»Bitte nicht!«
Die junge Frau warf sich auf die Knie und hob flehend die Hände. Sie saß in der Falle. Es gab nirgendwo einen Ausweg, um dem Grauen zu entkommen. Und der Schrecken näherte sich unaufhaltsam. Die finstere Gestalt kam drohend auf sie zu.
Die Blicke der Unglücklichen irrten über die hohen Mauern aus schiefergrauen Granitquadern, von denen sie umgeben war. Keine Tür, keine Pforte, kein Fenster bot Fluchtmöglichkeiten. Okay, da war die steile Treppe direkt vor ihrer Nase. Aber genau über diese Stufen kam ihr unerbittlicher Feind zu ihr hinab.
Der Raubritter!
»Verschont mein Leben, edler Herr!«, flehte das Mädchen. Aber der grausame Verfolger hob sein Schwert. Er knurrte: »Du hast es gewagt, dich gegen mich zu stellen, elende ... elende ...«
Der finstere Krieger stockte. Und sein Opfer begann zu kichern.
***
Mr. Hickey, der Englischlehrer, stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. Er wandte sich an den Raubritter.
»Warum bleibst du immer an dieser Stelle hängen, Ben? Es heißt: Du hast es gewagt, dich gegen mich zu stellen, elende Denunziantin. - Wenn ich dir schon die Hauptrolle in unserer Schulaufführung gebe, dann kannst du gefälligst deinen Text lernen. Das ist ja wohl nicht zuviel verlangt, oder?«
»Nein, Mr. Hickey«, erwiderte der Raubritter und wurde knallrot wie eine reife Tomate. Daraufhin kicherte das Mädchen noch lauter. Wenn Ben Roberts wirklich ein Raubritter gewesen wäre, hätte er sie jetzt garantiert geköpft.
Aber er war nur ein Schüler in einem schottischen Internat, der in der Schultheatergruppe mitspielte. Und das Mädchen hieß Alice Hogan, verkörperte in dem Stück eine Fee und war im richtigen Leben seine Freundin. Darum nahm er es ihr auch nicht übel, dass sie gerade wie bescheuert losgegackert hatte. Ben hatte Humor und konnte auch einen Witz vertragen, der auf seine Kosten ging.
Es war aber auch zu krass, dass er immer an dieser Stelle mit seinem Text hängenblieb. Das war umso schlimmer, weil der Englischlehrer Mr. Hickey nicht nur Regie führte, sondern das Theaterstück Der Raubritter und die Elfe außerdem noch selbst geschrieben hatte. Der Pauker fühlte sich jedes Mal in seiner Dichterehre verletzt, wenn bei den Proben etwas schief ging.
Ben ließ die zusammengerollte Zeitung sinken, die er statt eines richtigen Schwertes in der Hand hielt. Er trug auch keine Ritterrüstung, sondern seine normale Schuluniform. Alice war genauso wie er gekleidet, abgesehen von dem Faltenrock statt der kurzen Hosen.
Sie legte den Kopf schief und blinzelte ihm mit ihren meergrünen Augen zu. Alice brauchte nichts zu sagen. Ben wusste inzwischen, was dieses Signal zu bedeuten hatte. Seine Freundin wollte sich mit einem Kuss für ihr blödes Gekicher entschuldigen. Und dagegen hatte Ben natürlich überhaupt nichts einzuwenden ...
»Eine Viertelstunde Pause!«, rief Mr. Hickey. Er strich sich über seinen Kugelbauch. »Ihr könnt euch bestimmt besser konzentrieren, wenn ihr eine Kleinigkeit gegessen habt.«
Während der Lehrer sprach, riss er bereits die Verpackung eines Schokoriegels auf. Mr. Hickey naschte den ganzen Tag lang. Darum hatte er ja auch die Statur eines Teletubbies. Ben kam normalerweise gut mit Mr. Hickey aus. Der Englischlehrer konnte nur ungemütlich werden, wenn er Hunger hatte. Aber ansonsten war er gut drauf, wie eigentlich alle Pauker von Glenbroke Castle. Das war auch wichtig, denn das Internat lag mitten in einer einsamen schottischen Landschaft. Dadurch war es oft so, als würden sich alle Bewohner auf einer vergessenen Südseeinsel befinden. Wenn dort nur einer stresste, mussten alle darunter leiden.
Ben hatte jetzt keine Lust auf einen Snack. Alices Lippen waren ihm süß genug. Er legte einen Arm um die Schultern seiner Freundin und lotste sie zu einer schmalen Tür, die in den Bereich hinter der Aula führte.
Aber da hatte Fred sie schon entdeckt. Er war einer von dem guten Dutzend Mitschülern, die ebenfalls bei dem Theaterstück mitmischten.
»Ben, warte! Ich hab mir heute das absolute Granatenspiel aus dem Internet runtergeladen. Da schnallst du echt ab. Es geht ...«
»Später, F.F.«, sagte Ben und grinste dem rothaarigen bleichen Jungen zu. »Ich muss kurz was mit Alice besprechen. Wegen der Rolle.«
Zum Glück kapierte Fred Finnegan, der nur F.F. genannt wurde, den Wink mit dem Zaunpfahl sofort. F.F. war Bens bester Freund, aber in Sachen Mädchen brauchte er manchmal Nachhilfe. Immerhin hatte Ben F.F. inzwischen von der Meinung abgebracht, dass man durch Beherrschung von coolen Games automatisch eine tolle Freundin fand.
Ben und Alice betraten die finsteren Räume hinter der Aula-Bühne. Das Internat war in Glenbroke Castle untergebracht und wirkte wie ein Spukschloss aus einem alten Horrorfilm. Und das nicht nur von außen, sondern auch von innen.
Okay, die Unterrichtsräume und auch die Zimmer der Schüler waren hell, freundlich und modern. Die technische Ausstattung befand sich ebenfalls auf dem neuesten Stand. Über WLAN kam man überall in Glenbroke Castle ins Internet. Aber in den ungenutzten Räumen schien seit dem Mittelalter die Zeit stehengeblieben zu sein. Und solche leerstehenden Gemächer gab es jede Menge. Der ganze Nordflügel wurde praktisch überhaupt nicht benutzt, wenn man von der Aula absah.
Daher waren die Abstellräume hinter der Bühne nur von wenigen funzligen Glühbirnen beleuchtet. Die Fenster erinnerten eher an Schießscharten. Durch sie konnte kaum Tageslicht eindringen. Abgesehen davon, dass der Himmel über den Highlands sowieso wolkenverhangen war. Herbststürme fegten über Schottland. Die Sommerferien lagen schon fast zwei Monate zurück.
»Mann, ist das gruselig hier«, raunte Alice. Ben spürte, wie ihr Griff um seine Hand sich verstärkte. Ihr Körper zitterte. Das Mädchen fürchtete sich in den unbewohnten Bereichen von Glenbroke Castle, wie Ben wusste. Alice war normalerweise nicht so leicht einzuschüchtern und gehörte nicht zu den Mädchen, die auf den Tisch hüpften, wenn eine Maus erschien. Aber vor Geistern und Gespenstern hatte sie schon Angst.
»Hey, bleib cool. Hier wird schon kein geköpfter Knochenmann auftauchen.«
»Ben, das ist nicht witzig!«
Der Junge beschloss, lieber den Mund zu halten. Sonst konnte er den Kuss, den Alice ihm in Aussicht gestellt hatte, garantiert vergessen. Außerdem wollte er sich gar nicht über Alice lustig machen. Schließlich war er schon drei Monate mit ihr zusammen, und abgesehen von ihren gelegentlichen Kicherattacken störte ihn nichts an ihr. Ben fand es sogar richtig toll, dass Alice trotz ihrer Furcht vor unheimlichen Räumen mit ihm durch diese Kammern streifte.
Eigentlich habe ich ein verflixtes Glück, sagte er sich. Ben war mit einem tollen Mädchen zusammen, er hatte F.F. und einige andere Freunde, denen er vertrauen konnte und ging auf eine Schule, die trotz ihres Spukschloss-Aussehens richtig klasse war. Bens Dad war Manager und reiste um die halbe Welt. Daher fanden seine Eltern, dass Ben auf einem Internat am besten aufgehoben sei. Zuvor war er in einer anderen Schule in Südengland gewesen, die ihm gar nicht gefallen hatte. Zuviele Dummköpfe, die sich dauernd mit ihm prügeln wollten. Darauf stand Ben nicht, obwohl er kein Feigling war. Und auch nicht gerade der Schwächste. Aber seit Ben vor einem Jahr nach Glenbroke Castle gekommen war, gefiel es ihm dort super.
»Iiiih!«
Alices Aufschrei riss ihn aus seinen Gedanken. Das Mädchen war mit dem Gesicht in eine Spinnwebe geraten. Und das fand sie natürlich ziemlich eklig. Fluchend befreite sich Alice von den Fäden.
»Verflixt, ist das widerlich!«
»Wenn du jetzt wirklich eine Fee wärst, hättest du zwischen den Spinnweben hindurchschweben können.«
»Deine Witze waren auch schon mal besser.« Alice wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. Dann legte sie ihre Arme um Bens Nacken. »Komm lieber her. Es wird nicht ewig dauern, bis Mr. Hickey seinen Schokoriegel vernichtet hat.«
Nun bekam Ben seinen versprochenen Kuss, und er fühlte sich so toll an, wie der Junge es erwartet hatte. Doch das Glücksgefühl wurde von einem lauten Rumpeln jäh beendet. Die Beiden schraken zusammen.
»Was war das?«, flüsterte Alice. Ben konnte hören, dass ihre Stimme vor Angst zitterte.
»Bestimmt nur Mr. Hickey.« Er versuchte, beruhigend zu klingen. »Wahrscheinlich ist die Viertelstunde Pause doch schon vorbei.«
»Mr. Hickey paßt wohl kaum durch die schmale Bühnentür«, sagte Alice. Ben war froh, dass sie nicht total in Panik verfiel. Trotz ihrer Furcht hatte sie einen vernünftigen Gedanken gefaßt. Aber – wer war denn nun für das Geräusch verantwortlich? Der Nordflügel des Internats wurde ja nicht benutzt, außer von der Theatergruppe, die in der Aula probte.
Ob vielleicht F.F. hinter ihnen hergeschlichen war? Nein, das traute Ben seinem besten Freund nicht zu. Bisher hatte F.F. nie sauer reagiert, weil Ben eine Freundin hatte und er selber nicht. Und Alice und F.F. verstanden sich auch untereinander gut, weil sie ja beide mit Ben befreundet waren. Oder ob einer der anderen Typen aus der Theatergruppe sich einen blöden Scherz erlauben wollte?
Okay, das war möglich.
Wieder ertönte das Poltern. Ben dachte nach. Wem war so ein Kleinkinder-Getue zuzutrauen? Die meisten seiner Mitspieler fand er okay. Eigentlich kam nur einer in Frage.
»Paul Jenkins«, rief Ben in das Halbdunkel außerhalb der Lampen-Reichweite hinein, »hör mit dem Blödsinn auf! Das ist nicht witzig, du Hirni!«
Die Antwort bestand aus einem dumpfen Knurren. Außerdem war ein schwerer Schritt zu hören, der unmöglich von dem Verdächtigen stammen konnte. Paul Jenkins war nämlich das reinste Fliegengewicht. Ben ertappte sich selbst dabei, wie ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Das war so krass – noch vor wenigen Minuten hatte er sich über Alices Angst lustig gemacht. Aber nun musste er sich eingestehen, dass ihm selbst die Muffe ging.
Warum waren diese Gemächer auch nur so spärlich ausgeleuchtet? Wahrscheinlich, weil sie nur als Lagerräume für Girlanden, Fahnen und ähnlichen Kram dienten, die bei Festen in der Aula benötigt wurden. Auch selbstgebaute Kulissen für das Theaterstück standen hier herum.
»Ben«, flüsterte Alice. Sie krallte sich in seinen Oberarm. »Sieh nur ...!«
Ein großer Schatten löste sich von einer Burgmauer aus Pappmaché. Das Grollen ertönte noch einmal. Und dann flammte das helle Licht einer Taschenlampe auf.
»Was habt ihr hier verloren, ihr Schulschwänzer?«
Ben und Alice waren halbwegs erleichtert, als sie die dunkle Stimme erkannten. Er leuchtete nun von unten her sein eigenes Gesicht an, was unheimlich aussah. Aber ihnen war wenigstens kein Monster oder Gespenst begegnet. Sondern nur Nigel Jones, der Internats-Hausmeister!
Der massige Kerl trug wie üblich seinen grauen Arbeitskittel. Darunter verbarg sich nicht nur Fett, sondern auch gewaltige Muskelpakete. Das wurde dem Jungen und dem Mädchen schmerzhaft klar, als er jeden von ihnen an jeweils einem Arm packte.
»Was fällt euch ein, hier herumzuknutschen, anstatt im Klassenzimmer zu hocken? Ich schleife euch jetzt zu Dr. Mason, der wird euch schon die Flötentöne beibringen!«
Dr. Mason war der Direktor des Internats Glenbroke Castle.
»Au! Das tut weh!«, protestierte Alice. Sie versuchte vergeblich, sich aus dem Klammergriff des Hausmeisters zu befreien. »Lassen Sie uns los, Mr. Jones! Wir haben heute gar keinen Unterricht mehr. Wir sind in der freiwilligen Theatergruppe von Mr. Hickey. Wir proben in der Aula. Fragen Sie ihn doch!«
»Freiwillige Theatergruppe?«, höhnte Nigel Jones. »Ich mache hier auch gleich Theater, da kannst du dir sicher sein. Ihr Kinderchen reicher Eltern glaubt doch, ihr könnt euch alles erlauben.«
»Lassen Sie wenigstens Alice los«, protestierte Ben. »Sie tun ihr weh!«
»Ihr wolltet den Unterricht schwänzen. Ob Junge oder Mädchen, da mache ich keinen Unterschied. Bei mir werden alle gleich behandelt.«
Der Hausmeister trug eine schwarze Augenklappe, weil er nur ein Auge besaß. Dadurch wirkte er piratenmäßig, wozu auch die Tatoos auf seinen muskulösen Unterarmen passten. Ansonsten war ein riesiger Walroß-Schnäuzer das Einprägsamste in Jones‘ grimmigem Gesicht. Der mächtige Schädel war ansonsten völlig kahl.
»Das stimmt doch gar nicht«, kam Alice ihrem Freund zu Hilfe. »Wir haben hier nur eine kleine Pause gemacht. Mr. Hickey hat es erlaubt. Warum schleichen Sie hier überhaupt herum?«
»Ich schleiche nicht, sondern ich arbeite«, schnarrte der Hausmeister. »Darunter könnt ihr faulen Millionärskinder euch sicher nichts vorstellen. Außerdem habe ich jetzt genug von euren Unverschämtheiten. Jetzt geht es zum Direktor, aber im Eiltempo.«
»Können Sie nicht wenigstens in der Aula vorbeischauen?«, flehte Ben. »Mr. Hickey wird uns schon vermissen.«
»Eure miesen Tricks kenne ich. Sucht euch einen Anderen, den ihr veräppeln könnt.«
Aber Ben und Alice redeten weiterhin mit Engelszungen. Schließlich ließ sich der Hausmeister doch breitschlagen. Er musste ohnehin an der Aula vorbei, wenn er in den Südflügel des Schlosses wollte. Dort befanden sich die Verwaltungsräume, also auch das Rektorbüro.
Nigel Jones schob den Jungen und das Mädchen rüde vor sich her, als ob er es mit zwei Schwerverbrechern zu tun hätte. Ben wunderte sich wirklich nicht darüber, dass keiner den Hausmeister leiden konnte.
Sicher war das Leben nicht gerade freundlich zu ihm gewesen. Sein eines Auge hatte Nigel Jones im Falklandkrieg verloren, wie es hieß. Aber der war schon vor über zwanzig Jahren beendet worden. Das hatte Ben einmal im Internet gecheckt. Ob das der einzige Grund war, warum der Hausmeister alle Leute wie den letzten Dreck behandelte?
Ben wusste es nicht. Er war nur erleichtert, als Nigel Jones seine beiden „Gefangenen“ in die Aula stieß. Dort rannte der Englischlehrer aufgeregt Hin und Her, wobei er gesalzene Erdnüsse mampfte.
»Diese beiden Nichtsnutze behaupten, Sie würden hier Theater spielen.«
»Das stimmt auch, Jones«, erwiderte Mr. Hickey. »Es sind sogar meine Hauptdarsteller.«
»Hauptdarsteller!«, höhnte der Hausmeister. »Kein Wunder, wenn aus der Jugend nichts wird. – Na, mir soll es egal sein.«
Er ließ Ben und Alice los und verdrückte sich, ohne ein Wort der Entschuldigung über die Lippen zu bringen. Aber wer Nigel Jones kannte, erwartete so etwas eh nicht von ihm. Mit einem kräftigen Schwung schlug er die Aulatür von außen zu.
Auch Mr. Hickey verbarg seine Erleichterung nicht, als Nigel Jones wieder verschwunden war. Manchmal glaubte Ben, dass sich die Lehrer ebenso wie die Schüler vor dem Hausmeister fürchteten.
»Die Pause ist vorüber. Wir machen mit der Kerker-Szene weiter. – Ben und Alice, das ist wieder euer Auftritt.«
»Bist du okay?«, raunte Ben seiner Freundin zu, während sie auf der Bühne ihre Positionen einnahmen.
»Es geht schon. Allerdings ist mir Jones so nahe gekommen, dass ich von seiner Schnapsfahne ganz beduselt bin.«
Ben musste grinsen. Es freute ihn, dass Alice nach dem Schrecken in der Dunkelheit ihren Humor nicht verloren hatte. Und außerdem war die Alkohol-Vorliebe des Hausmeisters eine allgemeine Tatsache, von der gewiss auch der Rektor wusste. Wahrscheinlich hatte er Jones nur deshalb noch nicht gefeuert, weil sich kein neuer Bewerber für dessen Job in der Einöde Schottlands angefunden hätte.
Aber nun musste sich der Junge wieder ganz auf seine Raubritter-Rolle konzentrieren, wenn er es sich nicht endgültig mit Mr. Hickey verderben wollte. Zum Glück fielen ihm die passenden Zeilen seines Textes nun wieder ein.
»Und wenn ich durch ein Meer von Blut waten muss – mein Ziel liegt klar vor mir«, sagte Ben, wobei er versuchte, wie ein Schurke zu klingen. Das fiel ihm in diesem Moment nicht schwer. Er machte einfach die Sprechweise von Nigel Jones nach.
Als die Glocke zum Abendessen rief, beendete der Englischlehrer die Theaterproben. Sein rundes Gesicht zeigte nicht gerade einen zufriedenen Ausdruck.
»Ihr müsst alle noch besser eure Texte lernen«, rief er den Kids nach, die Richtung Kantine stürmten, »sonst blamieren wir uns bei der Premiere!«
»Wie stellt Kugelfisch sich das vor?«, fragte Ben Alice, die diesen Spitznamen des Lehrers erfunden hatte. »Wenn wir auch noch essen und schlafen wollen, bleibt doch kaum noch Zeit zum Rollenpauken.«
»Ich kriege heute nacht bestimmt sowieso kein Auge zu«, stöhnte das Mädchen. »Da muss ich nur an diese Begegnung mit Nigel Jones denken. – Hast du gewußt, dass der Hausmeister jemanden umgelegt hat? Im Vollrausch mit der Schnapsflasche erschlagen, heißt es. Zehn Jahre hat er dafür in Dartmoor gesessen.«
»Hey, ich habe schon gehört, dass eins von euch Mädchen dieses Gerücht aufgebracht hat. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Ein ehemaliger Totschläger als Schul-Hausmeister? Das ist doch echt zu krass.«
»Willst du sagen, dass ich lüge?«, zickte Alice.
»Nein, ich meine doch bloß ...«
»Wenn das so ist, setze ich mich lieber zu meinen Freundinnen«, schnitt sie ihm das Wort ab. Alice warf den Kopf in den Nacken und eilte hinüber zu Julie, Andrea und einigen anderen Girls, die aus einem anderen Gebäudeteil Richtung Speisesaal unterwegs waren.
Ben verzog den Mund. Er kannte es bereits, dass Alice gelegentlich ohne besonderen Grund stresste. Sie würde sich schon wieder beruhigen. F.F. legte einen Zahn zu und kam an Bens Seite.
»Macht Alice Terror?«, wollte Bens Freund wissen.
»Ja, ist aber nicht der Rede wert.«
Trotzdem brachte Ben seinen besten Kumpel mit ein paar Sätzen auf den neuesten Stand.
»Das mit dem Totschlag hatte ich noch nicht gehört«, gab F.F. zu. »Aber auf jeden Fall soll Nigel Jones regelmäßig seine Frau vermöbelt haben. Deshalb darf er bis heute seinen Sohn nicht sehen.«
Ben zog die Augenbrauen zusammen.
»Hat der Hausmeister dir das selbst erzählt?«
»Das nicht, aber ...«
»Ich stehe nicht drauf, solche Laberei weiterzugeben«, sagte Ben. »Okay, ich finde Nigel Jones auch zum Fürchten. Aber wer weiß, warum er so geworden ist. Denk nur mal an seine Augenklappe – es muss bestimmt krass sein, mit nur einem Auge durch die Welt zu laufen.«
»Das klingt ja so, als würdest du ihn in Schutz nehmen«, meinte F.F.
»Das nicht gerade. Aber ich bin dagegen, blöde Sachen über Leute zu erzählen, nur weil man sie nicht ausstehen kann. Ich halte mich von Nigel Jones fern. Das reicht mir vollkommen aus.«
»Schon okay«, lenkte F.F. ein.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Olivia Prodesign, www.fiverr.com
Lektorat: Peter Thannisch
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1649-5
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