickte und ließ die Atmosphäre der MS Kyrene auf sich wirken. Wie sie schon erfahren hatte, war der Luxusliner erst im vorigen Jahr in Dienst gestellt worden. Entsprechend hochmodern und mondän waren Ausstattung und Kabinen. Da das Schiff momentan im Hafen von Oslo lag, befanden sich viele Passagiere an Land, um die norwegische Hauptstadt zu erkunden. Aber wenn sie alle wieder an Bord waren, würde das Kreuzfahrtschiff einer kleinen Stadt gleichen. Vom Frisör bis zum Wellness Spa waren alle Annehmlichkeiten vorhanden, um die zahlungskräftigen Reisenden zu verwöhnen. Als Animateurin würde Jade ganz schön rotieren müssen, um für ein umfassendes Unterhaltungsprogramm zu sorgen. Andererseits hatte sie schon früher die Erfahrung gemacht, dass mehr als genug Reisende im Urlaub nichts anderes als Party machen und chillen wollten.
„So, da sind wir.“
Während Jade sich nur staunend umgeschaut hatte, war sie von Henry zu ihrer Kabine geführt worden. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür.
„Hier, den Schlüssel nimmst du am besten an dich, Jade. Unsere Kabinen sind nicht ganz so prachtvoll wie die der Passagiere, aber man kann es aushalten, finde ich.“
Das sah Jade genauso. Sie betrat eine Innenkabine ohne Fenster oder Bullauge, aber mit einer regelbaren Air Condition. Die Einrichtung bestand hauptsächlich aus einer gemütlich aussehenden Koje, einem modernen Spind sowie Tisch und Stuhl, die fest auf dem Deck verschraubt waren. So etwas hatte Jade noch niemals gesehen, aber bei heftigem Seegang waren vermutlich rutschende Möbel das letzte, was man gebrauchen konnte. Eine schmale Tür führte zu ihrer eigenen Nasszelle. Jade war begeistert. Von einem eigenen Bad hatte sie bei ihrem letzten Animateurjob in einem Ferienclub nur träumen können. Dort hatte sie sich die sanitären Anlagen des Personals mit einem Dutzend anderer Frauen teilen müssen.
Jade stellte ihre Reisetasche, die sie die ganze Zeit bei sich gehabt hatte, auf den Boden vor der Koje. Henry wandte sich zum Gehen.
„So, dann kannst du jetzt erst mal in Ruhe auspacken. Falls du eine Frage hast …“
Bevor Henry die Kabine verlassen konnte, hatte Jade sich zwischen ihn und die Tür geschoben. Sie versperrte ihm den Weg.
„Du hast mich vorhin angelogen, das spüre ich. Das war nicht sehr nett von dir, Henry. Ich will jetzt die Wahrheit wissen. Und komm mir nicht wieder mit irgendwelchen flotten Sprüchen, das zieht bei mir nicht. Warum hast du mich so fassungslos angestarrt?“
Henry erbleichte. Offenbar hatte der Steward nicht erwartet, dass Jade noch einmal darauf zurückkommen würde. Er öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. In diesem Moment erinnerte er Jade an einen Karpfen. Henry blinzelte, sein Blick irrte unstet hin und her. Er suchte wahrscheinlich nach einem Ausweg. Doch ihm fiel nichts ein.
Jade hatte die Arme vor ihrer Brust verschränkt. Sie fragte sich, ob sie nicht zu hart war. Henry hatte ihr ja nichts getan. Aber Jade spürte instinktiv, dass der Steward etwas vor ihr verbarg. Damit hatte sie noch nie umgehen können. Sie hasste es, wenn jemand hinter ihrem Rücken Geheimnisse vor ihr hatte.
Henry öffnete erneut den Mund. Diesmal würde er die Wahrheit sagen, daran zweifelte Jade nicht.
„Also gut, Jade. – Du erinnerst mich an meine verstorbene Schwester, wenn du es unbedingt wissen musst!“
Henry hatte ihr diese Worte wütend entgegen geschleudert. Er blitzte sie zornig an. Aber gleich darauf war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Seine Unterlippe begann zu zittern. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts, ließ sich auf das Bett sinken. Vornübergebeugt saß er da, das Gesicht in den Händen verborgen. Seine Schultern zuckten, er weinte.
Jade war geschockt. Sie hatte eine seelische Wunde aufgerissen. Das war nicht ihre Absicht gewesen. Warum konnte sie nicht einfach ihren Schnabel halten? Aber Jade sagte nun einmal, was sie dachte. Dadurch handelte sie sich manchmal Schwierigkeiten ein, aber normalerweise kam ihre direkte und offene Art bei den Menschen gut an.
Doch sie hatte Henry gerade eben sehr weh getan.
Sie setzte sich neben ihn und umarmte ihn spontan.
„Hey, nun beruhige dich doch. Das habe ich nicht gewusst. Bitte entschuldige, Henry. Kannst du mir verzeihen?“
Es dauerte einige Zeit, bis der junge Steward sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Seine Stimme klang immer noch brüchig. Doch als er aufblickte und Jade aus rotgeweinten Augen anschaute, brachte er sogar ein schiefes Grinsen zustande.
„Ich kann dir nicht böse sein, Jade. Du musstest ja wer weiß was von mir denken, als ich dich so angestarrt habe. Aber in dem Moment glaubte ich wirklich, Alice wäre wieder von den Toten auferstanden.“
Jade fürchtete, er würde erneut in Tränen ausbrechen. Aber diesmal riss er sich zusammen. Sie hielt ihn immer noch fest. Daher konnte sie spüren, dass sein Atem allmählich ruhiger wurde.
„Das war ihr Name – Alice?“
„Ja, genau. Meine Schwester ist zwanzig Jahre alt geworden. Sie starb vor fünf Monaten an einem bescheuerten Verkehrsunfall. Ein besoffener Raser hat ihr die Vorfahrt genommen. – Deine Ähnlichkeit mit ihr ist wirklich verblüffend, Jade. Okay, sie hatte eine andere Frisur, aber vom Gesicht her könntest du beinahe Alices Zwilling sein. Und von deiner Art her könntest du es allemal mit ihr aufnehmen. Meine Schwester war nämlich auch sehr direkt und unverblümt, genau wie du.“
Jade schlug die Augen nieder.
„Ich habe mich echt blöd benommen. Trotzdem bin ich froh, dass wir jetzt Klarheit geschaffen haben. Ich finde dich nett, Henry. Jetzt weiß ich wenigstens, warum du ganz zu Beginn so seltsam gewesen bist. – Wollen wir noch mal neu anfangen?“
Henry putzte sich geräuschvoll die Nase und strahlte nun bereits wieder.
„Super, Jade. Es gibt nichts, was mir lieber wäre. Ich dachte, ich wäre über Alices Tod einigermaßen hinweg gekommen. Aber so schnell geht das wohl doch nicht. Zum Glück gibt es hier an Bord genug zu tun, da kommen trübe Gedanken meist gar nicht erst auf.“
„Was denkst du eigentlich über meine Vorgängerin, Henry? Der Kapitän glaubt, sie hätte hier in Oslo die Biege gemacht. Ist das auch deine Meinung?“
„Schwer zu sagen. Ich habe Ann Brockwell immer als eine Fremde angesehen. Sie hat nie wirklich zur Besatzung gehört, sondern ist eine Außenseiterin geblieben.“
„Wieso das?“
„Ann hat wohl sehr reiche Eltern. Sie hat versucht, das vor uns zu verbergen. Ann wollte behandelt werden wie jedes andere Crew-Mitglied auch. Für sie sollte keine Extrawurst gebraten werden.“
„Das klingt doch aber eher sympathisch, oder? Ich mag keine Leute, die sich für etwas Besseres halten.“
„Ich auch nicht, Jade. Aber irgendwie hat Ann es doch nicht geschafft, ein Mitglied der Bordgemeinschaft zu werden. Möglicherweise haben einige Neider hinter ihrem Rücken über sie gelästert. Davon habe ich aber nichts mitbekommen, obwohl ich als Kabinensteward normalerweise unheimlich viel Gerüchte und Klatsch aufschnappe.“
„Ann könnte also unglücklich gewesen sein und deshalb in Oslo das Schiff verlassen haben.“
„Ja, das wäre eine Möglichkeit. – Verflixt, schon so spät? Die Pflicht ruft, Jade. Wir sehen uns später, okay?“
Bevor er ging, gab Henry Jade noch seine Handynummer und bekam im Austausch ihre. Sie war froh, dass es zwischen ihnen nun offenbar keine Unklarheiten mehr gab. Henry war auf jeden Fall ein Typ, bei dem sie sich wohl fühlte. Wie die anderen Besatzungsmitglieder waren, wusste sie ja noch nicht. Aber mit dem jungen Kabinensteward konnte sie gewiss einmal etwas unternehmen. Jade war zwar nicht gerade schüchtern, aber die Leute mussten schon auf ihrer Wellenlänge sein. Im Job war das ganz anders. Als Animateurin kam Jade eigentlich mit allen Menschen mehr oder weniger gut zurecht. Selbst bei Außenseitern fand sie immer einen Ansatz, um sie einzubeziehen.
Jade räumte ihre Klamotten in den schmalen Schrank. Ihr Notebook nebst Mini-Drucker fand Platz auf dem kleinen Tisch. Wie Henry ihr verraten hatte, konnte sie in ihrer Kabine über W-LAN ins Internet gehen. Sie wollte noch am selben Tag einen Flyer entwerfen, um ab dem nächsten Morgen ihr Fitness-Programm anbieten zu können.
Jade stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute sich zufrieden in dem Raum um. Die Kabine würde für die nächsten Monate ihr Zuhause sein. Sie fühlte sich wirklich gut hier. Nur die Matratze hatte sie noch nicht ausprobiert.
Jade legte sich auf ihre Koje. Der Schaumstoff unter ihr war nicht zu fest und nicht zu weich, genau richtig. Jade streckte sich wohlig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Da stieß sie mit dem Ellenbogen gegen etwas Hartes. Neugierig drehte sie sich auf die Seite. Jade tastete in dem Spalt zwischen Matratze und hölzernem Kojenrand. Dort war eine kompakte Videokamera verborgen gewesen.
Verblüfft zog Jade das Mini-Gerät hervor und betrachtete es. Sie war keine Technik-Expertin, aber offenbar war die Kamera sehr neu und alles andere als billig gewesen. Jade benötigte ein paar Minuten, um sich mit den Funktionen vertraut zu machen. Vor allem wollte sie wissen, ob die Kamera schon benutzt worden war. Endlich gelang es ihr, auf den Speicher zuzugreifen. Jade drückte auf den Wiedergabe-Knopf und schaute gespannt auf das Display.
Dort erschien das Gesicht einer ihr völlig unbekannten jungen Frau. Gleich darauf ertönte auch die Stimme.
„Hallo. Ich bin Ann Brockwell. Und das hier ist mein Video-Tagebuch.“
Jade fühlte sich mies. Sie hatte ein ganz schlechtes Gewissen. Und weil sie sich schuldig fühlte, kam es ihr vor, als würden alle Menschen sie anstarren.
Jade hatte das Video-Tagebuch ihrer Vorgängerin nämlich versteckt.
Eigentlich wäre es ihre Pflicht gewesen, die Kamera sofort beim Kapitän abzugeben. Und genau das hatte sie nicht getan. Um sich von ihrem Versäumnis abzulenken, stürzte sich Jade in fieberhafte Aktivität. Sie hatte schnell einen Flyer entworfen, auf dem sie ihr legendäres Power-Workout für Frauen anpries. Ab dem nächsten Morgen wollte sie diesen Kursus auf dem Promenadendeck anbieten. Und damit sich möglichst viele Passagierinnen dafür begeisterten, hängte sie Kopien des Flyers an alle erreichbaren schwarzen Bretter der MS Kyrene.
Währenddessen grübelte sie weiter über sich selbst nach.
Es gab einen Grund, warum sie das Video-Tagebuch einstweilen vor den Augen der Welt verbarg. Jade wollte ihren tollen Job nicht sofort wieder verlieren. Sie hatte Angst davor, dass Ann Brockwell plötzlich wieder an Bord kam, als ob nichts gewesen wäre. Gewiss, Kapitän Granger war sauer auf Jades Vorgängerin. Aber würde er sie deshalb wirklich nicht zurücknehmen? Henry hatte erzählt, dass Anns Eltern reich waren. Mit solchen Leuten legte sich niemand gerne an, selbst der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes nicht. Er würde Mittel und Wege finden, um Jade wieder nach London zurückzuschicken.
Wenn aus dem Tagebuch nun hervorging, dass Ann sich nur ein paar coole Tage in Oslo machen wollte? Jade wusste es nicht. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich das Video-Tagebuch anzuschauen. Sie musste sich jetzt auf ihre Tätigkeit als Animateurin konzentrieren. Schließlich war sie durch ihre neuen Aufgaben förmlich ins kalte Wasser gestoßen worden. Sie konnte sich kein Versagen leisten, sondern musste ab dem ersten Tag volle Leistung bringen.
Am Abend sollte die MS Kyrene wieder in See stechen, wie Jade inzwischen mitbekommen hatte. Sobald der Luxusliner abgelegt hatte, wollte Jade sich genauer mit der Sache beschäftigen. Dann war immer noch Gelegenheit, mit der Kamera zum Kapitän zu gehen. Schließlich konnte niemand sagen, wann genau sie das Gerät gefunden hatte. Das wusste nur sie allein.
Aber – wenn nun Anns Leben in Gefahr war? Vielleicht zählte jede Minute. Möglicherweise bekam die junge Frau keine Hilfe, nur weil Jade völlig unberechtigte Angst um ihren Job hatte. Diese Vorstellung machte Jade völlig fertig. Und doch konnte sie nicht aus ihrer Haut.
„Hey, träumst du?!“
Jade zuckte zusammen. Sie eilte durch das Pacific Bistro auf der Backbordseite und hatte gar nicht bemerkt, dass Henry ihr entgegenkam. Für einen Moment überlegte sie, sich ihm anzuvertrauen. Aber dann entschied sie sich dagegen. Dafür kannte sie den Steward einfach noch nicht gut genug.
„Nein, alles cool“, murmelte sie. „Ich finde mich wirklich noch nicht auf diesem Schiff zurecht. Ich habe so die vage Idee im Hinterkopf, mich heute Abend mit einem Tanzwettbewerb als Animateurin einzuführen. Aber dafür brauche ich Hilfe, schätze ich.“
Henry lächelte gewinnend.
„Die sollst du bekommen, Jade. Wie es der Zufall will, hätte ich etwas Zeit, um dich zu unterstützen. Ich schlage vor, deinen Dance Contest im Spotlight zu starten. Das ist die größere von unseren beiden Bord-Discos.“
„Ja, tolle Idee. Eine Jury brauchen wir natürlich auch. Die werden wir aus Passagieren zusammenstellen, das ist dann noch ein zusätzlicher Anreiz zum Mitmachen.“
„Natürlich sollten auch ein paar Preise zu gewinnen sein“, schlug Henry vor. „Komm, wir gehen gleich zum Zahlmeister. Mal sehen, was er herausrückt.“
Jade war erleichtert, weil der Steward ihr so gut unter die Arme griff. Sie verdrängte vorerst jeden Gedanken an das Video-Tagebuch.
„Was ist denn ein Zahlmeister, Henry?“
„Das ist der Offizier, der an Bord den Job des obersten Buchhalters oder Finanzministers hat. Zum Glück ist Zahlmeister Watson nicht besonders geizig. Er weiß, dass es unseren Passagieren an nichts fehlen darf.“
Henry lotste Jade durch verschiedene Gänge. Sie war sicher, in diesem Labyrinth schon nach kürzester Zeit die Orientierung verloren zu haben. Ohne den Steward an ihrer Seite hätte sie sich hoffnungslos verlaufen. Der Zahlmeister war ein älterer Mann mit Kugelbauch vom Typ „freundlicher Onkel“. Nachdem ihm Jade vorgestellt worden war, konnte auch er sich sofort für ihren Einfall erwärmen. Watson stiftete einen wertvollen Kompass als ersten Preis, für den zweiten und dritten Rang gab es immerhin noch ein edles Schreibset und ein Saunatuch mit dem eingestickten Schriftzug MS Kyrene.
„Viel Erfolg bei eurem Contest“, rief der Zahlmeister, als sie sein Büro wieder verließen. Henry brachte Jade zum Spotlight, wo der DJ sich bereits auf den Abend vorbereitete. Zum Glück stand er Jades Spontanidee positiv gegenüber.
„Dann muss ich wenigstens mal ausnahmsweise nicht den ganzen Abend allein das Publikum bespaßen“, meinte Mark grinsend. Das war der Name des DJs. „Ich gebe dir ein Mikro für deine Moderationen, und deine Jury kann dort drüben sitzen.“
Mark deutete auf einen langen Tisch.
Jade wurde von einem Kribbeln der Vorfreude erfüllt, weil alles so gut anlief. Sobald sie in Aktion war, konnte sie so leicht nichts mehr stoppen. Sie schaffte es sogar, allein vom Spotlight zurück in ihre Kabine zu finden. Dort stylte sie sich und zog ein Minikleid ein, das ihr für einen Discoabend passend erschien. Vor lauter Aufregung vergaß sie sogar das Essen in der Personalkantine. Sie konnte jetzt nicht an ihren leeren Magen denken, und an das Video-Tagebuch schon gar nicht.
Als Jade in die Disco zurück eilte, fanden sich dort schon die ersten jungen Passagiere ein. Das Abendessen für die zahlenden Gäste war bereits beendet, über dem Hafen von Oslo brach die Dämmerung an. Sobald Jade das Spotlight betrat, fiel die Nervosität von ihr ab. Mark nickte ihr zu und gab ihr ein Mikrophon. Auf Jades Handzeichen fuhr er die Musik herunter. Jade trat mitten auf die Tanzfläche. Die Blicke der Anwesenden richteten sich auf sie.
„Hallo und einen wunderschönen guten Abend. Ich bin Jade Walker, eure neue Animateurin. Ihr werdet euch fragen, warum ihr plötzlich auf Musik verzichten sollt. Schließlich seid ihr zum Tanzen hergekommen, oder?“
„Richtig!“, rief ein Witzbold. Jade lachte und ging auf ihn zu. Dabei hörte sie nicht auf zu sprechen.
„Okay, und was haltet ihr von einem Tanz-Wettbewerb? Ich brauche eine Jury, bestehend aus drei Leuten. Und natürlich soviele Paare wie möglich, denn es gibt immerhin coole Preise zu gewinnen.“
Jade schnappte sich den Scherzkeks und machte mit ihm gemeinsam ein paar Tanzschritte. Das Eis zwischen ihr und den Leuten war gebrochen, sie klatschten, lachten und pfiffen. Jade verstand sich darauf, Menschen zu begeistern. Sie war jetzt in ihrem Element. Problemlos gelang es ihr, eine Jury zusammenzustellen. Eine sehr gut aussehende Blondine drängte sich gleich rabiat nach vorne. Sie trug ein enges schwarzes Lederkleid.
„Heute ist dein Glückstag“, sagte die Schwarzlederne arrogant. „Du wirst keine Geringere als Roxanne White in deiner Jury haben, Süße.“
„Roxanne White – bist du das?“
Kaum hatte Jade diese Frage gestellt, als die Blonde auch schon ihre grünen Augen weit aufriss und sie aggressiv anfunkelte.
„Selbstverständlich bin ich das. Willst du behaupten, du hättest noch nie etwas von Roxanne White gehört?“
Jade kapierte, dass sie eine sehr anstrengende Selbstdarstellerin vor sich hatte. Diese Frau hielt sich offenbar für prominent. Daher war es für Roxanne eine furchtbare Beleidigung, dass Jade sie nicht kannte. Zum Glück kriegte die Animateurin im letzten Moment noch die Kurve.
„Ach, jetzt fällt bei mir der Groschen – die Roxanne White! Entschuldige, aber das muss am Licht liegen, ich habe nicht gleich geschaltet. Und außerdem hat mir niemand gesagt, dass die berühmte Roxanne White an Bord ist.“
Jade hatte ihre Worte sorgsam gewählt. Sie mochte normalerweise keine platten Schmeicheleien, aber bei solchen ichverliebten Menschen wie dieser Blonden half kein anderes Mittel, um sie für den Moment ruhigzustellen. Die Wirkung war verblüffend. Auf Roxannes Gesicht wich die Wut einem eingebildeten Lächeln. Sie tätschelte herablassend Jades Wange.
„Schon gut, Kleine. Man würde mich normalerweise ja auch eher in Paris oder Mailand oder L.A. vermuten als auf einem Kreuzfahrtschiff an der norwegischen Küste. Es war pures Glück, dass ich zwischen zwei Foto-Shootings für internationale Mode-Designer ein paar Tage Zeit für Urlaub freischaufeln konnte.“
Jade konnte sich gerade noch ein breites Grinsen verkneifen. Also hielt sich diese anstrengende Blonde für die neue Naomi Campbell oder Claudia Schiffer. Okay, es gab in jeder Schulklasse mindestens ein oder zwei Mädchen, die von einer Modelkarriere träumten – und zwar nicht nur in Großbritannien, sondern überall auf der Welt. Möglicherweise war Roxanne wirklich schon einmal fotografiert worden. Aber nicht für die Titelseite der Vogue, sondern für eine Gratis-Reklamezeitung in Sheffield oder Birmingham oder einer anderen englischen Provinzstadt.
Nein, es war keine Bildungslücke, Roxanne White nicht zu kennen.
Immerhin hatte Jade nun schon ein Mitglied für ihre Dance-Contest-Jury. Ein unscheinbarer semmelblonder Typ und eine dralle kaugummikauende Brillenträgerin nahmen wenig später zusammen mit Roxanne am Jurytisch Platz.
Der Wettbewerb wurde ein voller Erfolg. Jade ging es nicht darum, wer nun wirklich gewann. Ihr Job bestand darin, in der Disco Spannung und Begeisterung zu verbreiten. Und das gelang ihr hervorragend. In der Jury machte sich Roxanne schnell zur Wortführerin, aber das überraschte Jade nicht wirklich. Immerhin nervte sie nicht, und das war bei Leuten wie Roxanne schon viel wert.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Weit nach Mitternacht leerte sich die Disco allmählich. Jade merkte erst jetzt, wie erschöpft sie war. Trotzdem würde sie am nächsten Morgen ihren Power-Workout-Kursus anbieten müssen. Als Animateurin hatte sie es gelernt, zeitweise mit wenig Schlaf auszukommen.
„Ist sie nicht spitzenmäßig?“
Jade hatte gar nicht gemerkt, dass Henry plötzlich neben ihr an der Theke erschienen war. Das selbsternannte blonde Top-Model stolzierte an ihnen vorbei und winkte ihnen zum Abschied hochnäsig zu.
„Meinst du Roxanne?“
„Wen sonst, Jade? Ist sie nicht super? Das ist eine Frau ganz nach meinem Geschmack.“
Jade blinzelte. Im ersten Moment glaubte sie, der Steward wollte sie auf den Arm nehmen. Aber dann wurde ihr klar, dass es ihm bitterernst war. Sie kannte diese sehnsuchtsvollen Schmacht-Blicke, die Henry der großen Blonden hinterher warf. Jade lag die Bemerkung auf der Zunge, dass Roxanne eine selbstverliebte Schreckschraube war. Doch sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Gewiss, sie sagte normalerweise unverblümt ihre Meinung. Doch Henry war bis über beide Ohren in diese eitle Gewitterziege verknallt. Wenn Jade jetzt so über Roxanne herzog, würde sie ihn damit einfach nur kränken. Und das wollte sie nicht. Bisher war Henry schließlich derjenige Mensch, mit dem sie sich an Bord der MS Kyrene am besten verstand.
Also ließ Jade einen lockeren Scherz vom Stapel. Sie klimperte auffällig mit den Wimpern und wandte sich mit gespielter Entrüstung an Henry.
„Ach, so ist das also? Und was ist mit mir? Willst du mir vielleicht untreu werden, Mister Henry Glover?“
Der junge Steward lächelte, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte.
„Ach, mit dir ist es ganz anders, Jade. Es ist, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich kann gar nicht glauben, dass du erst heute auf das Schiff gekommen bist.“
Jade lachte und kniff ihm in die Wange.
„Das weiß ich doch, Süßer! Ich mag dich, aber wegen dir werde ich keine schlaflosen Nächte bekommen. Und dir geht es umgekehrt genauso, wette ich.“
Henry nickte lächelnd. Für Jade war klar, dass er nie mehr als ein guter Freund für sie würde sein können. Aber – war das vielleicht nichts wert? Jade wusste es jedenfalls zu schätzen, so schnell in dieser fremden Umgebung einen Vertrauten gefunden zu haben. Vielleicht würde sie Henry sogar von dem Video-Tagebuch erzählen, sobald sie selbst einen besseren Durchblick hatte. Einstweilen verabschiedete sie sich mit einem Küsschen auf die Wange von ihm und wünschte dem Steward eine gute Nacht.
Jade fand sich schon etwas besser auf dem riesigen Kreuzfahrtschiff zurecht. Jedenfalls gelang es ihr, zu ihrer eigenen Kabine zurückzufinden. Doch als sie die Tür hinter sich schloss, wurde sie plötzlich von einem seltsamen Gefühl der Fremdheit und des Verlorenseins überwältigt.
Das hier war eigentlich Ann Brockwells Kabine.
Was war nur mit ihrer Vorgängerin geschehen?
Jade setzte sich auf ihre Koje. Sie hatte vorhin die gefundene Video-Kamera in ihrer Reisetasche versteckt. Erleichtert stellte sie fest, dass das Gerät noch vorhanden war. Aber wieso auch nicht? Warum nahm sie plötzlich an, dass jemand in ihrer Kabine gewesen war? Jade hätte diese Fragen selbst nicht beantworten können.
Sie hatte noch nie zuvor auf einem Schiff übernachtet. Obwohl die MS Kyrene momentan noch sicher im Hafen lag, machte diese Tatsache sie unruhig. Wie sollte es werden, wenn der Luxusliner erst draußen auf hoher See war?
Ein Geräusch riss Jade aus ihrer inneren Verzagtheit. Vor ihrer Tür tat sich etwas. Sie presste die Lippen aufeinander und lauschte. Da war jemand auf dem Gang vor ihrer Kabine, daran gab es keinen Zweifel. Drückten sich dort eine oder mehrere Personen herum? Und weshalb gaben sie sich so viel Mühe, leise zu sein? Was führten sie im Schilde? Jade fühlte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken rann.
Plötzlich ertönte ein lautes Kichern, und die Tür der Nachbarkabine wurde zugeschlagen. Ganz kurz konnte Jade eine weibliche und eine männliche Stimme hören, dann war es wieder still.
Offenbar hatte ein Liebespaar auf dem Gang geknutscht und war nun zum gemütlichen Teil übergegangen. Jade ärgerte sich über sich selbst, weil sie von der Furcht so gepackt worden war. Normalerweise war sie keine Angsthäsin. Als Animateurin musste sie sich ständig neuen und ungewohnten Situationen stellen, und das war das beste Training gegen Verzagtheit, das man sich vorstellen konnte.
Entschlossen nahm sie die Video-Kamera zur Hand. Sie musste jetzt etwas tun, anstatt sich weiterhin von diffusen inneren Anwandlungen durcheinander bringen zu lassen. Jade begann mit dem Abspielen am Anfang des Dokuments. Gespannt blickte sie auf das Display.
Das Gesicht einer jungen Frau war zu erkennen. Sie musste ungefähr zwanzig Jahre alt sein, so wie Jade selbst. Ann Brockwell sah ganz hübsch aus, war aber keine klassische Schönheit. Ihre Stupsnase ragte frech nach oben, und ihre Wangen waren mit Sommersprossen bedeckt. Sie hatte beim Tagebuchführen offenbar auf der Koje gesessen, so wie Jade jetzt. Im Hintergrund war jedenfalls die Kabinenecke mit dem kleinen Buchregal über dem Kopfteil und der Leselampe zu erkennen.
„Hi. Ich bin Ann Brockwell. Das ist mein Video-Tagebuch. Und ich will mir selber erzählen, was ich auf meiner ersten Reise als Animateurin auf dem Kreuzfahrtschiff MS Kyrene so alles erlebe. Wir liegen momentan auslaufbereit im Hafen von Plymouth. Gleich werden die Leinen losgemacht, und wir nehmen Kurs auf die norwegische Küste. Ich bin mächtig aufgeregt. Okay, meine lieben Eltern haben mich ja oft genug auf ihrer Privatyacht quer durch die Karibik mitgenommen. Aber das hier ist eine ganz andere Sache. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich für mein Geld arbeiten müssen. Aber darüber will ich nicht meckern, denn das war ja mein eigener Wunsch.“
Es stimmte also – Ann Brockwell war das Kind reicher Eltern. Aber dafür konnte sie ja nichts. Im Gegensatz zu anderen Jet-Set-Kids, die Jade kennengelernt hatte, wirkte Ann überhaupt nicht eingebildet oder arrogant. Außerdem sprach es in Jades Augen für sie, dass sie sich einen richtigen Job gesucht hatte. Es wäre sicher bequemer gewesen, vom Geld ihrer Eltern zu leben. Das Brot einer Animateurin war jedenfalls hart verdient, das wusste Jade selbst am besten.
Sie lehnte sich zurück. Die ersten Minuten des Video-Tagebuchs waren nicht gerade spannend. Ann berichtete von kleinen Ereignissen an Bord, von einem Maskenball und einem Karaoke-Wettbewerb, die sie organisiert hatte. Jade war schon leicht enttäuscht von Anns Geplapper. Etwas wirklich Dramatisches schien ihre Vorgängerin nicht erlebt zu haben. War sie wirklich nur im Osloer Nachtleben abgetaucht und hatte dort den Typen ihres Lebens getroffen?
Diese Frage stellte Jade sich ernsthaft. Doch dann kam plötzlich ein Tagebucheintrag, der sich deutlich von den vorherigen unterschied.
„Ich glaube, irgendetwas stimmt hier an Bord nicht. Heute war ich auf dem Achterdeck, um die Bademodenschau für morgen vorzubereiten. Plötzlich sah ich eine vermummte Gestalt. Dieser Kerl fummelte an einem Lüfterkopf herum, stocherte mit einem Draht im Inneren. Ich meine, was soll das denn? Diese Metallröhren gehören zum Ventilationssystem des Schiffs. Was hat er daran herumzupfuschen? Ich rief etwas, da drehte er sich zu mir um. Er sagte keinen Ton. Aber dafür zog er den Zeigefinger seiner behandschuhten Rechten vor seiner Kehle von links nach rechts. Eine Geste, die man nicht missverstehen kann, oder? Mir rutschte jedenfalls das Herz in die Hose. Ich hätte schreien sollen, aber ich war ganz allein mit dem Unheimlichen auf dem Achterdeck. Es war gerade Dinner-Zeit, und außerdem herrschte leichter Nieselregen. Kein anderer Mensch war in der Nähe. Jedenfalls konnte ich auf keine Hilfe hoffen. Doch dann war der Typ plötzlich verschwunden, als wäre er über Bord gesprungen. Okay, ich habe für einen Moment die Augen zugemacht. Ich hatte mehr Glück als Verstand, schätze ich.
Und jetzt habe ich keinen Plan, was ich tun soll. Am liebsten würde ich dem Kapitän melden, was passiert ist. Aber andererseits – was ist denn schon großartig geschehen? Der Vermummte hat mir nur gedroht, mir aber kein Haar gekrümmt. Ich meine, ich will hier nicht als hysterisch abgestempelt werden. Sonst heißt es nachher noch, dieses Millionärstöchterchen sieht schon Gespenster, um sich aufzuspielen. Nein, ich werde jetzt erst einmal die Füße stillhalten. Vielleicht gibt es ja auch eine ganz harmlose Erklärung.“
Anns Gesicht hatte ängstlich ausgesehen, während sie diesen Tagebucheintrag gesprochen hatte. Die Stimme war sehr leise. So, als hätte sie befürchtet, belauscht zu werden. Ihr Blick war unstet gewesen, er irrlichterte in der Kabine hin und her. Außerdem wackelte die Kamera. Dafür gab es eine ganz einfache Erklärung.
Anns Hände hatten während der Aufzeichnung gezittert.
Nun musste Jade das Tagebuch erst einmal ausschalten. Sie hatte noch nicht alles gesehen, aber Stoff zum Nachdenken gab es für sie erst einmal genug.
Hatte Ann diese dunkle Gestalt wirklich gesehen?
Daran zweifelte Jade keine Sekunde. Die Beklemmung stand ihrer Vorgängerin ins Gesicht geschrieben. Ann war wirklich schaurig zumute gewesen. Jade besaß genug Menschenkenntnis, um das beurteilen zu können.
Plötzlich fühlte sie sich Ann auf merkwürdige Art verbunden. Sie selbst wäre wahrscheinlich auch nicht zum Kapitän gegangen, um den Vorfall zu melden. Animateurin war nun einmal ein stressiger Job – man durfte auf keinen Fall in den Verdacht geraten, nicht belastbar zu sein oder herumzuzicken. Genau diesen Eindruck hatte Ann vermeiden wollen. Und deshalb war sie nicht mit einer scheinbaren Kleinigkeit zum Kapitän gerannt.
Jades Gedanken schweiften ab. Unwillkürlich begann sie damit, sich mit Ann zu vergleichen. Die beiden Frauen waren ungefähr gleich alt und arbeiteten als Animateurinnen. Doch damit hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf – oder?
Während Ann aus sehr wohlhabenden Kreisen stammte, kannte Jade nur die strenge Welt ihres Elternhauses in den Midlands. Okay, sie hatte niemals am Hungertuch nagen müssen. Das schmale Beamtengehalt ihres Vaters reichte für die fünfköpfige Familie, die aus Mom und Dad sowie Jade und ihren beiden jüngeren Brüdern bestand. Doch das Geld war immer knapp gewesen, seit Jade denken konnte. Urlaubsmäßig waren die Walkers nie über Badeferien in Blackpool oder Brighton hinausgekommen.
Über die genaueren Lebensumstände von Ann Brockwell wusste Jade bisher nichts. Aber nun war sie neugierig geworden und nahm sich vor, im Internet zu stöbern. Wenn Anns Familie auch nur einigermaßen reich und prominent war, würde sich dort genügend Hintergrundmaterial finden.
Jade stand auf. Sie war einerseits todmüde, andererseits völlig überdreht. Eigentlich hätte sie sich jetzt dringend hinlegen müssen, um vor dem nächsten Morgen noch ein paar Stunden Schlaf zu finden. Dennoch – an Ruhe war nicht zu denken. Dafür schwirrten ihr viel zu viele Gedanken durch den Kopf.
Sie schob die Video-Kamera wieder in ihre Reisetasche und tauschte ihr Minikleid gegen einen Jogginganzug. Es war inzwischen kühler geworden, immerhin befand sie sich in Norwegen, und es war noch lange kein Sommer. Sie beschloss, einen Spaziergang auf dem Promenadendeck zu machen. Vielleicht würde sie ja dadurch innerlich etwas herunterkommen.
Jade öffnete ihre Kabinentür. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Sie musste an die Geräusche denken, die sie vorhin in Angst und Schrecken versetzt hatten. Nun grinste sie über sich selbst, als sie daran zurück dachte.
Es waren mehrere hundert Passagiere an Bord, von der Besatzung ganz zu schweigen. Wenn sie wirklich in eine bedrohliche Lage geriet, konnte sie jederzeit um Hilfe rufen. Aber momentan deutete nichts auf eine Gefahr hin.
Nur diese Stille war schwer zu ertragen.
Es war eine völlige Geräuschlosigkeit. Jade hatte als Animateurin in Ferienclubs gearbeitet, wo die Wände dünn wie Papier gewesen waren. Wer dort seine Ruhe haben wollte, war schlicht und einfach fehl am Platz.
Auf der MS Kyrene war es hingegen so leise wie in einem schwimmenden Sarg.
Diese Vorstellung behagte Jade überhaupt nicht, und sie fragte sich erneut, was wohl mit Ann geschehen sein mochte. Ob sie tot war?
Jade schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Wieso waren ihre sämtlichen Sachen außer der Video-Kamera verschwunden, wenn sie einen Unfall erlitten hatte? Oder gar ermordet worden war? Nein, das konnte nicht sein. Jade glaubte vielmehr, dass Ann noch an Bord war. Einen Grund für diese Annahme hätte sie nicht nennen können.
Ob Anns Verschwinden mit dem Auftauchen dieses Vermummten zusammenhing?
Während Jade sich diese Frage stellte, stapfte sie eine Treppe hoch, öffnete eine Tür und befand sich nun auf dem Deck. Eine kühle Brise wehte ihr ins Gesicht, vom Frühling war noch kaum etwas zu erahnen. Sie fröstelte ein wenig in ihrem Jogginganzug. Die Sportschuhe an ihren Füßen schluckten jedes Geräusch.
Jade war leise wie ein Mäuschen, als sie an der Reling entlang schlenderte.
Niemand hörte sie.
Auch nicht die schwarz gekleidete Gestalt, die sich soeben an einem Tau entlang an Bord hangelte.
Jade biss sich auf die Zunge.
Sie konnte gerade eben noch einen Schrei unterdrücken. Ob das derselbe Unheimliche war, der Ann Brockwell gedroht hatte?
Jade wusste es nicht. Zunächst presste sie sich instinktiv so eng wie möglich gegen die Metallwand. Sie wollte es vermeiden, von dem Eindringling gesehen zu werden. Aber das war gar nicht so einfach, denn das Deck war hell erleuchtet. Es gab kaum finstere Ecken, in denen man sich vor neugierigen Blicken verbergen konnte. Am einfachsten wäre es gewesen, schnell wieder unter Deck zu huschen. Aber dafür hätte Jade die Tür wieder öffnen müssen, und diese Bewegung würde der Schwarzgekleidete garantiert bemerken.
Er war nur einen Steinwurf weit von Jade entfernt. Er hatte sie nur noch nicht gesehen, weil er bisher nicht in ihre Richtung geblickt hatte. Nun schwang er sich vom Tau über die Reling und landete auf dem Deck. Er war schlank und hochgewachsen, wie Jade selbst auf die Entfernung erkennen konnte. Und sportlich musste er sein, sonst hätte er die Seilkletterei wohl kaum erfolgreich hinkriegen können. Was hatte der Typ an Bord zu suchen?
Jade musste diese Frage zurückstellen, denn urplötzlich drehte er sich um. Ob er gespürt hatte, dass sie ihn anstarrte?
Sie hatte keine Ahnung. Aber Jade stellte fest, dass dieser Mann nicht vermummt war. Sie schaute für Sekunden in sein überrascht wirkendes Gesicht. Bedrohlich wirkte er eigentlich nicht, eher genauso verblüfft wie sie selbst. Für einen Moment schoss ihr die Beobachtung durch den Kopf, dass er eigentlich sogar recht gut aussah.
Doch bevor sie ihm etwas zurufen konnte, kam Bewegung in seinen Körper. Mit einer beachtlichen Geschwindigkeit rannte er davon. Auch er trug Sportschuhe, jedenfalls machten seine Schritte keine Geräusche auf dem stählernen Deck. Jade sah, dass er noch einen kleinen Rucksack bei sich trug. Was er damit wohl vorhatte?
Bevor sie reagieren konnte, riss der Schwarzgekleidete eine Tür auf und verschwand im labyrinthischen Inneren des Kreuzfahrtschiffs.
Nun erst öffnete Jade ihren Mund.
„Hey, was haben Sie hier zu suchen? Kommen Sie zurück!“
Aber natürlich tat der Unbekannte nicht das, was sie wollte. Wahrscheinlich konnte er ihre Stimme schon gar nicht mehr hören, denn vermutlich würde er unter Deck seine Flucht fortsetzen.
Jade überlegte, die Verfolgung aufzunehmen. Sie war kein Feigling, wollte aber auch nicht auf Biegen und Brechen die Heldin spielen. Immerhin musste man damit rechnen, dass der Kerl bewaffnet war. Es wäre auf jeden Fall besser, Hilfe zu holen.
Aber wo?
Nach kurzem Nachdenken fiel Jade ein, dass die Gangway doch gewiss auch nachts bewacht war. Sonst konnte ja jeder an Bord kommen, der kein Ticket besaß. Und der Schwarzgekleidete hätte bequem über die Gangway spazieren können, anstatt sich an einem Tau auf die MS Kyrene zu hangeln.
Die Gangway befand sich mittschiffs. Jade rannte dorthin. Schon von weitem sah sie den großen breitschultrigen Matrosen, der lässig an der Reling lehnte. Er hatte sie noch nicht bemerkt, denn er hörte über einen MP 3-Player Musik. Das sah sie im Näherkommen. Endlich war sie in seinem Gesichtsfeld. Er zog die Ohrstöpsel heraus und grinste sie an.
Es war nicht derselbe Matrose wie der bei ihrer Ankunft. Dieser Typ in Marineblau hatte die Figur eines Wettbewerbs-Bodybuilders. Seine Blicke verrieten, dass er in Flirtlaune war. Vielleicht erhoffte er sich auch nur eine Abwechslung bei seiner langweiligen Nachtwache.
„Hallo“, sprudelte Jade hervor. „Du kennst mich noch nicht, aber ich bin die neue Animateurin.“
Der Matrose fiel ihr ins Wort.
„Doch, ich weiß, wer du bist. Ich musste vorhin am Spotlight vorbei, da habe ich gesehen, wie du den Laden gerockt hast. Dein Tanzwettbewerb ist wohl super angekommen bei den Passagieren, gratuliere. Und du siehst in einem Minikleid verdammt sexy aus. – Ich bin übrigens Bruce.“
„Danke, Bruce. Aber um meinen Dance Contest geht es jetzt gar nicht. Und auch nicht um mein Kleid. -- Ich habe gerade gesehen, wie ein schwarz gekleideter Typ an Bord geklettert ist.“
„Hey, das ist cool! Machst du jetzt auch ein Detektivspiel, so eine Art rätselhafter Mörderjagd? Auf diese Idee sind die anderen Animateurinnen noch nicht gekommen. Aber du solltest deinen Rätselkrimi lieber tagsüber ablaufen lassen. Der Kapitän sieht es nicht gern, wenn die Passagiere die ganze Nacht lang durch das Schiff geistern.“
Jade riss die Augen auf. Wie krass war das denn? Dieser Matrose mit der Figur eines Türstehers glaubte offenbar, sie würde hier eine Bespaßung für die Urlauber über die Bühne bringen wollen.
„Bruce, da ist wirklich jemand auf dem Schiff, der nicht hierher gehört. Er ist an einem Tau an Deck gekommen, ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Das hat nichts mit meinem Job als Animateurin zu tun. Mit solchen Dingen mache ich keine Scherze.“
„Du meinst – ein blinder Passagier?“
„Ja, genau.“
„Und du bist sicher, dass du dich nicht getäuscht hast? An Bord eines Schiffes kann es für Mädchen schon manchmal unheimlich sein, vor allem nachts. Da hält man einen Bootskran für ein Monster und einen Lüfterkopf für einen lauernden Vampir.“
„Hallo? Geht’s noch? Ich bin keine hysterische Tussi, falls du das zu glauben scheinst. Und ich habe keine Monster und keine Vampire gesehen, sondern einen illegalen Passagier. Er hatte sogar einen Rucksack dabei, wenn du es genau wissen willst. Und jetzt suchst du gefälligst nach dem Kerl, wenn du nicht den Ärger des Jahrhunderts kriegen willst!“
Bruce hob abwehrend seine großen Pranken.
„Okay, okay. Immer mit der Ruhe. Du musst keine Angst haben, Süße. Du bleibst am besten hier, ich gehe nachschauen.“
Der breitschultrige Matrose setzte sich mit wiegendem Seemannsgang in Bewegung. Jade kochte inzwischen innerlich vor Wut. Was bildete sich dieser aufgepumpte Muskelmann eigentlich ein? Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man sie nicht ernst nahm. Darauf reagierte sie allergisch.
Plötzlich fiel ihr wieder Ann Brockwell ein. Ob sich Jades Vorgängerin auch jemandem anvertraut hatte? War sie auf ein genauso großes Unverständnis gestoßen wie Jade? Um das zu erfahren, musste Jade unbedingt den Rest vom Video-Tagebuch ansehen. Jedenfalls bereute sie es schon, Bruce um Hilfe gebeten zu haben. Das war nämlich völlig sinnlos.
Wie zur Bestätigung dieser Annahme kehrte der Matrose nun zurück. Er zuckte mit seinen imposanten Schultern.
„Da ist niemand zu sehen. Ich glaube, deine Fantasie hat dir doch einen Streich gespielt.“
„Wahrscheinlich. Da kann man nichts machen. Ich danke dir trotzdem – und weiterhin viel Spaß beim Musikhören.“
Mit dieser eiskalten Abfuhr ließ sie den verdatterten Bruce stehen. Was war ein Wachposten wert, dem die Ohren von den Bässen seines MP 3-Players dröhnten? Eine ganze Piratencrew hätte die MS Kyrene entern können, ohne dass Bruce auch nur einen einzigen Ton davon mitbekommen hätte. Und dann seine Herablassung gegenüber Jade – als ob alle jungen Frauen verängstigte Hühner wären!
Aber es hatte keinen Sinn, sich über den Kerl aufzuregen. Er war einfach ein Hohlkopf, jedenfalls nach Jades Meinung. Wo hätte Bruce den Schwarzgekleideten auch aufstöbern sollen? Das Schiff bot unzählige Versteckmöglichkeiten. Und sie ging davon aus, dass Bruce nicht gerade intensiv gesucht hatte.
In dem großen weißen Stahlrumpf der MS Kyrene war ein dunkles Geheimnis verborgen. Daran zweifelte Jade nicht. Ob Ann Brockwells Video-Tagebuch der Schlüssel zu dem Mysterium war?
Jade konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. In ihrer Kabine wurde sie nun endgültig von Müdigkeit und Erschöpfung überwältigt. Sie kam noch nicht einmal dazu, ihre Jogginganzug abzulegen. Sie ließ sich auf ihre Koje fallen und wurde sofort von einem ohnmachtsähnlichen tiefen Schlaf übermannt.
„Und eins, zwei, drei, vier, fünf – Wechsel zum linken Bein. Wieder eins, zwei …“
Jade war selbst überrascht, dass sie wenige Stunden später ausgeruht und frisch geduscht auf dem Promenadendeck erstmals ihr Power Workout für Frauen anbieten konnte. Sie hatte eigentlich erwartet, nach der kurzen Nacht völlig abgeschlafft zu sein. Doch offenbar machte sich ihre Fitness positiv bemerkbar. Außerdem lebte Jade sehr gesund, trank gerne Gemüsesäfte und Eiweißdrinks. Zwar hatte sie auch eine Schwäche für Schokolade, doch ihre Figur hatte darunter noch nicht gelitten. Jade verbrannte beim Sport einfach zu viele Kalorien.
Vielleicht lag es auch an dem herrlichen Wetter, dass es ihr so gut ging. Über den Dächern von Oslo schien die strahlende Frühlingssonne. Die Weitsicht war so gut, dass man auch die weiter entfernten Berggipfel entlang des Oslo-Fjords sehen konnte. Vom Promenadendeck der MS Kyrene hatte man einen Panoramablick auf die Stadt. Jade bedauerte beinahe, dass sie selbst von der norwegischen Hauptstadt nichts zu sehen bekommen würde, jedenfalls nicht auf dieser Reise. Im Lauf des Vormittags sollte das Kreuzfahrtschiff nämlich schon ablegen, wie sie erfahren hatte.
Es waren insgesamt acht Frauen, die sich auf Jades frühmorgendliches Gymnastikprogramm eingelassen hatten. Zu ihnen gehörte leider auch Roxanne. Das selbsternannte Top-Model trumpfte in einem Designer-Fitness-Outfit auf und gab sich alle Mühe, die anderen Frauen in den Schatten zu stellen. Allerdings war ihre Gelenkigkeit nicht halb so groß wie ihr Ego. Roxanne war zwar groß und schlank, bewegte sich aber ungefähr so elegant wie eine Ente, die an Land watschelt.
Doch daran gab sie natürlich nicht sich selbst die Schuld.
Die anderen Frauen bedankten sich nach dem Ende der Trainingseinheit mit freundlichem Applaus. Nur Roxanne war nicht gerade begeistert.
„Jade, dein sogenanntes Power Workout war ja wohl nur Müll! Mein Personal Trainer würde sich schlapplachen, wenn er deine Übungen sieht.“
Der lacht sich garantiert auch schief, wenn du so entenartig vor ihm herumturnst, dachte Jade. Aber sie sagte: „Es tut mir leid, wenn dir mein Programm nicht gefällt, Roxanne. Aber zum Glück gibt es ja genügend andere Fitness-Angebote auf dem Schiff.“
„Ja, was für ein Segen! Ich renne lieber eine Stunde lang allein auf dem Laufband im Gym, als noch einmal deinen Blödsinn mitzumachen!“
Mit diesen Worten und hocherhobener Nase rauschte Roxanne davon. Jade war kurz davor, sich zu ärgern. Aber dann sagte sie sich, dass man es einem Menschen wie Roxanne ohnehin niemals recht machen konnte. Also musste sie es auch gar nicht erst probieren. Sie konnte höchstens versuchen, Roxannes aufbrausendes Temperament einigermaßen im Zaum zu halten, damit die anderen Passagiere nicht unter ihren Starallüren zu leiden hatten.
Jade hatte ihr Power Workout für die Zeit vor dem Frühstück angeboten. Nun gönnte sie sich selbst erst einmal einen Obst- und Müsli-Energiestoß in der Personalkantine, bevor sie ihre Arbeit fortsetzte.
Während des Tages wollte Jade einen Mal-Workshop für die größeren Kinder anbieten, die nicht im schiffseigenen Kindergarten untergebracht waren. Das Tuten der Schiffssirene ertönte, und ein leichtes Zittern ging durch den mächtigen Stahlkörper der MS Kyrene.
Der Luxusliner legte ab.
Jade eilte auf Deck, um sich diesen Anblick nicht entgehen zu lassen. Das Wasser hinter dem Heck sprudelte, die Leinen wurden losgemacht. Immer weiter entfernte sich das große Kreuzfahrtschiff vom Pier, das von winkenden Schaulustigen besetzt war. Die MS Kyrene glitt in das Fahrwasser des Oslo-Fjords und drehte den Bug langsam Richtung offene See.
„Guten Morgen, Jade.“
Sie zuckte zusammen. Ihr war entgangen, dass Henry sich ihr genähert hatte. Aber nun lächelte sie ihm freundlich zu. Schließlich war er bisher der einzige an Bord, mit dem sie sich gut verstand.
„Guten Morgen, Henry. – Für dich ist dieses Ablege-Manöver wahrscheinlich schon Gewohnheit. Aber ich bin von dem Anblick ganz hin und weg.“
„Echt? Ich finde eigentlich, dass du bedrückt wirkst. Oder zumindest nachdenklich.“
„Sieht man mir so genau an, was in mir vorgeht? Das ist aber gar nicht gut.“
Henry zwinkerte ihr zu.
„Andere Leute bemerken wahrscheinlich gar nichts davon. Aber ich bin sicher, dass dich innerlich etwas beschäftigt.“
Jade beschloss, Henry zumindest teilweise in ihre Geheimnisse einzuweihen. Von dem Video-Tagebuch erzählte sie ihm allerdings noch nichts. Stattdessen berichtete sie von ihren nächtlichen Beobachtungen und der Reaktion des Matrosen. Henry grinste, als er davon hörte.
„Bruce ist ein Null-Checker. Viele Muskeln, wenig Hirn. Das musst du nicht persönlich nehmen. Allerdings ist es wirklich schwer, jemanden von deinem Erlebnis zu überzeugen. Ich würde mir an deiner Stelle dreimal überlegen, ob du damit zum Kapitän gehst.“
„Wieso?“
„Angenommen, er glaubt dir. Dann wird das Ablege-Manöver umgehend rückgängig gemacht, und wir legen wieder in Oslo an. Der Kapitän lässt das Schiff von der norwegischen Polizei durchsuchen. Das kann dauern, du weißt ja, wie groß die MS Kyrene ist. Und was passiert, wenn die Beamten den blinden Passagier nicht finden?“
„Was soll das denn heißen? Glaubst du mir etwa auch nicht?“
„Das hat nichts mit Glauben zu tun, Jade. Aber wenn die Polizisten erst an Bord sind, wird das dem Kerl nicht entgehen. Er wird Lunte riechen, weil er eben nicht geschnappt werden will. Vielleicht ist es ein Krimineller, der illegal das Land verlassen muss. Er schleicht wieder davon, um sein Glück auf einem anderen Schiff zu versuchen. Die Möglichkeit besteht zumindest. Und wenn die Polizei dann keinen blinden Passagier findet, möchte ich nicht in deiner Haut stecken. Kapitän Granger kann sehr unangenehm werden, glaube mir.“
Daran hatte Jade keinen Zweifel. Sie war Henry dankbar, weil er ihr die Folgen ihres Handelns deutlich gemacht hatte. Jade war bekannt, dass die MS Kyrene für die Kreuzfahrt einen strengen Zeitplan einhalten musste. Wenn es wegen einer erfolglosen Polizeiaktion zu Verzögerungen kam, war Ärger vorprogrammiert.
Und Jade würde ihren Job genauso schnell verlieren wie sie ihn bekommen hatte.
Henry legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm.
„Es kann nichts schaden, die Augen offen zu halten, Jade. Ich werde auch darauf achten, ob ich irgendwo Spuren eines blinden Passagiers finde. Schließlich kenne ich das Schiff wie meine Westentasche. Und wenn wir handfeste Beweise haben, können wir schließlich immer noch zum Kapitän gehen.“
„Ja, das ist gut. – Ich würde gern weiter mit dir reden, aber ich muss jetzt erstmal meinen Kinder-Malkursus auf den Weg bringen. Sonst denkt der Kapitän wirklich noch, ich wollte mir hier einen lauen Lenz machen.“
„Alles klar, Jade. Wir sehen uns später.“
Jade ging zum Zahlmeister. Er war nicht nur für das Geld, sondern auch für alle Materialien an Bord verantwortlich. Scheinbar gab es nichts, was an Bord der MS Kyrene nicht vorhanden war – aber alles lief durch die Hände des Zahlmeisters.
„Ja, natürlich haben wir Farben und Pinsel und Malpapier in unseren Vorräten“, sagte Watson zu Jade, nachdem sie ihren Wunsch geschildert hatte. „Die früheren Animateurinnen haben auch gern Malstunden für die Kinder angeboten.“
Der dicke Offizier suchte im Verwaltungsprogramm seines Computers den passenden Lagerraum, in dem das Material aufbewahrt wurde. Dann erklärte er Jade den Weg dorthin und gab ihr seinen riesigen Schlüsselbund. Offensichtlich hatte er keine Lust, seinen Bürosessel zu verlassen.
„Die Schlüssel bringen Sie mir dann aber bitte wieder zurück, Miss Walker.“
Jade versprach es hoch und heilig. Sie eilte in die Tiefen des Schiffsrumpfes. Aber entweder taugte die Wegbeschreibung des Zahlmeisters nichts oder ihr Orientierungsvermögen ließ zu wünschen übrig. Jedenfalls hatte sie sich nach kurzer Zeit bereits hoffnungslos verlaufen. Das war aber auch kein Wunder, denn die aus grauen zusammengenieteten Stahlplatten bestehenden Gänge sahen alle gleich aus. Gewiss, es gab hier und da Hinweispfeile mit Bezeichnungen wie „II ZD BB A“. Aber dadurch wurde Jades Verwirrung nur noch vergrößert.
Einmal begegnete sie einem Matrosen, den sie sofort nach dem Weg fragte. Aber er schüttelte nur den Kopf.
„Ich bin Maschinist. In den Vorratsbunkern war ich noch nie.“
Und bevor Jade noch etwas sagen konnte, war der Uniformierte schon wieder zum nächsten Niedergang geeilt. Jade setzte schlecht gelaunt ihren Irrweg fort. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Zahlmeister irgendwann sein Schlüsselbund vermissen würde. Spätestens dann würde wohl jemand nach ihr suchen.
Ob Ann vielleicht auch noch irgendwo durch die Gänge irrt? Fragte sie sich mit einem Anflug von Galgenhumor. Jade bog um eine Ecke.
Da schwirrte plötzlich ein schwerer Schraubenschlüssel haarscharf an ihrem Gesicht vorbei!
Das Werkzeug knallte krachend gegen die stählerne Wand neben ihr und fiel auf das Deck. Jade erschrak, aber sie war eher wütend als ängstlich.
„Spinnst du? Beinahe hättest du mich getroffen!“
Sie rief diese Worte, ohne den Werfer überhaupt sehen zu können. Aber dann kam er auf sie zu geeilt. Er war ebenfalls ein Matrose, nach seiner Montur zu urteilen. Eigentlich sah er verflixt gut aus, obwohl Jade normalerweise nicht auf dunkelhaarige Männer stand. Aber er hatte eine Ausstrahlung, die ihn faszinierend und markant erscheinen ließ. Vielleicht lag es an seinen sehr ausdruckvollen dunkelbraunen Augen, in denen sie momentan nur Erschrecken und Bedauern las.
„Hey, das – das wollte ich nicht. Ist dir etwas passiert?“
Seine Stimme war tief und weich wie Samt. Er trat nahe an Jade heran, bis er unmittelbar vor ihr stand. Der Matrose berührte sie sanft an den Oberarmen und schaute ihr direkt ins Gesicht. Seine Pupillen hatten etwas Unergründliches. Jade spürte, dass sie weiche Knie bekam. Dieser Typ war wirklich ungewöhnlich. Trotzdem konnte sie ihn nicht Hals über Kopf anhimmeln. Dafür steckte ihr die unerwartete Schraubenschlüssel-Attacke immer noch zu sehr in den Knochen.
„Wirfst du einfach aus Spaß mit Werkzeug um dich? Oder ist das ein spezieller Sport von dir?“
Während Jade diese Frage stellte, linste sie neugierig an ihrem Gegenüber vorbei. Hinter dem Matrosen befand sich eine offen stehende Luke. Es roch stark nach Maschinenöl. Im Halbdunkel sah man Kolben, Rohre sowie Teile einer Schraubenwelle. Der Matrose hatte ihren interessierten Blick bemerkt.
„Das ist einer der Hilfsmaschinenräume“, erklärte er. „Ich bin mit der Wartung beauftragt. Die Hilfsmaschinen kommen nur zum Einsatz, wenn die Hauptmaschine ausfällt. Aber leider läuft die Arbeit nicht so, wie sie sollte. Und da bin ich mal kurz ausgerastet und habe den Schraubenschlüssel durch die Gegend gepfeffert. -- Jedenfalls bin ich froh, dass du nicht verletzt wurdest. Mein Name ist übrigens Rick. Rick Andrews.“
„Und ich bin Jade Walker, die neue Animateurin. – Hilfsmaschinenraum, sagst du? Verflixt, da muss ich mich ja mächtig verlaufen haben. Ich wollte eigentlich zu den Vorratsbunkern.“
Sie zeigte Rick den Zettel, auf dem sie sich die genaue Bezeichnung des Raumes notiert hatte, wo die Pinsel und Farben gelagert waren. Rick lächelte süß, und in diesem Moment konnte sie ihm schon nicht mehr böse sein. Wie hätte er schließlich ahnen sollen, dass sie gerade um die Ecke biegen wollte? Er hatte Jade ja von seiner Position aus gar nicht sehen können.
„Das ist wirklich ziemlich weit entfernt von hier. – Weißt du was, Jade? Ich bringe dich dorthin. Sozusagen als kleine Entschädigung für den Schreck, den ich dir eingejagt habe.“
Dieses Angebot nahm Jade gern an. Nicht nur, weil Rick ihr gut gefiel. Sie war es einfach leid, ihre Zeit mit sinnlosem Suchen zu vergeuden. Der Matrose legte seinen Werkzeuggürtel ab, dann ging er mit Jade gemeinsam los.
„Wie gefällt es dir auf der MS Kyrene, Jade?“
„Das Schiff kommt mir vor wie eine schwimmende Stadt. Es gibt an Bord scheinbar alles, was man für einen angenehmen Urlaub benötigt.“
„Ja, das stimmt. Und die Arbeit ist auch okay, jedenfalls für mich. Von der Technik her macht es keinen Unterschied, ob man auf einem Containerschiff oder einem Luxusliner die Maschinen bedient. Aber die Bezahlung ist besser, und man hat auch öfter mal die Möglichkeit zum Landgang.“
„Kann man sich auf einem Containerschiff eigentlich auch so gut verstecken?“
Rick schien ihre Frage lustig zu finden, jedenfalls drang ein trockenes Lachen aus seiner Kehle.
„Verstecken? Wieso, willst du dich vor der Arbeit drücken?“
„Unsinn. Das kann man als Animateurin sowieso nicht, denn ich muss ja den ganzen Tag lang Programm für die Passagiere machen. – Nein, ich dachte an blinde Passagiere. Hier auf der MS Kyrene gibt es für solche Leute doch unzählige Versteckmöglichkeiten. Ich habe mich gefragt, ob das auf Containerfrachtern genauso ist.“
„Nein, das sind Riesenkähne mit nur wenigen Männern Besatzung. Also gibt es auch nur wenige Kabinen und Vorratsbunker. Zwischen den Containern selbst kannst du dich zwar verstecken, aber du würdest schnell verhungern und verdursten. Diese Schiffe sind wochenlang auf See, zum Beispiel auf der Route Shanghai – Rotterdam. Aber wie kommst du ausgerechnet auf blinde Passagiere?“
Jade zuckte mit den Schultern.
„Ach, nur so. Ich habe ja keine Ahnung von Seefahrt, sondern bin eine richtige Landratte. Da frage ich euch Matrosen natürlich ein Loch in den Bauch. -- Immerhin, vom Kielholen habe ich auch schon gehört.“
Sie lachten beide. Jades Frage nach den blinden Passagieren schien Rick etwas verblüfft zu haben. Oder kam ihr das nur so vor? Jedenfalls war er nett und charmant und versuchte offenbar, seine misslungene Aktion mit dem Schraubenschlüssel wieder wettzumachen.
„Du bist jedenfalls ganz anders als deine Vorgängerin. Diese Ann Brockwell war eine richtig eingebildete Ziege. Uns Matrosen hat sie behandelt wie den letzten Dreck. Naja, sie kannte es wohl auch nicht anders. Sie war so ein typisches verwöhntes Millionärstöchterchen.“
Dieses harte Urteil erstaunte Jade. Sie hatte bisher einen ganz anderen Eindruck von Ann gewonnen. Aber sie wollte sich nicht in die Karten schauen lassen. Daher fragte sie: „Wie kommst du denn darauf, Rick?“
„Findest du es vielleicht normal, dass sie einfach Ihren Job hinwirft, weil sie plötzlich keine Lust mehr auf Arbeit hat? So etwas kann sich unsereins doch gar nicht erlauben. Ich wette, Ann hat gleich Anschluss bei der Schickeria von Oslo gefunden und shoppt sich jetzt durch die teuersten Geschäfte der Stadt. Das kann ich mir so richtig vorstellen.“
„Hat sie zu dir gesagt, dass sie einfach verschwinden wollte?“
„Zu mir? Glaubst du im Ernst, Ann hätte jemals mit einem nach Maschinenöl riechenden Matrosen wie mir gesprochen?“
„Das weiß ich nicht“, murmelte Jade. „Ich habe sie ja gar nicht gekannt.“
Jade war durcheinander, obwohl sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Hatte Rick einen bestimmten Grund, so schlecht über Ann zu reden? War er vielleicht bei ihr abgeblitzt und machte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Olivia Prodesign, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6290-4
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