St. Pauli, Reeperbahn, 3. Juni, 0.45 Uhr morgens
Die Stretch-Limousine glitt wie ein weißer Hai die Reeperbahn entlang. Luger hatte es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht. Er war allein, aber er würde es nicht lange bleiben. Die Nacht war noch jung, was man von ihm nicht behaupten konnte. Luger kannte gute und miese Phasen, doch in diesem Moment fühlte er sich wie der König der Welt.
Oder zumindest der Herr von Hamburg.
Immer schön bescheiden bleiben, dachte Luger mit einer Anflug von Selbstironie. Er sog an seiner Zigarre und verlor sich in Fantasien, was den Verlauf der nächsten Stunden anging.
Ein Besuch in der Notaufnahme war nicht vorgesehen.
Der Erfolg hatte Luger träge und leichtsinnig werden lassen. Die Dinge hätten sich anders entwickelt, wenn die Türen seiner Luxuskarosse einfach nur gesichert gewesen wären. Doch dies hatte er versäumt.
Als die Limo an der roten Ampel Ecke Reeperbahn und Detlev-Bremer-Straße halten musste, riss plötzlich eine Gestalt die rechte Seitentür auf, glitt in den Wagen und stürzte sich auf Luger. Er sah ein hübsches hassverzerrtes Gesicht und blickte in schöne Mörderinnenaugen.
Luger spürte schmerzlich, dass er eingerostet war. Die Zeiten, in denen er sich mit körperlicher Gewalt selbst behaupten musste, lagen lange zurück. Dafür hatte er inzwischen seine Leute - beispielsweise Mike, seinen Chauffeur und Bodyguard. Natürlich kapierte der Gorilla am Lenkrad, dass sein Boss in Lebensgefahr schwebte. Mike riss die Fahrertür auf, um Luger zu helfen.
Die folgenden Ereignisse spielten sich wie in Zeitlupe ab. Als Luger später von der Polizei befragt wurde, konnte er die Puzzleteile aus seinem Gedächtnis nur schwer zusammensetzen. Da war der Gestank nach Blut. Blut, das durch seine Adern geflossen war. Der Zigarrenrauch und Lugers teures Rasierwasser wurden dadurch glatt überdeckt. Und der Schmerz - er kam so schnell und intensiv wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Hand der Angreiferin fühlte sich kalt und hart an, obwohl ihre Finger sehr gepflegt und feminin wirkten. Doch sie verstand es, ein Messer zu führen. Luger hatte genügened Kämpfe bestritten, um dies beurteilen zu können. Ihr ungebetener Besuch auf dem Rücksitz konnte nur wenige Sekunden gedauert haben, obwohl Lugers Todesangst den gefühlten Zeitraum auf mehrere Stunden ausdehnte. Sein Herz machte Probleme, der Kreislauf spielte verrückt. Und dann war alles vorbei. Die Fremde war durch die rechte Tür eingedrungen und durch die linke geflohen. Man hörte noch das erschrockene Hupen anderrer Autofahrer, weil sie offensichtlich auf die Fahrbahn gesprungen war. Als nächstes erklang ein Schmerzensschrei. Kam er aus Lugers Kehle? Er wusste es nicht.
Fest stand nur, dass die Frau seinen kleinen rechten Finger mitgenommen hatte.
Alsterdorf, Polizeipräsidium, Bruno-Georges-Platz, 3. Juni, 10 Uhr morgens
»Wir haben einen neuen Fall, Quittje.«
Kommissarin Simone Kamm verdrehte die Augen, als sie die tiefe Stimme ihres Kollegen Sönke Reimers hörte. Sie hasste es, wenn der Hauptkommissar sie mit diesem Spitznamen anredete. Eine Zeitlang hatte sie deshalb ihre Ohren auf Durchzug gestellt, bis ihr das eigene Verhalten kindisch vorkam. Sie war schließlich nicht in der Vorschule, sondern bei der Mordkommission. Und wenn sie diesem alten Knochen zeigte, dass sie sich durch seine Neckereien ärgern ließ, hatte er schon gewonnen.
Also setzte sie ein falsches Lächeln auf und fragte: »Worum geht es denn?«
Reimers, der vor ihrem Schreibtisch stand, hielt einen Zettel zwischen seinen Wurstfingern.
»Wenn ich die Sauklaue von Siemers richtig entziffere, dann liegt ein Messermord sowie eine schwere Körperverletzung vor. Es ist von einem abgeschnittenen Finger die Rede. Vor allem wurde Luger darin verwickelt, also dürfte es einen heißen Tanz geben. Und der Tatort ist die Reeperbahn. Das dürfte Ihnen doch gefallen.«
»Wieso?«
»Weil alle Quittjes St. Pauli lieben. - Lassen Sie uns erst mit Luger reden, ich bin auf seine Ammenmärchen gespannt.«
Der Hauptkommissar verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. In diesem Moment kam er Simone wie ein Boxer vor, der gleich einen entscheidenden Treffer anbringen wollte. Der Vergleich gefiel ihr. Reimers erinnerte sie wirklich an einen in die Jahre gekommenen Kirmesboxer, der den Zeitpunkt eines würdevollen Abgangs verpasst hatte. Diese Überlegung erinnerte sie daran, dass ihr Kollege schon in wenigen Monaten pensioniert werden würde.
Die Zeit arbeitet für mich, dachte Simone. Und diese Tatsache ermöglichte ihr ein falsches Lächeln.
»Wie Sie meinen, Herr Reimers. - In welches Krankenhaus wurde das Opfer denn eingeliefert?«
Der Hauptkommissar schnaubte verächtlich.
»Opfer? Ja, es würde Luger gefallen, so bezeichnet zu werden. - Er wurde ins Krankenhaus Altona eingeliefert, hat sich dort aber auf eigene Verantwortung gleich wieder aus dem Staub gemacht. Er wollte sich in der Lindenhöhe zusammenflicken lassen.«
»Wo ist das?«
»Lindenhöhe ist eine stinkfeine Privatklinik in Blankenese. Aber auch dort hat man noch keine Methode entwickeln können, wie man einen abgeschnittenen Finger wieder nachwachsen lässt.«
Während die Kommissare miteinander sprachen, fuhren sie mit dem Lift hinunter zur Tiefgarage und nahmen sich einen Dienstwagen aus der Fahrbereitschaft. Reimers ließ den Motor an.
»Sie kennen Herrn Luger schon länger?«, hakte Simone nach. Daraufhin begann ihr Kollege dröhnend zu lachen.
»Herr Luger? Kommen Sie bloß nicht auf den Trichter, ihn so anzureden, Quittje! Am besten halten Sie überhaupt den Schnabel, wenn ich den Dreckskerl ins Gebet nehme.«
Seine Reaktion machte sie so sprachlos, dass sie ihm einfach nur einen giftigen Blick zuwarf. Aber davon ließ sich Reimers nicht beeindrucken. Er fuhr fort: »Okay, das können Sie alles nicht wissen - der zweifelhafte Ruhm dieses Herrn hat sich gewiss noch nicht bis nach Gütersloh verbreitet. Aber der Reihe nach: Luger heißt in Wirklichkeit Karl-Heinz Lug.«
»Also ist Luger ein Spitzname?«
»Sie haben es erfasst, Quittje. In seinen Anfangsjahren hatte Lug stets so eine Wumme in der Hosentasche, also genauer gesagt eine Parabellum 08, die auch Luger genannt wird. Wir haben ihn einige Male eingebuchtet und stets so eine Knarre bei ihm gefunden. Inzwischen ist der Bastard cleverer geworden und hat für die Drecksarbeit seine Handlanger. Aber der Spitzname ist an ihm kleben geblieben.«
Reimers war zweifellos ein Polizist alter Schule, der eine Handfeuerwaffe gern als Wumme bezeichnete und Verdächtigen Spitznamen gab. In Simones Augen war diese Art der Ermittlungsarbeit im 21. Jahrhundert überholt. Ihr Kollege kam ihr wie ein Dinosaurier vor. Sie schaffte es nicht immer, mit ihren Ansichten hinter dem Berg zu halten. Leider hatte sie schon am ersten Tag der Zusammenarbeit durchblicken lassen, dass sie aus Gütersloh stammte. Seitdem war Simone für Reimers nur noch Quittje. Sie hatte ihren Ärger hinuntergeschluckt und das Wort später heimlich nachgeschlagen. Denn natürlich wusste sie nicht, was es zu bedeuten hatte.
Offenbar war Quittje in Hamburg eine spöttische Bezeichnung für neu zugezogene Bürger, die nicht in der Hansestadt geboren wurden. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, redete Reimers weiter: »Luger ist seit Jahrzehnten eine feste Größe auf St. Pauli. Er hat von Zuhälterei über Drogenhandel bis zu Import von gefälschter Markenware schon so ziemlich alles getrieben, was illegal und lukrativ ist. Ich frage mich, wer sich mit ihm anlegt. Der Angreifer schert sich entweder nicht um sein eigenes Leben oder er will Luger endgültig aus dem Markt drängen. - Ganz ehrlich, auf einen Gangsterkrieg habe ich so überhaupt keine Lust, Quittje.«
»Steht denn schon fest, dass sich sich um einen gezielten Angriff handelt?«, fragte Simone.
Der Hauptkommissar warf ihr einen anerkennenden Seitenblick zu.
»Sie denken an einen durchgeknallten Junkie, der sich im Vollrausch auf den Nächstbesten stürzt? Ja, das wäre eine Möglichkeit. Wer Luger nicht kennt, fürchtet sich logischerweise auch nicht vor ihm. Sie werden mir zustimmen, wenn Sie ihn vor sich sehen. Wann hat man in Gütersloh schon mal die Gelegenheit, einer echten Unterweltgröße entgegenzutreten?«
»Auch in meiner Heimat gibt es Kriminalität!«
»Klar, Ladendiebstahl ist schließlich auch eine Straftat. - So, wir sind da.«
Während ihres Wortwechsels hatten sie die weiße Villa an der Elbchaussee erreicht, in der sich offenbar die Privatklinik befand. Die Kieselsteine knirschten unter den Reifen des Dienstwagens, als Reimers diesen auf dem Parkplatz zum Stehen brachte. Das Gespräch war mit Unterbrechungen geführt worden, denn die Fahrtzeit vom Präsidium zur Elbchaussee betrug ungefähr eine halbe Stunde. Die Kriminalisten stiegen aus dem Auto und betraten die Klinik. Am Empfang saß eine junge Frau in einem weißen Kittel, die weniger an eine Krankenschwester als an ein Fotomodell erinnerte.
»Guten Morgen, wie können wir Ihnen weiterhelfen?«, fragte sie mit einem geschäftsmäßigen Lächeln auf den Botox-Lippen.
»Wir müssen mit Herrn Lug sprechen.«
Reimers unterstrich seinen Satz, indem er der Frau seinen Dienstausweis unter die Nase hielt. Simone blieb zunächst stumm. Sie ärgerte sich über den Hauptkommissar, weil er sie ganz offensichtlich nicht für voll nahm. Aber noch größer war ihr Groll sich selbst gegenüber, weil sie sich dadurch verunsichern ließ. Was denkt dieser alte Knacker eigentlich, wer er ist?, dachte sie wütend. Das hübsche Gesicht des Krankenschwester-Models erstarrte zu einer Maske.
»Einen Moment bitte, ich muss telefonieren ...«
Nachdem sie ein Gespräch geführt hatte, erschien einige Minuten später ein Herr im Maßanzug, der sich als Dr. Krest vorstellte.
»Mein Patient benötigt absolute Ruhe«, begann er, doch Reimers ließ ihn nicht ausreden: »Ich kenne den Knaben, ein abgesäbelter Finger wirft ihn nicht aus der Bahn. Entweder spielen Sie weiterhin den barmherzigen Samariter und handeln sich eine Menge Ärger ein - oder wir dürfen kurz mit Lug reden und sind im Handumdrehen wieder verschwunden.«
Der Arzt sog scharf die Luft in seine Nasenlöcher. Es gefiel ihm offensichtlich überhaupt nicht, so angesprochen zu werden. Doch die Aussicht, das ungleiche Paar bald wieder loswerden zu können, schien letztlich schwerer zu wiegen.
»Also gut, aber fassen Sie sich bitte kurz.«
Mit diesen Worten knickte Dr. Krest ein und führte die Ermittler höchstpersönlich zu dem Krankenzimmer, das Simone eher wie eine Suite in einem Luxushotel vorkam. Allein der unverbaubare Blick auf den breiten Elbestrom war sensationell. Ein älterer Mann mit einem grauen Schnurrbart lag in dem Bett. Er breitete die Arme aus, als ob er einen alten Freund begrüßen wollte.
»Reimers - was für eine nette Überraschung! Wir haben uns ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und Sie haben Ihre Enkelin mitgebracht?«
Simone musste sich eingestehen, dass sie sich eine Unterweltgröße ganz anders vorgestellt hatte. Und das lag nicht nur an der jovialen Ansprache dem Hauptkommissar gegenüber. Lug (oder Luger) wirkte auf sie harmlos und vertrauenerweckend. Ob ihn dies besonders gefährlich machte?«
Reimers machte eine wegwerfende Handbewegung und knurrte: »Das ist nicht meine Enkelin, sondern Kommissarin Kamm. - Und was ist mit Ihnen, Lug? Schwächeln Sie auf Ihre alten Tage? Früher hätten Sie sich nicht davon beeindrucken lassen, dass Ihnen ein Finger abhanden kommt.«
In den Augen des Patienten blitzte kurz Zorn auf, aber dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Lächelnd beteuerte er: »Meine Wunde an der Hand wurde erstklassig versorgt. Leider spielte mein Kreislauf verrückt, deshalb werde ich bis zum Abend oder vielleicht sogar bis morgen früh zur Beobachtung hierbleiben müssen.«
»Konnten Sie Ihren Angreifer erkennen?«
Diese Frage kam von Simone. Sie war der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Olivia Prodesign, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1429-2
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