Mia Robbins liebte die U-Bahn, und sie liebte die Gefahr. Deshalb stieg sie auch bedenkenlos in den letzten Zug der Piccadilly Line, der um kurz vor ein Uhr nachts verkehrte. Obwohl es ein normaler Donnerstag war, hatte sich ziemlich viel Partyvolk angefunden. Ein London-Trip lohnte sich eben zu jeder Jahreszeit, und zahlreiche Feierwütige waren schon auf den ersten Blick als Touris zu erkennen.
Mia schmunzelte verstohlen über die verwirrten Fremden, die mit Stadtplänen und Handy-Navis bewaffnet durch die Stationen irrten. Obwohl sie erst seit einem Jahr in der Hauptstadt lebte, kam sie sich schon wie eine alteingesessene Londonerin vor. Die U-Bahn hatte es ihr besonders angetan. Bisher hatte Mia noch keinen Führerschein, aber erstens hätte sie sich von ihrem schmalen Gehalt sowieso kein Auto leisten können. Und zweitens liebte sie die Atmosphäre der U-Bahn, die von den Londonern einfach nur Tube genannt wurde.
Zu den Stoßzeiten quetschten sich die Passagiere in die Wagen wie Sardinen in eine Büchse, doch noch nicht einmal diese Enge und die schlechte Luft störten Mia. Wenn sie morgens ins Büro fuhr, dann kam es ihr so vor, als wäre die ganze Welt um sie herum versammelt. Sie teilte sich ihren Weg mit Inderinnen im Sari, mit baumlangen Afrikanern, mit schlipstragenden Asiaten, mit Punks und Gothics und Emos – es kam ihr wirklich so vor, als würde sie mit der ganzen Welt in einem Waggon stehen.
Was für ein Unterschied zu ihrer verschlafenen Heimatstadt in den Midlands!
In der letzten U-Bahn des Tages war es nicht so voll. Mia hatte die Beine übereinander geschlagen und wippte mit der Fußspitze im Rhythmus zu dem Sound, den ihr der MP-3-Player in die Ohrmuscheln spülte. Sie hatte die Lautstärke ziemlich aufgedreht, denn sie hatte keine Lust auf die bierseligen Sprüche der anderen Passagiere. Ihre Körpersprache sagte eindeutig: Mach‘ mich nicht an!
Und plötzlich saß Mia allein im Waggon. Es war, als ob alle anderen Leute wie auf ein lautloses Signal hin plötzlich gleichzeitig an der Station Leicester Square ausgestiegen wären. Das konnte Mia nur recht sein. Sie schaute sich kurz ihr Spiegelbild im Wagenfenster an. Eigentlich wirkte sie noch ziemlich frisch, obwohl sie auf der Party fast drei Stunden lang ununterbrochen getanzt hatte. Mia war gut in Form, sie hielt sich mit Karate fit. Der Kampfsport war auch ein Grund, weshalb sie sich nicht vor nächtlichen U-Bahn-Fahrten fürchtete. Wenn ihr jemand zu nahe kommen wollte, dann legte er sich nämlich mit einer Braungurt-Trägerin an!
Mia wurde oftmals unterschätzt, was auch an ihrer zierlichen Figur lag. Sie hatte erst vor kurzem ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert, wurde aber oft für siebzehn oder höchstens achtzehn gehalten. Diese Tatsache nervte sie gewaltig. Aber zum Glück war sie volljährig, ihre Eltern lebten noch daheim in den Midlands und konnten ihr keine Vorschriften mehr machen …
Während Mia diese Gedankenfetzen durch den Kopf spukten, veränderte sich plötzlich die Atmosphäre in dem U-Bahn-Waggon. Dabei fuhr der Zug genauso schnell wie sonst, soweit Mia das beurteilen konnte. Ein Zittern lief durch den Wagen, als er sich in die Kurve legte.
Mia war irritiert, obwohl sie sich nicht ängstigte. Noch nicht. Sie hatte es sich in dem leeren Waggon auf ihrem Sitzplatz bequem gemacht und die Beine auf die gegenüberliegende Bank gelegt. Nun nahm sie ihre Füße wieder herunter und setzte sich aufrecht hin. Dann drehte sie sich um, wobei sie versuchte, möglichst unbefangen zu wirken.
Nichts.
Hinter sich erblickte Mia nur die menschenleeren übrigen Bänke, ansonsten die Werbetafeln für Shampoo, Burger und andere Konsum-Kinkerlitzchen. Mia ärgerte sich über ihre düsteren Vorahnungen. Sie spürte eine Beklemmung, für die es keinen Anlass gab. Doch die nächste Station war sowieso Russell Square, wo sie aussteigen …
Der Angriff kam so schnell und unerwartet wie ein Messerstich bei einer Hochzeitszeremonie. Plötzlich waren die dunklen Gestalten da, und sie waren zu dritt. Mias zerlumpte Widersacher mussten sich hinter den Sitzbänken versteckt gehalten haben, um einen optimalen Moment für ihre Attacke abzupassen.
Am Unheimlichsten war die Lautlosigkeit, mit der die Typen kämpften. Mia merkte schnell, dass ihre Karatekenntnisse ihr nur wenig halfen. Gewiss, sie schaffte es, sich einen Angreifer mit einem Fußtritt vom Hals zu halten. Aber im nächsten Moment wurde sie auch schon von den beiden anderen Kerlen gepackt. Aus der Nähe bemerkte Mia den penetranten Geruch, den die Männer verströmten.
War es Blut?
Mia holte zu einem verzweifelten Befreiungsschlag aus. Doch sie konnte ihre Faust nicht mehr in die Rippen eines Gegners krachen lassen. Ein fürchterlicher Schlag mit einem Schraubenschlüssel auf ihren Hinterkopf ließ Mia in das tiefe finstere Tal der Bewusstlosigkeit stürzen.
Janet Robbins machte sich noch keine Sorgen, als Mia nicht zum Frühstück erschien.
Sie kochte erst einmal Tee, während sie gleichzeitig das Chaos in der Küche beseitigte, einen Blick auf ihren Vorlesungsplan warf und ihren schwarzen Nagellack suchte. Janet lebte zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Mia, der belgischen Krankenschwester Claire und der spanischen Studentin Lucia in einer Frauen-WG in der Southhampton Road. Und in dem lockeren Quartett schien Janet die Einzige zu sein, die einen gewissen Ordnungssinn in ihren Genen hatte.
Janet schaute auf die Zeitanzeige ihres Handys, während sie ihr Früchte-Müsli löffelte. Sie selbst hatte erst um zehn Uhr eine Informatik-Vorlesung und konnte den Tag halbwegs ruhig angehen lassen. Aber Mia musste jeden Morgen pünktlich in der Spedition erscheinen, wo sie momentan als Büro-Leibarbeiterin knechtete. Mia ließ sich oft wortreich darüber aus, was für ein Drachen ihre Chefin war. Das Büro befand sich am anderen Ende der Stadt, Mia musste fast eine Dreiviertelstunde mit der U-Bahn dorthin fahren und dabei dreimal umsteigen.
Kurz entschlossen ging Janet zu Mias Zimmer, klopfte und trat gleich darauf ein.
Das Bett ihrer Schwester war nicht berührt.
Janet spürte, wie sie von einem leichten Schreck durchzuckt wurde. Eigentlich gab es keinen Grund zur Beunruhigung, wie sie sich selbst einzureden versuchte. Mia war volljährig und konnte gut auf sich selbst aufpassen, Mia trainierte Karate, Mia flirtete gern und hatte sich vielleicht auf der Party spontan verknallt, Mia – Mia ist vor allem meine kleine Schwester!, sagte Janet innerlich zu sich selbst. Und deshalb war es ihr gutes Recht, sich wegen Mia den Kopf zu zerbrechen. Jedenfalls ihrer eigenen Meinung nach.
Sie trat in das Zimmer. Unwillkürlich wünschte sie sich, dass Mia in diesem Moment die Wohnungstür öffnen und sie anraunzen würde, dass sie nicht in ihren Sachen schnüffeln solle. Aber das geschah nicht.
Janet schaute sich flüchtig um. Alles schien wie immer zu sein. Die Unordnung war nur halb so groß wie in der Küche. Aber das lag zweifellos daran, dass Mia meist nur zum Schlafen nach Hause kam. Lebenshungrig stürzte sich Janets jüngere Schwester stets in den Strudel von Partys und Events, den London jeden Tag und jede Nacht zu bieten hat.
Aber bisher war sie immer nach Hause gekommen.
Janet erschrak, als sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in Mias großem Ankleidespiegel erhaschte. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen war totenbleich. Janets große braune Augen, die von einem Ex-Lover als „elfenhaft“ beschrieben worden waren, hatten momentan einen ziemlich panischen Ausdruck. Mias Ausbleiben ging ihr doch mehr an die Nieren, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Janet eilte in die Küche zurück, griff sich ihr Smartphone und holte Mias Nummer aus dem Kurzwahlspeicher. Nichts. Das Handy ihrer kleinen Schwester war ausgeschaltet.
„Hallo? Ist jemand zuhause?“
Janet zuckte zusammen, als die weibliche Stimme hinter ihr ertönte. Sie wirbelte herum. Aber es war natürlich nicht Mia, die sie angesprochen hatte. Erstens sprach Janets Schwester nicht mit einem leichten kontinentalen Akzent, und zweitens war es wohl kaum möglich, Claire für Mia zu halten. Die belgische Krankenschwester war strohblond und füllig, während die zierliche Mia als Titelmodel für ein Teenie-Magazin hätte dienen können.
„Ich habe dir gerade schon mal einen guten Morgen gewünscht, aber du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest. Hast du eine Seance gemacht?“
Janet seufzte genervt. Nur weil sie sich für Mystisches und Unerklärliches aller Art interessierte, wurde Janet von ihrer belgischen Mitbewohnerin für eine Geisterbeschwörerin gehalten. Claire fand es auch sehr merkwürdig, dass Janet Menschen hypnotisieren konnte. Janet hatte ihr schon mehrfach erklärt, dass daran überhaupt nichts Unheimliches wäre und Hypnose auch von Ärzten zur Heilung eingesetzt wurde. Claire konnte in dieser Hinsicht sehr stur sein. Aber das war Janet egal, denn ihr kam gerade eine rettende Erinnerung.
„Sag‘ mal, Claire – wolltest du nicht gestern Abend zusammen mit Mia zu einer Party? Mir ist so, als ob ich im Vorbeigehen so etwas aufgeschnappt hätte.“
Die Belgierin nickte. Sie streifte im Nachthemd durch die Küche und bereitete sich heißes Wasser für ihren Pulverkaffee zu. Claire trank keinen Tee.
„Die Party? Ja, das stimmt. Ich war mit Mia dort – ein total öder Abend, fand ich jedenfalls. Dabei fand sie im feinen Knightsbridge statt. Einer unserer Assistenzärzte hatte mich eingeladen. Tony sagte, dass ich auch noch eine Freundin mitbringen könnte. Das habe ich dann ja auch getan, nämlich deine Schwester. Mia kannte dort keinen Menschen, aber sie stand sofort im Mittelpunkt. Na ja, du weißt ja, wie sie ist. Ein richtiger Wirbelwind, und sie kann auch sehr charmant sein. In meinen Augen sind ja Tony und seine Kollegen nur langweilige Spießertypen. Ich war total enttäuscht. Noch nicht mal die Häppchen waren genießbar. Wenn ich da an diese Bottle-Party in Brixton vorige Woche denke …“
Janet rollte ungeduldig mit den Augen.
„Die Party war also in Knightsbridge? Und wo genau? Und wie heißt dieser Gastgeber, dieser Tony, mit vollem Namen?“
Claire schien allmählich zu kapieren, dass Janet völlig von der Rolle war. Die Krankenschwester blinzelte irritiert, während sie sich zwei Löffel Zucker in ihren Kaffee rührte.
„Warum bist du denn so durch den Wind? Ist mit Mia etwas nicht okay?“
„Keine Ahnung, aber das wüsste ich gern“, fauchte Janet. „Mia ist nämlich nicht in ihrem Zimmer, und ihr Bett ist unberührt.“
Claires volle Lippen formten ein großes O. Sie wirkte erstaunt, aber nicht besonders beunruhigt. „Glaubst du, deine Schwester ist von einem der Partygäste abgeschleppt worden?“
„Ich weiß nicht – sag‘ du es mir, Claire. Im Gegensatz zu mir bist du ja bei diesem blöden Tony gewesen!“
„Er ist nicht blöd, nur ein bisschen langweilig … Außerdem war ich nicht besonders lange auf der Party. Ich bin schon gegen halb elf abgehauen, aber Mia wollte noch bleiben.“
„Und das hast du zugelassen?“
Claire wurde nun langsam sauer. Das konnte Janet an der Antwort ihrer Mitbewohnerin deutlich merken.
„Zugelassen? Hallo, geht’s noch? Ich bin doch nicht die Gouvernante deiner Schwester, Janet! Und selbst wenn ich es wäre – seit wann lässt sich Mia denn etwas vorschreiben? Sie hat ihren eigenen Kopf, das müsstest du doch besser wissen als ich.“
Damit hatte Claire Recht. Vorschriften aller Art waren für Mia ein rotes Tuch. Es hatte schon oft Zoff in der WG gegeben, weil sich Mia nicht an den Putzplan hielt. Um des lieben Friedens willen hatte Janet oft anstelle ihrer Schwester den Dreck entfernt. Mias Verhalten brachte sie zwar oft auf die Palme, aber Janet konnte ihr nie lange böse sein. Mia war eben doch ihre kleine Schwester und würde es immer bleiben.
Und nun war sie verschwunden.
Janet atmete tief durch und zwang sich dazu, nicht noch panischer zu werden. Aber so einfach war das nicht. Es gab tausend furchtbare Dinge, die einer jungen Frau in einer Stadt wie London zustoßen konnten. Leider besaß Janet eine sehr lebhafte Fantasie, mit der sie sich solche Horrorszenarien innerlich ausmalte. Sie schüttelte sich, als ob sie dadurch böse Tagträume abschütteln könnte.
„Mia wird bestimmt nur ihren Spaß haben“, meinte Claire beruhigend. „Bestimmt hat sie ihren Traumtypen getroffen.“
Diese Vorstellung war auch für Janet immer noch die harmloseste. Soweit sie wusste, hatte ihre kleine Schwester momentan keinen festen Freund. Mia flirtete gern und genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie hatte viele Verehrer, aber normalerweise hielt sie die Typen lieber auf Distanz, bevor es ernst wurde. Janet war der Meinung, dass Mia trotz ihrer lockeren Art in Wirklichkeit an die große Liebe glaubte.
Und wenn sie nun an den Falschen geraten war? An einen Dreckskerl, der sich mit Gewalt holte, was er sonst nicht bekam?
Janet versuchte, sich auf die vergangene Nacht zu konzentrieren. Sie wandte sich wieder an ihre Mitbewohnerin, die inzwischen Toast mit Nussnougatcreme in sich hineinstopfte.
„Gab es einen Partygast, der besonders auf Mia abgefahren ist, Claire?“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. „Nicht, dass ich wüsste. Aber du musst dir echt keine Sorgen machen, Janet. Tony hat nur harmlose Leute eingeladen. Die meisten sind wohl Assistenzärzte, so wie er selbst. Wie gesagt, biedere Spießertypen. Mia hat mit einigen von ihnen getanzt, aber mehr auch nicht. Jedenfalls habe ich keine Knutschereien oder etwas in der Richtung bemerkt.“
Diese Aussage beruhigte Janet nur halb, denn Claire hatte ja schon ziemlich früh den Heimweg angetreten. Und Mia drehte erst nach Mitternacht so richtig auf, wie ihre ältere Schwester aus Erfahrung wusste.
„Wo wohnt denn nun dieser Tony?“, bohrte Janet nach.
„Die Adresse lautet 77 Brompton Road, das ist in der Nähe der U-Bahn-Station Knightsbridge. Tony heißt mit Nachnamen Ryan. – Hör mal, du willst ihm doch wohl keine Szene machen, oder?“
Janet schüttelte den Kopf.
„Nein, aber ich will wissen, wann meine Schwester seine Party verlassen hat. Und vor allem: mit wem.“
Es gab natürlich auch noch die Möglichkeit, dass Janet Mia im Bett des Gastgebers antreffen würde. Aber das sprach Janet ihrer Mitbewohnerin gegenüber nicht aus. Sie war sowieso schon sauer auf Claire, weil die Krankenschwester Mia zu der Party mitgeschleift hatte. Janet wusste, dass sie Claire damit unrecht tat, denn Mia war ja letztlich für sich selbst verantwortlich. Aber auch Janet konnte nicht aus ihrer Haut.
Sie zog Jacke und Schuhe an, griff zu ihrer Handtasche.
„Ich bin dann weg. Rufst du mich auf dem Handy an, falls Mia inzwischen hier auftauchen sollte?“
„Ja, natürlich“, erwiderte Claire. Sie wollte noch etwas sagen, aber Janet warf die Wohnungstür ins Schloss und eilte aus dem Haus, Richtung U-Bahn-Station. Ihre Uni-Veranstaltung konnte sie vergessen, aber das war Janet in diesem Moment herzlich gleichgültig. Wie sollte sie sich auf irgendwelche Computersprachen konzentrieren, wenn die Ungewissheit über Mias Schicksal sie innerlich auffraß?
Janet quetschte sich in einen der überfüllten Tube-Waggons der Piccadilly-Line. Die Enge und die schlechte Luft machten ihr nichts aus. Viel schlimmer war für Janet die Vorstellung, bei Dunkelheit die U-Bahn benutzen zu müssen. Sie litt unter einer krankhaft gesteigerten Furcht vor der Finsternis, seit sie als Kind …
Janet presste die Lippen aufeinander. Meistens schaffte sie es, sich nicht in ihren qualvollen Erinnerungen zu verstricken. Im Wachzustand hatte Janet ihr Bewusstsein ganz gut im Griff. Nur nachts, wenn die Träume kamen, griffen die Dämonen ihrer Vergangenheit nach ihr. Janet musste einfach herausfinden, was mit ihrer Schwester geschehen war. Vorher würde sie keine innere Ruhe finden, darüber machte sie sich keine Illusionen.
Während sich Janet durch die drängelnden und schubsenden Passagiere schob und an der Station Knightsbridge die Treppe hoch stieg, wurde ihre Anspannung immer stärker. Wie sollte sie sich verhalten, wenn Mia und dieser verflixte Tony wirklich noch im Bett lagen? Sie war innerlich hin- und hergerissen. Einerseits stellte sich Janet die Situation als ziemlich peinlich vor, und zwar für alle Beteiligten. Mia musste sich doch wie ein kleines Kind fühlen, wenn ihre große Schwester sie aus der Wohnung ihres Liebhabers abholen kam! Doch andererseits war ein Assistenzarzt am Chelsea and Westminster Hospital gewiss nicht der übelste Kerl, an den eine junge Frau in London geraten konnte.
Dr. Tony Ryan lebte in einem repräsentativen Stadthaus im viktorianischen Stil. Janet wusste, dass junge Ärzte an staatlichen Kliniken nicht gerade üppig bezahlt wurden. Der Arzt musste also über ein beachtliches Privatvermögen verfügen, sonst hätte er sich eine Wohnung im teuren Stadtteil Knightsbridge niemals leisten können.
Janet kam sich vor wie in einer Filmkulisse für einen Nostalgie-Krimi, während sie in das erste Stockwerk hoch stieg. Offenbar bewohnte Tony dort eine ganze Etage. Janets Finger waren schweißnass vor Aufregung, als sie den Türklopfer in Form eines bronzenen Löwenkopfes betätigte.
Janet zwang sich dazu, ruhig und tief zu atmen, um ihre innere Unruhe in den Griff zu bekommen. Sie wusste noch nicht einmal, wie der Kerl aussah, der ihre Schwester … Bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, wurde die schwere lackierte Eichentür geöffnet. Ein großer schlaksiger Typ in Joggingklamotten stand vor ihr. Er trug eine schwarze Hornbrille im Clark-Kent-Stil, wirkte trotz seiner legeren Kleidung vertrauenerweckend. Er warf seiner Besucherin einen unsicheren und gleichzeitig fragenden Blick zu.
„Ja?“
„Ich bin Janet, die Schwester von Mia Robbins. Ist sie noch bei dir?“
„Wer?“
Der Gesichtsausdruck des Clark-Kent-Doubles zeigte grenzenlose Verwirrtheit.
„Mia Robbins natürlich!“ Janet konnte sehr resolut sein, wenn sie wollte. „Mia war gestern auf deiner Party, sie ist mit Claire Piaget gekommen. Du bist doch Tony Ryan, oder?“
Ihr Gegenüber antwortete nicht sofort, sondern taxierte Janet mit einem Blick von oben bis unten. Normalerweise konnte sie es nicht ausstehen, so angestarrt zu werden. Doch Janet musste dem Typ zugestehen, dass er vermutlich nicht oft von Frauen im Retro-Look mit Gothic-Einschlag aufgesucht wurde. Janet trug an diesem Morgen einen knielangen pechschwarzen Rüschenrock, dazu ein violettes Top und eine Kurzjacke mit silberfarbenen Husarenschnüren und kleinen Totenkopf-Ansteckern. Für Londoner Verhältnisse war das kein allzu schrilles Outfit, aber Dr. Tony Ryan fand Janet offenbar exotisch genug. Jedenfalls schaute er sie an, als ob sie nicht alle Tassen im Schrank hätte.
„Äh, ja. Ich bin Doktor Tony Ryan. Wollen Sie … willst du nicht hereinkommen?“
Einen Moment lang zögerte Janet. Ob das eine Falle war? Aber der Brillenträger wirkte nicht besonders gefährlich. Außerdem hatte sie ja für alle Fälle immer noch eine Dose Pfefferspray in ihrer Flohmarkt-Handtasche. Claire war eine Zeitlang der Meinung gewesen, dass Janet einen Angreifer mit ihren Hypnose-Fähigkeiten schachmatt setzen könnte. Aber so etwas funktionierte nicht, denn wer sich dagegen sträubte, der würde auch nicht in Trance fallen.
Während ihr diese Gedankenfetzen durch den Kopf spukten, folgte Janet dem jungen Arzt in seine großzügig geschnittene Wohnung. Er führte Janet direkt in den Salon. Hier hatte offenbar die Party stattgefunden. Es standen noch einige Weinflaschen und leere Teller herum. Aber im Vergleich zu Janets WG-Küche herrschte trotzdem eine mustergültige Ordnung. Trotzdem räusperte sich Tony verlegen, bevor er zu sprechen begann.
„Ich muss mich für das Chaos entschuldigen, äh, Janet. Aber es waren viel mehr Leute hier als ich eingeladen hatte, unter anderen auch deine Schwester. Ich habe nur kurz mit Mia gesprochen. Als Gastgeber muss man ja überall und gleichzeitig sein.“
„Sicher, das verstehe ich.“ Janet schaute Tony nun direkt in die Augen. „Und du bist sicher, dass Mia nicht rein zufällig in deinem Bett gelandet ist?“
Janet hatte die Unsicherheit ihres Gegenübers bemerkt. Deshalb traute sie sich auch, einem wildfremden Mann diese Frage zu stellen. Die Sorge um Mia ließ sie forscher erscheinen als sie es sonst war. Aber das konnte Tony ja nicht wissen.
„Nein, ich …“ Tony verstummte. Janets Verdacht, dass er etwas vor ihr verbarg, wurde immer stärker.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mich umsehe? Du hast wirklich eine tolle Wohnung, um die werden dich viele Londoner beneiden.“
Und bevor der junge Arzt protestieren konnte, durchmaß Janet den großen Salon mit ihren Schritten. Sie war größer als die meisten Frauen, der hochgewachsene Tony maß nur ungefähr eine Handbreit mehr als sie. Daher fühlte sich Janet auch im Wortsinn als die große Schwester, während Mia klein und niedlich war und von den meisten Typen mit dem Püppchen-Bonus etikettiert wurde.
Janet riss eine Tür auf. Sie blickte in die Küche, wo sich schmutziges Geschirr stapelte. Aber es war keine Mia zu sehen, die am Tisch hockte und grinsend ihren Morgentee schlürfte. Die Küche war menschenleer.
Tony wieselte nervös hin und her. Für Janet stand fest, dass er ihr etwas verschwieg. Durch ihre Beschäftigung mit Hypnose und Trancezuständen hatte sich ihre Menschenkenntnis stark verbessert. Janet checkte noch zwei Räume, die als Abstellkammer und als kleines Arbeitszimmer dienten. Dann wandte sie sich einer anderen Tür zu. Tony machte einen halbherzigen Versuch, sie am Betreten des Zimmers zu hindern. Aber sie schob ihn einfach zur Seite.
Janet stand nun im Schlafgemach des Arztes.
Er besaß ein wunderschönes antikes Himmelbett. Ansonsten war der Raum mit Aktfotografien geschmückt. Aber alle diese Bilder zeigten attraktive junge Männer. Es gab auch Nachbildungen von griechischen oder römischen Statuen aus dem Altertum zu sehen. Aber auch diese Kunstwerke dienten der Verherrlichung von männlicher Schönheit.
„Du stehst überhaupt nicht auf Frauen, oder?“
„Ich finde, das geht dich überhaupt nichts an“, erwidert Tony gekränkt. „Du kennst mich überhaupt nicht, überfällst mich in meiner Wohnung und dringst sogar in mein Schlafzimmer ein!“
Plötzlich wurde Janet bewusst, dass sie sich unmöglich benommen hatte. Sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Tony. Ich mache mir einfach große Sorgen um meine Schwester, verstehst du? Sie war gestern auf deiner Party, und sie ist nicht heimgekommen. Wir wohnen zusammen. Als ich vorhin in ihr Zimmer kam, war ihr Bett unberührt.“
„Du hast Angst, dass ihr etwas passiert sein könnte?“
„Ist das so abwegig? Du bist doch Arzt, du müsstest doch wissen, dass London ein heißes Pflaster ist.“
„Das stimmt leider. Ich bin Internist, aber ein Freund arbeitet als Unfallchirurg und muss oft auch Verbrechensopfer zusammenflicken.“ Tony erschrak plötzlich vor dem, was er gesagt hatte. „Das muss aber nicht heißen, dass deine Schwester … ich meine …“
Er begann zu stammeln. Janet wusste nun immerhin, dass Mia nicht vom Gastgeber verführt worden war. Aber das Schicksal ihrer Schwester blieb immer noch rätselhaft.
„Ich brauche deine Hilfe, Tony. Woran kannst du dich erinnern? Mit wem hat Mia besonders heftig geflirtet? Ich weiß, dass meine Schwester das gerne tut. Da wird sie bei deiner Party keine Ausnahme gemacht haben.“
Tony legte die Stirn in Falten. Es machte den Anschein, als ob er heftig nachdenken würde. Aber dann schüttelte er den Kopf. „Ich bedaure, Janet – aber mir fällt nur Adam ein. Das ist ein sehr gutaussehender Freund von mir, der sich aber ebenfalls nichts aus Mädchen macht. Deine Schwester hat ein paar Mal mit ihm getanzt, wenn ich mich nicht täusche. Aber sie konnte bei Adam natürlich nicht landen. Ich glaube mich aber zu erinnern, dass Mia irgendwann zwischen Mitternacht und ein Uhr plötzlich verschwunden war. Jedenfalls ist sie nicht mit Adam gegangen, der blieb nämlich noch länger und ging mit seinem Freund Michael nach Hause. Vielleicht weiß er Näheres, er hat ja schließlich mit ihr getanzt. Ich rufe ihn an, dann kannst du selbst mit ihm sprechen.“
Tony griff nach seinem Handy. Janet fand es gut, dass er sie unterstützte – wenn auch vermutlich nur, um sie möglichst bald loszuwerden. Aber das war ihr egal. Janet kam es nur darauf an, endlich Mia zu finden. Zwischenzeitlich hatte sie noch mehrfach erfolglos versucht, ihre Schwester anzurufen. Mias Handy war und blieb ausgeschaltet.
Tony hatte nun Adam gerade am Telefon erklärt, worum es ging. Er reichte Janet sein Smartphone. Eine samtweiche Männerstimme ertönte, als Janet das Gespräch annahm.
„Adam Garland hier. Du suchst also deine Schwester?“
„Ja, genau.“
„Ich habe auf Tonys Party mit ihr getanzt, sie ist sehr flippig. Ein süßes Ding. Sie hat irgendwann gemerkt, dass ich mit meinem Freund dort war. Dann sagte sie zu mir, dass sie noch die letzte U-Bahn erwischen wollte. Sie ist gegen viertel vor Eins gegangen.“
„Und Mia wollte nach Hause?“, vergewisserte sich Janet.
„Ja, falls sie mit der Piccadilly-Line dorthin kommt. Die Station liegt ja nicht weit von Tonys Wohnung entfernt. Ich fragte sie noch, ob sie nicht lieber ein Taxi nehmen wolle. Aber Mia meinte, sie habe keine Angst.“
Dafür war Janets Furcht nun umso größer. Sie stellte Adam noch einige Fragen, aber er wusste offenbar nicht mehr. Sie beendete das Gespräch und gab Tony sein Smartphone zurück.
Der junge Arzt schaut sie besorgt an.„Du bist ja totenbleich geworden, Janet! Soll ich mal deinen Blutdruck messen?“
„Nicht nötig“, fauchte sie genervt. „Ich weiß, warum mein Kreislauf verrücktspielt. Meine Schwester ist in der U-Bahn oder auf dem Weg dorthin verschwunden. Ihr kann sonst was passiert sein. Wie soll ich da ruhig bleiben?“
„Das ist ein Fall für die Polizei“, meinte Tony sachlich. „Soll ich dich zur Revierwache begleiten?“
„Nicht nötig, ich schaffe das schon allein.“
„Das bezweifle ich nicht. Aber mein Vater kennt den Innenminister, meine Familie ist in unserem Land nicht ohne Einfluss. Vielleicht kann man dadurch die Suche etwas beschleunigen. Ich fühle mich irgendwie mitschuldig, weil Mia nach meiner Party verschollen ist. – Ich ziehe mich nur schnell an.“
Tony verschwand in seinem begehbaren Kleiderschrank. Janet wartete. Eigentlich ging es ihr gegen den Strich, dass er sich einmischte. Aber insgeheim war sie doch froh darüber. Vermutlich gab es in London unzählige vermisste Personen, und das tagtäglich. Da musste sie jede Unterstützung annehmen, die sie bekommen konnte.
Im Handumdrehen verließ Tony sein Ankleidezimmer wieder. Nun trug er einen konservativen Tweedanzug mit Weste und Krawatte. Er wirkte wie ein junger Lord. Janet wusste, dass sie selbst ziemlich flippig aussah, jedenfalls in den Augen von Polizisten. Da konnte es nicht schaden, sich in Begleitung einer so vertrauenerweckenden und einflussreichen Person zu befinden.
Die zuständige Wache war die Belgravia Police Station in der Pimlico Road. Dort war nicht allzu viel los, denn Tony lebte in einem ruhigen und wohlhabenden Stadtteil. Im Handumdrehen kümmerte sich ein Beamter um sie. Doch obwohl Janet aufgeregt vom Verschwinden ihrer Schwester berichtete und Tony sie unterstützte, schien der Inspektor nicht besonders beeindruckt zu sein. Er hieß Horace Miller und hatte eine spiegelglatte Glatze.
„In der vergangenen Nacht wurden im Bereich der U-Bahn-Station Knightsbridge keine größeren Straftaten gemeldet, Miss Robbins. Es gab nur kurzzeitig Ärger mit aggressiven Bettlern. Aber die haben sich entfernt, nachdem wir einen Streifenwagen geschickt haben.“
„Wie schön.“ Janet konnte ihre Ungeduld kaum bezähmen. „Aber meine Schwester ist verschwunden, und ich verlange von Ihnen, dass Sie etwas unternehmen!“
Tony legte beschwichtigend seine Hand auf ihren Unterarm. Er deutete auf das Foto von Mia, das Janet dem Polizisten vorgelegt hatte.
„Sie können doch gewiss diese Aufnahme abgleichen und prüfen, ob diese junge Frau in eines der Londoner Krankenhäuser eingeliefert wurde, Inspektor.“
„Selbstverständlich. Wenn Sie so lange warten möchten …“
Horace Miller deutete auf eine Holzbank. Dann begab er sich in einen der hinteren Räume, wobei er sich nach Janets Meinung nicht besonders zu beeilen schien. Aber vielleicht tat sie dem Inspektor auch Unrecht. Sie war einfach unglaublich nervös und angespannt.
„Vielen Dank für deine Hilfe, aber ich möchte jetzt lieber allein sein“, sagte sie zu Tony. Der junge Arzt zuckte mit den Schultern. „Wie du möchtest. Ich drücke dir die Daumen, dass alles gut wird. Kopf hoch, Janet.“
Sie nickte ihm zu und versuchte abermals, ihre Schwester zu erreichen. Aber das Handy war und blieb ausgeschaltet. Deshalb konnte es auch von der Polizei nicht geortet werden. Jedenfalls war das in den Thrillern immer so, die Janet gelegentlich las. Momentan war ihr Bedarf an atemloser Spannung allerdings voll und ganz gedeckt. Ihre Fantasie quälte sie mit den übelsten Befürchtungen, was Mia alles zugestoßen sein könnte.
Endlich kam der Inspektor wieder auf sie zu. Janet sprang auf, als ob sie einen elektrischen Schlag bekommen hätte.
„Nun?“
„Ich habe sämtliche Hospitäler kontaktiert, und auch das Leichenschauhaus, Miss Robbins. Es wurde niemand eingeliefert, auf den die Beschreibung Ihrer Schwester auch nur annähernd passt. Die einzige weibliche unbekannte Leiche ist eine Asiatin und vermutlich zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt gewesen.“
Janet musste erst einmal die Tatsache verdauen, dass sich Miller im Leichenschauhaus erkundigt hatte. Aber natürlich musste der Inspektor auch mit dem Schlimmsten rechnen. Das tat Janet selbst ja ebenfalls, wenn sie ehrlich sich selbst gegenüber war.
„Und was geschieht nun?“, fragte sie mit tonloser Stimme.
„Ich habe eine Akte für Ihre Schwester angelegt. Meine Kollegen im Streifendienst werden die Augen offenhalten. Aber bedenken Sie, dass es noch keine Hinweise auf eine Straftat gibt. Vielleicht ist die junge Frau ja inzwischen schon wieder nach Hause zurückgekehrt. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas geschieht. Zum Glück gehen viele dieser Fälle glimpflich aus.“
Janet hätte dem Inspektor am liebsten an den Kopf geworfen, dass Mia kein verantwortungsloses Partyluder war und nicht dauernd in fremden Betten nächtigte. Doch sie würde nichts erreichen, wenn sie die Polizei gegen sich aufbrachte. Also schaffte sie es, sich mit brüchiger Stimme bei Miller zu bedanken.
Als Janet draußen vor der Polizeistation stand, atmete sie erst einmal tief durch. Dann kamen ihr plötzlich die Tränen. Sie fühlte sich von allen Menschen im Stich gelassen. Warum verstand denn niemand, dass Mia in großer Gefahr schwebte? Es dauerte einige Minuten, bis sich Janet wieder halbwegs beruhigt hatte. Sie trocknete ihre Tränen und lehnte sich gegen eine Häuserwand.
Allmählich setzte ihr Verstand wieder ein. Janet wusste, dass es in den U-Bahn-Stationen und in den Waggons flächendeckend Überwachungskameras gab. Wenn Mia wirklich die letzte U-Bahn genommen hatte, dann musste sie doch irgendwo auf einem der Videos zu sehen sein – oder?
Ob sie noch einmal zu Inspektor Miller gehen und ihn darauf aufmerksam machen sollte? Janet entschied sich dagegen. Der Polizeibeamte würde sich von ihr gewiss nicht vorschreiben lassen, wie er seine Arbeit zu machen hatte. Außerdem war es allgemein bekannt, wie gut die Tube überwacht war. Die U-Bahn hatte einen eigenen Sicherheitsdienst, dort konnte Janet ihr Glück versuchen.
Die Security-Zentrale befand sich im Bahnhof Waterloo Station. Janet fuhr dorthin, denn sie musste unbedingt etwas unternehmen. Sie wollte sich nicht darauf verlassen, dass die Polizei einfach nur ihren Job machte. In dem Büro des Sicherheitsdienstes dauerte es eine Zeit, bis jemand Zeit für Janet. Offenbar gab es einige Schwarzfahrer sowie Opfer von Trickdiebstählen und Raubüberfällen, die zuerst an der Reihe waren.
Janet wartete ungeduldig. Endlich stand sie vor dem Schreibtisch einer müde aussehenden Frau in Security-Uniform. Sie warf Janet einen gleichgültigen Blick zu. Wahrscheinlich war sie der Meinung, eine weitere Schwarzfahrerin vor sich zu haben.
„Ja, bitte?“
„Meine Schwester ist gestern Abend in einem Zug der Piccadilly Line verschwunden“, behauptete Janet, obwohl das nur eine Vermutung war.
„Vermisstenanzeigen nimmt die Londoner Polizei auf, Miss.“
Janet rollte genervt mit den Augen.
„Ich komme gerade von der Revierwache! Aber für die Sicherheit in den Zügen und auf den Bahnhöfen sind doch Ihre uniformierten Weihnachtsmänner zuständig, oder nicht?!“
Janet ahnte, dass sie mit Patzigkeit und Frechheit nichts erreichen würde. Aber inzwischen lagen ihre Nerven blank. Sie befürchtete, dass Mia in großer Gefahr war, während sie sich hier auf sinnlose Diskussionen einlassen musste!
„Wenn ein Verbrechen vorliegt, dann übergeben wir der Metropolitan Police unsere Überwachungsvideos“, erklärte die Security-Angestellte geduldig. „Gibt es denn konkrete Hinweise, dass Ihrer Schwester etwas geschehen ist?“
Janet holte tief Luft. Sie spürte, dass auch diese Frau sie nicht ernst nahm. Und deshalb wurde sie jetzt so richtig sauer. Doch bevor Janet ausrasten konnte, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme.
„Ich kümmere mich um die Sache, Annie.“
Janet drehte sich um. Ein hochgewachsener Typ stand hinter ihr und nickte ihr freundlich zu. Er war blond und wirkte so selbstbewusst und athletisch wie einer dieser Personal Trainer, die im Hyde Park ihre übergewichtigen Kunden über den Rasen scheuchten. Seine blauen Augen gefielen Janet, obwohl sie ansonsten eher auf dunkelhaarige Männer stand. Doch sie war ganz gewiss nicht hierhergekommen, um zu flirten!
Daher wanderte ihr Blick von seinem Gesicht tiefer zu dem Ausweis, den der Blonde an seiner Jeansjacke befestigt hatte. Laut dieser Plastikkarte hieß er Liam Carson und war Detektiv des London Transport Sicherheitsdienstes.
„Du nimmst dich also der jungen Lady an, Liam?“, sagte die Angestellte. „Fein, der Nächste bitte!“
Die Frau in Uniform schien nicht unglücklich darüber zu sein, sich nicht mehr mit der Sache befassen zu müssen. Aber das war Janet egal, sie wollte endlich Antworten auf ihre Fragen haben.
Liam Carson forderte sie mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Er führte Janet in einen fensterlosen Verschlag, der ihm offenbar als Büro diente.
„Ich habe gerade am Rande mitbekommen, dass Ihre Schwester verschwunden ist, Miss …?“
„Robbins. Ich heiße Janet Robbins. Der Name meiner Schwester ist Mia. Und von ihr fehlt jede Spur, seit sie gestern Abend den letzten Zug der Piccadilly Line genommen hat. Mia ist an der Station Knightsbridge zugestiegen.“
„Knightsbridge? Sind Sie sicher?“, hakte der U-Bahn-Detektiv nach. Janet bemerkte, dass er nun ebenfalls besorgt wirkte. Oder bildete sie sich das nur ein? Jedenfalls hatte sie endlich das Gefühl, mit ihrem Problem zu einem anderen Menschen durchdringen zu können.
„Ja, meine Schwester war auf einer Party und wollte nach Hause fahren. Die nächstgelegene Station von dort aus ist Knightsbridge. – Weshalb fragen Sie?“
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein“, sagte Liam Carson und schaute Janet direkt in die Augen. „Unser Überwachungssystem ist manipuliert worden. Die Kameras im letzten Zug vor der Betriebspause sind alle gleichzeitig ausgefallen, nachdem die Station Knightsbridge verlassen wurde. Einen technischen Defekt können wir ausschließen. Deshalb kann ich Ihnen nicht sagen, was in diesem Zug geschehen ist.“
Janet benötigte einige Augenblicke, bis sie die Tragweite von Liam Carsons Worten begriff. Ihr wurde plötzlich ganz übel vor Angst.
„Das heißt – meine Schwester ist in diesem verflixten Zug vielleicht sogar gestorben?“
Der Detektiv schüttelte den Kopf.
„Bei der Reinigung nach Betriebsschluss wurden keine Blutflecken oder sonstigen Hinweise auf ein Verbrechen gefunden.“
„Wie kommt es, dass ich trotzdem nicht beruhigt bin?“, fragte Janet mit tonloser Stimme. Sie war innerlich hin und her gerissen. Einerseits war sie ihrem Gegenüber dankbar dafür, dass er ihr von dem Kameraausfall erzählt hatte. Andererseits hätte sie schwören können, dass Liam Carson ihr noch etwas verschwieg. Durch ihre Beschäftigung mit Hypnose hatte Janet ein sehr feines Gespür für das Verhalten ihrer Mitmenschen bekommen.
„Sie sind ja ganz blass geworden. – Kommen Sie, ich lade Sie zu einem Kaffee ein.“
Janet folgte Liam Carson bereitwillig. Waterloo Station war einer der wichtigsten Fernbahnhöfe Londons, durch den tagtäglich zehntausende von Menschen eilten, Der Detektiv lotste sie in einen der zahlreichen Coffee Shops und bestellte für beide einen doppelten Espresso. Janet fühlte sich wirklich etwas besser, nachdem sie von der heißen aromatischen Flüssigkeit getrunken hatte. Liam Carson ließ seine Plastik-Ausweiskarte in der Jackentasche verschwinden.
„Sie wissen ja jetzt, wer ich bin. Ich zeige meine Legitimation meistens nur, wenn ich einen Schwarzfahrer erwische oder einen Gewalttäter aus dem Verkehr ziehe.“
Janet nickte. Der Detektiv wirkte athletisch, aber nicht aggressiv auf sie. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er einen Schläger ohne großen Aufwand in die Knie zwang. Liam Carson strahlte Ruhe und Besonnenheit, aber gleichzeitig auch Kraft aus. Trotzdem störte sie etwas an ihm. Janet beschloss, mit offenen Karten zu spielen.
„Sie haben mir nicht die ganze Wahrheit gesagt, oder?“
„Ich habe einen bestimmten Verdacht, Miss Robbins …“
„Oh, bitte! Nennen Sie mich doch Janet, das bin ich so gewohnt. Miss Robbins sagt man nur in der Uni-Verwaltung zu mir, wenn ich mal wieder mit den Studiengebühren im Rückstand bin.“
Der Detektiv grinste.
„Okay, also Janet – Sie können gern Liam zu mir sagen. Ich arbeite übrigens schon vier Jahre für die U-Bahn-Gesellschaft.“
„Wollen Sie mir jetzt Ihre Lebensgeschichte erzählen?“, fragte Janet ungeduldig.
„Nein, das nicht. Aber ich kann behaupten, dass ich mich im Londoner U-Bahn-Netz sehr gut auskenne. Unsere Stadt besitzt immerhin das älteste U-Bahn-Netz der Welt, es umfasst über 400 Kilometer und hat 270 Stationen.“
„Ich bin schwer beeindruckt von Ihrem Wissen“, sagte Janet ironisch. „Aber was hat das mit dem Verschwinden meiner Schwester zu tun?“
„Neben den 270 Stationen gibt es auch noch zahlreiche Geisterbahnhöfe“, fuhr Liam unbeirrt fort. „Können Sie sich darunter etwas vorstellen?“
Janet zuckte mit den Schultern.
„Ich nehme an, das sind Stationen, die stillgelegt wurden.“
„Richtig. Es gibt auch ungenutzte Luftschutzbunker und Befehlsstände aus dem Zweiten Weltkrieg, die man von U-Bahn-Netz aus erreichen kann. Die Zugänge sind zugemauert worden, damit niemand dort Unfug treiben kann. Aber es ist natürlich nicht schwer, solche verschlossenen Wege wieder zu öffnen. Und es gibt Leute, die so etwas tun.“
Janet erkannte, dass Liam ihr auf schonende Art etwas Schlimmes sagen wollte. Darum sprach er zunächst über Dinge, die ihr unwichtig vorkamen. Sie beschloss, ihre Ungeduld zu zügeln.
„Und was sind das für Leute?“
Janet hatte unwillkürlich leise gesprochen. So, als ob niemand mitbekommen sollte, worüber sie mit Liam redete. Aber die anderen Gäste in dem Coffee Shop beachteten die beiden sowieso nicht. Vermutlich hielten sie Janet und Liam einfach für ein Liebespaar.
„Größtenteils Obdachlose, von denen gibt es ja sehr viele in London. Das sind arme Teufel, die einfach nur einen trockenen Platz zum Schlafen suchen. Aber es gibt auch Gerüchte über eine Gruppe, die sich Nachtvolk nennt.“
„Nachtvolk?“
„Ja, so bezeichnen sie sich angeblich selber. Ich gebe nichts auf Gerede, ich bilde mir mein Urteil lieber selber. Und ich weiß auch nicht, ob das Nachtvolk wirklich existiert. Aber es gibt einige unaufgeklärte Verbrechen im Londoner U-Bahn-Netz, die auf das Konto des Nachtvolks gehen sollen.“
„Aber Beweise haben Sie nicht?“
Liam schüttelte den Kopf.
„Weder die Polizei noch meine Security-Kollegen und ich haben jemals ein Mitglied des Nachtvolks verhaften können. Vielleicht existiert die Bande ja nur in der Fantasie einiger durchgeknallter Freaks.“
Janet kam eine Idee.
„Trauen Sie diesem Nachtvolk zu, die Überwachungskameras in der U-Bahn lahmzulegen?“
„Ich fürchte, ja. Die Störung war das Resultat eines Hackerangriffs auf unsere Computerzentrale. Die Kameras im letzten Zug auf der Piccadilly Line wurden gezielt ausgeschaltet. Angeblich gehören zum Nachtvolk auch irgendwelche brillanten Computerhacker, die früher in Banken gearbeitet haben und durch die Finanzkrise ihre Jobs verloren. Sie wollen sich an der ganzen Welt rächen.“
„Und meine Schwester ist jetzt in der Gewalt dieser Irren.“
Janet bekam eine Gänsehaut, während sie diesen Satz aussprach.
„Das wissen wir nicht“, sagte Liam und legte beruhigend seine Hand auf Janets Unterarm. Sie musste sich eingestehen, dass die Berührung durch seine Finger ihr guttat. Die Hand war genau wie Liam selbst, nämlich fest und vertrauenerweckend.
„Aber die Möglichkeit besteht. – Wann fangen wir mit der Suche an?“
„Wir?“, echote der Detektiv.
„Selbstverständlich! – Glauben Sie, ich fahre jetzt nach Hause und warte darauf, dass ich eine Nachricht von Ihnen bekomme? Das können Sie vergessen. Ich muss selbst etwas unternehmen, sonst werde ich wahnsinnig.“
„Ich kann Sie nicht dorthin mitnehmen, Janet. Es ist gefährlich in diesen Tunneln und Schächten. Wir wissen nicht, was uns dort erwartet.“
„Vorhin haben Sie noch gesagt, Sie würden sich so gut im Londoner U-Bahn-Netz auskennen. Wollten Sie nur vor mir angeben?“
Janet wusste, dass sie Liam mit dieser Unterstellung Unrecht tat. Sie wollte ihn herausfordern, damit er sie mitnahm. Doch dieser Schuss ging nach hinten los.
„Ich kann nicht das Leben einer Zivilistin riskieren. Wenn auch nur ein Teil der Gerüchte über das Nachtvolk stimmt, dann …“
Liam unterbrach sich selbst. Janet ahnte, dass diese Leute wirklich übel sein mussten. Wahrscheinlich hatte der Detektiv sie nicht unnötig beunruhigen wollen. Aber jetzt war sie erst Recht mit ihren Nerven am Ende.
„Dann wird es dringend Zeit, dass jemand dem Spuk ein Ende macht! Versetzen Sie sich doch in meine Lage, Liam. Was würden Sie an meiner Stelle tun?“
Der Detektiv schaute Janet direkt ins Gesicht, dann begann er kopfschüttelnd zu grinsen. Janet begriff, dass sie jetzt den richtigen Ton getroffen hatte.
„Ja, Sie haben Recht. Es spricht sehr für Sie, dass Sie für Mia dieses Risiko eingehen wollen. Sie kann wirklich froh sein, so eine Schwester wie Sie zu haben. – Kennen Sie die U-Bahn-Station Holborn?“
„Ja.“
„Dort werde ich heute um drei Uhr nachmittags einen Kontrollgang unternehmen. Ich schließe auf dem Bahnsteig vier der Piccadilly Line eine Tür auf, um in den versperrten Bereich zu gelangen. Vielleicht schlüpft ja jemand hinter mir ebenfalls in den finsteren Tunnel.“
„Ich, beispielsweise?“, fragte Janet, wobei sie den Kopf schieflegte und versuchte, möglichst süß auszusehen. Das konnte ihre Schwester allerdings besser als sie. Liam hob die Schultern.
„Wenn Sie mir wirklich dorthin folgen wollen, bin ich natürlich für Ihre Sicherheit verantwortlich. Das würden meine Vorgesetzten auch so sehen. Aber ich habe Sie nicht aufgefordert, mich auf meinem Dienstgang in die stillgelegten Schächte zu begleiten.“
„Selbstverständlich nicht“, erwiderte Janet mit übertriebenem Ernst. Einerseits war sie erleichtert darüber, dass Liam sie offenbar wirklich mitnehmen wollte. Andererseits krampfte sich ihr Magen vor lauter Angst zusammen. Doch sie konnte nicht ihr normales Leben weiterführen, solange das Schicksal ihrer Schwester ungeklärt war. Liam empfahl ihr, eine Taschenlampe einzustecken. Dann verabschiedete er sich von ihr und blinzelte ihr aufmunternd zu.
Janet kehrte zunächst nach Hause zurück, denn sie war für eine Expedition in finstere Tiefen nicht richtig angezogen. Außerdem musste sie sich noch innerlich präparieren. Denn allein der Gedanke, in düstere Tunnel hinabsteigen zu müssen, verursachte ihr eine mittelschwere Angstattacke. Zum Glück fand Janet in der U-Bahn einen Sitzplatz. Sie schloss die Augen, versuchte sich zu beruhigen. Doch nun kam die Erinnerung an längst vergangene Schrecken zurück.
Janet war fünf Jahre alt, und sie suchte nach Snowflake. Das Kätzchen war nirgendwo im Haus ihrer Eltern aufzufinden. Janet schaute in allen Zimmern nach, linste unter die Betten und in Schränke. Schließlich stieg sie sogar auf den Dachboden, obwohl ihre Mom es ihr ausdrücklich verboten hatte. Aber sie musste doch Snowflake finden!
Dort oben unter den Dachschrägen war es warm und roch nach Staub. Allerlei Plunder stand und lag herum, ausrangierte Möbel und Pappkartons mit nutzlosem Kram. Die kleine Janet schaute sich überall um, nachdem sich ihre Augen an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Sie rief nach dem Kätzchen, aber es war nirgendwo zu entdecken. Janet hörte auch keine Geräusche, außer denen von ihren eigenen Schritten. Und dann entdeckte sie die Seekiste.
Neugierig trat das kleine Mädchen näher. Janet wusste, dass ihr Grandpa früher zur See gefahren war. Gewiss war der große mit Metall beschlagene Holzkasten voll mit Erinnerungsstücken an Reisen in fremde Länder. Janet griff sich den Kistendeckel mit beiden Händen und schaffte es wirklich, ihn hochzudrücken. Doch auf dem Dachboden herrschte ein schummeriges Halbdunkel. Janet konnte nicht gut sehen, was sich im Inneren des Holzkastens befand. Also stemmte sie sich am Rand hoch, beugte sich über die Kante und krabbelte hinein.
Das war keine gute Idee gewesen.
Im nächsten Moment knallte nämlich der Deckel zu. Janet schrie erschrocken auf. Sie stemmte ihre Arme gegen den Kistendeckel über ihr. Aber es war wie verhext. Denn obwohl sie gerade eben den Kasten noch allein hatte öffnen können, bewegte sich der Deckel jetzt überhaupt nicht mehr. Er musste sich irgendwie verklemmt haben. Janet geriet in Panik und begann zu weinen. Es war verflixt eng in der Seekiste, selbst für ein fünfjähriges Mädchen. Verzweifelt hämmerte Janet mit ihren Fäusten gegen das harte Holz, bis die Schmerzen sie zum Aufhören zwangen. Und natürlich schrie sie nach ihrer Mom. Aber es kam niemand, um sie zu befreien.
Janet legte sich schließlich auf den Rücken und stemmte ihre Beine gegen den Kistendeckel. Aber auch mit dieser Methode kam sie nicht weiter. Am Schlimmsten war die absolute Dunkelheit, von der das Kind umfangen wurde. Janet konnte buchstäblich nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Die Schwärze umfing das kleine Mädchen, und gleichzeitig fiel ihr das Atmen immer schwerer. Janet verstand noch nicht, warum das so war. Doch sie spürte instinktiv, dass sie sterben musste. Ihre Schreie wurden immer leiser und kläglicher.
Als ihre Mutter sie endlich fand und den Kistendeckel öffnete, war Janet nur noch ein zitterndes Nervenbündel. Es war nun schon fast zwanzig Jahre her, seit sie dieses Erlebnis gehabt hatte. Doch ihre Alpträume hielten die Erinnerung frisch.
Janet schüttelte sich, als ob sie dadurch die Erinnerung loswerden könnte. Die Finsternis in dieser Seetruhe hatte ihr ganzes bisheriges Leben geprägt. Janet hatte versucht, vor ihren Ängsten zu fliehen. Aber das war ihr nicht gelungen. Und schließlich hatte sie vor einigen Jahren einen Weg gefunden, ihre Furcht in den Griff zu bekommen. Entschlossen presste sie die Lippen aufeinander. Der Gedanke an die finsteren U-Bahn-Schächte, die sie durchstreifen musste, machte sie fast wahnsinnig. Aber sie wusste, was sie dagegen unternehmen konnte.
Zurück in ihrer WG machte Janet sich sogleich ans Werk. Ihre Mitbewohnerinnen waren zum Glück nicht da. Sie konnte keine Störungen oder Unterbrechungen gebrauchen. In ihrem Zimmer holte Janet sofort den Sphinx-Kopf aus dem Versteck.
Eigentlich benötigte man keine Requisiten, um sich selbst zu hypnotisieren. Aber Janet konnte sich leichter in Trance versetzen, wenn sie sich dabei auf ein Objekt konzentrierte. Und zu diesem Zweck diente ihr der Sphinx-Kopf, den sie vor Jahren für wenige Pennies auf dem Flohmarkt gekauft hatte.
Es war nur eine billige Kunststoff-Kopie der berühmten ägyptischen Sphinx, angepinselt mit einem Goldfarbe-Imitat und mit roten Glasaugen versehen. Doch manchmal brach sich das Sonnenlicht in den Augen der kleinen Skulptur, und dann ging eine ganz besondere Ausstrahlung von ihr aus. Jedenfalls bildete Janet sich das ein.
Sie stellte die Sphinx in eine Zimmerecke und setzte sich im Kniesitz davor. Janet atmete tief durch, bis sie merkte, dass sie ruhiger wurde. Sie sog die Luft tief ein und schaute nur das Objekt vor ihr an. Das Zimmer, das Haus, London, die ganze Welt wurden nach und nach unwichtig. Die Sphinx war nur ein Symbol. Es stand für Janets eigene innere Stärke. Sie konnte alles erreichen, wenn sie es nur wollte. Und sie würde sich von ihrer Angst vor der Finsternis nicht bezwingen lassen.
Und überhaupt – was für eine Furcht? Je tiefer Janet in Trance fiel, desto stärker nahmen ihre Beklemmungen ab. Immer wieder stellte sie sich den Moment vor, in dem sie gemeinsam mit Liam in den Untergrund treten würde. Anfangs rebellierte ihr Magen noch, wenn Janet sich diese Situation vor Augen führte. Doch als sie sich erfolgreich selbst hypnotisiert hatte, erschien ihr die Welt unter den Londoner Straßen plötzlich nicht mehr bedrohlich. Es würde doch gewiss stickig und schmutzig sein, aber nicht lebensgefährlich.
Ich kehre ins Licht zurück.
Mit diesem Satz beendete Janet ihre Selbsthypnose und erhob sich vom Boden. Plötzlich bekam sie eine heftige Hungerattacke. Das passierte ihr öfter, wenn sie sich selbst in Trance versetzt hatte oder andere Menschen hypnotisierte. Diese Tätigkeit war zwar körperlich nicht anstrengend, doch sie musste viel geistige Kraft aufwenden.
Janet eilte in die Küche und kochte sich schnell eine riesige Portion Spaghetti. Es war noch etwas Zeit, bevor sie Liam treffen würde. Kaum hatte sie an den U-Bahn-Detektiv gedacht, als sich auch schon die Wohnungstür öffnete. Janet hörte Schlüsselklirren und die Stimme ihrer Mitbewohnerin.
„Hallo! Ist jemand da?“
„Ja, ich“, gab Janet zurück. Lucia betrat die Küche. Die spanische Studentin war neben Mia, Claire und Janet die vierte Mieterin des Apartments. Lucia schaute überrascht, als sie Janet erblickte.
„Hola, was machst du denn hier?“
„Ich koche Spaghetti, sieht man das nicht?“
„Doch, aber ich wundere mich nur. Wo ist denn dein Freund? Vielleicht in deinem Zimmer?“ Lucia zwinkerte Janet verschwörerisch zu.
„Was für ein Freund? Ich bin momentan solo, das weißt du doch.“
Aber Lucia ließ nicht locker.
„Ich habe dich doch vorhin mit einem Typen im Coffee Shop sitzen sehen, als ich an der Waterloo Station umgestiegen bin. Ich wollte erst zu euch kommen, aber ich dachte mir, dass ihr nicht gestört werden möchtet. – Jedenfalls gefällt mir der Hombre, er ist ganz anders als die Weicheier, die du sonst mit nach Hause genommen hast.“
Nun begriff Janet endlich, dass ihre Mitbewohnerin sie zusammen mit Liam gesehen haben musste. Janet wurde von widersprüchlichen Gefühlen übermannt. Einerseits fand sie es schmeichelhaft, dass Lucia Liam für Janets neuen Freund hielt. Sie fand ihn schließlich selbst sympathisch, vielleicht sogar mehr als das.
Doch andererseits missfiel es Janet, dass Lucia so abfällig über Janets bisherige Beziehungen redete. Die Spanierin war in der WG berüchtigt für ihre direkte Art. Doch Janet musste sich in diesem Moment eingestehen, dass Lucia gar nicht mal so falsch lag. Im Grunde hatten sich sowohl Colin als auch Dan und Tom schon nach wenigen Wochen als ziemliche Nieten entpuppt. Sie waren faul und wehleidig, bekamen ihr Leben nicht auf die Reihe und hatten Janet stets um Geld angepumpt.
Janet war bisher immer von sich geheimnisvoll gebenden Möchtegern-Künstlern fasziniert gewesen. So gesehen passte Liam überhaupt nicht in ihr Beuteschema. Doch sie wollte den U-Bahn-Detektiv ja auch nicht anbaggern, sondern mit seiner Hilfe Mia finden. Und – wenn Lucia nun etwas wusste?
Janet erzählte ihrer Mitbewohnerin von Mias Verschwinden und auch von dem Nachtvolk. Die Spanierin legte nachdenklich die Stirn in Falten.
„Dios Mio, Ich habe bisher immer geglaubt, dieses Nachtvolk wäre eine moderne Legende. Sollte es die Gruseltypen wirklich geben?“
„Dann hast du also auch schon von ihnen gehört?“
„Ja, aber die Kerle haben Mia bestimmt nicht entführt. Wahrscheinlich hat sie nur jemanden kennengelernt und taucht in ein paar Stunden putzmunter hier auf.“
Lucia lächelte Janet beruhigend zu, aber sie erreichte damit genau das Gegenteil. Janet spürte nämlich, dass die spanische Studentin sich vor dem Nachtvolk fürchtete. Was immer Lucia über diese Bande wusste, sie wollte es Janet lieber nicht mitteilen. Und diese Art von Schonung konnte Janet jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Der Appetit war ihr vergangen. Sie ließ ihren halb aufgegessenen Spaghetti-Teller stehen und stand auf.
„Mia ist keine Bitch, und sie ist in Gefahr“, sagte Janet scharf. „Du kannst mir irgendwelche Horrorgeschichten über das Nachtvolk verschweigen, aber dadurch bekomme ich meine Schwester nicht zurück.“
Janet wollte nicht länger ihre Zeit mit Lucia verplempern. Die Gerüchte über das Nachtvolk würden ihre innere Unruhe nur verstärken. Sie musste jetzt handeln, und darum bereitete sie sich auf den Abstieg in die Unterwelt vor. Natürlich konnte sie nicht in ihrem üblichen Outfit durch die unterirdischen Gänge und Tunnel kriechen. Janet trug am liebsten weite Röcke und halbhohe Stiefeletten, aber das war nun wirklich keine geeignete Aufmachung.
Sie zog eine schwarze Jeans und einen grauen Hoodie an, außerdem stopfte sie einige Schokoriegel sowie ihre Taschenlampe in den Rucksack. Einen Augenblick lang dachte sie auch daran, ein Messer einzustecken. Aber Janet verabscheute Gewalt eigentlich.
Der Gedanke, gegen das Nachtvolk kämpfen zu müssen, gefiel ihr überhaupt nicht. Sie hoffte, dass sie diesen unheimlichen Typen mit List und Cleverness beikommen konnte. Außerdem hatte sie durch ihre Beschäftigung mit Hypnose gelernt, andere Menschen beeinflussen zu können. Allerdings wusste Janet, nicht, ob ihr das auch bei finsteren Gewalttätern gelingen würde. Und dann war da ja auch Liam, der an ihrer Seite bleiben würde.
Liam.
Janet war eigentlich nicht daran gewöhnt, sich durch einen Mann beschützen zu lassen. Seit sie erwachsen geworden war, hatte sie immer sehr großen Wert auf ihre Eigenständigkeit gelegt. Außerdem - die Typen, mit denen sie zuvor zusammen gewesen war, konnten kaum für sich selbst sorgen. Von denen wäre keiner in der Lage gewesen, Janet vor drohenden Gefahren zu bewahren. Aber Liam traute sie so etwas zu, wieso eigentlich? Nur, weil er sich seine Brötchen als Detektiv der Londoner U-Bahn-Gesellschaft verdiente? Oder lag es an seiner Ausstrahlung?
Während sie sich über Liam den Kopf zerbrach, verließ Janet mit einem kurzen Gruß die Wohnung und eilte zur U-Bahn-Station. Momentan war es in den Zügen etwas weniger gedrängt voll als in den Morgenstunden, aber für Janets Geschmack fand immer noch viel zu viel körperlicher Kontakt zu wildfremden Menschen statt.
Das gefiel ihr nicht. Doch wer diese Nähe nicht aushalten konnte, war als Passagier der Londoner U-Bahn wirklich fehl am Platz. Sie ließ ihren Blick durch den Waggons schweifen. Dabei hatte sie die irrsinnige Hoffnung, plötzlich ihre kleine Schwester zu erblicken. Janet wusste selbst, dass die Chancen dafür denkbar schlecht waren. Deshalb versuchte sie nun auch gar nicht mehr, Mia über Handy zu erreichen.
Ob es dieses Nachtvolk wirklich gab? Und was diese Typen wohl mit Mia anstellen würden? Janet begriff, dass sie sich nicht von ihren eigenen Befürchtungen verrückt machen lassen durfte. Sie musste sich auf etwas Positives konzentrieren, dadurch konnte sich ihre Seele etwas beruhigen.
Janet musste immer wieder an Liam denken. Mit seiner zielgerichteten Art und seinem lässigen Charme hatte er bei Janet einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dabei kannte sie ihn erst ganz kurz. Aber trotzdem war er ein Mann, der ihr vertrauenswürdig erschien. Sie musste unbedingt mehr über ihn erfahren. Sie erreichte den verabredeten Treffpunkt in der Station Holborn rechtzeitig. Laut der Uhr auf ihrem Handy war sie sogar noch einige Minuten zu früh.
Janet blieb in der Nähe des Drahtgitters am Bahnsteigende stehen und schaute sich nervös um. Es kam ihr so vor, als ob alle anderen wartenden Passagiere sie anstarren würden. Ob diese Leute ahnten, dass Janet gleich verbotenerweise in die gesperrten Tunnel des U-Bahn-Systems eindringen wollte?
Es wurde 16 Uhr, doch Liam kam nicht. Janet trat von einem Bein auf das andere. Dank ihrer Selbsthypnose hatte sie ihre Urangst vor der Finsternis gut im Griff, doch ihre Nervosität ließ sich nur schwer bezwingen. Wie kam sie überhaupt dazu, diesem Detektiv so ein großes Vertrauen entgegen zu bringen? Wodurch hatte Liam überhaupt bewiesen, dass er es wert war? Durch gar nichts!
Janet presste die Lippen aufeinander. Sie musste plötzlich wieder an die unzähligen Versprechungen denken, die sie von ihren Ex-Freunden schon zu hören bekommen hatte. Wahrscheinlich war Janet gar nicht so oft belogen worden, doch es kam ihr in der Erinnerung so vor. Und wenn Liam nun keinen Deut besser war als diese Typen?
Plötzlich stand der Detektiv neben ihr, als ob er aus dem Boden gewachsen wäre. Er grinste entschuldigend.
„Sorry, dass ich mich verspätet habe. Aber ich musste noch gemeinsam mit einem Kollegen einen rabiaten Schwarzfahrer aus dem Verkehr ziehen. Das hat länger gedauert als erwartet. - Bist du gut vorbereitet?“
„Ich habe Schokoriegel und eine Taschenlampe dabei“, meinte Janet achselzuckend. Sie gab sich cool, was sie aber gar nicht war. Doch sie wollte nicht, dass Liam sie für ein ängstliches Mäuschen hielt. Es war ihr sehr wichtig, dass er einen guten Eindruck von ihr bekam. Sie musste grinsen, als ihr das bewusst wurde. Seine Nähe ließ sie jedenfalls die Sorge um ihre Schwester für den Moment erträglicher erscheinen.
„Schokoriegel habe ich keine, aber vielleicht teilst du ja mit mir“, gab Liam zurück.
„Das lässt sich einrichten.“
„In Ordnung, ich werde jetzt das Gitter aufschließen. Du bleibst draußen, haben wir uns verstanden? Das Betreten ist nur dem Personal von London Transport gestattet.“
Doch während Liam diese Warnung aussprach, zwinkerte er Janet verschwörerisch zu. Dann drehte er sich weg. Sie konnte Metall klirren hören, als er die Gittertür aufschloss. Dann verschwand Liam in dem finsteren Tunnel hinter der Absperrung, wobei er die Tür auf offen ließ. In ihrem Normalzustand hätte Janet ihm niemals in die Dunkelheit folgen können.
Doch jetzt war sie in Trance, und deshalb fühlte sie nur eine leichte Beklemmung, als sie ebenfalls in den abgesperrten Bereich trat. Die auf den nächsten Zug wartenden Passagiere glotzten ihr gleichgültig hinterher. Liam stand neben ihr und schloss die Tür wieder von innen ab.
Hier war es nicht völlig dunkel, denn es brannte eine mickrige Notbeleuchtung. Dennoch waren die Lichtverhältnisse sehr bescheiden im Vergleich zu dem mit Neonröhren ausgeleuchteten Bahnsteig. Doch der schien nun so weit entfernt wie der Mond, obwohl er nur eine Armeslänge weit weg war.
Janet hatte eine fremde Welt betreten, mit unbekannten Geräuschen und Gerüchen. In diesen Wartungsstollen konnte man die U-Bahn-Züge größtenteils nicht sehen, sondern nur hören. Und aus der Distanz klangen das Kreischen der Räder auf den Schienen und das tiefe Brummen der Motoren wie Angriffslaute von Ungeheuern in einem Horrorstreifen. Doch einen Vorteil hatte diese beunruhigende Geräuschkulisse. Janet und Liam konnten miteinander reden, ohne dass ihre Worte meilenweit von im Dunklen lauernden Finsterlingen gehört wurden.
„Dieser Gang führt zu ungenutzten Räumen, die man während des Zweiten Weltkrieges als Büros und Kommandozentralen benutzt hat. Dort waren die Leute sicher vor den deutschen Bomben.“
„Verstehe. Und warum schauen wir uns jetzt dort um, Liam? Glaubst du, dass man Mia dort gefangen hält?“
„Wahrscheinlich nicht, denn die Bunker sind leicht zu erreichen. Praktisch jeder Angestellte von London Transport kann mit einem Generalschlüssel so weit kommen, wie wir. – Unter der Stadt befindet sich ein riesiges Labyrinth. Und deine Schwester ist vermutlich in einem sehr unzugänglichen Winkel eingekerkert.“
Janet fand Liams Worte nicht sehr ermutigend. Aber trotzdem – in diesem Moment suchte sie wenigstens aktiv nach ihrer Schwester. Das war tausendmal besser, als die Hände in den Schoß zu legen und sich auf die Polizei zu verlassen. Trotzdem verstand sie nicht, was der Detektiv in diesen verlassenen Büros wollte.
Bevor sie Liam danach fragen konnte, hatte er eine verrostete Eisentür aufgedrückt. Dort drin gab es keine Beleuchtung mehr, und Janet und Liam mussten ihre Taschenlampen einsetzen. Die beiden Lichtsäulen fielen auf einen altmodischen Schreibtisch, der von dicken Staubschichten bedeckt war. In den Ecken hatten Spinnen ihre Netze zwischen verrosteten Metallregalen geknüpft. Es sah wirklich so aus, als ob seit über sechzig Jahren niemand diesen Raum betreten hätte. Doch dann berührte Liam Janets Arm. Er deutete mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Schmalwand des Büros.
Nun konnte man ein Graffiti erkennen.
Es stellte einen Dreizack inmitten eines Kreises dar. Auf dem Boden unmittelbar vor dem gesprayten Symbol erblickte Janet Fußspuren im Staub und Dreck. Sie schienen frisch zu sein, auf jeden Fall waren sie nicht vor einem halben Jahrhundert entstanden.
„Was hat das alles zu bedeuten, Liam?“
„Dieses Dreizack-Graffiti ist überall dort zu sehen, wo das Nachtvolk seinen Machtbereich hat. So sagt man zumindest. Allerdings kann jeder Dummkopf eine Farbdose nehmen und das Symbol an die Wand sprühen. Das besagt noch lange nicht, dass es diese Gruppe wirklich gibt.“
Liam wollte noch mehr sagen. Doch in diesem Moment ertönte außerhalb des Büros ein seltsamer langgezogener Laut. Janet hatte so etwas noch niemals zuvor gehört. Gleich darauf war das Geräusch von vielen hundert schnell trappelnden Pfoten zu hören. Der Detektiv fluchte und packte Janet an der Hand.
„Los, raus hier!“
Janet war so verblüfft, dass sie beinahe ihre Taschenlampe fallengelassen hätte. Außerdem war sie sauer, weil Liams Griff hart war und sie sich überrumpelt fühlte. Aber dann erkannte sie, dass er allen Grund zur Eile hatte.
Denn plötzlich war eine riesige Rattenarmee im Anmarsch!
Die grauen Nager waren schnell. Sie füllten den gesamten Korridor außerhalb des Büroraums aus, purzelten teilweise übereinander und trampelten sich gegenseitig nieder. Der Gedanke, von ihnen überrollt zu werden, ließ Janets Magen rebellieren. Sie fragte sich, ob sie nicht besser in dem Büro geblieben wären. Doch dann sah sie, dass die Ratten auch dort hinein strömten. So, als ob sie einen Befehl dazu bekommen hätten.
Liam und Janet rannten so schnell sie konnten. Doch die Tiere verringerten den Abstand zu ihnen. Der Gestank, der von den Nagern ausging, war widerlich. Es mussten Tausende sein. Plötzlich packte Liam die Sprossen einer Stahlleiter, die in die Wand eingelassen war. Er umschlang Janet mit seinem linken Arm und zog sie zu sich hoch. Und das geschah keine Minute zu früh.
Schon wenig später rauschte die Rattenmasse unter ihnen vorbei. Einige Tiere versuchten ebenfalls, die Metallleiter zu erreichen. Doch sie rutschten mit ihren bekrallten Pfoten an dem glatten Stahl ab. Es dauerte gewiss mehrere Minuten, bis das Rattenheer den Korridor unter den beiden Menschen passiert hatte.
Janets Aufregung ließ langsam nach. Aber vielleicht lag das auch daran, dass es sich so gut anfühlte, wie Liam sie in seinen Armen hielt. Für einen Moment schloss Janet die Augen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Doch auf der Leiter hängend war es einfach zu unbequem, um in romantische Stimmung zu kommen. Außerdem ließ die Sorge um Mia sie nicht los.
„Werden die Ratten zurückkehren, Liam?“
„Das glaube ich nicht. Die Viecher sind nicht von selbst so völlig ausgerastet. Hast du das durchdringende Geräusch gehört, kurz bevor der Rattenansturm kam?“
„Ja, was ist damit?“
„Ich glaube, das Nachtvolk hat uns die Nager auf den Hals gehetzt. Diese Typen haben es nicht gern, wenn man in ihr Territorium eindringt.“
Janets Atem stockte. Sie glaubte einen Moment lang, Liam wollte sie auf den Arm nehmen. Aber andererseits hatte sie ja soeben selbst erlebt, wie die riesige Rattenmeute an ihnen vorbeigeflutet war. Und der Detektiv war kein Typ, der sich mit aus der Luft gegriffenen Behauptungen aufspielen wollte. So schätzte sie ihn nicht ein.
„Tiere als Waffe“, sagte Janet mit belegter Stimme. „Wow, das ist wirklich krank.“
„Aber es passt in das Bild, das ich von dem Nachtvolk habe“, sagte Liam. „Wir sollten diese Gestalten nicht unterschätzen, nur weil sie wie Kakerlaken in der Finsternis leben. – Wir sollten uns weiter umschauen. Oder möchtest du lieber zurück?“
Janet fühlte sich nicht gerade bestens, doch dank ihrer Selbsthypnose hielt sich ihre innere Beklemmung in Grenzen. In ihrem Normalzustand hätte sie es keine 60 Sekunden in diesem düsteren Labyrinth aus Versorgungstunneln, Gängen, Röhren und Kavernen ausgehalten. Doch in ihrem Trancezustand konnte sie diese Umgebung ertragen.
„Nein, ich werde nicht aufgeben! Wenn Mia wirklich irgendwo hier unten gefangen gehalten wird, werden die Cops sie nie finden. – Worauf warten wir noch?“
Janet schaute Liam tatendurstig an. Trotz des Schreckens durch das Auftauchen der Rattenhorde war es sehr schön gewesen, als er sie eben auf der Metallleiter an sich gepresst hatte. Die frische Erinnerung daran ließ Janet einen wohligen Schauer über den Rücken laufen.
Sie setzten ihre Erkundungstour fort, wobei das Dreizack-Symbol noch mehrere Male an den Wänden der stillgelegten U-Bahn-Tunnel erschien. Liam kletterte eine steile Treppe hinab und setzte seinen Weg in einem unbeleuchteten Schacht fort. Hier war die einzige Lichtquelle seine Taschenlampe. Janet folgte ihm, wobei sie ebenfalls den Lichtkegel ihrer Lampe über die Wände tanzen ließ. Jeden Moment rechnete sie damit, dem Nachtvolk über den Weg zu laufen. Immerhin hatten diese Typen ja hier ganz eindeutig ihr Revier markiert. Was dann wohl geschehen würde? Janet hatte keine Waffe. Und sie wusste auch nicht, ob Liam eine Pistole oder einen Revolver besaß. Auf jeden Fall schien er zu wissen, was er vorhatte. Seine Schritte waren fest und zielgerichtet, obwohl er sehr leise auftrat.
Er drehte sich zu Janet um.
„Dieser Tunnel führt nach Aldwych, dort gibt es eine große stillgelegte U-Bahn-Station. Sie würde sich gut als ein Hauptquartier für das Nachtvolk eignen. Es wäre möglich, dass deine Schwester dorthin verschleppt wurde.“
Janets Herz klopfte schneller, als sie Liams leise gesprochene Worte hörte. Vielleicht war es ja möglich, diese Nachtvolk-Typen zu überrumpeln und Mia zu befreien. Doch als die Beiden wenig später um eine Ecke bogen, fluchte Liam. Vor ihnen befand sich eine Mauer. Und man konnte deutlich sehen, dass die Steine fest gefügt waren. Vermutlich war dieser Weg schon vor einigen Jahrzehnten zugemauert worden.
„Hier geht es nicht weiter“, stellte Liam fest. Janet konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.
„Ich dachte, du kennst dich in diesem U-Bahn-Labyrinth so super aus! Und jetzt führst du mich in irgendwelche Sackgassen?“
„Sorry, ich bin schon länger nicht mehr in diesem Tunnel gewesen.“
„Wieso glaubst du überhaupt, dass wir Mia hier in der Nähe finden können?“, fauchte Janet. „Oder behauptest du das nur, um bei mir Eindruck zu schinden?“
Noch während sie diese Worte aussprach, hätte Janet sich am liebsten selbst die Zunge abgebissen. Liam musste sie für eine Mega-Ziege halten, so wie sie sich momentan aufführte. Tief in ihrem Inneren wusste Janet, dass sie dem Detektiv Unrecht tat. Er hatte sie mit in die Wartungsschächte genommen, obwohl er dadurch vermutlich großen Ärger bekommen würde. Und der Aufenthalt hier unten war ziemlich riskant, das hatte die Ratteninvasion soeben eindringlich gezeigt.
Doch Janet war ziemlich neben der Spur, weil die Ungewissheit an ihr nagte. Der Gedanke, dass Mia diesem durchgeknallten Nachtvolk wehrlos ausgeliefert war, machte sie beinahe verrückt.
Liam ging auf ihre Vorwürfe nicht ein. Stattdessen hob er die Schultern.
„Okay, hier kommen wir nicht weiter. Hast du einen besseren Vorschlag?“
Seine Stimme hörte sich nicht so an, als ob Janet ihn gekränkt hätte. Sie war erleichtert.
„Lass‘ uns woanders nachschauen, Liam. Es muss doch irgendwo noch mehr Hinweise geben als dieses blöde Graffiti.“
„Ja, das Nachtvolk muss essen, und sie brauchen Energie. Ich schätze, dass sie unser Stromnetz anzapfen, um ihre Computer und ihr anderes Technik-Equipment am Laufen zu halten. Doch es gibt leider sehr viele Meilen an Stromkabeln unter der Stadt.“
Der Detektiv schlug einen anderen Weg ein, und Janet folgte ihm wieder.
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Liam war eigentlich ein Einzelgänger, doch in Janets Gegenwart fühlte er sich wohl. Es störte ihn auch nicht, dass sie so kratzbürstig zu ihm war. Er begriff, dass sie wegen dem ungewissen Schicksal ihrer Schwester enorm unter Druck stehen musste. Und für solche Empfindungen hatte er großes Verständnis.
Liam hatte schon viele Menschen in Extremsituationen kennengelernt, obwohl er noch jung war. Vor seinem Job bei der U-Bahn-Gesellschaft hatte er ein Jahr lang für eine UN-Hilfsorganisation gearbeitet. Er war in einem Flüchtlingslager in Afrika für die Verteilung von Wasser und Lebensmitteln zuständig gewesen. Diese Erfahrung hatte ihn geprägt. In dem Lager war ihm klar geworden, was Gerechtigkeit bedeutete. Jeder musste seine Essensration bekommen, egal, ob er alt oder schwach war oder sich nicht wehren konnte. Und wenn sich jemand einen unfairen Vorteil sichern wollte, dann ging Liam dazwischen.
Er war in Afrika sehr schnell erwachsen geworden. Als er nach England zurückkehrte, war Liam an ein Leben inmitten von großen Menschenmassen gewöhnt. Daher machte es ihm nichts aus, in den überfüllten Waggons der Londoner U-Bahn zu arbeiten. Auch dort hatte er es oft mit Leuten zu tun, die ihre Mitmenschen berauben oder misshandeln wollten. Liam half gerne Passagieren, die dazu selbst nicht in der Lage waren.
Aber bei Janet lag der Fall noch anders.
Er hatte spontan Gefühle für sie entwickelt, was ihm nicht so oft passierte. Bei seinem Job lernte er die unterschiedlichsten Frauen kennen, und eigentlich flirtete er auch gern. Aber es blieb immer unverbindlich. Man stieg in einen U-Bahn-Zug ein, erreichte das Ziel und nahm den nächsten. Janet hingegen hatte eine Ausstrahlung, die ihn ein wenig aus der Fassung brachte. Und er musste sich anstrengen, um nach außen hin ruhig und konzentriert zu bleiben. Außerdem wollte Liam wirklich dieses Nachtvolk aus dem Verkehr ziehen. Er war inzwischen nur allzu sicher, es nicht mit harmlosen Obdachlosen zu tun zu haben.
Liam bog in einen Seitentrakt ab, wo ein ausrangierter U-Bahn-Zug stand. Er blieb so abrupt stehen, dass Janet gegen ihn prallte. Er drehte sich zu ihr um, und wie auf ein stummes Kommando begannen sie beide zu grinsen. Doch dann deutete Liam auf die Waggons und legte den Zeigefinger an die Lippen.
„Ich sehe mir die Sache mal aus der Nähe an. Du bleibst besser hier“, wisperte er.
Und bevor Janet protestieren konnte, hatte er seine Taschenlampe ausgeschaltet. Falls ihn das Nachtvolk dort drinnen erwartete, wollte er es seinen Widersachern nicht unnötig leicht machen. Liam lauschte konzentriert in die Finsternis, während er sich beinahe lautlos dem U-Bahn-Zug näherte. Die drei Waggons standen auf einem Abstellgleis. Die Automatiktüren blieben normalerweise fest verschlossen, damit sich keine ungebetenen Gäste in den Wagen häuslich einrichten konnten.
Liam presste sich gegen das kalte rostige Blech des ersten Waggons und lauschte. Ferne Geräusche drangen an sein Ohr. Er wusste aus Erfahrung, dass man in der Finsternis unter der Erde sehr schnell das Gefühl für Entfernungen und Zeit verlor. Liam konnte unmöglich sagen, ob die seltsamen quietschenden und rasselnden Töne von weit entfernt fahrenden U-Bahnen stammten oder aus dem Inneren des Wagens drangen. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er musste sich vergewissern, was dort drinnen vor sich ging.
Die Türen waren zwar fest verschlossen, aber er hatte ein Spezialwerkzeug, um die Arretierung zu lösen. Tastend fand er die Nut, in die sein Metallschlüssel einrasten musste. Liam dachte an Janet, sorgte sich um sie. Ob es ein Fehler gewesen war, sie dort hinten zurückzulassen? Nein, denn wenn er mit dem Nachtvolk kämpfen musste, hatte sie immer noch die Chance zur Flucht. Er wollte nicht, dass ihr etwas geschah – und das nicht nur, weil er sich für ihre Sicherheit verantwortlich fühlte. Ein Blick über die Schulter nach hinten bewies ihm, dass Janet nun ebenfalls ihre Taschenlampe ausgeschaltet hatte. Es war das Beste, was sie tun konnte. Die Dunkelheit war hier unten in den Schächten immer noch die beste Tarnung.
Liam spannte seine Muskeln an und schob die Tür einen Spalt breit auf. Er zog sich an der Schwelle hoch und kletterte in das Innere des U-Bahn-Wagens. Dabei bereitete er sich darauf vor, sofort angegriffen zu werden.
Doch das geschah nicht.
In dem Waggon roch es nach altem Staub und verfaulendem Holz. Liam riskierte es nun doch, die Taschenlampe wieder einzuschalten. Der Lichtkegel fiel auf vergilbende Reklametafeln, die mindestens fünfzig Jahre alt sein mussten. Die Bänke in der U-Bahn waren noch aus Holz. Eigentlich hätte dieser Zug längst verschrottet werden müssen, aber vielleicht war er in der Chefetage von London Transport einfach vergessen worden.
Liam verschaffte sich einen raschen Überblick. Er entdeckte einen Haufen von Rucksäcken, Aktentaschen und leeren Geldbörsen. Offenbar waren in diesem Wagen Überreste von U-Bahn-Diebstählen und Raubüberfällen entsorgt worden. Das Nachtvolk stand schon länger im Verdacht, auch bei dieser Kleinkriminalität die Finger im Spiel zu haben.
Plötzlich ließ ein metallisches Geräusch Liam zusammenzucken. Der Ton war von außerhalb des Waggons gekommen. Wurde er jetzt von seinen Widersachern eingekreist? Der Detektiv hatte für alle Fälle sein Funkgerät bei sich. Es funktionierte auch in den tiefen Tunneln unter der Themse und hinter dicken Mauern, wie er aus Erfahrung wusste. Aber noch wollte er keine Verstärkung rufen. Sonst hätte Liam nämlich seinen Vorgesetzten erklären müssen, was er in Begleitung von Janet in diesen stillgelegten U-Bahn-Schächten zu suchen hatte. Die Fahndung nach Vermissten gehörte nicht zu seinen Aufgaben.
Liam spannte die Muskeln an und näherte sich von innen der Automatiktür. Er entriegelte sie wieder, dann schaltete er seine Lampe aus. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte er sich. Und nun konnte er wirklich leise Schritte auf dem Kiesbett neben den Schienen wahrnehmen. Er verließ sich ganz auf sein Gehör. Sein Widersacher kam näher.
Liam passte den richtigen Moment ab. Dann sprang er aus dem Waggon, prallte auf den menschlichen Körper unter ihm, riss ihn mit sich zu Boden. Doch die Person stank nicht nach Schweiß und alten Klamotten, wie Liam es von den Nachtvolk-Leuten erwartet hatte. Stattdessen stieg ihm Janets Parfüm in die Nase.
„Hey, was soll das?!“
Nun erkannte er auch ihre Stimme. Schnell schaltete Liam seine Lampe wieder ein und half ihr beim Aufstehen.
„Sorry, aber in der Dunkelheit habe ich dich nicht erkannt. Du solltest doch auf mich warten.“
„Ja, aber nach einer halben Ewigkeit wollte ich nach dir sehen“, fauchte Janet. „Allein würde ich aus diesem Labyrinth wohl kaum nach draußen finden.“
***
Das war natürlich nicht der einzige Grund, weswegen Janet Liam gefolgt war. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, wie sie sich selbst eingestehen musste. Das wollte sie ihm natürlich nicht auf die Nase binden. Solange Mias Schicksal so ungewiss war, würde Janet ohnehin nicht sorglos flirten können. Aber – wollte sie das überhaupt? Liam war so ganz anders als die Männer, auf die sie bisher immer hereingefallen war. Und wieso glaubte sie, dass er sich überhaupt für sie interessieren könnte?
Diese Gedankenfetzen schwirrten ihr durch den Kopf, während Liam mit leiser Stimme davon berichtete, was er in dem Zug gefunden hatte.
„Dann ist das Nachtvolk also hier in der Nähe?“, fragte Janet wispernd zurück. Liam seufzte.
„Ich will ehrlich zu dir sein: Das weiß ich nicht. Okay, sie haben hier ein Depot für ihr Diebesgut angelegt. Aber unter der Erdoberfläche von London verbirgt eine ganze Welt aus nicht benutzten Tunneln und Schächten. Vergiss nicht, dass diese Stadt schon seit über 100 Jahren eine U-Bahn hat. Während dieser Zeit hat sich viel getan.“
„Mia könnte also
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Olivia Prodesign, www.fiverr.com
Lektorat: Peter Thannisch
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1663-1
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