Die Frauenleiche konnte man nicht übersehen.
Sie lag inmitten einer kleinen Senke, die von dichtem Wald umgeben war. Das Sonnenlicht fiel auf den fast nackten Körper. Das Gesicht des Opfers drückte noch im Tod Entsetzen aus. Die junge Blonde musste gelitten haben, bevor der Täter ihr seine Stichwaffe in den Leib gerammt hatte.
„Das war die kleine Welling.“
Kommissar Hermann Rupps tiefe Stimme riss Polizeimeisterin Lea Kramer aus ihrer Beobachtung des Tatorts. Oder war die Frau an einer anderen Stelle getötet worden? Hatte der Täter sie nur im Wald entsorgt wie einen alten Autoreifen?
Lea wusste es nicht. Das hier war ihr erster Mordfall. Und sie wunderte sich nicht darüber, dass ihr Kollege das Opfer kannte.
Rupp war in Mönchsfelden geboren und aufgewachsen. Das hatte Lea immerhin aus dem schweigsamen Polizisten herausbekommen, nachdem sie vor drei Wochen hierher strafversetzt worden war. Es grenzte an ein Wunder, dass dieses verschlafene Dorf mitten im Nirgendwo überhaupt eine Polizeidienststelle besaß.
Lea atmete tief durch.
Die Luft war an diesem schönen Frühsommertag feucht, warm und schwül. Sie schwitzte jetzt schon, obwohl sie die Uniform erst vor zwei Stunden angezogen hatte. Neben den Polizisten stand ein älterer Radwanderer, seine Hände waren um den Lenker seines Gefährts gekrampft. Er hatte die Tote gefunden.
„Wurde das Mädchen vermisst?“, fragte Lea.
Rupp schüttelte seinen mächtigen rasierten Schädel.
„Nee, davon wüsste ich. Gestern hab ich Tanja noch auf ihrem Fahrrad gesehen.“
Lea schaute sich suchend um.
„Ich bemerke hier kein Rad. Ob es sich noch in den Händen des Täters befindet?“
„Weiß der Henker“, knurrte Rupp. „Und hier fehlt sowieso einiges.“
Die junge Polizistin musste nicht darüber spekulieren, was ihr Kollege meinte. Die Tote trug nur noch ihren Slip und ihre Strümpfe. Schuhe und die übrige Kleidung fehlten. Die Spurenlage sah nach Leas Meinung mehr als bescheiden aus. Es hatte in der vergangenen Nacht stark geregnet, daher war der Boden rings um die Leiche weich und matschig. Schuhabdrücke oder Spuren von Fahrradreifen konnte man jedenfalls nicht mehr erkennen.
„Benötigen Sie mich noch?“, fragte der Radtourist mit leicht zitternder Stimme. Seine Augenlider zuckten. Nach Leas Meinung war ihm die Nervosität an der Nasenspitze anzusehen. Er hatte sich diesen Urlaubstag wahrscheinlich anders vorgestellt.
Die Senke befand sich in unmittelbarer Nähe des Fernradweges. Ob der Mörder das Opfer extra hier abgelegt hatte, damit es schnell gefunden würde?
„Ja, wir brauchen Ihre Aussage schriftlich“, sagte Rupp zu dem Zeugen. „Fahren Sie doch bitte schon mal ins Dorf. Die Polizeiwache liegt an der Hauptstraße, gegenüber der Kirche. Sie können das Gebäude unmöglich verfehlen.“
Der Alte nickte. Er gehörte noch zu einer Generation, die polizeilichen Anordnungen ohne Diskussion Folge leistete.
„Sie kommen nach, Herr Wachtmeister?“
Rupp nickte.
„Wir verhaften jetzt den Täter.“
Lea traute ihren Ohren kaum.
Wusste ihr älterer Kollege, wer Tanja Welling getötet hatte? Oder gab es zumindest einen begründeten Verdacht? Sie hätte es gut gefunden, wenn er sich zuerst mit ihr beraten hätte. Doch das konnte sie von Rupp kaum erwarten. Obwohl sie noch nicht lange mit ihm zusammenarbeitete, glaubte sie ihren Kollegen gut einschätzen zu können.
Er behandelte sie nicht schlecht, sondern mit distanzierter Höflichkeit. Und das konnte sie ihm nach Lage der Dinge nicht verübeln. Lea wollte sich gar kein Bild davon machen, was für Gerüchte über sie innerhalb der Polizei kursierten. Hinzu kam, dass der Kommissar über mindestens dreißig Jahre mehr Diensterfahrung verfügte als sie selbst. Rupp würde sich also kaum von Leas Überlegungen oder ihrer Meinung abhängig machen, bevor er eine Entscheidung träfe.
„Nach Mönchsfelden geht es dort entlang, nicht wahr?“
Der Radtourist deutete nach links. Rupp nickte.
„Ja, Sie erreichen den Ortsrand nach ungefähr drei Kilometern.“
Der ältere Mann schwang sich erleichtert in den Sattel seines Gefährts und war wenig später auf dem schmalen Radweg zwischen den Bäumen verschwunden. Die Polizisten hatten ihren Streifenwagen an der Kreisstraße zurückgelassen, die das Gehölz fünfhundert Meter von der Senke entfernt durchschnitt.
„Wer ist denn der Mörder?“
Lea kam sich dumm vor, als sie ihrem Kollegen diese Frage stellte. Doch sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass die Arbeit ihr egal wäre. Außerdem wurde sie von Neugierde geplagt. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie den Polizeidienst hatte quittieren wollen. Das war noch nicht allzu lange her. Doch Lea gab nicht so schnell auf. Sie hatte Fehler begangen, für die sie nun einstehen musste.
Und Mönchsfelden war ein Ort, der sich hervorragend für eine Strafversetzung eignete. Womöglich existierte die hiesige Polizeiwache nur noch aus diesem Grund?
„Ich weiß natürlich nicht, ob dieser Kerl, an den ich denke, das Mädchen auf dem Gewissen hat“, räumte Rupp ein. „Aber wir sollten ihn mal genauer unter die Lupe nehmen.“
„Ist der Mann vorbestraft? Oder war er mal in der Nervenheilanstalt? Es ist doch wohl nicht normal, das Opfer so zu verunstalten“, sagte Lea. Sie zeigte auf Tanja Wellings Bauch, in den jemand mit einem spitzen Gegenstand die Buchstaben M und Z geritzt hatte.
Der alte Polizist zuckte mit seinen breiten Schultern.
„Ich weiß nicht, ob der Vogel schon mal gesessen hat oder ob er in der Klapsmühle war. Ich kenne ihn nicht.“
„Wer ist es?“
„Wirst du gleich sehen. Komm, wir haben es nicht weit.“
Rupp marschierte quer durch den Wald, und Lea folgte ihm. Zum Glück standen die Bäume nicht überall so dicht beieinander wie am Rand dieser Lichtung. Die Vögel zwitscherten, und kleine Tiere huschten über den Waldboden. Ohne den Leichenfund wäre es ein schöner Tag für eine Wanderung gewesen.
Ob das Opfer missbraucht worden war?
Diese Frage beschäftigte die Polizistin. Zwar hatte die Tote noch ihren Slip an, doch das musste nichts bedeuten. Lea wollte jedenfalls nicht mit ihrem Kollegen über dieses Thema sprechen. Rupp redete sowieso nur mit ihr, wenn es sich keinesfalls vermeiden ließ.
Lea fragte sich, wie lange sie noch mit diesem maulfaulen Kerl zusammenarbeiten musste. In absehbarer Zeit würde er pensioniert werden. Und danach?
Wahrscheinlich bin ich nach Rupps Ruhestand die dienstälteste Polizeibeamtin in Mönchsfelden. Und ich werde dann den nächsten Disziplinarfall einarbeiten, dachte sie bitter.
Es waren keine zehn Minuten vergangen, als ihr Kollege seine Schritte verlangsamte. Er legte seine rechte Hand auf das Pistolenholster, während er sich zu Lea umdrehte und den linken Zeigefinger vor seine Lippen legte. Die Geste konnte sie nicht missverstehen.
Auch Lea tastete nun nach ihrer Waffe und hoffte, sie nicht einsetzen zu müssen. Doch falls sie wirklich gleich den Mörder von Tanja Welling vor sich hätten, würde er sich gewiss nicht widerstandslos festnehmen lassen.
Lea linste an Rupps breitem Kreuz vorbei und erblickte eine Art Lagerplatz. Hier standen die verkohlten Stümpfe einiger Bäume, die vermutlich vom Blitz getroffen worden waren. Zwischen den jämmerlichen Resten der Stämme hatte jemand ein billiges Ein-Mann-Zelt aufgebaut. Es lag Krimskrams herum, wie man ihn manchmal vor der Sperrmüllabfuhr sah. Zwischen dem nutzlosen Plunder erblickte Lea ein paar weibliche Kleidungsstücke: Büstenhalter, Top, Schuhe.
Ganz zu schweigen von dem Damenfahrrad, das halb unter einem Gebüsch verborgen lag!
„Ich schnappe mir den Verdächtigen, du sicherst“, bestimmte der ältere Polizist. Und bevor Lea etwas entgegnen konnte, hatte Rupp den Zelt-Reißverschluss geöffnet. Er kniete vor der dreckigen Behausung und tauchte so weit hinein, dass man nur noch seinen Unterleib sehen konnte.
Sie fragte sich, ob ihr Kollege besonders mutig oder einfach abgestumpft war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Rupp schon oft mit Mördern zu tun gehabt hatte. Normalerweise musste man bei solchen riskanten Lagen eine SEK-Einheit anfordern. So sahen es zumindest die Dienstbestimmungen vor. Doch Rupp schien fest überzeugt davon zu sein, dass er mit dem Waldcamper fertig werden würde.
Und zwar allein.
Lea kam sich überflüssig vor. Eigentlich konnte sie ihrem Kollegen seine Haltung nicht übelnehmen. Ihr war bekannt, dass die Wache in Mönchsfelden schon seit Jahren nur mit einem Beamten besetzt war. Nämlich mit Rupp.
Er musste sie als Klotz am Bein empfinden, obwohl er es sie nicht spüren ließ.
Jedenfalls nicht zu offensichtlich.
Während Lea diese Gedanken durch den Kopf gingen, fand in dem Zelt ein Handgemenge statt. Sie hörte lallende Geräusche und ein Ächzen, das von Rupp zu stammen schien. Dann fiel die Mobilbehausung in sich zusammen, und der Polizist zerrte den mutmaßlichen Mörder hervor.
Lea schätzte den Verdächtigen auf ungefähr dreißig Jahre, obwohl sein genaues Alter schwer zu schätzen war. Ein wild wuchernder Bart und langes verfilztes Haar deuteten auf ein jahrelanges Leben auf der Straße hin. Sie hatte solche Elendsgestalten oft genug gesehen, als sie noch auf Innenstadtwachen in einer Großstadt eingesetzt war.
Und obwohl Lea mehrere Meter von den Männern entfernt stand, konnte sie die Schnapsfahne des Kerls deutlich riechen. Seine Kleider stammten offensichtlich aus der Altkleidersammlung.
Rupp hatte ihm den rechten Arm auf den Rücken gedreht.
„Handschellen, Lea!“, forderte er. „Und die Mordwaffe liegt da drüben!“
Der Polizist deutete mit einer Kopfbewegung nach links. Nun bemerkte sie ebenfalls ein Messer mit dunklen Flecken auf der Klinge. Es musste sich im Zelt befunden haben und bei der Verhaftung herausgerutscht sein.
Immerhin leistete der Täter keinen ernsthaften Widerstand. Rupp war stark, und der jüngere Mann offensichtlich volltrunken. Das vermutete sie zumindest, als sie die leere Weizenkornflasche sah.
„Du kannst schon mal Funkkontakt mit dem Kommissariat in der Kreisstadt aufnehmen“, ordnete Rupp an. „Ich bringe dann den Mörder zum Streifenwagen. Die Kollegen sollen uns möglichst bald einen Gefangenentransporter schicken. Ich will den Kerl nicht so lange in unserer Arrestzelle haben.“
Warum nicht?, dachte Lea. Doch sie wollte keine Diskussion vom Zaun brechen. Die junge Polizistin war viel zu erleichtert, weil die Festnahme unblutig über die Bühne gegangen war. Sie hatte sich in ihrer Fantasie schon selbst mit eingeritzten Buchstaben auf ihrem Körper gesehen.
Lea griff zum Funkgerät und tat, worum ihr Kollege sie gebeten hatte. Der Kontakt dauerte nicht lange.
Doch als sie sich umdrehte, waren Rupp und der Verhaftete bereits verschwunden. Sie kniff die Augen zusammen. Lea war sicher, dass sie nicht länger als drei Minuten mit der Funkzentrale gesprochen hatte. Während dieses kurzen Zeitraums war der ältere Polizist einfach fortgegangen. Weit konnte er allerdings noch nicht gekommen sein, schließlich hatte er den alkoholisierten Mörder bei sich.
Trotzdem waren die beiden Männer nicht mehr zu sehen. Der dichte Wald schien sie förmlich verschlungen zu haben.
Lea verachtete sich selbst dafür, dass plötzlich Panik in ihr aufstieg. Sie kam sich vor wie ein kleines Kind, das in einen dunklen Keller gesperrt wurde. Das war natürlich Unsinn. Sie musste sich nur nach links halten, dann würde sie ziemlich bald auf die Kreisstraße treffen.
Oder?
Die junge Polizistin wäre am liebsten sofort losgelaufen, doch sie bremste sich selbst. Es war nicht sinnvoll, wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Wald zu rennen. Vor allem nicht, solange die mutmaßliche Tatwaffe hier herumlag. Theoretisch konnte jeder Spaziergänger sie mitnehmen, und das durfte natürlich nicht geschehen.
Lea hatte einen Beutel für Beweisstücke bei sich, in den sie das Messer tat.
Da ertönte plötzlich ein irres Gelächter!
Sie erschrak beinahe zu Tode. Der schrille Ton unterschied sich stark von der beruhigenden Geräuschkulisse des Waldes. War es vielleicht ein seltener Vogel gewesen, der sie so aus der Fassung gebracht hatte?
Nein. Ein Mensch hatte gelacht. Lea zog ihre Pistole.
„Ist da jemand?“, rief sie laut. Ihre Stimme hörte sich fest und entschlossen an, wie sie selbst fand. Hoffentlich war der Unbekannte derselben Meinung.
Sie konnte niemanden sehen. Ihr Blick scannte die Umgebung ab. Erneut wurde gelacht, und dann hörte sie sich schnell entfernende Schritte auf dem Waldboden. Aber Lea hatte niemanden gesehen.
Das war nicht allzu erstaunlich, denn das Unterholz bot genügend Versteckmöglichkeiten. Und die Baumstämme standen hier besonders dicht.
Sie schüttelte den Kopf und holsterte ihre Waffe. Nun war sie froh, dass Rupp nicht bei ihr war. Er hätte bestimmt angesichts ihrer hysterischen Reaktion den Kopf geschüttelt. Und Lea wäre in seiner Sympathie noch weiter gesunken.
Falls das überhaupt möglich war.
Wer wollte schon mit einer wie ihr etwas zu tun haben?
Reiß dich zusammen und spar dir dein Selbstmitleid!, sagte sie zu sich selbst. Sie steckte den Beutel mit dem Messer ein und machte sich auf den Weg zum Streifenwagen.
Doch schon nach wenigen Minuten wurde aus ihrer Befürchtung Gewissheit: Sie hatte sich verlaufen. Lea war ein Stadtkind. Für sie sah es im Wald überall gleich aus. Warum musste dieser verflixte Rupp sie einfach ihrem Schicksal überlassen? Instinktiv griff sie nach ihrem Smartphone. Wäre Lea in einer halbwegs zivilisierten Gegend gewesen, dann hätte sie mit Hilfe von Google Maps ihren eigenen Standort und somit den Weg zur Kreisstraße finden können.
Doch in Mönchsfelden und Umgebung war die Mobilfunkabdeckung minimal. Das ganze verschnarchte Nest schien in einem einzigen riesigen Funkloch versunken zu sein.
„Wieso trödelst du hier herum?“
Rupps Stimme ließ Lea zusammenzucken. Er kam aus einer völlig anderen Richtung als sie vermutet hatte. Wenn das Polizeifahrzeug dort stand, hätte sie es wirklich niemals wiedergefunden.
„Tut mir leid“, murmelte sie.
Der ältere Kollege brummte etwas Unverständliches. Sie folgte ihm wie ein Hündchen. Natürlich erzählte sie ihm nicht von dem Lachen. Es war gar nicht weit bis zur Kreisstraße, wie Lea nun feststellte. Man musste nur den richtigen Weg einschlagen.
Im Streifenwagen stank es bestialisch nach Schnaps und ungewaschenem Körper. Diese Geruchsbelästigung weckte bei Lea beinahe nostalgische Gefühle. Sie erinnerte sich an Einsatznächte in der Großstadt, wenn sie im Adrenalinrausch gefährliche Randalierer festgenommen hatte. Da zählte jeder Kollege und jede Kollegin, da hatte sie sich nicht als fünftes Rad am Wagen gefühlt.
„Ich habe den Knaben durchsucht und einen abgelaufenen ukrainischen Personalausweis gefunden“, berichtete Rupp. „Wir haben es mit einem gewissen Danylo Petruk zu tun.“
Lea drehte sich halb zu dem Verdächtigen auf der Rückbank um. Er war kurz zusammengezuckt, als sein Name gefallen war. Nun brachte er einige Worte in seiner Muttersprache hervor.
„Du kannst nicht zufällig Ukrainisch, Lea?“
„Nein“, entgegnete sie. Und dann platzte sie heraus: „Noch nicht mal das habe ich drauf! Ich bin dir wirklich überhaupt keine Hilfe, oder?“
Rupp hob seine Augenbrauen.
„Du kannst Kaffee kochen, wenn wir auf der Wache angekommen sind“, meinte er. „Wahrscheinlich wird ein Kriminalbeamter mit uns reden wollen, und die Spurensicherung muss ja auch noch die Kleider und das Fahrrad bearbeiten.“
Lea kämpfte ihren Unmut nieder. Rupp gehörte einer Generation an, für die Polizistinnen vorzugsweise zum Kaffeekochen taugten. So gesehen meinte er es wahrscheinlich gar nicht böse. Trotzdem konnte sie sich die nächste Bemerkung nicht verkneifen.
„Wieso weist Petruks Kleidung keine Blutflecken auf, wenn er die Frau erstochen hat?“
Rupp grinste.
„Der Dreck auf seinen Klamotten ist doch undefinierbar! Die Kriminaltechniker werden das Blut schon nachweisen können, auch wenn es unter anderem Schmutz verborgen ist.“
Lea nickte. Sie war drauf und dran, ihrem Kollegen von dem unheimlichen Gelächter zu erzählen. Doch dann verkniff sie es sich.
„Woher wusstest du eigentlich, dass Petruk an dieser Stelle im Wald haust?“
„Mir entgeht fast nichts, was sich in Mönchsfelden und Umgebung abspielt“, antwortete Rupp. „Wir hätten den Kerl vielleicht verscheuchen sollen, wildes Kampieren im Staatsforst ist verboten. Aber in unserem Dorf gibt es keine Notunterkünfte für Obdachlose. Also hielt ich es für besser, ihn in Ruhe zu lassen.“ Nach einer kurzen Pause sprach der alte Polizist weiter. „War vielleicht ein Fehler.“
Ob Rupp von seinem Gewissen geplagt wurde? Wenn er und Lea Petruk rechtzeitig einen Platzverweis erteilt hätten, könnte Tanja Welling noch leben. Oder? Lea hatte von der Lagerstätte in dem Gehölz nichts gewusst, denn ihr Kollege erzählte ihr längst nicht alles.
Grundsätzlich fand sie es gut, dass Rupp nicht in jedem Nichtsesshaften gleich einen potentiellen Verbrecher sah. Andererseits war es sehr gut möglich, dass er Petruk nicht aus Mitgefühl, sondern aus Faulheit hatte gewähren lassen. Es war Lea nämlich nicht entgangen, dass der alte Polizist so wenig wie möglich tat.
Als leuchtendes Vorbild für eine in Ungnade gefallene junge Kollegin eignete er sich jedenfalls nicht.
Die Fahrt zur Polizeistation dauerte nicht lange. Dort hielt der Radwanderer bereits nach dem Streifenwagen Ausschau.
„Soll ich die Zeugenaussagen des Herrn tippen?“, fragte Lea.
„Ja, mach das“, gab Rupp zurück. Sie war froh, endlich etwas Sinnvolles tun zu können. Lea schloss das Wachlokal auf und bat den Touristen, vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.
Rupp schaffte den Verhafteten in ihre einzige Arrestzelle. Lea bestückte weisungsgemäß die Kaffeemaschine und schrieb nieder, was der ältere Herr ihr in den PC diktierte. Nachdem der Zeuge die ausgedruckten Seiten noch einmal überflogen hatte, unterschrieb er sie. Der Alte warf einen ängstlichen Blick Richtung Zelle.
„Der Mörder sieht ja richtig unheimlich aus“, flüsterte er. „Gut, dass Sie ihn so schnell erwischen konnten. Im Fernsehkrimi dauert das immer viel länger.“
Lea zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
„Falls Sie später in einem Strafprozess aussagen müssen, werden Sie rechtzeitig benachrichtigt“, sagte sie.
Der Radwanderer nickte, verabschiedete sich und schnallte seinen Sturzhelm fest. Dann verschwand er.
Lea genehmigte sich selbst einen Kaffee. Die Außentür wurde erneut aufgestoßen. Hatte der Tourist noch etwas vergessen?
Nein, denn statt des Zeugen platzte nun eine ältere Frau mit Dauerwelle herein. Sie trug trotz der Hitze einen unmodischen Staubmantel. Ihr Gesicht war verquollen, sie musste geweint haben. Und sie schaute Lea verblüfft an.
„Wo ist der Polizist?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
„Ich bin auch von der Polizei.“
Lea fand ihre eigene Bemerkung eigentlich überflüssig, da sie Uniform trug. Doch die Besucherin ging sowieso nicht auf sie ein.
„Ich will mit Hermann Rupp sprechen!“
In diesem Moment öffnete Leas Kollege die Tür, hinter der sich der schmale Gang zur Arrestzelle befand. Die Frau ignorierte die junge Polizistin nun völlig. Sie schaute Rupp an.
„Hermann, Tanja ist nicht nach Hause gekommen!“
Er atmete tief durch, sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich. Nach Leas Meinung blieb sein Gesicht völlig ausdruckslos. Und doch schien die Frau zu ahnen, was er ihr nun mitteilen würde. Es handelte sich offenbar um die Mutter des Opfers. Sie schlug ihre flache rechte Hand vor den Mund.
„Nein!!!“
„Sabine, es tut mir leid ...“
Rupp klang, als ob er es ernst meinte. Er kannte Mutter und Tochter gewiss seit vielen Jahren. Wahrscheinlich war er schon Dorfpolizist gewesen, als das junge Mädchen geboren wurde.
„Wo?“
Das Wort aus dem Mund von Frau Welling hörte sich wie ein Peitschenknall an.
„Im Wald.“
„Der ist groß! Sag mir die Wahrheit, Hermann!“
„In der Mordkuhle“, murmelte Rupp mit erkennbarem Widerwillen. Er fügte schnell hinzu: „Wir haben den Täter schon verhaftet.“
„Wo ist der Lump, der mein Kind auf dem Gewissen hat?“
Sabine Welling bewegte sich schnell auf die Tür zu, durch die Rupp gekommen war. Er versperrte ihr den Weg.
„Du darfst nicht mit ihm sprechen, das wäre nicht gut. Geh nach Hause, Sabine. Du hast noch andere Kinder, sie brauchen dich.“
Tränen glitzerten in den Augen der Frau.
„Tanja – ist sie noch da draußen? In der Mordkuhle?“
„Wir haben alles veranlasst, um die Leiche so schnell wie möglich zu bergen“, sagte Lea. Die Mutter des Opfers zuckte zusammen, als ob sie einen Schlag bekommen hätte.
„Die Leiche? Du sprichst von meinem Kind, du dummes kleines Mädchen!“
Mit diesen Worten drehte Sabine Welling sich auf dem Absatz um und stürmte aus der Polizeiwache.
„Sie meint das nicht so“, brummte Rupp. „Ihre Tochter ist tot, da sind ihr die Nerven durchgegangen.“
Lea hatte sich während ihres Berufslebens schon viel schlimmere Beleidigungen als dummes kleines Mädchen anhören müssen, deshalb ging sie gar nicht darauf ein. Sie beschäftigte eine ganz andere Sache.
„Warum wird diese Senke Mordkuhle genannt, Hermann?“
„Alte Geschichte“, entgegnete ihr Kollege lakonisch. Und seine abweisende Miene bewies Lea, dass er nicht darüber sprechen wollte.
Während Lea noch überlegte, was es mit der Mordkuhle auf sich haben könnte, traf das Kriminaltechnikteam aus der Kreisstadt ein. Ein Gerichtsmediziner war ebenfalls mitgekommen.
Rupp hatte an seinem Schreibtisch Platz genommen und einen Becher Kaffee getrunken, ohne mit seiner jungen Kollegin zu reden. Nun erhob er sich.
„Ich bringe euch zu dem Leichenfundort. Der Mörder hat das Fahrrad der Toten sowie ihre Kleidung an einem anderen Platz zurückgelassen, den zeige ich euch auch. – Du wartest hier auf den Kripobeamten.“
Der letzte Satz war an Lea gerichtet.
„Und was soll ich tun, wenn er den Tatort besichtigen will?“
Rupp verdrehte ungeduldig die Augen.
„Dann begleitest du ihn zur Mordkuhle. Oder findest du allein die Lichtung nicht?“
„Doch, das kriege ich hin.“
Der ältere Kollege wirkte nicht besonders überzeugt. „Ich schaue ansonsten nachher mal kurz vorbei“, kündigte Rupp an.
Dann marschierte er gemeinsam mit den Spezialisten hinaus. Lea hörte, wie die Automotoren angelassen wurden. Nun war sie wieder allein auf der Wache.
Sie legte die Zeugenaussage ordnungsgemäß ab, nahm ein Staubtuch und säuberte damit die Fensterbank.
Heute bin ich wahlweise Sekretärin oder Hausfrau, dachte Lea selbstironisch. Der Anblick der Leiche hatte sie mehr aus der Fassung gebracht, als sie sich selbst eingestehen wollte. Natürlich war sie während der Ausbildung im Leichenschauhaus gewesen, doch die Toten dort hatten anders auf sie gewirkt. Vielleicht lag es an der Umgebung. Die gekachelten Wände und das grelle Neonlicht hatten Rationalität und Distanz geschaffen, während Tanja Welling buchstäblich mitten aus dem Leben gerissen worden war.
Was hatte das Mädchen im Wald zu tun gehabt?
Kannten das Opfer und der Täter einander?
War Petruk überhaupt der Mörder?
Obwohl Lea noch nicht lange als Polizistin arbeitete, hatte sie schon gelernt, dass man die Intelligenz von Straftätern nicht überschätzen durfte. Falls Petruk Tanja erstochen hatte, war sein Verhalten nach dem Verbrechen unglaublich dumm gewesen.
Oder wollte ihm jemand die Bluttat in die Schuhe schieben? Aber wer?
Und warum wurde die Lichtung Mordkuhle genannt?
Es gefiel Lea überhaupt nicht, zum Nichtstun verdammt zu sein. Nach einer Weile bekam sie Gesellschaft. Ein hochgewachsener grauhaariger Mann mit einer schwarzen Klappe über dem linken Auge betrat das Wachlokal. Die Pupille seines gesunden rechten Auges war wasserblau. Er trug einen hellen Leinenanzug und wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß aus dem Genick.
„Die Klimaanlage in dem verflixten Dienstwagen ist kaputt“, sagte er statt einer Begrüßung. Sein Blick traf Lea. „Sie wissen, wer ich bin?“
„Man nennt Sie den Piraten, aus einem naheliegenden Grund. Ihr Name ist Lothar Frenz, Sie bekleiden den Rang eines Hauptkommissars und gelten als der beste Mordspezialist beim Landeskriminalamt.“
Frenz pfiff durch die Zähne.
„Da hat sich jemand sein Fleißzettelchen redlich verdient. Sie sind gut informiert, besser als ich. Als ich die Anweisung bekam, hierher zu fahren, erwartete ich eigentlich den alten Ackergaul Rupp.“
Alter Ackergaul? Lea musste sich ein Grinsen verkneifen. Sie stand auf und streckte Frenz ihre Rechte entgegen.
„Ich bin Polizeimeisterin Lea Kramer. Willkommen in Mönchsfelden.“
Der Pirat zögerte einen Moment zu lange, bevor er ihre Hand ergriff. Da wusste sie, dass er über sie im Bilde war.
„Lea Kramer“, wiederholte er. Frenz hörte sich an wie ein Sommelier, der den Namen eines besonders edlen und kostbaren Weins nennt.
„Mein Ruf eilt mir wohl bis in die tiefste Provinz voraus“, sagte Lea frostig.
„Ich gebe nichts auf den Flurfunk, Frau Kramer.“
„Da sind Sie bei der Polizei der Einzige.“
Der Hauptkommissar wechselte das Thema.
„Wie wäre es mit einem Kaffee?“
„Schon überredet.“
Während Lea die heiße aromatische Flüssigkeit in einen Becher goss und Kondensmilch sowie Zucker bereitstellte, drehte Frenz ihr den Rücken zu. Er schaute aus dem Fenster auf die Hauptstraße hinaus. Viel gab es dort nicht zu sehen, denn der Durchgangsverkehr hielt sich in Grenzen. Außer den Radwanderern verirrte sich kaum jemand in diese abgelegene Region.
„Ihr Kaffee ist fertig.“
„Danke.“
Der Pirat wandte sich wieder Lea zu und deutete mit dem Daumen Richtung Straße.
„Hier verändert sich nie etwas, schätze ich.“
„Sie waren schon mal in Mönchsfelden?“
„Ja, leider. – Was können Sie mir zu dem Tötungsdelikt sagen, Frau Kramer?“
Lea zeigte dem Hauptkommissar die Zeugenaussage. Außerdem berichtete sie von der Festnahme, während Frenz genüsslich seinen Kaffee schlürfte. Schließlich wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte und verstummte.
„Sie können ruhig Ihre eigene Meinung äußern“, meinte er. „Ich bin nicht Hermann Rupp. Mich interessiert durchaus, was eine Kollegin denkt.“
„Ich glaube nicht, dass Petruk der Täter ist!“, platzte sie heraus. „Er war so betrunken, dass er kaum bemerkt haben dürfte, wenn ihm jemand die Mordwaffe unterschiebt und die Kleider sowie das Fahrrad bei seinem Lagerplatz deponiert.“
Der Hauptkommissar nickte langsam.
„Ja, Ihr Argument hat etwas für sich. Das Messer wird natürlich kriminaltechnisch untersucht. Danach sind wir schlauer. Und das Obduktionsergebnis wird hoffentlich weitere Erkenntnisse über den wahren Täter liefern.“
„Dann zweifeln Sie also auch an Petruks Schuld?“, fragte Lea hoffnungsvoll.
Der Pirat hob die Schultern.
„Die Indizienlage ist etwas zu paradiesisch, um keine Nachfragen aufzuwerfen. Falls wir es mit einem Sexualdelikt zu tun haben, wird sich vermutlich männliche DNA an der Leiche nachweisen lassen. Und dann können wir Petruk festnageln – oder eben einen anderen Täter.“
„Haben Sie schon mal von der Mordkuhle gehört, Herr Frenz?“
Er blinzelte.
„Was soll ich mir darunter vorstellen?“
„So nennen die Einheimischen offenbar die Lichtung, auf der die Leiche gelegen hat.“
Der Hauptkommissar starrte versonnen in seinen leeren Kaffeebecher, bevor er antwortete.
„Sie arbeiten noch nicht lange hier, Frau Kramer. Andernfalls hätten sie bemerkt, dass die Einheimischen sehr abergläubisch sind. Im Winter ist Mönchsfelden manchmal wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten. Hinzu kommt dieser dichte und riesige Wald, der sich in alle Himmelsrichtungen erstreckt. Da wird die Fantasie von ängstlichen Menschen oftmals angeregt. Und sie sehen Dinge, die einfach nicht vorhanden sind. Wahrscheinlich rankt sich um diese Mordkuhle irgendeine blutrünstige Schauergeschichte. Für unseren aktuellen Fall spielt das keine Rolle. – Befindet sich der Verdächtige noch in der Arrestzelle?“
Lea nickte.
„Ja, der Gefangenentransporter trifft angeblich frühestens in einer halben Stunde ein.“
„Gut, dann werde ich mit dem jungen Mann reden. Wollen wir hoffen, dass der junge Ukrainer Russisch versteht.“
„Sie sprechen Russisch?“
„Ich bin in Brandenburg aufgewachsen. – Wollen Sie dabei sein oder soll ich von Mann zu Mann mit ihm palavern?“
Lea würde sowieso kein Wort verstehen, also lehnte sie dankend ab. Ihre Rolle beschränkte sich darauf, die Zellentür aufzuschließen.
Petruk pennte nicht, sondern hockte auf der Pritsche. Seinen Kopf hatte er auf die Hände gestützt. Rupp hatte ihm die Handschellen abgenommen, nachdem Petruk jeden Widerstand aufgegeben hatte.
Ob er überhaupt begriff, weshalb er festgenommen worden war?
„Ich klopfe an die Tür, wenn ich fertig bin“, sagte Frenz. Daraufhin schloss Lea die Arrestzelle von außen.
Sie war innerlich hin und her gerissen, was ihren ersten Eindruck von dem „Piraten“ anging. Einerseits fühlte sie sich von ihm ernst genommen, und das fand sie natürlich gut. Andererseits kam es ihr so vor, als ob Frenz mehr über die Mordkuhle und die Vergangenheit von Mönchsfelden wusste, als er zugeben wollte. Immerhin hatte er eingeräumt, den Ort zu kennen.
Ob er auch den wahren Grund für ihre Strafversetzung kannte? Oder hatte er nur eines der zahlreichen Gerüchte gehört, die er angeblich nicht beachtete?
Lea schaute auf die Uhr. Rupp war nun schon zwanzig Minuten fort. Warum konnte er die Kriminaltechniker nicht einfach ihre Arbeit machen lassen? In Großstädten benötigte man stets uniformierte Polizisten, um die Gaffer von einem Tatort fernzuhalten. Doch mitten im Wald musste man wohl kaum mit Neugierigen rechnen.
Es dauerte nicht lange, bis Frenz an die Innenseite der Zellentür klopfte. Sie ließ ihn heraus und warf dabei einen Blick auf Petruks ungewaschenes Gesicht. Er hatte Tränen in den Augen, seine Unterlippe zitterte. Er schien zutiefst erschüttert zu sein. Ob der erfahrene Kriminalist ihm schon ein Geständnis entlockt hatte?
Die Miene des „Piraten“ verriet hingegen nicht, was in ihm vorging. Er schloss die Tür zum Zellengang und schaute Lea direkt in die Augen.
„Warum hat Rupp den Verhafteten allein zum Streifenwagen geschafft, Frau Kramer?“
„Ich weiß nicht, ich ...“
„Aber ich weiß es! Rupp muss seine wenigen Brocken Russisch benutzt haben, um Petruk die Todesstrafe anzudrohen!“
„Wie bitte?!“
„Sie haben richtig gehört, Frau Kramer. Petruk ist Ukrainer, und um seine Schulbildung ist es offenbar nicht gut bestellt. Er wusste nicht, dass Deutschland die Todesstrafe schon seit langer Zeit abgeschafft hat.“
Lea konnte immer noch nicht glauben, was der Hauptkommissar herausgefunden hatte.
„Warum hat Rupp das getan? Immer vorausgesetzt, dass Petruk Ihnen kein Ammenmärchen aufgetischt hat.“
„Ihr Kollege soll von dem Ukrainer verlangt haben, dass er den Mord an der jungen Frau gesteht. Dann könnte er auf Milde in Form einer lebenslangen Haftstrafe hoffen. Andernfalls würde man ihn hängen. Rupp muss sehr überzeugend gewirkt haben.“
„Aber ich verstehe immer noch nicht, was er sich davon verspricht, Herr Frenz.“
Doch diese Frage konnte Lea sich eigentlich selbst beantworten.
Rupp wollte Petruks Mordgeständnis, um den wahren Täter zu schützen.
Die junge Polizistin versank in Gedanken. Die Stimme des Hauptkommissars riss sie aus ihren Überlegungen.
„Ich bin lange genug im Dienst, um mich auf meine Menschenkenntnis verlassen zu können. Daher vertraue ich Ihnen. Sind wir uns einig darüber, dass Rupp etwas zu verbergen hat?“
„Ja, unverdächtig ist sein Verhalten nicht. Doch wenn Sie ihn auf die Drohung mit der Todesstrafe ansprechen, wird er alles leugnen. Dann steht Aussage gegen Aussage, da es keine Zeugen gibt.“
„Das ist mir bewusst, Frau Kramer. Daher möchte ich Sie bitten, Ihrem Kollegen nichts von meiner Unterredung mit dem Ukrainer zu erzählen. Petruk wird sowieso schon bald in die Kreisstadt geschafft, dort kann Rupp ihn nicht mehr beeinflussen.“
„Und was soll ich tun?“
„Sie halten bitte die Augen offen und hören sich um. Rupp darf nicht mitbekommen, dass wir ihn verdächtigen. Wenn wir es geschickt anstellen, serviert er uns den wahren Mörder auf dem Silbertablett.“
„Das ist eine monumentale Aufgabe für eine junge Polizeimeisterin mit einem miesen Ruf“, stellte Lea nüchtern fest.
„Ich weiß, dass ich eine gewaltige Last auf Ihre Schultern lade“, entgegnete Frenz. „Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, dass ich meine Karten auf den Tisch lege und ein Disziplinarverfahren gegen Rupp einleiten lasse.“
„Das ist nicht sehr erfolgversprechend“, wandte sie ein. „Wir haben nichts gegen ihn in der Hand.“
„Nein. – Wo wohnen Sie eigentlich, Frau Kramer?“
Die Frage war völlig aus dem Zusammenhang gerissen, wie Lea fand. Warum wollte der „Pirat“ das wissen? Sie errötete wie ein Schulmädchen und kam sich deshalb blöd vor.
Der Hauptkommissar lachte.
„Ich will Ihnen keinen zweideutigen Antrag machen“, beteuerte er. „Ich frage Sie, weil ich telefonisch mit Ihnen in Kontakt bleiben möchte. Am besten nicht über den Dienstanschluss. Da ist es zu riskant, dass Rupp etwas aufschnappt.“
„Ich wohne momentan noch im Gasthof zur Linde“, sagte Lea. „In Mönchsfelden gibt es kaum Mietwohnungen, wie Sie wissen werden. Ein Festnetztelefon habe ich nicht. Und ob ich mit meinem Smartphone ins Mobilfunknetz komme, ist hier ein Glücksspiel – das ich meist verliere.“
Frenz grinste.
„Ja, in diesem Kaff lebt man immer noch hinter dem Mond. Warten Sie bitte einen Moment.“
Mit diesen Worten eilte der Hauptkommissar hinaus. Gleich darauf kehrte er mit einem Satellitentelefon zurück.
„Meine Nummer habe ich schon eingespeichert. Sie können mich Tag und Nacht erreichen. Und sorgen Sie dafür, dass Rupp das Gerät nicht bemerkt. Wenn er misstrauisch wird, können wir unser Vorhaben vergessen.“
Lea nickte und versteckte das mobile Satellitentelefon in ihrer Umhängetasche. Dann blickte sie Frenz direkt in sein wasserblaues Auge.
„Unser Vorhaben – was planen wir denn überhaupt? Einem altgedienten Polizeibeamten die Komplizenschaft mit einem Mörder nachweisen?“
Der „Pirat“ hob seine breiten Schultern.
„Falls wir zu diesem Ergebnis kommen, werden wir es jedenfalls nicht unter den Teppich kehren. Oder?“
„Nein, natürlich nicht“, murmelte sie.
„Wir ermitteln ergebnisoffen“, betonte Frenz. „Ich werde Rupp gegenüber keine Zweifel an Petruks Täterschaft äußern. Wir müssen ihn in Sicherheit wiegen. Womöglich sind wir auf dem Holzweg, und der Ukrainer hat das Mädchen wirklich getötet. Das lässt sich jetzt noch nicht sagen.“
„Ich werde zunächst herausfinden, warum Tanja überhaupt in den Wald gefahren ist“, sagte Lea. Bevor sie weitersprechen konnte, kehrte Rupp zurück. Er zuckte zusammen, als er den „Piraten“ erblickte.
„Herr Frenz.“
So, wie Rupp den Namen ausspuckte, hörte er sich wie ein Fluch an. Der Hauptkommissar stand auf.
„Guten Tag, Herr Rupp. Ihre Kollegin hat mir bei einem Kaffee einen allgemeinen Überblick verschafft. Sie haben den Fall offenbar im Handumdrehen gelöst.“
Der Dorfpolizist knurrte etwas Unverständliches. Dann fragte er: „Wollen Sie den Tatort sehen?“
„Ja, natürlich.“
Rupp nickte und wandte sich an Lea.
„War der Gefangenentransporter schon hier?“
„Nein.“
„Dann wartest du, bis der Verdächtige fortgebracht wird“, bestimmte er. „Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um den ... Kollegen abzuholen.“
Der alte Polizist betonte das Wort, als ob er lieber ein anderes verwendet hätte. Zum Beispiel Wichtigtuer. Oder Aufschneider. Oder Blender. Es war offensichtlich, dass Rupp und Frenz einander nicht ausstehen konnten.
Ob der Hauptkommissar Lea nur benutzte, um Rupp eins auszuwischen? Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als sie ihn auch schon wieder verwarf. Sie hatte den „Piraten“ an diesem Tag zum ersten Mal persönlich kennengelernt, doch sein Ruf war untadelig. Er galt zwar als Querkopf, aber an seiner beeindruckenden Aufklärungsquote gab es keinen Zweifel. Deshalb genoss er bei der Polizeiführung eine gewisse Narrenfreiheit. Man ließ Frenz Dinge durchgehen, für die sich ein anderer Beamter schon längst hätte verantworten müssen.
Seine Rolle als einsamer Wolf der Mordermittlungen rief gewiss Neid hervor. Womöglich gehörte Rupp zu den Polizisten, die dem „Piraten“ nicht die Butter auf dem Brot gönnten. Leas Kollege war ein unauffälliger Typ. Sie konnte sich vorstellen, dass er bei der direkten Zusammenarbeit mit einer schillernden Persönlichkeit wie Frenz Minderwertigkeitsgefühle entwickelte.
Was hatte sich abgespielt, als der legendäre Mörderjäger einst in Mönchsfelden gewesen war?
„Vielen Dank für den Kaffee, Frau Kramer.“
Mit diesen Worten verabschiedete sich der „Pirat“ von ihr, während Rupp wortlos hinausging. Erneut war sie allein auf der Dienststelle. Lea nahm ihren Notizblock in die Hand und schrieb auf, was ihr zu dem Fall einfiel.
Was hatte das Mordopfer am gestrigen Tag gemacht? Sie erinnerte sich an Rupps Bemerkung, dass er Tanja Welling auf dem Fahrrad gesehen hätte. Konnte sie diese Aussage für bare Münze nehmen? Wenn ihr Kollege den wahren Mörder decken wollte, dann stimmte diese Angabe womöglich gar nicht.
Und plötzlich fiel Lea ein, wo sie die junge Frau schon gesehen hatte: beim Bäcker. Dort war sie allerdings keine Kundin, sondern eine Verkäuferin gewesen. Wenn Tanja Welling normale Arbeitszeiten hatte, dann endete ihr Einsatz um achtzehn Uhr. Was hatte sie danach gemacht? Noch kannte Lea den genauen Todeszeitpunkt des Mordopfers nicht. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn erfahren würde.
Und was hatten die Buchstaben zu bedeuten, die der Täter in den Körper des jungen Mädchens geritzt hatte? Soweit Lea wusste, wurde in der Ukraine das kyrillische Alphabet verwendet. Wenn Petruk wirklich der Täter war – wieso hätte er Tanja mit lateinischen Buchstaben verunstalten sollen?
Je länger Lea über den Fall nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam ihr die Täterschaft des alkoholisierten Ukrainers vor. Vor allem, da Rupp ein so großes Interesse daran hatte, ihn als Sündenbock aufzubauen.
„In diesem Kaff ist etwas gewaltig faul“, sagte sie laut zu sich selbst.
Ob der wahre Mörder dieses wahnsinnig klingende Lachen ausgestoßen hatte?
Der Polizistin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie sich an die Situation erinnerte. Wenn sich wirklich der Täter so über sie amüsiert hatte, dann war er vermutlich die ganze Zeit in der Nähe gewesen, um sich an den Folgen seiner Bluttat zu ergötzen.
Ob er verwertbare Spuren hinterlassen hatte?
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Überlegungen. Lea griff zum Hörer.
„Polizeidienststelle Mönchsfelden, mein Name ist Kramer. Was können wir für Sie tun?“
„Hier spricht Novotny vom Landboten“, sagte eine männliche Reibeisenstimme. „Was können Sie uns über die Tote in der Mordkuhle sagen?“
Der Landbote lautete der Name des örtlichen Provinzblatts. Die Redaktion befand sich in der Kreisstadt. Lea fragte sich, woher der Journalist schon von dem Verbrechen wusste. Ob Rupp oder einer der Kriminaltechniker einen guten Draht zur Presse hatte? Lea konnte sich zumindest bei ihrem Kollegen nicht vorstellen, dass er bei der Zeitung angerufen hatte. Was für einen Vorteil sollte ihm das bringen?
„Darf ich fragen, woher Sie von dem Leichenfund wissen?“
„Dann hat es also definitiv ein Todesopfer gegeben“, stellte Novotny zufrieden fest.
Lea biss sich auf die Unterlippe. Ihr fehlte es definitiv an Erfahrung im Umgang mit den Medien. Sie versuchte zu retten, was noch zu retten war.
„Für genauere Informationen wenden Sie sich bitte an die Pressestelle in der Landeshauptstadt.“
Der Reporter lachte, als ob sie einen Scherz gemacht hätte.
„Aber nicht doch, Frau Kramer! Wir haben als Lokalpresse die Verpflichtung, für die Menschen vor Ort da zu sein. Womöglich treibt ein Serienmörder in Ihrer Umgebung sein Unwesen!“
Novotnys Stimme klang hoffnungsvoll, aber vielleicht bildete Lea sich das auch nur ein.
„Ich kann Ihnen momentan nicht mehr sagen“, beteuerte sie. „Aber ich würde gern erfahren, woher Sie von der Toten wissen.“
„Darüber reden wir am besten persönlich, Frau Kramer. – Wir sehen uns dann später.“
Mit dieser Ankündigung beendete Novotny seinen Anruf. Das kurze Telefonat hatte Lea verwirrt. Wie kam dieser Zeitungsfritze darauf, dass ein Serienmörder am Werk war? Hätte es dafür nicht andere Opfer geben müssen? Doch vielleicht hatte es bereits weitere Morde gegeben. Lea führte sich vor Augen, dass sie erst seit wenigen Wochen in Mönchsfelden arbeitete. Falls es irgendwo anders im Landkreis – beispielsweise in Knappenfels oder Birkenrode – Bluttaten gegeben hatte, wäre das an ihr glatt vorbeigegangen. Lea war keine begeisterte Zeitungsleserin.
Wenig später trafen zwei uniformierte Kollegen ein, um Petruk in die Kreisstadt zu überführen.
Der mutmaßliche Mörder wirkte auf Lea inzwischen stocknüchtern, obwohl sie bei der Verhaftung einen astronomisch hohen Promillegehalt im Blut gemessen hatten. Er warf ihr einen flehenden Blick zu. In diesem Moment fühlte sie sich hundsmiserabel. Wahrscheinlich war er nur ein armer Schlucker, der sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weg nach Westen gemacht hatte und schließlich als Obdachloser im Mönchsfelder Staatsforst gestrandet war.
Lea wollte alles dafür tun, um seine Unschuld zu beweisen. Doch das konnte sie ihm nicht sagen, schon gar nicht in Gegenwart der beiden fremden Polizisten aus der Kreisstadt.
Ganz abgesehen davon, dass er sie nicht verstand. Zumindest hatte Frenz nichts davon erwähnt, dass Petruk sich auf Deutsch verständigen konnte.
Die Uniformierten schafften den Mordverdächtigen in Handschellen nach draußen. Lea hörte, wie die Türen des Gefangenentransporters zugeschlagen wurden. Dann war sie wieder allein.
Die nächsten zwei Stunden brachte sie mit Routinearbeiten zu. Schließlich kehrte Rupp zurück. Er ließ sich ächzend auf seinen Bürostuhl fallen. Sein mächtiger Schädel war schweißbedeckt und gerötet, was Lea nicht wunderte. Obwohl es im Wald normalerweise kühler war als in den Straßen Mönchsfeldens, staute sich die Nachmittagswärme bei der momentanen Windstille zwischen den mächtigen Baumstämmen.
„Der Fall ist jetzt in trockenen Tüchern“, verkündete der alte Polizist. „Frenz hat den Leichenfundort beäugt, Gerichtsmediziner und Kriminaltechniker werden ihre Analysen in den nächsten Tagen präsentieren. Das ist nicht mehr unser Bier, weil jetzt der neunmalkluge Mordspezialist weiter ermittelt. Das soll uns nur recht sein, schließlich haben wir ihm den Täter auf dem Silbertablett serviert.“
Lea musste sich auf die Zunge beißen, um keine spitze Bemerkung von sich zu geben. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie eine Frage stellte.
„Dann haben wir also mit dem Tötungsdelikt nichts mehr zu tun?“
„Du sagst es. Haben die Kollegen Petruk schon abgeholt?“
„Ja.“
„Dann kannst du jetzt eigentlich Feierabend machen. Ich räume noch etwas auf und schließe dann ab.“
Sie nickte und stand auf.
„Woher kennst du eigentlich Frenz, Hermann?“
Rupp kniff misstrauisch die Augen zusammen.
„Hat er etwas über mich gesagt?“
Lea zuckte mit den Schultern.
„Nur, dass ihr euch kennt.“
Dass der Hauptkommissar Hermann Rupp als alten Ackergaul bezeichnet hatte, behielt sie wohlweislich für sich.
Rupp machte eine unbestimmte Handbewegung.
„Frenz ist ein Gernegroß, ein Selbstdarsteller. Es gibt heutzutage erstklassige künstliche Augen. Trotzdem läuft er mit dieser Klappe herum. Er genießt es, dass man ihm den Spitznamen ‚der Pirat‘ verpasst hat. Aber das weißt du bestimmt schon.“
Lea zwang sich zu einem Grinsen.
„Das ist wirklich albern“, sagte sie. Aber ihr war nicht entgangen, dass Rupp ihrer Frage ausgewichen war. Das fand sie aufschlussreich genug.
„Ich hoffe, dass wir morgen nicht so einen aufregenden Arbeitstag haben“, sagte ihr älterer Kollege zum Abschied.
Lea schloss ihre Dienstwaffe ordnungsgemäß ein, bevor sie die Polizeiwache verließ. In der winzigen Dorf-Dienststelle gab es keine Damenumkleide, deshalb vertauschte sie in ihrem Fremdenzimmer die Uniform mit Zivilklamotten.
Fremdenzimmer.
Diese Bezeichnung traf den Nagel auf den Kopf, wie Lea fand. Der Gasthof zur Linde verfügte über sechs Räume, die an Durchreisende vermietet wurden. Seit sie dort als Dauergast wohnte, standen die meisten Zimmer leer. Nur gelegentlich verirrte sich ein Vertreter für Düngemittel oder Landmaschinen dorthin. Und einmal war eine polnische Dachdeckerkolonne für eine Woche Leas Nachbarn gewesen.
In knielangen Jeansshorts, schwarzem T-Shirt und offener rot-weiß-karierter Bluse verließ sie den Raum, in dem sie sich wohl immer wie eine Nicht-Einheimische fühlen würde. Zuvor hatte Lea das Satellitentelefon aus ihrer Umhängetasche genommen und unter das Kopfkissen geschoben. Momentan würde sie es wohl nicht brauchen.
Es war erst kurz nach siebzehn Uhr. Sie beschloss, mit ihren Nachforschungen gleich im Gasthof zu beginnen.
Als die junge Polizistin den Schankraum betrat, war dort nicht allzu viel los. Es gab ein paar Senioren, die am Stammtisch oder auf ihren üblichen Plätzen an der Theke hockten. Der mit dunklem Holz getäfelte Raum wirkte düster und bedrohlich, wozu zweifellos die verstaubten Wildschwein- und Hirschköpfe an den Wänden beitrugen.
Ihre dunklen toten Augen schienen Lea stets anzustarren.
Sie grüßte in die Runde und ließ sich auf einen freien Barhocker gleiten.
Die Gastwirtin stand höchstpersönlich hinter der Theke. Hannelore Schatz war mit einem Nachnamen gestraft, der zu unzähligen mehr oder weniger lustigen Bemerkungen oder Anspielungen animierte. Doch die große und grobknochige Mittfünfzigerin in ihrer altmodischen Kittelschürze verfügte über eine natürliche Autorität. Sie wurde sogar von den Schluckspechten in ihrem Gasthaus respektiert. Seit Lea bei ihr wohnte, hatte sie niemals einen blöden Spruch über Frau Schatz zu hören bekommen.
„Ein Feierabendbier, Frau Kramer?“
„Ja, bitte. Und eine Auskunft hätte ich auch gern.“
Die Gastwirtin betätigte den Zapfhahn, nachdem sie eine kleine Biertulpe darunter gestellt hatte.
„Was möchten Sie denn wissen?“
„Ich bin neugierig. Mich interessiert, woher die Mordkuhle ihren Namen hat.“
Schlagartig wurde es still in der Schankstube. Entweder hatte die Polizistin so laut gesprochen, dass keinem Anwesenden ihr Satz entgangen war. Oder die Thekenhelden lauschten besonders konzentriert auf Lea. Natürlich wusste jeder Bewohner von Mönchsfelden, dass sie Rupps neue Kollegin war. In einem so kleinen Ort hatte jeder Einheimische sie schon mindestens einmal in Uniform gesehen.
Lea glaubte, dass plötzlich alle Blicke auf sie gerichtet waren. Frau Schatz beschäftigte sich weiterhin mit dem Bierzapfen. Sie schien die Frage völlig zu ignorieren. Lea wollte schon nachhaken, doch da öffnete die Gastwirtin endlich den Mund.
„Es gibt eine uralte Legende über diese Lichtung im Wald. Vor ein paar hundert Jahren soll dort ein Eremit von Räubern erschlagen worden sein. Der heilige Mann war noch nicht sofort tot. Bevor er seinen letzten Atemzug tat, hat er die ganze Schwefelbande verflucht. Selbst ihre Nachfahren sollten noch dafür büßen, dass man den wehrlosen alten Mann mit einer Axt erschlagen hatte.“
„Es ist nicht geheuer dort!“, rief einer der Zecher vom anderen Ende der Theke hinüber. „Manchmal geht der Eremit dort um, weil seine Seele keinen Frieden findet.“
„Gesehen hat ihn nie jemand“, stellte Frau Schatz klar. Und sie fügte hinzu: „Jedenfalls keiner, der seinen Verstand noch nicht versoffen hat. Nicht wahr, Heinrich?“
Die anderen Männer lachten über den Rentner, der sich einfach in das Gespräch gemischt hatte. Heinrich ließ sich davon nicht beirren und trank sein Glas aus. Dann bekreuzigte er sich.
„Es gibt finstere Mächte, mit denen man sich besser nicht anlegt. Mich würden keine zehn Pferde nach Einbruch der Dunkelheit in den Wald kriegen. – Machst du mir noch ein Bier, Hannelore?“
Die Gastwirtin nickte und begann erneut mit dem Zapfen, nachdem sie Lea ihr Glas hingestellt hatte. Die Polizistin trank und wischte sich den Schaum von den Lippen.
„Und das ist alles, was über die Mordkuhle bekannt ist? Denken alle Leute in Mönchsfelden so wie Heinrich? Sie würden also nicht bei Nacht zur Mordkuhle gehen oder fahren?“
„Warum sollten sie das tun?“, fragte Frau Schatz zurück. „Da gibt es doch nichts zu sehen. Es ist eine Lichtung wie jede andere auch.“
„Wenn dort ein Geist umgehen soll, könnte es eine Mutprobe sein, sich dort bei Dunkelheit aufzuhalten.“
Die Gastwirtin zog ihre dunklen Augenbrauen zusammen.
„Mutprobe? Wer lässt sich denn auf einen solchen Unsinn ein? Warum fragen Sie uns ein Loch in den Bauch? Ist in der Mordkuhle etwas passiert?“
Lea erkannte, dass sie sich nicht besonders geschickt angestellt hatte. Andererseits – früher oder später würden die Einheimischen ohnehin erfahren, dass dort eine Tote gefunden worden war.
Sie setzte eine dienstliche Miene auf.
„Es hat einen Vorfall gegeben. Spätestens morgen wird eine Pressemitteil...“
„Nein!!!“
Lea konnte ihren Satz nicht beenden, denn Heinrich unterbrach sie mit einem Verzweiflungsschrei. Sie erschrak. Stand der Rentner in einem Verwandtschaftsverhältnis zu Tanja Welling? Obwohl Lea noch gar nicht von Mord gesprochen hatte, wirkte Heinrich panisch. Seine Hamsterbacken zitterten, die Nasenflügel bebten. Er umklammerte die Thekenkante, als wenn er befürchtete, vom Barhocker zu fallen.
Der alte Zecher öffnete den Mund.
„Schafft euren Freund raus, er hat für heute genug!“
Dieser Befehl kam von Frau Schatz, und sie klang so bestimmt und fordernd wie ein Feldwebel auf dem Kasernenhof. Zwei von den Grauköpfen gehorchten sofort. Sie halfen Heinrich von seiner Sitzgelegenheit herunter, nahmen ihn in die Mitte und führten ihn aus dem Schankraum.
Lea hätte schwören können, dass der Alte mehr über die Mordkuhle wusste.
Aber die Gastwirtin hatte verhindern wollen, dass er sich verplapperte.
„Diese alten Säufer wissen einfach nicht, wann sie genug haben“, sagte Frau Schatz zu Lea. „Trinkst du noch ein Bier?“
„Nein, danke.“
Die Polizistin legte Geld auf den Tresen. Die ältere Frau starrte sie so intensiv an, als ob sie Lea hypnotisieren wollte.
„Die Geschichte von der Mordkuhle ist nur ein Ammenmärchen. Sie hat nichts mit Dingen zu tun, die heutzutage geschehen.“
Das ist eine Lüge, dachte Lea. Sie versuchte, sich ihr Misstrauen nicht anmerken zu lassen.
„Bis später“, sagte sie und ging hinaus.
Ihr Weg zum Bäcker führte sie an der Polizeiwache vorbei. Dort rüttelte gerade ein Mann an der Tür.
„Diese Dienststelle ist erst ab morgen früh wieder besetzt“, sagte sie. „In dringenden Fällen können Sie das Polizeikommissariat in der Kreisstadt anrufen.“
Der Mann drehte sich zu ihr um. Er war einen Kopf größer als sie und eher schlaksig als athletisch. Sie schätzte ihn auf ungefähr dreißig Jahre. In seinem bunten Freizeithemd und der Jeans wirkte der Typ leger. Er hatte eine Kameratasche dabei. Und als er den Mund öffnete, wusste sie, mit wem sie es zu tun hatte. Die Reibeisenstimme war unverkennbar, obwohl sie überhaupt nicht zu seiner Erscheinung passte.
„Frau Kramer? Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.“
Lea verzog den Mund. Natürlich, nach dem Telefonat hatte der Lokalreporter sich vermutlich sofort ins Auto geschwungen, um nach Mönchsfelden zu fahren.
Sie hob die Augenbrauen und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
„Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment sein sollte. Auf jeden Fall kann ich es Ihnen zurückgeben, Herr Novotny.“
Der Journalist lachte, wodurch er noch jungenhafter wirkte. Nein, seine Stimme passte eher zu einem sechzigjährigen kettenrauchenden Alkoholiker. Novotny sah hingegen so aus, als ob er sich vorzugsweise von Salat, Joghurt und Kräutertee ernähren würde.
„Und jetzt hätte ich gern gewusst, wie Sie von dem Tötungsdelikt erfahren haben.“
„Ist Ihre Arbeitszeit für heute nicht vorbei?“, fragte Novotny augenzwinkernd. „Oder haben Sie Ihre Undercover-Kleidung für einen Spezialauftrag angelegt?“
Der Typ ist ganz schön frech, dachte Lea. Doch irgendwie fand sie Novotny auch sympathisch. Allerdings machte sie sich über seine Absichten keine Illusionen. Er wollte sie nicht anbaggern, sondern ihr Informationen über den Mord aus der Nase ziehen.
Außerdem finde ich ihn sowieso nicht attraktiv, dachte sie. Oder redete sie sich das nur selbst ein?
Novotny schob die Hände in die Hosentaschen.
„Wir Journalisten müssen unsere Quellen schützen, das wird Ihnen bekannt sein.“
„Dann schützen Sie mal schön, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
Lea wandte sich zum Gehen, doch der Reporter trottete wie ein treues Hündchen hinter ihr her. Sie drehte sich um.
„Was soll das werden? Wollen Sie sich eine Strafanzeige wegen Nachstellung einhandeln?“
„Warum denn gleich so streng? Das hier ist ein kleiner Ort, hier läuft man sich öfter über den Weg. Ich habe zufällig dasselbe Ziel wie Sie.“
„Es hat eine Verhaftung gegeben“, stieß Lea hervor. „Geben Sie jetzt endlich Ruhe?“
Novotny schob seinen Kopf nach vorn, wodurch er wie ein vorwitziger Vogel aussah.
„Kannten sich der mutmaßliche Täter und Tanja Welling?“
„Woher kennen Sie den Namen des Opfers?“, fragte die junge Polizistin und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.
„Weil die Mutter der Toten bei uns in der Redaktion angerufen hat. Sie befürchtet, dass die Polizei den Fall unter den Teppich kehren könnte.“
Lea rief sich noch einmal die kurze Begegnung mit Sabine Welling auf der Dienststelle ins Gedächtnis. Das Vertrauen dieser Frau in die Behörden schien sich wirklich in Grenzen zu halten. Doch woher kam diese Haltung? Hatte sie bereits einmal schlechte Erfahrung mit dem Staatsapparat machen müssen? Oder hielt sie Rupp schlicht für unfähig? Dass Lea selbst von Sabine Welling kaum als Ordnungshüterin wahrgenommen worden war, konnte sie jedenfalls nicht ignorieren.
Die Polizistin nickte langsam.
„Ich will nicht, dass Sie wie eine Klette an mir kleben“, stellte sie klar. „Meinetwegen können wir uns heute Abend für eine halbe Stunde treffen. Dann reden wir über diesen Fall. Aber ich warne Sie: Ich werde keine Dienstgeheimnisse ausplaudern, beispielsweise die Obduktionsergebnisse.“
Die uns sowieso noch nicht vorliegen, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Einverstanden“, gab der Lokalreporter bereitwillig zurück. „Und wo treffen wir uns? Im Gasthof Zur Linde?“
Lea schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht in Gegenwart von Frau Schatz und den neugierigen Schluckspechten mit Novotny sprechen. Und wenn sie mit ihm auf ihr Zimmer ginge? Diese Möglichkeit kam noch weniger in Betracht. Am Ende bildete er sich noch Schwachheiten ein und glaubte, dass sie über ihn herfallen wollte. Dieser schlaksige Typ war nun wirklich kein schöner Mann. Allein schon die Vorstellung, von ihm berührt zu werden, kam ihr abwegig vor. Sie hoffte stark, dass er ihre momentanen Gedanken nicht erraten konnte.
„Bei dem schönen Wetter möchte ich lieber im Freien bleiben“, behauptete sie. „Wie wäre es in der alten Kiesgrube, gegen neunzehn Uhr?“
„Das ist eine ausgezeichnete Idee“, freute sich Novotny, bevor er auf dem Absatz kehrt machte. „Nun gehe ich in die entgegengesetzte Richtung, Sie haben also freie Bahn. Wir sehen uns dann später.“
Mit diesen Worten stakste er auf seinen dünnen Beinen in Richtung Supermarkt davon. Die Filiale einer deutschlandweiten Discounterkette war genau wie die Tankstelle einer der wenigen Außenposten der modernen Welt. Ansonsten konnte man sich nach Leas Ansicht in Mönchsfelden immer noch so wie vor hundert Jahren fühlen. Smartphones hätten nicht erfunden werden müssen, da sie hier sowieso nicht funktionierten.
Sie schaute sich noch einmal nach Novotny um. Er hatte Wort gehalten und ließ sie wirklich in Ruhe. Lea stieß die Tür zur Bäckerei auf. Der Duft von frisch gebackenem Brot und von Kaffee stieg ihr in die Nase. Hier konnte man – als Zugeständnis an das 21. Jahrhundert – auch sein Heißgetränk to go erwerben. Lea konnte sich allerdings nicht erinnern, jemals einen Mönchsfeldener mit einem Pappbecher in der Hand auf der Straße gesehen zu haben.
Hinter der Verkaufstheke stand eine Frau in den Sechzigern. Soweit es der Polizistin bekannt war, hatte sie die Ehefrau des Bäckers Schulte höchstpersönlich vor sich. Sie trug eine weiße Schürze. Abgesehen davon, dass sie einen Kopf kleiner war als Frau Schatz, konnte man eine gewisse Familienähnlichkeit mit der Gastwirtin feststellen. Ob die beiden miteinander verwandt waren? Lea führte sich vor Augen, dass in abgelegenen Regionen eine gewisse Inzucht gang und gäbe war. Mönchsfelden erschien ihr nicht als ein Ort, an dem man freiwillig wohnen wollte.
Frau Schulte schaute die Polizistin erwartungsvoll an.
„Was darf es sein?“
Lea ließ ihren Blick über das Hartgebäck und die Tortenstücke schweifen. Sie sollte vielleicht etwas kaufen, obwohl sie bei der Hitze eigentlich keinen Appetit hatte.
„Ich möchte so ein Mandeltörtchen.“
Sie zeigte auf das Gewünschte.
Die Bäckersfrau tat das Gebäck auf ein Papptellerchen.
„Du bist doch Hermanns Lehrling, nicht wahr?“
Was sollte sie darauf erwidern? Dass sie die Polizeischule als eine der Jahrgangsbesten absolviert hatte und auf ein Jahr Großstadterfahrung im Streifendienst zurückblicken konnte, bevor ... nein, es war besser, die Dinge nicht beim Namen zu nennen.
Lea zwang sich zu einem Lächeln.
„Ja, sozusagen. Allerdings bin ich nicht mehr in der Ausbildung, sondern Polizeimeisterin.“
„Soso. – Und was willst du über Tanja wissen? Ich habe gehört, dass ihr den Mörder schon geschnappt habt.“
Lea war enttäuscht, weil sie anscheinend so leicht zu durchschauen war. Andererseits – sie gehörte nun mal nicht zu den Stammkunden der Dorfbäckerei. Wenn Frau Schulte nicht völlig beschränkt war, konnte sie sich an allen fünf Fingern ausrechnen, weshalb die Polizistin zu ihr gekommen war. Und dass sich Tanjas Tod schon bis zu ihrer Chefin herumgesprochen hatte, verwunderte Lea nun auch nicht mehr. Die Mutter des Opfers betätigte sich offenbar als lebendige Zeitung.
„Ich darf mich zu einem laufenden Verfahren nicht äußern“, sagte Lea in bestem Amtsdeutsch. „Trotzdem würde mich interessieren, wann Sie Ihre Mitarbeiterin zum letzten Mal gesehen haben.“
Die Bäckersfrau schien etwas enttäuscht zu sein.
„Gestern, als wir Feierabend gemacht haben“, meinte sie achselzuckend. „Tanja stieg auf ihr Rad und sauste davon.“
„Wirkte sie verändert? War sie niedergeschlagen, verängstigt? Oder vielleicht voller Vorfreude? Wollte sie jemanden treffen? Hat sie etwas gesagt?“
Die Bäckerin zuckte mit den Schultern.
„Nee, die Kleine hat sich benommen wie immer. Es tut mir leid um Tanja. Sie war eine ganz Liebe. Vielleicht ein bisschen zu leichtgläubig. Naja, diesem miesen Bengel hat sie ja trotzdem den Laufpass gegeben. Der hat sich ihr gegenüber wohl zu viel rausgenommen.“
Lea horchte auf.
„Von was für einem Bengel sprechen Sie?“
„Warum willst du das wissen?“, fragte Frau Schulte zurück. „Ich dachte, ihr hättet den Mörder schon hinter Schloss und Riegel gebracht. Oder läuft er vielleicht noch frei herum?“
Die Polizistin konnte beharrlich sein. Sie wiederholte ihren Satz und schaute der Bäckersfrau direkt in die Augen. Lea wollte ungern ihre Autorität herauskehren, zumal ihr Gegenüber sie offenbar sowieso nicht als Respektsperson betrachtete. Sonst hätte die Frau sie wohl kaum geduzt. Doch es schien in diesem Kaff so üblich zu sein, jeden Menschen unter dreißig Jahren als ein halbes Kind zu betrachten.
Frau Schulte machte eine wegwerfende Geste.
„Ach, Tanja hat mit diesem Tom vor ein paar Wochen Schluss gemacht. Das konnte er wohl nicht wegstecken. Er lungerte immer wieder in der Nähe herum, hockte im Sattel von seinem blöden Mofa und glotzte direkt ins Schaufenster. So etwas ist doch geschäftsschädigend, oder? Mein Mann jagte ihn schließlich weg. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht.“
„Wann war das?“
„Vorige Woche Donnerstag, glaube ich.“
Die Polizistin überlegte. Vielleicht hatte Tom (falls das sein richtiger Name war) das spätere Mordopfer noch zu einer letzten Aussprache überreden können. Womöglich waren sie in der Mordkuhle verabredet gewesen. Dann war die Situation aus dem Ruder gelaufen und er hatte sie getötet. Die Kleider hatte er bei dem Obdachlosen abgelegt, um den Verdacht auf Petruk zu lenken.
Doch wie war das blutige Messer in den Besitz des Ukrainers gekommen?
Lea musste mehr erfahren.
„Könnten Sie mir bitte diesen Tom genauer beschreiben? Kennen Sie womöglich seinen Nachnamen? Wissen Sie, wo er wohnt?“
Die Bäckersfrau kratzte sich nachdenklich im Nacken.
„Also, aus Mönchsfelden stammt er nicht. Das wüsste ich nämlich. Er wird wohl in Knappenfels oder Birkenrode leben. Ja, Tom trägt meistens so eine Jeansweste ohne Ärmel. Er ist blond, die Haare sind schulterlang. Er sieht ein bisschen ungepflegt aus. Ich habe nie verstanden, was Tanja an ihm gefunden hat. Wie konnte sie sich mit so einem Kerl einlassen? Das lag wohl an ihrer Unerfahrenheit. Sein Mofa ist knallrot. Und auf dem Spritzschutz vom Hinterrad ist ein Aufkleber in Löwenform.“
„Sie sind eine gute Beobachterin“, schmeichelte Lea. „Toms Nachnamen kennen Sie nicht zufällig auch noch?“
Die Bäckersfrau schüttelte den Kopf.
„Nee, meine Tanja hat nicht mit mir über ihr Liebesleben gesprochen. Ich war ja immerhin ihre Chefin. Da müsstest du besser ihre Freundinnen fragen. – Doch, jetzt fällt mir wieder etwas ein. Als Tom uns einmal durch die Schaufensterscheibe beobachtete, rief Tanja: ‚Jetzt ist der feine Herr Reuter wieder da‘.
Reuter oder Räuter? Die Polizistin schrieb sich den Namen auf. Vielleicht war der Ex-Freund ja schon polizeilich in Erscheinung getreten. Wenigstens das Internet funktionierte in Mönchsfelden, wenn auch zeitweise im Schneckentempo.
„Das war hilfreich, Frau Schulte. Wer sind denn Tanjas Freundinnen?“
„Ihre beste Freundin heißt Rabea Volkert, die arbeitet drüben im Friseursalon. Und dann gibt es noch Svenja Borg, mit der hatte sie sich aber zeitweise verkracht. Ich weiß nicht, ob die beiden sich wieder vertragen haben.“
„Wo finde ich Frau Borg?“
„Die kleine Svenja hat ein Baby bekommen, sie arbeitet zurzeit nicht. Sie wohnt bei ihren Schwiegereltern im Starenweg.“
„Ich verstehe. Vielen Dank für die Informationen. Und das Gebäck sieht auch sehr lecker aus.“
Lea bezahlte das Mandeltörtchen, grüßte und verließ die Bäckerei. Sie bildete sich ein, dass Frau Schulte ihr hemmungslos hinterher glotzte. Vermutlich würde die Bäckersfrau gleich zum Telefon greifen und irgendjemanden über den Besuch der Polizistin unterrichten.
Aber wen? Den wahren Mörder?
Du siehst doch schon Gespenster!, schimpfte sie mit sich selbst. Glaubst du etwa, dass ganz Mönchsfelden inklusive des Dorfbullen den wahren Mörder vor mir schützen will?
Doch Lea musste sich eingestehen, dass sie in ihrem tiefsten Inneren genau von dieser Möglichkeit ausging. Zumindest konnte es nichts schaden, Tom Reuter genauer unter die Lupe zu nehmen.
Sie schaute auf die Uhr. Noch war genügend Zeit, bevor der Friseursalon schloss. Sie wechselte die Richtung und ging auf das Geschäft zu, das sich einen Steinwurf weit von der Kirche entfernt befand.
Als die Polizistin die Tür öffnete und die Ladenglocke bimmelte, blickte eine junge Frau auf. Sie trug einen offenen Friseurkittel, darunter Hotpants und ein enges rosa Top. Ihre Augen waren rotgeweint. Und das lag nach Leas Ansicht nicht daran, dass sich bei der Hitze kein einziger Kunde im Salon befand.
„Du bist doch die Polizistin“, stellte die Frisörin mit zitternder Stimme fest.
„Und du musst Rabea sein“, gab Lea zurück. „Ich habe gehört, dass Tanja deine beste Freundin war. Du hast gewiss schon gehört, was ihr zugestoßen ist?“
„J-ja. Und ihr habt den Mistkerl schon geschnappt. Wenn es nach mir ginge, würde man ihn aufhängen!“
„Einige Dinge sind noch unklar“, stellte Lea fest. „Beispielsweise konnten wir noch nicht herausfinden, aus welchem Grund Tanja in den Wald gefahren ist. Weißt du etwas darüber?“
„Nein.“
Ob die Frisörin die Wahrheit sagte? Für Leas Geschmack kam die Antwort etwas zu schnell. Doch vielleicht war es einfach Rabea Volkerts Art, nicht zu zögern.
„Sagt dir der Name Tom Reuter etwas?“
Die Zeugin rollte genervt mit den Augen.
„Und ob! Es war Tanjas größter Fehler, dass sie sich mit diesem Ganoven eingelassen hat.“
Lea runzelte die Stirn.
„Tom ist kriminell?“
„Angeblich bricht er regelmäßig in Häuser ein und macht sich mit der Beute einen lauen Lenz. Ich halte ihn allerdings für einen Aufschneider. Außerdem ist er zu doof, um ein Fenster aufzuhebeln. Wahrscheinlich lebt er eher von der Stütze. Arbeiten tut er jedenfalls nicht.“
Falls Einbrüche geschehen waren, dann sicherlich nicht in Mönchsfelden selbst. Lea und ihr Kollege hätten bestimmt Wind davon bekommen, da die Versicherungen eine Strafanzeige bei der Polizei verlangten, bevor sie zahlten. Aber Reuter konnte natürlich in einer benachbarten Ortschaft auf die schiefe Bahn geraten sein.
„Angeblich ist Tom Tanja nachgestiegen“, sagte Lea.
„Ja, das war wirklich so. Seit einigen Tagen ist allerdings Ruhe. Meine Freundin war erleichtert, Tom hat ihr das Leben wirklich schwer gemacht. Warum willst du das alles wissen? Wurde Tanja gar nicht von dem Penner getötet?“
„Dazu darf ich mich nicht äußern. Mich interessiert noch eine andere Sache: Worum ging es bei dem Streit zwischen Tanja und Svenja?“
Die Polizistin klopfte kräftig auf den Busch, denn diesen Zwist kannte sie ja nur vom Hörensagen. Doch Rabeas Reaktion bewies ihr, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
„Ach, das war nur ein dummes Missverständnis. Svenja ist krankhaft eifersüchtig. Durch die Geburt ihres Babys ist es nicht besser geworden. Seitdem bildet sie sich ein, dass jede Frau ihr ihren tollen Torsten wegnehmen will.“
„Das klingt so, als ob du kein Fan ihres Ehemanns wärst.“
Die Frisörin zuckte mit den Schultern.
„Torsten ist einfach nur ein Langweiler, und außerdem ...“
Sie verstummte.
„Außerdem – was?“, hakte Lea nach.
„Nichts. Du kennst ihn nicht, oder? Wenn du ihn triffst, wirst du wissen, was ich meine.“
Die Neugier der Polizistin wurde noch weiter geschürt. Doch ihr war klar, dass sie hier und jetzt nicht mehr würde erreichen können. Sie bedankte sich bei der Zeugin und ging hinaus. Jetzt wurde es Zeit für ein Telefonat mit Frenz.
Sie ging in ihr Fremdenzimmer und trank eine Flasche Mineralwasser halb leer. Der Raum verfügte als einzigen Luxus über einen Mini-Kühlschrank. Dafür war Lea bei diesem Wetter besonders dankbar, denn tagsüber staute sich die Hitze in ihrem Gemach. Es roch immer nach Staub und Möbelpolitur, auch wenn sie noch so viel lüftete.
Die Polizistin streckte sich auf dem Bett aus und rief den Mordermittler an.
„Was gibt es Neues aus den Tiefen des Waldes, Frau Kramer?“
Mit diesen Worten kam der „Pirat“ sofort zur Sache. Sie schätzte ihn ohnehin als einen Mann ein, der kein langes Vorgeplänkel mochte. Mit small talk ließen sich gewiss keine komplizierten Kriminalfälle lösen.
Lea berichtete, was sie herausgefunden hatte.
„Gut, diesen Tom Reuter werden wir mal genauer durchleuchten“, sagte Frenz. „Ich nehme Kontakt mit den Dienststellen in Knappenfels und Birkenrode auf, womöglich können mir die Kollegen mehr über den Burschen erzählen. Ich entscheide nicht gern nach Aktenlage.“
„Soll ich mit der Freundin reden, die sich mit dem Mordopfer gestritten hat?“
„Tun Sie das, Frau Kramer. Womöglich kommt nicht viel dabei heraus, aber dann können wir diesen Ermittlungsansatz wenigstens ausschließen.“
„Darf ich Sie auch mal etwas fragen?“
„Selbstverständlich.“
„Ich hatte das Gefühl, der Begriff Mordkuhle würde Ihnen etwas sagen. Es wäre hilfreich, wenn Sie dieses Wissen mit mir teilen könnten. Außerdem möchte ich erfahren, woran Sie mit Hermann Rupp gearbeitet haben.“
Der „Pirat“ lachte leise.
„Sie sind einem vorgesetzten Kollegen gegenüber ganz schön forsch.“
„Ich habe nicht mehr viel zu verlieren“, gab Lea lakonisch zurück.
„Und trotzdem erledigen Sie Ihre Aufgaben voller Engagement. Aber ich will Ihnen keine Komplimente machen, sonst verstehen Sie mich noch falsch.“
„Dann lassen Sie es bleiben, Herr Frenz. – Was wissen Sie über die Mordkuhle?“
Der Hauptkommissar seufzte.
„Es gibt in Mönchsfelden so ein uraltes Ammenmärchen über einen heiligen Einsiedler, der von bösen Räubern abgestochen wurde. Und zwar in der Mordkuhle.“
„Nach meiner Version hat man den Eremiten erschlagen.“
„Also haben Sie die Geschichte auch schon gehört. Falls Sie glauben, dass Rupp und ich etwas mit der Mordkuhle zu schaffen gehabt hätten, sind Sie schief gewickelt. Es ging damals um eine vermisste Person, die Ermittlung ist zehn Jahre her. Ich wurde hinzugezogen, weil der Verdacht eines Tötungsdeliktes im Raum stand.“
„Sie machen es ganz schön spannend“, warf Lea trocken ein.
„Ich komme sofort auf den Punkt. Die spurlos verschwundene Person hieß Heidrun Rupp.“
Der Polizistin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Die ... Gattin meines Kollegen?“
Sie führte sich vor Augen, dass Rupp einen Ehering trug. Aber er sprach niemals mit Lea über sein Privatleben. Sie hatte sich bisher einfach vorgestellt, dass die Frau des alten Polizisten ein zurückgezogen lebendes Hausmütterchen wäre. Sie konnte sich nicht ausmalen, dass eine andere Art von Frau es an Rupps Seite aushielt.
„Ja, seine Frau war verschwunden. Ich will Sie nicht mit den Details langweilen. Es gelang mir schließlich, sie wiederzufinden. Allerdings nicht in Mönchsfelden, sondern in der Landeshauptstadt.“
„Rupp ist verwitwet?“
„Wie kommen Sie denn darauf, Frau Kramer? Nur, weil ich ein Mordermittler bin? Ja, ich entdeckte die vermisste Person – und zwar quicklebendig, im Hotel Excelsior, im Bett mit einem Vertreter für Düngemittel.“
Lea ließ ein erleichtertes Kichern hören.
„Finden Sie das komisch?“, fragte Frenz. „Ehrlich gesagt, ich konnte auch darüber lachen. Es ist doch schön, wenn es nicht immer Tote geben muss, nicht wahr? Nur Rupp war der Gelackmeierte. Er nahm es mir wirklich übel, dass ich seine Familienschande ans Licht der Öffentlichkeit zerrte. Dabei hatte ich doch nur meinen Job gemacht. Und ich habe die Dame gewiss nicht dazu animiert, sich von diesem durchreisenden Kerl verführen zu lassen.“
„Rupp ist also geschieden“, mutmaßte die Polizistin.
„Ja, und dadurch hat sich seine Grundstimmung nicht verbessert. Doch zurück zu unserem aktuellen Fall. Ich hoffe, dass ich morgen ein erstes Zwischenergebnis der Obduktion bekomme. Außerdem wird sich zeigen, ob das bei dem Ukrainer sichergestellte Messer wirklich die Mordwaffe ist. Die Laboranalyse müsste relativ zügig funktionieren.“
„Ich treffe mich gleich noch mit einem Lokalreporter namens Novotny. Kennen Sie ihn?“
„Flüchtig. Er ist ein junger Kerl, ehrgeizig, nicht dumm, aber unerfahren. Gefällt er Ihnen?“
Sie errötete.
„Wie kommen Sie denn darauf? Und falls es so wäre: Was ginge Sie das an?“
„Gar nichts. Allerdings sollten Sie bedenken, dass er Sie wahrscheinlich nur aushorchen will.“
„Darauf wäre ich ja nie gekommen, Sherlock Holmes.“
Der „Pirat“ lachte.
„Sie sind ja ganz schön frech. Wahrscheinlich glauben Sie, nach Ihrer Versetzung auf die Mönchsfelder Planstelle nicht noch tiefer sinken zu können. Und damit liegen Sie richtig. Passen Sie trotzdem auf sich auf.“
„Also gehen Sie davon aus, dass der wahre Mörder noch auf freiem Fuß ist?“
„Seien Sie einfach nicht zu vertrauensselig. – Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend mit dem Presseheini.“
Mit diesen Worten beendete Frenz das Telefonat. Lea schaute kurz ihr Satellitentelefon an und schob es wieder unter das Kopfkissen. Plötzlich betrachtete sie Rupp mit anderen Augen. Er tat ihr leid. Es war gewiss kein Zuckerschlecken, in seinem Alter allein zu sein. Jedenfalls konnte sie sich nicht vorstellen, dass es eine neue Liebe in seinem Leben gäbe. Und sein abweisendes Verhalten ihr selbst gegenüber erklärte sich nun ebenfalls viel besser. Der alte Polizist hatte offenbar eine Abneigung gegen alle weiblichen Wesen entwickelt.
Obwohl ihr nach dem Telefonat mit dem „Piraten“ tausend Dinge durch den Kopf schwirrten, nickte Lea ein. Sie hatte schließlich einen aufregenden Arbeitstag hinter sich, und die Hitze in ihrem Fremdenzimmer wirkte zusätzlich einschläfernd. Prompt träumte sie von der Mordkuhle. Diesmal war es allerdings sie selbst, die bewegungslos in der Senke zwischen den himmelhoch aufragenden Baumstämmen lag. Sie wachte gerade in dem Moment auf, als eine finstere Gestalt ihr T-Shirt zerrissen hatte und ihr Buchstaben in die Bauchdecke ritzen wollte.
Die Polizistin rang nach Atem und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie schaute auf die Digitalanzeige ihres Weckers und unterdrückte einen Fluch. Es war schon kurz vor neunzehn Uhr.
Novotny musste glauben, dass sie ihn versetzen wollte!
Da Lea komplett bekleidet eingeschlummert war, konnte sie sofort starten. Sie eilte die steile Gasthoftreppe hinunter. Zum Glück war es nicht allzu weit bis zur Kiesgrube. Sie befand sich nur einen Steinwurf weit vom Ortsrand entfernt. In Mönchsfelden gab es eigentlich überhaupt keine großen Entfernungen.
Während sie in die Richtung ihres Verabredungsorts rannte, fragte sie sich, weshalb ihr das Treffen mit Novotny so wichtig war. Die Antwort fiel ebenso klar wie ernüchternd aus.
Lea hatte überhaupt keine privaten Kontakte an ihrem neuen Wohnort.
Zu den Frauen in ihrem Alter fand sie keinen Anknüpfungspunkt. Natürlich gab es im Dorf einen Sportverein. Doch bei der dortigen Gymnastikfrauengruppe betrug das Durchschnittsalter sechzig Jahre. Sie war einmal da gewesen und hatte sich komplett als Fremdkörper gefühlt.
Die jüngeren Frauen schienen fast ausnahmslos verheiratet zu sein und führten ein ruhiges Familienleben. Und Männer? Sollte sie vielleicht mit einem der alten Zecher von der Gasthoftheke eine Affäre beginnen? Die gleichaltrigen Typen waren alle verheiratet oder gefielen ihr schlicht und einfach nicht. Ganz zu schweigen davon, dass ihr Beruf viele mögliche Interessenten abschreckte.
Oder redete sie sich das nur ein, um ihre selbst gewählte Einsamkeit besser rechtfertigen zu können?
Endlich erreichte sie ihr Ziel. Erleichtert stellte sie fest, dass der Lokalreporter sein Versprechen gehalten hatte. Er saß auf einer Wolldecke am Rand der Kiesgrube und winkte ihr lächelnd zu.
„Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen“, brachte Lea atemlos hervor und ließ sich neben ihm nieder.
„Gewiss mussten Sie noch etwas Wichtiges erledigen. Wie wäre es mit einem Bier?“
Die Polizistin hatte wirklich Durst. Sie nickte, und Novotny drückte ihr eine Dose in die Hand.
„Das ist ja richtig kalt“, bemerkte sie überflüssigerweise.
„Ja, ich war gerade eben erst im Supermarkt. Mönchsfelden mag am Ende der bewohnten Welt liegen, aber die Getränkekühlung dort funktioniert erstklassig.“
Lea riss ihre Bierbüchse auf, ihr Begleiter folgte ihrem Beispiel. Sie stießen an.
„Ich trinke darauf, dass wir dieses kriminalistische Rätsel lösen können“, sagte er. Die beiden tranken. Lea wischte sich den Schaum von den Lippen.
„Wir, Herr Novotny? Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie nicht zur Polizei gehören? Mit der Aufklärung von Verbrechen hat die Presse nichts zu tun.“
Er lachte.
„Das mag sein. Aber manchmal wird die Ordnungsmacht nur aktiv, weil wir mit dem Nachbohren nicht aufhören.“
„Und – wo haben Sie heute gebohrt?“
„So fragt man Leute aus, Frau Kramer. Nun, ich sprach mit der Mutter des Opfers. Das ist wohl nicht verboten, oder? Zumal Sabine Welling von sich aus auf den Landboten zukam.“
„Hat sie einen Verdacht, wer ihre Tochter ermordet haben könnte?“
Leas Frage blieb in der Luft hängen, weil Novotny nicht sofort antwortete. Stattdessen ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen. Da das Schwimmbad von Mönchsfelden schon seit Jahren geschlossen war, musste die Kiesgrube als einzige öffentliche Bademöglichkeit herhalten. An diesem schönen Sommerabend waren noch zahlreiche andere Einwohner hierhergekommen, die meisten von ihnen jung und nur knapp bekleidet. Vor allem Pärchen lagen auf ihren mitgebrachten Strandmatten oder Badelaken. Aus Bluetooth-Lautsprechern ertönte Musik, es herrschte eine entspannte Atmosphäre.
Lea führte sich vor Augen, dass ein Außenstehender sie und den Journalisten ebenfalls für ein Liebespaar halten konnte. Sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Auf jeden Fall lenkte diese Überlegung sie von dem Kriminalfall ab.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Novotny sie schon länger von der Seite anschaute. War er etwa dabei, sich in Lea zu verknallen? Oder hoffte er einfach nur darauf, sie flachlegen zu können?
„Frau Welling hat keine Erklärung für den Tod ihrer Tochter. Ich habe gehört, dass die Polizei irgendeinen Strolch festgenommen haben soll. Es ist gut, wenn ein Mörder nach der Tat zeitnah verhaftet wird. Dadurch steigt das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung. Können Sie mir dazu etwas sagen, Frau Kramer?“
„Sie werden die Pressemitteilung aus der Kreisstadt abwarten müssen“, gab sie zurück.
Der Reporter rollte mit den Augen.
„Warum sind Sie denn so zugeknöpft? Ich schütze meine Informationsquellen, darauf können Sie sich verlassen. Wie wäre es denn wenigstens mit einem kleinen Hinweis darauf, ob es weitere Ermittlungen gibt?“
„Keine Chance, Herr Novotny.“ Lea trank noch einen Schluck Bier. „Ich nehme meinen Beruf sehr ernst.“
Er hob die Augenbrauen.
„Und das, obwohl die Polizeiführung Sie so schäbig behandelt?“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
Novotny lachte.
„Ach, spielen Sie doch bitte nicht die Unwissende! Sie wurden gewiss nicht nach Mönchsfelden versetzt, weil Sie sich mit Ruhm bekleckert haben. Ich wette, Sie haben selbst eine Leiche im Keller. Natürlich nur sinnbildlich gesprochen.“
Wenn du wüsstest, was mir geschehen ist, dachte Lea verdrossen. Sie fragte: „Haben Sie die Tote zu Lebzeiten persönlich gekannt? Das finde ich viel interessanter, als über mich und meine Vergangenheit zu reden.“
„Kennen ist zu viel gesagt“, räumte der Lokalreporter ein. „Ich war vor ein paar Monaten mal in Mönchsfelden, weil ich über das hundertjährige Bestehen des Schützenvereins berichten musste. Da habe ich mir in der Bäckerei einen Coffee to go geholt, um die Wartezeit bis zur Festzeremonie zu überbrücken. Bei der Gelegenheit kam ich mit Tanja Welling ins Gespräch.“
„Was hatten Sie für einen Eindruck von ihr?“
„Sie war jung und lebenslustig. Und ich glaube, sie flirtete gern.“
„Haben Sie die Frau angebaggert?“
Lea hatte diesen Satz kaum ausgesprochen, als sie ihn auch schon bereute. Dafür war es allerdings zu spät.
Novotny blinzelte ihr zu.
„Weshalb interessiert Sie das so brennend? Glauben Sie, ich versuche mein Glück bei allen Frauen? Also auch bei Ihnen?“
Ihre Ohren brannten vor Verlegenheit. Wenigstens konnte er das nicht bemerken, weil sie von ihren Haaren bedeckt wurden.
„Sie sind ziemlich direkt, Sie ...“
„Was halten Sie davon, wenn wir uns duzen? Wenigstens darauf könnten Sie sich einlassen, wenn Sie mir schon keine genaueren Informationen geben wollen.“
Lea zögerte kurz, dann gab sie sich einen Ruck. Was hatte sie schon zu verlieren? Sie musste sich eingestehen, dass sie die Gesellschaft des Journalisten äußerst angenehm fand. Das hieß allerdings noch lange nicht, dass sie auch mit ihm ins Bett gehen würde. Er war immerhin ihr erster Privatkontakt in Mönchsfelden.
„Also gut, ich heiße Lea.“
„Und ich bin Felix. Prost, Lea.“
Sie stießen noch einmal mit den Bierdosen an. Doch plötzlich erstarrte die Polizistin.
„Was ist los?“, fragte Felix irritiert.
Lea antwortete nicht, sondern schaute an ihm vorbei. Ein Stück weit von ihnen entfernt war soeben jemand am Rand der Kiesgrube eingetroffen. Er fuhr ein Mofa. Ein rotes Mofa. Ob auf dem Spritzschutz auch ein Löwenkopf-Aufkleber angebracht war? Das konnte die Polizistin aus der Entfernung nicht erkennen. Sie erhob sich von der Decke, auf der sie es sich bequem gemacht hatte.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wollte der Reporter wissen.
Lea gab keine Antwort, sondern begann zu laufen. Der Mofa-Besitzer trug eine ärmellose Jeansweste, doch das musste nichts zu bedeuten haben. Solche Kleidungsstücke galten in der tiefsten Provinz immer noch als cool, das hatte sie inzwischen herausgefunden.
Ihr Blick traf sich mit dem des Westenträgers. Er erschrak, stieg wieder auf sein Gefährt und knatterte davon. In diesem Moment wusste Lea endgültig, dass sie es mit Tom Reuter zu tun hatte.
„Polizei! Bleiben Sie stehen!“, rief sie gellend.
Der Verdächtige hörte nicht auf sie. Stattdessen beschleunigte er. Sein Mofa war garantiert frisiert, ansonsten wäre es nicht mit einer solchen Geschwindigkeit gerast. Lea rannte so schnell sie konnte. Ihre Lungen brannten. Sie ignorierte die Tatsache, dass sie unbewaffnet war. Ihre Pistole lag auf der Dienststelle. Sie hatte noch nicht mal einen Schlagstock dabei. Trotzdem wollte sie Reuter um jeden Preis erwischen.
Er fuhr ungebremst in den Wald hinein. Sie bewunderte insgeheim seine Fähigkeit, sich mit diesem hohen Tempo einen Weg zwischen den dicht an dicht stehenden Baumstämmen zu bahnen. Schon bald hatte er seinen Vorsprung ausgebaut. Reuter schien das Gehölz wie seine Westentasche zu kennen. Die Polizistin versuchte, sich auf das Mofa-Rücklicht zu konzentrieren. Der Schweiß rann ihr in die Augen.
Die Vegetation wirkte für den Verdächtigen wie ein Tarnumhang. Lea konnte noch das Knattern des Motors hören, doch den Sichtkontakt hatte sie verloren. Sie lief noch eine Weile durch den Wald, bevor sie niedergeschlagen aufgab und ihre Stirn gegen einen Baumstamm presste.
Am nächsten Morgen ging Lea mit gemischten Gefühlen zum Dienst. Das Rendezvous mit Felix war abrupt zu Ende gegangen. Natürlich hatte er wissen wollen, weshalb sie in ihrer Freizeit die Verfolgung des Mofafahrers aufgenommen hatte.
Doch ihre Lippen blieben verschlossen. Trotzdem hatte Felix sie bis zum Gasthof begleitet, allerdings ohne den Versuch, sie zu küssen. Sie hatte sofort per Satellitentelefon den „Piraten“ informiert und ihm das Versprechen abgerungen, eine Großfahndung nach Reuter zu veranlassen.
Nun hoffte sie, dass der Verdächtige einer Polizeistreife begegnen würde. Allerdings war der Wald riesig. Wenn Reuter sich dort so gut auskannte, wie sie befürchtete, dann würde er nur schwer zu finden sein. Noch nicht einmal dann, wenn eine Hundertschaft das Gelände durchkämmte.
„Morgen“, sagte Rupp, während er das Wachlokal betrat und seine Dienstmütze schwungvoll auf den altmodischen Kleiderhaken warf. Um diese Fähigkeit beneidete Lea ihn. Allerdings hatte er auch viele Jahre Gelegenheit zum Üben gehabt.
Lea kochte Kaffee. Es gab eine unausgesprochene Vereinbarung, dass diese Aufgabe ihr zufiel. Eigentlich hätte ihr Kollege sich auch einmal dazu bequemen können. Als er noch allein auf der Dorfwache gewesen war, hatte er es schließlich auch selbst machen müssen.
Rupp nahm an seinem Schreibtisch Platz und ging die Dienstpost durch.
„Schau an, der Herr Gernegroß Frenz lässt nach einem Mofarocker namens Thomas Reuter fahnden. Was für eine Zeitverschwendung! Weißt du etwas darüber?“
Wollte ihr Kollege sie aushorchen? Wusste oder ahnte er, dass Lea im Auftrag des „Piraten“ weiter ermittelte? Sie beschloss, sich dumm zu stellen. Das war im Zweifelsfall immer noch die beste Taktik.
„Nee, ich habe keine Ahnung. Was steht denn da?“
„Dieser Reuter hat eine Jugendstrafe wegen eines BTM-Deliktes verbüßt, ist schon ein paar Jahre her. Und jetzt ist er mit einem roten Mofa unterwegs, da steht sogar das amtliche Kennzeichen. Gut und schön, solche kriminellen Bengel hat es immer gegeben und wird es immer geben. Ich frage mich allerdings, weshalb ein selbsternannter genialer Mordermittler nach diesem Kleinkriminellen fahnden lässt.“
Lea hob die Schultern.
„Das wird er uns Fußsoldaten wohl kaum wissen lassen.“
Sie hatte versucht, sich mit dieser Bemerkung ein wenig bei Rupp anzubiedern. Doch er schien immer noch misstrauisch zu sein. Jedenfalls kam es ihr so vor, als er sie wieder ansprach.
„Was hast du eigentlich gestern Abend in der Kiesgrube gemacht?“
Sie musste sich nicht wirklich fragen, woher ihr Kollege davon wusste. Es schien in Mönchsfelden sehr schwierig zu sein, Dinge geheimzuhalten. Das galt zumindest für Lea selbst. Der Mörder schien damit keine Probleme zu haben. Und es kam ihr so vor, als ob er dabei tatkräftig unterstützt würde.
Aber war Reuter wirklich der Täter?
„Ich hatte eine Verabredung“, gab Lea zurück.
„Ausgerechnet mit diesem Zeitungsfritzen aus der Kreisstadt?“, bohrte Rupp nach. Er schien wirklich bestens informiert zu sein. Die Polizistin kam ins Schwitzen. Sie musste sich jetzt eine überzeugende Story ausdenken, um nicht aufzufliegen.
„Felix hat ein Auge auf mich geworfen“, behauptete sie. Womöglich stimmte das sogar. „Ich bin Single und habe keinen Freund. Es ist doch nichts dabei, wenn ich mit ihm ausgehe, oder?“
Rupp verschränkte die Finger seiner großen Hände ineinander.
„An und für sich nicht. Du musst nur aufpassen, dass er dich nicht über unseren aktuellen Fall aushorcht. Wir dürfen nicht mit der Presse sprechen.“
Lea versuchte es mit einem unbeschwerten Lachen. Allerdings fand sie, dass sie selbst nicht besonders überzeugend klang.
„Was kann ich ihm denn schon sagen, Hermann? Der Mordverdächtige sitzt in U-Haft, die Kriminaltechniker waren vor Ort, der Fall ist abgeschlossen. Spätestens, wenn die Pressemitteilung rausgegangen ist, kann Felix wieder über das nächste Freundschaftsspiel der Kickers Mönchsfelden schreiben!“
Der alte Polizist grinste zustimmend. Doch sie war nicht überzeugt davon, dass seine Skepsis völlig beseitigt war. Lea musste sich jeden Satz und jede Handlung genau überlegen.
Momentan konnte Rupp nichts sagen, weil er genüsslich seinen Kaffee schlürfte. Das Telefon klingelte, Lea griff zum Hörer.
„Polizeidienststelle Mönchsfelden, mein Name ist Kramer. Was können wir für Sie tun?“
Die Stimme einer älteren Frau erklang. Sie hörte sich sehr aufgeregt an.
„Bei meinem Nachbarn wird Rabatz gemacht! Da stimmt etwas nicht, er ist ein ganz ruhiger Mensch ... ich habe Angst um ihn.“
„Wie heißt denn Ihr Nachbar?“
„Heinrich Lauge. Bitte kommen Sie schnell!“
„Wie lautet die Adresse?“
„Amselweg drei.“
Die Polizistin versprach, sich umgehend darum zu kümmern. Ihr Kollege hatte alles mitbekommen, da sie gewohnheitsmäßig den Telefonlautsprecher eingeschaltet hatte. Rupp erhob sich bereits von seinem Stuhl und trat auf die Tür zu.
„Beeil dich, Lea. Ich kenne Heinrich, er lebt schon seit Jahren allein. Wenn bei ihm jemand Lärm schlägt, ist er das garantiert nicht selbst!“
Sie eilten hinaus und sprangen in den Streifenwagen. Rupp schaltete Sirene und Blaulicht ein und lenkte das Einsatzfahrzeug nach links. Auf der kurzen Fahrt zum östlichen Ortsausgang fiel der Polizistin ein, wo sie den Namen Heinrich in letzter Zeit schon einmal gehört hatte.
So hieß einer der Zecher aus dem Gasthof. Sie erinnerte sich an seine Reaktion, als es um die Mordkuhle gegangen war.
Doch bevor Lea diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, hatten sie ihr Fahrtziel schon erreicht. Der Amselweg befand sich inmitten einer ruhigen Einfamilienhaussiedlung. Die anderen Straßen waren ebenfalls nach Vögeln benannt. Eine Frau in den Sechzigern stand vor ihrer Haustür und deutete auf das Nachbargrundstück. Selbst auf die Distanz konnte die Polizistin den panischen Ausdruck auf dem Gesicht der Melderin sehen.
Momentan herrschte Stille.
Das Adrenalin jagte durch Leas Körper, als sie und Rupp sich dem kleinen Haus näherten. Der schmale Garten sah gepflegt aus, die Fenster waren geputzt. Nichts deutete darauf hin, dass hier etwas Schreckliches passiert sein könnte. Die Polizistin hatte gelernt, dass man sich von einem solchen trügerischen Frieden nicht täuschen lassen durfte. Sie war schon oft genug in brenzlige Situationen geraten, die man noch wenige Sekunden zuvor nicht hatte voraussehen können.
Rupp hatte seine Waffe gezogen, sie folgte seinem Beispiel. Leas Aufregung wuchs, denn die massive Haustür war nur angelehnt. Sie bemerkte auf den ersten Blick keine Einbruchspuren. Hatte Heinrich Lauge arglos einen üblen Feind in seine vier Wände gebeten?
Der alte Polizist stieß mit dem Fuß die Tür ganz auf.
„Heinrich?“
Er hatte mit lauter Stimme gesprochen, eine Antwort bekam er nicht. Die Beamten drangen in den Hausflur vor. Es roch nach Kohlsuppe und kaltem Zigarettenrauch. Die Tapete schien seit Jahrzehnten nicht erneuert worden zu sein. Das altmodische Telefon stand auf einem Tischchen, danebenlag das lächerlich dünne Telefonbuch von Mönchsfelden. Hier war die Zeit definitiv stehengeblieben. Und zwar in einer Ära, als es weder PCs noch Smartphones gab.
Lea lauschte konzentriert, während der Kokosläufer unter ihren Schritten leise knirschte.
Da ertönte ein Geräusch. Es klang, als ob ein angeschossenes Wildtier seinen letzten Atemzug tun würde. Rupp und Lea traten in das Wohnzimmer. Es wurde von einer altmodischen Plüsch-Couchgarnitur dominiert. Doch die junge Polizistin nahm zu allererst das viele Blut wahr. Und den auf dem Teppich liegenden alten Mann. Es war Heinrich aus dem Gasthof, wie sie es schon vermutet hatte.
Und er schien tot zu sein.
Doch eben gerade hatte er noch gestöhnt. Oder? Lea wusste nicht, was sie denken sollte. Es rauschte in ihren Ohren, sie kämpfte mit einem Schwindelgefühl. Heinrich war nicht das erste Verbrechensopfer, das sie zu Gesicht bekam. Trotzdem nahm sie sein Anblick besonders mit. Ob der Überfall mit dem Mord zusammenhing? Wollte jemand um jeden Preis verhindern, dass der alte Mann Informationen über die Mordkuhle ausplauderte?
Rupp kniete sich neben Heinrich, tastete nach dessen Halsschlagader. Dann blickte er auf. Normalerweise zeigte er kein nennenswertes Mienenspiel, wenn er mit Lea sprach. Doch in diesem Moment konnte sie ihm ansehen, dass ihn das Schicksal des Alten ebenfalls nicht kaltließ.
„Er lebt noch, fordere sofort einen RTW an!“
Sie griff zum Funkgerät und gab der Leitstelle die Adresse durch. Der Pferdefuß bestand darin, dass die Ambulanz aus der Kreisstadt kommen musste. Bis sie in Mönchsfelden einträfe, könnte Heinrich schon tot sein. Auf jeden Fall war er bewusstlos. Man musste kein Arzt sein, um das erkennen zu können. Jemand musste ihm auf den Hinterkopf geschlagen haben, jedenfalls hatte er dort eine gewaltige Platzwunde.
Die Vorgehensweise war völlig anders als bei dem Mord an Tanja Welling. Warum glaubte Lea, unbedingt einen Zusammenhang zwischen den Taten sehen zu müssen? Nur, weil Heinrich im Gasthof so seltsam reagierte hatte? Vielleicht war er einfach nur einsamer alter Trinker, der seine fünf Sinne nicht mehr beisammen hatte.
Und doch kam es der Polizistin sehr seltsam vor, dass er ausgerechnet einen Tag nach den Ereignissen im Wald angegriffen wurde.
Während ihr diese Dinge durch den Kopf gingen, blieb sie natürlich nicht untätig. Sie drehte den Verletzten in eine stabile Seitenlage, während Rupp den Verbandskasten aus dem Streifenwagen holte. Sie legten Heinrich einen provisorischen Verband an.
Rupp wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken und blickte auf seine große Herren-Armbanduhr.
„Ich hoffe, dass die Sanis sich beeilen. Sonst macht Heinrich seinen letzten Schnaufer, bevor sie hier eintreffen. Diese verfluchten Einbrecher!“
„Direkt eingebrochen wurde ja eigentlich nicht“, erwiderte Lea. „Der alte Mann scheint seinen Angreifer hereingelassen zu haben.“
Ihr Kollege machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Das ist doch Wortklauberei. Heinrich war völlig arglos, jemand ist ihm auf die Pelle gerückt und hat ihn halb totgeschlagen.“
„Soll ich nachsehen, ob etwas gestohlen wurde?“
„Nein!“, bestimmte Rupp mit plötzlicher Heftigkeit. Etwas ruhiger fügte er hinzu: „Du kennst dich hier nicht aus. Ich war schon öfter bei Heinrich zu Besuch. Daher kann ich besser beurteilen, was der Verbrecher mitgehen ließ. Du bleibst bei ihm.“
„Ja, in Ordnung“, sagte Lea. Rupp war ranghöher als sie. Wenn er ihr eine Anweisung erteilte, musste sie sich daran halten. Es sei denn, sie wollte sich unnötigen Ärger einhandeln.
Die Polizistin kauerte neben Heinrich auf dem Boden und hielt dessen Hand. Es war ein beruhigendes Gefühl, seinen Puls spüren zu können. Der Alte schien zäh zu sein, denn nach den Blutspritzern zu urteilen, musste der Täter kräftig zugeschlagen haben. Wo war eigentlich die Tatwaffe?
Während Lea sich diese Frage stellte, schweifte ihr Blick durch das Wohnzimmer. Es herrschte Ordnung, die Bücher und Fotoalben befanden sich in einem verglasten Schrank, der mindestens ein halbes Jahrhundert alt zu sein schien.
Doch unter einem Sessel lag ein Gegenstand, der wie ein Schulheft aussah. Lea schaute sich verstohlen nach Rupp um, doch ihr Kollege war außer Sichtweite. Sie konnte seine schweren Schritte im ersten Stockwerk über sich hören. Diese Gelegenheit durfte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Sie ließ ihre Hand unter das Sitzmöbel gleiten und fischte mit zwei Fingern das Heft heraus. Es war wirklich eine Schulkladde, die aus vergilbtem Papier und einem blauen Wachstuchumschlag bestand. Das Titelblatt trug einen Aufkleber. Darauf stand in schräger blauer Tintenschrift: ZIRKUS GARDONI. Lea runzelte die Stirn. Was hatte das zu bedeuten?
Sie hätte später selbst nicht sagen können, weshalb sie schnell ihre Uniformbluse aufknöpfte und das Heft darunter versteckte. Sie schob es in ihren Hosenbund und brachte ihre Kleidung schnell wieder in Ordnung. Wenn sie sich nicht zu heftig bewegte, würde Rupp nicht merken, dass sie etwas mitgenommen hatte.
Es musste einen Grund dafür geben, dass diese Kladde dort lag.
Rupps Schritte knarrten auf der Treppe. Lea blickte in seine Richtung und versuchte, möglichst unschuldig auszusehen.
„Hast du etwas feststellen können, Hermann?“
Der alte Polizist schüttelte den Kopf.
„Negativ. Ich frage mich, ob der Eindringling überhaupt etwas klauen wollte. Nach meiner Erfahrung wühlen Einbrecher alles durch und reißen sämtliche Schubladen heraus. Davon ist im Obergeschoss genauso wenig zu sehen wie hier. Heinrich ist ein Ordnungsfanatiker, das muss wohl an seinem Beruf liegen.“
„Was hat er denn gemacht, bevor er in Rente ging? Er ist doch im Ruhestand, oder?“
„Das stimmt“, sagte Rupp. „Heinrich war Beamter im Grundbuchamt. Und außerdem betätigt er sich als Dorfchronist. Das ist so ein Hobby von ihm.“
Lea fiel auf, dass ihr Kollege nicht ganz so reserviert war wie sonst. Verfolgte er damit eine bestimmte Absicht? Oder wollte Rupp ihr Interesse einfach auf Unwichtiges lenken, damit sie entscheidende Dinge übersah?
Lea beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie das Heft heimlich eingesteckt hatte. Wenn Rupp es gefunden hätte, wäre es vermutlich auf seltsame Art für immer von der Bildfläche verschwunden. Zumindest hatte die junge Polizistin diesen Verdacht.
Sie schaute auf ihre Uhr.
„Hoffentlich kommt der Krankenwagen bald.“
„Träum weiter“, knurrte Rupp. „Manchmal kommt es mir so vor, als ob die übrige Welt uns hier in Mönchsfelden vergessen hätte.“
Doch es war, als ob die Einsatzleitung in der Kreisstadt ihn Lügen strafen wollte. Jedenfalls ertönte wenige Minuten später ein Martinshorn aus Richtung Hauptstraße. Das Geräusch kam schnell näher. Rupp ging zur Haustür, um die Retter hereinzulassen.
Ein Notarzt sowie zwei Sanitäter traten ein, nickten Lea grüßend zu und machten sich sofort an die Arbeit. Die beiden Polizisten berichteten dem Mediziner die wenigen Fakten, die ihnen selbst bekannt waren.
„Auf jeden Fall wurden dem Patienten die Verletzungen mit einem Gegenstand zugefügt“, sagte der Arzt bei der Untersuchung. „Wir nehmen ihn mit, es besteht der Verdacht auf einen Schädelbasisbruch.“
Die Sanitäter hoben den Alten auf eine Trage und schafften ihn in den Rettungswagen. Gleich darauf brauste das Fahrzeug in Richtung Kreisstadt davon. Lea hoffte sehr, dass Heinrich überleben würde. Ob er seinen Angreifer erkannt hatte? Und wenn das so war – würde er überhaupt gegen ihn aussagen?
Nach Meinung der jungen Polizistin wurden die Dinge in Mönchsfelden nämlich gern vertuscht.
Sie fuhr gemeinsam mit ihrem Kollegen zur Dienststelle zurück.
„Hat Heinrich Verwandte, die wir verständigen müssen, Hermann?“
„Sein Sohn wohnt seit vielen Jahren in der Landeshauptstadt. Ich habe seine Telefonnummer. Darum kümmere ich mich, du kannst ja schon mal den Bericht schreiben.“
Es wunderte Lea nicht, dass Rupp ihr diese Aufgabe aufs Auge drückte. Ein kurzes Telefonat erforderte weitaus weniger Einsatz als das Tippen von tausend oder mehr Wörtern. Trotzdem war sie über diese Arbeitsteilung erleichtert. Lea riss sich nämlich nicht darum, einem Wildfremden die Hiobsbotschaft von dem brutalen Überfall auf seinen Vater mitzuteilen.
Hinzu kam, dass sie sich mitschuldig fühlte, was kompletter Unsinn war. Doch sie konnte nicht aus ihrer Haut. Ob sich Heinrich wohl noch bester Gesundheit erfreuen würde, wenn sie in der Gaststube nicht so penetrant nach der Mordkuhle gefragt hätte?
Die Polizistin versuchte, diese Gedanken nicht zuzulassen. Bisher gab es nicht den geringsten Beweis dafür, dass der Angriff etwas mit dem Tötungsdelikt im Wald zu tun hatte.
Da Lea und Rupp im selben Raum saßen, konnte sie das Gespräch mithören. Und sie musste ihrem Kollegen zugestehen, dass er einfühlsam vorging. Diese Seite an ihm war ihr bisher verborgen geblieben. Ob er am Ende doch gar nicht so ein übler Typ war? Aber warum hatte er dem Obdachlosen die Todesstrafe angedroht?
Lea konzentrierte sich darauf, den Bericht zu tippen und auszudrucken.
Rupp nahm die Seiten an sich und überflog sie.
„Ja, so kann man das schreiben“, murmelte er. „Über den Tathergang können wir nur spekulieren, solange wir den Mistkerl nicht erwischt haben.“
Nachdem Lea noch einige Routinearbeiten erledigt hatte, durfte sie Mittagspause machen. Sie raste zu ihrem Fremdenzimmer. Auf der Toilette in der Wache hatte sie das Heft bereits unter ihrer Uniformbluse hervorgezogen und in ihrem Rucksack verstaut.. Sie zog die Kladde vorsichtig heraus. Am liebsten hätte sie jetzt schon darin gelesen, doch das musste bis zum Feierabend warten. Jetzt hatte Lea noch etwas Wichtiges zu erledigen. Sie schnappte sich ihr Satellitentelefon und rief Frenz an.
„Was gibt es Neues, Frau Kramer?“
Sie berichtete von der Attacke auf Heinrich und von ihrem Verdacht.
„Wenn dieser Mann sich als Dorfchronist betätigt, wollte der Täter ihn womöglich für immer zum Schweigen bringen“, dachte der „Pirat“ laut nach.
„Wäre es dann nicht sinnvoller, die schriftlichen Aufzeichnungen zu vernichten?“, gab Lea zu bedenken.
„Ja – aber nur dann, wenn die brisanten Informationen dort niedergelegt sind. Frau Kramer, Sie gehen also davon aus, dass der Schlüssel zu dem Verbrechen an Tanja Welling in der Vergangenheit liegt?“
„Sie etwa nicht?“
„Ich habe mir noch kein abschließendes Urteil gebildet. Gewiss, der Name dieser Stelle klingt wildromantisch – Mordkuhle. Andererseits: Ich möchte nicht wissen, in wie vielen deutschen Dörfern es eine Galgeneiche gibt. Das heißt aber noch lange nicht, dass dort dauernd Leute aufgeknüpft werden.“
„In der Gegenwart nicht, in früheren Jahrhunderten schon“, stellte Lea nüchtern fest.
„Da haben Sie auch wieder recht“, sagte Frenz. „Es ist wirklich schade, dass Ihr polizeiliches Talent in diesem Kaff versauert.“
„Erwarten Sie von mir dazu einen Kommentar?“
Er lachte.
„Nein. Sie nehmen Ihre Lage mit Humor, das weiß ich zu schätzen. Und ich bin froh, dass Sie vor Ort sind. Wenn Rupp weiterhin allein in Mönchsfelden herumstümpern würde, könnte ich den Fall gleich zu den Akten legen.“
Lea atmete tief durch und genoss einen Moment lang die Anerkennung durch einen vorgesetzten Beamten. Allzu oft geschah so etwas bei ihr nicht.
„Könnten Sie bitte dafür sorgen, dass ein Kollege Heinrich Lauges Krankenzimmer in der Kreisstadt bewacht?“, bat sie. „Wenn der Täter erfährt, dass sein Opfer noch nicht tot ist, wird er sein übles Werk womöglich beenden wollen.“
„Sicher, das lässt sich machen. Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?“
Lea zögerte. Sollte sie von der Kladde berichten? Sie entschied sich dagegen. Falls sie beim Durchsehen des Heftes auf etwas Ungewöhnliches stieße, konnte sie Frenz immer noch informieren.
„Ich bin nicht sicher“, sagte sie deshalb. „Morgen weiß ich vielleicht schon mehr. Was macht die Fahndung nach Reuter?“
„Sie läuft. Eine Streifenwagenbesatzung war bei seiner Wohnung, dort ist er nicht wieder aufgetaucht. Die Eltern des Mofa-Rockers wissen angeblich auch nicht, wo er steckt. Wahrscheinlich verkriecht er sich irgendwo in den Tiefen des Waldes. Da soll es ein paar halb verfallene Jagdhütten geben, die sich erstklassig als Unterschlupf eignen.“
Lea schaute auf die Uhr.
„Ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss gleich zur Dienststelle zurück. Sobald es etwas Neues gibt, melde ich mich bei Ihnen.“
Der „Pirat“ lachte.
„Ja, Sie sollten Rupp keinen Grund zum Meckern geben. Ich hoffe, dass wir morgen das Obduktionsergebnis erfahren.“
Die Polizistin versteckte ihr Satellitentelefon wieder, genau wie das Heft. Dann löffelte sie noch schnell im Stehen einen Joghurt und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück.
„Das Kreisstadt-Hospital hat angerufen“, sagte Rupp, als Lea die Polizeiwache betrat. „Heinrichs Zustand ist stabil, er hat allerdings noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt. Ich schnappe mir gleich den Tatortkoffer und fahre noch mal zu seinem Haus. Womöglich hat der Täter DNA-Spuren hinterlassen. Wenn es sich um eine reisende Diebesbande handelt, könnten wir beim Abgleich einen Treffer landen.“
„Gut, und was soll ich machen?“
„Du bleibst hier“, bestimmte der alte Polizist. „Womöglich ruft dieser Angeber Frenz nochmal an. Dann macht es einen besseren Eindruck, wenn jemand ans Telefon geht.“
Das war in Leas Augen nur ein schwacher Vorwand. Wenn sie einen Einsatz hatten, wurden Anrufe automatisch zum Kommissariat in der Kreisstadt umgeleitet. Von dort musste ohnehin ein Streifenwagen anrücken, falls einmal mehrere polizeiliche Maßnahmen in Mönchsfelden gleichzeitig notwendig waren. Das kam zum Glück selten vor.
Lea vermutete, dass Rupp keine Spuren sichern, sondern vernichten wollte. Ob er wirklich mit dem Mörder unter einer Decke steckte oder ihn zumindest deckte? Sie versuchte, sich ihr Misstrauen nicht anmerken zu lassen.
„Du kannst mich ja anfunken, kurz bevor du aus Heinrichs Haus zurückkehrst“, schlug sie vor. „Dann setze ich frischen Kaffee auf.“
„Das ist eine ausgezeichnete Idee.“
Als Rupp mit dem Tatortkoffer in der Hand die Wache verlassen hatte, sortierte die Polizistin ihre Gedanken. Sie wusste immer noch nicht, aus welchem Grund Tanja Welling in den Wald gefahren war. Hatte ihr Ex sie um eine letzte Aussprache gebeten? Aber warum an einem so abgelegenen Ort? Oder gab es einen anderen Mann im Leben des Opfers? Hatte die junge Frau womöglich wirklich eine Affäre mit dem Ehemann ihrer Freundin gehabt? Lea beschloss, Svenja und Torsten Borg genauer unter die Lupe zu nehmen. Aber das musste sie in ihrer Freizeit machen. Sie würde in Teufels Küche kommen, wenn sie jetzt fortginge und Rupp Wind davon kriegte.
Es war in Mönchsfelden eben schwer, etwas geheimzuhalten. Wäre das nicht ein guter Grund dafür, sich in den Tiefen des finsteren Gehölzes zu treffen?
Das Telefon klingelte und riss Lea aus ihren Gedanken. Felix war am Apparat.
„Was machst du gerade?“, fragte er. Falls der Lokalreporter wegen der missglückten Verabredung sauer war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Die Polizistin musste sich eingestehen, dass sie sich über seinen Anruf freute.
„Nichts Besonderes. – Es ist schön, von dir zu hören“, sagte Lea. „Es tut mir leid, dass gestern alles nicht so optimal gelaufen ist.“
„Ja, ich musste das restliche Bier allein trinken.“
Sie lachte.
„Das hört sich nicht unbedingt nach einer Katastrophe an.“
„Wie man es nimmt.“ Er machte eine Pause. „Übrigens habe ich noch etwas über das Mordopfer herausgefunden. Allerdings ist es eher ein Gerücht. Nichts Gerichtsverwertbares, wie man so schön sagt.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Eigentlich müsste ja die Polizei die Ermittlungen übernehmen“, stichelte Felix, „aber weil du es bist, werde ich mein Wissen mit dir teilen.“
„Ich revanchiere mich, wenn es sich einrichten lässt. Also, was wolltest du mir mitteilen?“
„Frau Welling glaubt, dass ihre Tochter einen geheimen Verehrer gehabt hat. Nicht Tom Reuter, den konnte die Mutter nicht ausstehen. Außerdem bewegt sich der Trottel offenbar nur mit seinem Mofa fort. Und das Ding knattert höllisch, wie wir gestern Abend selbst feststellen durften. Wann wolltest du mir eigentlich sagen, dass ihr den Ex des Mordes verdächtigt?“
„Gar nicht, weil das eine polizeiinterne Information ist. Wenn du dir die Dinge zusammenreimst, kann ich sie weder bestätigen noch abstreiten. Was weiß Frau Welling denn über den geheimnisvollen Typen?“
„Er kam nachts an den Gartenzaun, wechselte ein paar Worte mit ihrer Tochter und verschwand dann wieder. Die Straßenbeleuchtung in Mönchsfelden lässt ja zu wünschen übrig, deshalb konnte Frau Welling sein Gesicht nie sehen. Und als sie Tanja mal darauf ansprach, leugnete ihre Tochter alles und behauptete, ihre Mutter hätte sich diesen Freund nur eingebildet.“
„Und für wie glaubwürdig hältst du die Frau?“
„Wenn ich das wüsste!“, seufzte Felix.
Lea fragte sich, warum Sabine Welling diese Beobachtung nicht der Polizei gemeldet hatte. Weil sie davon überzeugt war, dass der Mörder bereits hinter Schloss und Riegel saß? Oder gab es noch einen anderen Grund?
„Ich muss jetzt arbeiten“, sagte sie. „Wie wäre es mit einem kleinen Waldspaziergang heute Abend?“
Lea wollte Felix gern wiedersehen. Und wenn sie sich zusammen in der Nähe des Tatorts umschauten, könnten sie das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Er ging sofort auf ihren Vorschlag ein. Sie verabredeten sich um neunzehn Uhr am Wanderparkplatz.
Lea hatte gerade den Telefonhörer aufgelegt, als eine Person die Polizeiwache betrat. Es handelte sich nicht um einen normalen Mann, sondern um einen feinen Herrn. Dafür hatte die Polizistin einen Blick. Sie kannte diese Sorte. Bei Verkehrskontrollen fand man sie häufig am Lenkrad von hochwertigen Limousinen. Sie pflegten Polizisten wie Dienstboten zu behandeln, was Lea allerdings nicht persönlich nahm. Denn wer sich zur Elite zählte, für den waren sämtliche Mitmenschen nur Befehlsempfänger. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob die Arroganz diesen Leuten in die Wiege gelegt oder anerzogen worden war.
Der Besucher trug trotz der großen Hitze Reitstiefel und Breeches, dazu ein blütenweißes Polohemd. Lea warf unwillkürlich einen Blick durchs Fenster, um zu sehen, ob er hoch zu Ross gekommen war. Doch vor der Dienststelle stand kein Pferd, sondern ein Porsche Cayenne.
Sie schätzte den Herrn auf Anfang sechzig. Sein graues Haar war sorgfältig gescheitelt, die Gesichtshaut ebenmäßig gebräunt. Lea nickte ihm zu und schaute ihn fragend an.
„Guten Tag. Was können wir für Sie tun?“
„Wissen Sie, wer ich bin?“
Die Polizistin konnte es nicht ausstehen, wenn eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet wurde. Außerdem fand sie seine Reaktion merkwürdig. Er hätte schließlich seinen Namen nennen können, dann wäre sofort klar gewesen, mit wem sie es zu tun hatte. Ihr lag eine ironische Bemerkung auf der Zunge, die sie lieber hinunterschluckte. Sie hatte bereits ihre Erfahrungen mit diesem Menschenschlag gesammelt. Lea vermutete, dass dieser Herr sich selbst sehr ernst nahm und sich ungeheuer wichtig vorkam. Wenn sie keinen Ärger bekommen wollte, durfte sie sich darüber nicht lustig machen.
„Leider nicht, ich arbeite noch nicht lange in Mönchsfelden“, erwiderte sie daher und versuchte, möglichst treuherzig aus der Wäsche zu gucken.
„Richtig, Herr Rupp hat ja jetzt eine neue Mitarbeiterin“, sagte der Herr gönnerhaft. „Ich heiße Meinhard Richter, in meinen Händen liegt die Betriebsleitung von Richter Hölzer.“
Nun klingelte es bei Lea innerlich. Das Sägewerk Richter Hölzer war der größte Arbeitgeber des Ortes. Die Polizistin hatte gehört, dass es sich seit vielen Generationen im Familienbesitz befand. Meinhard Richter war also sozusagen mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden. Von daher konnte sie sich über die enorme Selbstsicherheit, die von ihm ausging, nicht wundern.
Immerhin hat er mich nicht ‚Lehrling‘ genannt, dachte sie. Sie sagte: „Ich verstehe. Mein Name ist Lea Kramer, ich bin Polizeimeisterin. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Richter verzog den Mund.
„Herr Rupp ist nicht anwesend?“
Hast du Tomaten auf den Augen?, dachte sie respektlos.
„Nein, er hat momentan andere Dienstverpflichtungen. Worum geht es denn?“
„Auf dem Gelände meines Sägewerks wurde eingebrochen. Der oder die Diebe haben einige Werkzeuge gestohlen.“
Lea war nicht von gestern. Sie wusste, dass bei Richter Hölzer fast hundert Menschen arbeiteten. Es gab auch einen Vorarbeiter, dem sie selbst schon mal einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verpasst hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Betriebsleiter höchstpersönlich eine Diebstahlanzeige aufgeben wollte. Es sei denn, er hätte Langeweile. Und so wirkte Richter überhaupt nicht. Er schien innerlich unter Strom zu stehen, obwohl er sich redlich Mühe gab, es zu kaschieren.
Die Polizistin griff nach einem Formular, um den Vorgang aufzunehmen. In diesem Moment betrat Rupp die Dienststelle. Er zuckte leicht zusammen, als er den Unternehmer erblickte. Dann nahm er die Mütze ab.
Richter streckte ihm die Rechte entgegen.
„Guten Tag, Hermann.“
„Guten Tag, Herr Richter“, erwiderte der alte Polizist und schlug ein. Für Lea war das Verhältnis der beiden zueinander nun sonnenklar. Richter nannte ihren Kollegen beim Vornamen, während Rupp sein Gegenüber ehrfürchtig mit dem Nachnamen ansprach.
Dann wandte der alte Polizist sich an Lea.
„Bringst du uns einen Kaffee?“
Sie sprang auf und eilte in die kleine Teeküche, während Richter auf Rupps Besucherstuhl Platz nahm. Der alte Polizist ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. Lea spielte die beflissene Untergebene. Doch es entging ihr nicht, dass die beiden Männer Blickkontakt miteinander aufnahmen. Sie schienen sich sehr gut zu kennen und mussten keine Worte wechseln. Jedenfalls nicht, solange Lea anwesend war.
Richter bedankte sich mit einem knappen Nicken, als ihm der Kaffee serviert wurde.
„Ich habe deiner jungen Kollegin gerade erzählt, dass in meinem Sägewerk eingebrochen wurde“, sagte der Unternehmer zu Rupp, ohne Lea anzuschauen. Zwinkerte er ihm dabei zu? Oder kam ihr das nur so vor?
Der Polizist hob den Kopf.
„Lea, du fährst zum Sägewerk und nimmst den Sachverhalt auf.“
„Wird gemacht“, gab sie zurück, nahm ihre Mütze sowie die Streifenwagen-Zündschlüssel und verließ die Polizeistation. Lea hätte zu gern erfahren, was die beiden Männer miteinander zu bereden hatten. Jedenfalls stand für sie fest, dass es ein weiteres Geheimnis gab, von dem sie nichts erfahren sollte.
Oder hing die Besprechung zwischen dem Unternehmer und dem Polizisten mit dem Mordfall zusammen? Lea merkte selbst, dass sie ins Spekulieren geriet. Das war nicht gut. Sie benötigte Fakten, um mit ihrem Fall weiterzukommen.
Zunächst fuhr sie zum Sägewerk, wo der Vorarbeiter bereits auf sie wartete. Er war ein blasser Schwarzhaariger mit einem nervösen Zucken im linken Augenlid, der sich als Peter Borg vorstellte.
„Ich bin Polizeimeisterin Kramer“, sagte Lea. „Sind Sie zufällig mit Torsten Borg verwandt?“
Der nervöse Tick des Vorarbeiters verstärkte sich.
„Torsten ist mein Sohn. Warum fragen Sie? Steckt er in Schwierigkeiten?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich habe gehört, dass seine Frau mit Tanja Welling befreundet gewesen ist.“
Borg senkte den Kopf.
„Eine schreckliche Geschichte, das arme Mädchen.“ Plötzlich blickte er wieder auf. „Sie glauben doch nicht, dass mein Sohn etwas damit zu tun hat? Ich habe gehört, dass ein Penner Tanja getötet hätte.“
Lea wunderte sich nicht darüber, dass auch Peter Borg schon über den Mord informiert war. Die Geschichte hatte in Mönchsfelden offenbar bereits die Runde gemacht.
„Das hat niemand behauptet, Herr Borg. Es geht mir nur darum, möglichst viel über das Opfer zu erfahren. Daher möchte ich mit Menschen sprechen, die Tanja gut gekannt haben.“
„Ist der Mörder etwa noch auf freiem Fuß?“, fragte der Vorarbeiter ängstlich. „Glauben Sie, dass er das Werkzeug gestohlen hat?“
Die Polizistin hatte schon beinahe vergessen, weshalb sie überhaupt zum Sägewerk gefahren war. Wie peinlich! Das war ein weiterer Beweis dafür, wie stark sie sich innerlich mit dem Tötungsdelikt beschäftigte.
Lea schenkte Borg ein unverbindliches Lächeln.
„Am besten zeigen Sie mir den Tatort.“
Der Vorarbeiter stapfte voran. Auf dem Gelände roch es nach Maschinenöl und nach frisch gesägtem Holz. Die Hochleistungssägen sorgten für eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse. Die Pritsche eines Lastwagens wurde soeben mit langen Brettern beladen.
Die Arbeiter, die ihnen entgegenkamen, trugen ausnahmslos Ohrenschützer. Lea dachte, dass bei diesem allgemeinen Lärmpegel ein Verbrecher nicht besonders leise zu Werk gehen musste. Er konnte eine Tür oder ein Fenster aufbrechen, ohne seine Entdeckung durch das dabei entstehende Geräusch fürchten zu müssen.
Borg blieb bei einer abseits stehenden fensterlosen Hütte stehen. Das Vorhängeschloss an der Tür war geknackt worden. Lea drehte sich um. Das Hauptgebäude des Sägewerks befand sich zwar in Sichtweite, doch es war gut vorstellbar, dass niemand auf das unscheinbare Werkzeuglager achtete. Noch wahrscheinlicher erschien es ihr, dass der Einbruch nur vorgetäuscht worden war, damit Lea das Polizeirevier verlassen musste.
Oder wurde sie allmählich schon paranoid?
Lea fragte sich, warum Borg so unruhig war. Ging es ihm gegen den Strich, die Polizei zu belügen? Oder war sein Sohn doch irgendwie in das Tötungsdelikt verwickelt?
Sie drückte mit ihrer behandschuhten Rechten die Tür auf und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die fensterlose Hütte.
„Konnten Sie schon prüfen, ob etwas fehlt?“
„Jawohl, eine Ahle und eine Zange.“
Die Polizistin verkniff sich einen Kommentar. Sie öffnete ihren mitgebrachten Tatortkoffer und begann damit, an der Tür Fingerabdrücke zu sichern. Vermutlich konnte man die ganze Untersuchung unter Zeitverschwendung verbuchen. Doch da sie nun schon mal da war, wollte sie auf den Busch klopfen.
„Wie ich höre, gab es Streit zwischen Tanja Welling und Ihrer Schwiegertochter, Herr Borg?“
Der Vorarbeiter schaute ihr zu, wie sie sich an dem aufgebrochenen Schloss zu schaffen machte. Sein Adamsapfel bewegte sich schnell auf und ab, bevor er den Mund öffnete.
„Ja – und? Glauben Sie vielleicht, Svenja hätte ihre Freundin getötet?“
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte Lea. Sie spürte, dass sie einen wunden Punkt berührt hatte. Wenn sie noch etwas stärker nachbohrte, würde sie Borg womöglich weitere Informationen entlocken können. Dann würde ihr Besuch des Sägewerks doch keine pure Zeitverschwendung sein.
Die Polizistin erhob sich aus ihrer knieenden Position und schaute dem Vorarbeiter direkt in die Augen. Sie fuhr fort: „Bei einer Morduntersuchung sind selbst die kleinsten Details wichtig. Und wenn Sie uns etwas verschweigen, machen Sie sich damit nur selbst verdächtig.“
Lea fand, dass sie sich mit dieser Aussage ziemlich weit aus dem Fenster lehnte. Noch sprach überhaupt nichts dafür, dass ihr Gegenüber Genaueres über Tanjas Tod wusste. Doch Borgs Reaktion bewies der Polizistin, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Er wich ihrem Blick aus. Sie spürte, dass sie gleich etwas Wichtiges herausfinden würde.
„Es stimmt, Torsten hatte mal seinen Spaß mit Tanja. Da war er schon mit Svenja verlobt. Das hätte natürlich nicht sein müssen, aber ich war in dem Alter genauso. Ein junger Mann muss sich eben die Hörner abstoßen.“
In Leas Innerem stieg die Wut auf. Falls Tanja ihren Liebhaber oder Ex-Liebhaber um eine letzte Aussprache im Wald gebeten hatte, waren Torsten Borg womöglich die Nerven durchgegangen. Aber wäre sein Vater wirklich so dämlich, der Polizei die Affäre seines Sohnes mit dem Mordopfer unter die Nase zu reiben? Ausschließen konnte man das nicht. Lea hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass einige Menschen sich im Umgang mit der Strafverfolgungsbehörde alles andere als vernünftig verhielten.
„Hat sich Ihr Sohn womöglich auch nachts in der Mordkuhle die Hörner abgestoßen, wie Sie es nennen?“, fauchte Lea. „Hat er diese Liebschaft für immer beenden wollen?“
Der Vorarbeiter rang nach Luft. Er starrte die Polizistin an, als ob sie verrückt geworden wäre. Sie glaubte schon, den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Doch dann griff er mit zitternden Fingern in seinen Overall, zog die Brieftasche hervor und hielt ihr einen Zeitungsausschnitt unter die Nase.
„Was denken Sie nur von uns? Hier, da geht es um meinen Sohn!“
Der kurze Bericht aus dem Landboten handelte von einem Verkehrsunfall, der sich vor einigen Monaten auf der Kreisstraße ereignet hatte. Ein betrunkener LKW-Fahrer hatte einen VW Passat gerammt, dessen Insasse schwer verletzt worden war.
Lea hatte plötzlich einen sehr bitteren Geschmack im Mund. Ihre Stimme war belegt, als sie Borg wieder ansprach.
„Das wusste ich nicht, entschuldigen Sie bitte. Was geschah danach mit Torsten?“
„Mein Sohn hat überlebt, aber die Ärzte in der Kreisstadt mussten eines seiner Beine amputieren“, sagte der Vorarbeiter. „Momentan geht Torsten noch an Krücken, doch demnächst soll ihm eine Prothese angepasst werden.“
Die Polizistin dachte nach. Natürlich konnte auch ein Beinamputierter eine Frau erstechen. Doch wie wahrscheinlich war so ein Tathergang? Sie vergegenwärtigte sich, wie es in der Mordkuhle aussah. In dem weichen Waldboden hätten Unterarmgehstützen zweifellos tiefe Eindrücke hinterlassen. Es schien ihr äußerst unwahrscheinlich, dass ein Mann mit einer solchen körperlichen Einschränkung für den Mord verantwortlich war.
Und wenn nun eine Frau Tanja erstochen hatte?
Doch bevor Lea auch noch Borgs Schwiegertochter verdächtigte, hielt sie lieber ihren Schnabel. Wenn sich bei der Obduktion Täter-DNA auf der Leiche nachweisen ließ, konnte man immer noch in dieser Richtung weiterdenken. Doch vorerst klammerte die Polizistin innerlich Torsten und Svenja Borg als mögliche Verdächtige aus.
„Ich hoffe, dass es Ihrem Sohn bald besser geht“, murmelte sie.
Darauf erwiderte der Vorarbeiter nichts. Er schaute Lea schweigend zu, während sie so schnell wie möglich ihre Aufgaben erledigte.
„Sobald wir Erkenntnisse wegen des Einbruchs haben, werden Sie umgehend benachrichtigt“, plapperte sie zum Abschied.
Borg sagte immer noch nichts. Die Polizistin packte ihren Tatortkoffer ein und war erleichtert, sich wieder in den Streifenwagen setzen zu können. Da machte es ihr auch nichts aus, dass es in dem Fahrzeug inzwischen so heiß wie in einem Backofen war. Sie drehte das Fenster auf der Fahrerseite herunter und genoss den kühlen Wind auf ihrem Gesicht.
Als sie zur Dienststelle zurückkehrte, stand der Porsche Cayenne nicht mehr vor dem Gebäude. Lea hätte zu gern gewusst, worüber Rupp und Richter unter vier Augen gesprochen hatten. Sie musste sich auf die Zunge beißen, um keine diesbezügliche Frage zu stellen. Ihr Kollege würde entweder gar nichts sagen oder ihr eine Lüge auftischen. Das spürte sie genau. Doch vielleicht konnte der „Pirat“ ihr später mehr über den Sägewerksbesitzer erzählen, wenn sie ihn anrief?
Der Nachmittag verging mit einer routinemäßigen Verkehrskontrolle. Lea und Rupp überprüften am Ortseingang Autofahrer. An diesem Tag schienen sich besonders wenige Menschen nach Mönchsfelden zu verirren. Und keiner von ihnen hatte offenbar Lust, wegen einer Geschwindigkeitsübertretung ein Ticket zu kassieren.
Es war so langweilig, dass Lea Rupp beinahe nach Torsten Borgs Unfall gefragt hätte. Im letzten Moment bremste sie sich selbst. Ihr Kollege durfte nicht erfahren, dass sie hinter seinem Rücken weiter ermittelte. Dadurch würde sie höchstens sein Misstrauen wecken. Es war ein mieses Gefühl, ihm nicht vertrauen zu können. Doch Vorsicht war gefragt. Als sie das letzte Mal zu gutgläubig gewesen war, hatte sie schwer dafür bezahlen müssen.
Lea zwang sich, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Als endlich Feierabend war, eilte sie voller Vorfreude in ihr Fremdenzimmer zurück. Die Polizistin zog ihre Uniform aus und warf sich in Unterwäsche aufs Bett. Dann schlug sie die jahrzehntealte Kladde auf.
Der Zirkus Gardoni musste vor ungefähr fünfzig Jahren in Mönchsfelden gastiert haben. Ein vergilbter Programmzettel war in das Heft geklebt worden. Dort wurden ein Zauberer namens Triatini, der Clown Buppo, die Hochseilakrobatin Diana sowie eine Löwennummer und der „stärkste Riese der Welt“ angekündigt. Lea war nie ein Zirkus-Fan gewesen. Als Kind war sie mit ihren Eltern in einer Vorstellung gewesen. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie in dem Zelt gefroren hatte und von dem vielen Popcorn Bauchweh bekam.
Was war an diesem Zirkus so wichtig gewesen, dass Heinrich die Aufzeichnungen versteckt hatte?
Als Lea umblätterte, erblickte sie auf der nächsten Seite eine Art Fotocollage. Der Besitzer der Kladde hatte offenbar aus zwölf verschiedenen Programmheften jeweils das Gesicht der Akrobatin Diana ausgeschnitten und diese Bilder hier eingeklebt. Darum war unbeholfen mit rotem Buntstift ein Herz gemalt worden. Die Polizistin war gerührt. Hatte ein Dorfjunge damals seine erste große Liebe entdeckt?
Lea führte sich vor Augen, dass Mönchsfelden in früheren Zeiten noch viel langweiliger als heute gewesen sein musste. Es hatte höchstens Fernsehen mit drei Programmen gegeben, außerdem Radio. Kein Internet, keine sozialen Medien. Wenn ein Zirkus gastierte, mussten die Darbietungen für die Mönchsfeldener eine höchst willkommene Abwechslung gewesen sein.
Die Polizistin schaute die Kladde weiter durch. Der Verfasser hatte tatsächlich ein furchtbar schnulziges Liebesgedicht für Diana geschrieben. Das war für Lea nicht interessant. Beim Aufschlagen der nächsten Seite lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dort war ein Zeitungsausschnitt eingeklebt:
„BRUTALER MÄDCHENMORD IN MÖNCHSFELDEN! (Eigener Bericht). Am gestrigen Freitag fanden Einsatzkräfte der Polizei im Staatsforst die sterblichen Überreste der Zirkusartistin Diana K. Fräulein K. wurde erstochen und verstümmelt. Dringend tatverdächtig ist ein gewisser Bodo W., der sich bei demselben Zirkus als ‚stärkster Riese der Welt‘ verdingt hat. W. ist seit der Tatnacht flüchtig, nach ihm wird europaweit gefahndet.“
Lea stieß langsam die Luft aus den Lungen. Wiederholte sich die Geschichte? Gab es einen Zusammenhang zwischen den Morden an Diana und an Tanja? Doch wie war das möglich? Selbst wenn der Täter damals ein Teenager gewesen war, hatte er inzwischen ein stolzes Alter erreicht. Und aus welchem Grund sollte er nach einem halben Jahrhundert Pause plötzlich weitermorden?
Die Polizistin las irritiert weiter. Auf der nächsten Seite fanden sich handschriftliche Einträge mit Tinte.
„Der Riese ist unschuldig. Er wollte Diana immer nur beschützen. Das hat er mit seinem Leben bezahlt. Verflucht sei die Mordkuhle, wo mein Engel sein Leben aushauchen musste. Und verflucht sei Mönchsfelden, das die Bestie in Ruhe lässt.“
Die Schrift war teilweise verwischt. Eventuell hatte der Verfasser damals diese Worte unter Tränen aufs Papier geworfen. Woher wusste er, dass dieser Bodo W. die Tat nicht begangen hatte? Dafür konnte es nur eine Erklärung geben.
Der wahre Mörder war ihm bekannt.
Und nicht nur ihm. Der Verfasser war sicher, dass der ganze Ort wusste, wer die Tat begangen hatte. Oder es zumindest ahnte.
Hastig blätterte Lea weiter. Auf der nächsten Seite war ein Eichenblatt eingeklebt worden. Darunter standen einige Zeilen: „Ruhe in Frieden, tapferer Riese. Held zum Held, unter der Körner-Eiche. Verflucht sei der feige Schlächter.“
Was hatte das alles zu bedeuten? War Bodo W. ebenfalls dem Mörder zum Opfer gefallen? Lea musste sich eingestehen, dass sie diese Nuss nicht allein knacken konnte. Sie schaute auf die Uhr. Es war noch genügend Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Felix. Also rief sie Frenz an.
„Gut, dass Sie sich melden, Frau Kramer. Es hat im Krankenhaus einen Vorfall gegeben.“
Leas Herz krampfte sich zusammen.
„Ist Heinrich Lauge gestorben?“
„Nein, das nicht. Sein Zustand ist stabil, allerdings hat er noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt. Ihre Bitte, den Patienten bewachen zu lassen, hat sich jedenfalls als sinnvoll erwiesen. Auf der Station trieb sich eine Gestalt herum, die dort offensichtlich nichts zu suchen hatte. Als der Kollege vor Lauges Zimmer um die Papiere des Mannes bat, ergriff er die Flucht. Offensichtlich hatte er nicht erwartet, dort einen Polizisten vorzufinden.“
„Wurde der Mann gefasst?“
„Leider nein. Er entkam durch einen Notausgang, wo es keine Kameraüberwachung gibt. Und die Personenbeschreibung ist mehr als dürftig. Dunkle Kleidung, blasse Haut – mehr konnte sich der Kollege nicht einprägen. Und er bezweifelt, dass er den Verdächtigen wiedererkennen würde.“
Lea seufzte. Doch sie war erleichtert, weil der Kerl nicht an Heinrich Lauge herangekommen war. Falls der Dorfchronist wieder aufwachte, konnte er womöglich ein wichtiger Zeuge sein.
„Ich habe vielleicht auch etwas Interessantes zu berichten“, sagte die Polizistin. Sie erzählte dem „Piraten“ vom Inhalt der Kladde. Der Hauptkommissar antwortete nach kurzem Zögern, er klang nachdenklich.
„Es kann wirklich kein Zufall sein, dass Lauge dieses Heft versteckt hat. Ich werde mir die Akte zu dem Mord an der Artistin aus dem Archiv holen. Von diesem Fall habe ich noch nie etwas gehört. Deshalb kann ich nicht sagen, ob er jemals gelöst wurde.“
„Was könnte mit dieser Körner-Eiche gemeint sein?“, rätselte Lea.
„Es gab während der Befreiungskriege gegen Napoleon Bonaparte einen jungen Dichter namens Theodor Körner, der sich dem Freikorps Lützow anschloss. Er wurde im Kampf getötet und unter einer Eiche begraben. Ihm zu Ehren hat man damals etliche Bäume zu Körner-Eichen ernannt. Wenn es so einen Denkmal-Baum auch in Mönchsfelden gibt, werde ich es herausfinden.“
„Falls der Kladdenschreiber keinen Unsinn verzapft hat, müssten die Gebeine noch dort liegen!“, rief Lea aufgeregt.
„Ich weiß Ihren Fund zu schätzen, Frau Kramer. Noch hilfreicher wäre es, wenn in dem Heft der Name des wahren Mörders der Artistin stehen würde. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass er noch sein Unwesen treibt. Er müsste heutzutage mindestens siebzig Jahre alt sein.“
„Dann können Sie also mit der Kladde nichts anfangen?“
„Lassen Sie sich nicht so schnell enttäuschen. Selbstverständlich ist das Heft wichtig, sonst hätte der Chronist es wohl kaum versteckt. Und es gibt jemanden, der es auf Heinrich Lauge abgesehen hat und verhindern will, dass er redet. Ich sage Ihnen, dass wir auf der richtigen Spur sind.“
„Womöglich hat Heinrich Lauge das Heft damals selbst angelegt“, mutmaßte Lea. „Er war vor fünfzig Jahren ein Jugendlicher. Es muss für ihn ein Schock gewesen sein, dass seine angebetete Artistin umgebracht wurde. Wenn ich eine Handschriftenprobe von ihm finde, könnten wir einen Abgleich mit den Aufzeichnungen in der Kladde machen.“
„Das ist eine ausgezeichnete Idee. Rufen Sie mich bitte morgen noch einmal an, Frau Kramer. Bis dahin habe ich mich hoffentlich mit dem alten Fall vertraut gemacht. Außerdem müssten dann auch die Ergebnisse der Obduktion vorliegen. Es hat allerdings ein Ereignis gegeben, das ich Ihnen nicht verschweigen will.“
Der „Pirat“ senkte seine Stimme. Die Polizistin ahnte, dass sie nun eine Hiobsbotschaft zu hören bekommen würde. Und so war es auch.
„Petruk hat in der Untersuchungshaft Selbstmord begangen“, fuhr Frenz fort. „Er wurde nicht gesondert beobachtet, weil man ihn nicht für suizidgefährdet hielt. Das war eine unentschuldbare Nachlässigkeit. Leider gibt es einige Leute auf der Chefetage, die seinen Freitod als ein Schuldeingeständnis auffassen werden.“
„Also ... wird dieser Fall abgeschlossen?“, fragte die Polizistin mit zitternder Stimme.
„Nicht, wenn ich es verhindern kann. Wir werden das Rätsel gemeinsam lösen, das verspreche ich Ihnen.“
Lea erwiderte nichts und beendete das Telefonat. Am liebsten wäre sie im Bett geblieben und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen. Doch so löste man keine Probleme. Sie schaute auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass sie sich zusammenriss, anzog und zu ihrer Verabredung ging.
Als Lea wenig später auf dem Wanderparkplatz eintraf, war von Felix noch nichts zu sehen. Ob er sie versetzen wollte, quasi als Retourkutsche für das missglückte letzte Treffen?
So schätzte sie ihn eigentlich nicht ein, obwohl sie ihrer eigenen Menschenkenntnis wenig vertraute. Die Polizistin hatte sich in der Vergangenheit zu sehr hinters Licht führen lassen, um ihr eigenes Urteil allzu ernst zu nehmen. Sie hoffte einfach, dass er noch kommen würde.
Der Mordfall von vor fünfzig Jahren ging ihr nicht aus dem Kopf. Scheinbar war der Täter damals schon ungestraft davongekommen. Oder? Es war, als ob sich die Geschichte wiederholen würde. Das durfte einfach nicht geschehen. Sie wollte den Mörder von Tanja Welling unbedingt zur Verantwortung ziehen. Lea hoffte, dass Felix doch noch erscheinen würde. Sie könnte dringend etwas Ablenkung gebrauchen. Ansonsten würden nämlich ihre Gedanken immer weiter um den Fall kreisen.
Auf der asphaltierten Fläche standen nur drei Autos. An Wochenenden war hier richtig viel los, weil viele Naturfreunde den Parkplatz als Startpunkt für den zwölf Kilometer langen Rundwanderweg südlich von Mönchsfelden benutzten. Ein Wagen kam nun aus Richtung Kreisstadt. Der Fahrer brachte sein Auto zum Stehen und stieg aus. Leas Puls beschleunigte sich, als sie Felix erkannte.
Der Lokalreporter näherte sich ihr mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen.
„Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen. Aber mein Artikel über die Leistungsschau der Schweinezüchter musste unbedingt noch vor Redaktionsschluss fertig werden.“
Lea lachte.
„Also hat auch dein Beruf seine Schattenseiten? Oder lag dir das Thema so am Herzen?“
Er zwinkerte ihr zu.
„Nicht wirklich, obwohl ich gern mal ein Schnitzel esse. – Es ist wirklich warm heute Abend, lass uns doch ein Stück gehen.“
Die Polizistin war einverstanden, und sie betraten den Wald. Der gut ausgebaute Weg war durch farbige Schilder an den Baumstämmen gekennzeichnet. Es war praktisch unmöglich, sich zu verlaufen. Außer bei Dunkelheit. Doch an diesem Sommerabend würde es noch mindestens ein bis zwei Stunden hell genug bleiben, um zum Parkplatz zurück zu finden.
„Ja, ich muss mir manchmal wirklich blöde Artikel aus den Fingern saugen“, sagte Felix nach einigen Minuten des Schweigens. „Und wie sieht es bei dir aus? Ich stelle es mir hart vor, bei der Polizei zu arbeiten.“
„Es gibt wirklich Situationen, die brenzlig werden können. Doch Mönchsfelden ist ja nicht gerade ein Kriminalitätsschwerpunkt.“
„Außer, wenn hier ein Mord geschieht.“
Lea stieß einen langen Seufzer aus.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wollte ihr Begleiter wissen.
„Ich hatte gehofft, dass du dieses Thema nicht anschneiden würdest. Mein Kopf ist voll, ich denke pausenlos an diesen Fall. Er wird immer komplizierter. Und du weißt genau, dass ich mit dir nicht darüber sprechen darf.“
„Ja, es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als die polizeilichen Pressemitteilungen zu zitieren“, seufzte Felix. Doch sein ironischer Tonfall verriet ihr, dass er sich selbst auf die Schippe nahm.
Lea schlug in dieselbe Kerbe.
„Sei doch froh, dass wir dich mit diesen Informationen versorgen“, meinte sie augenzwinkernd. „Dann musst du nicht recherchieren. Ich habe mal gehört, dass Lokalreporter ein erbärmliches Zeilenhonorar bekommen.“
„Mickrig wäre auch ein passender Ausdruck. Lass uns von etwas Erfreulicherem reden, sonst werde ich noch depressiv.“
„Es gibt also auch bei dir Tabus, über die du nicht gern sprichst.“
Lea wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment nahm Felix ihre Hand. Sie war eher verblüfft als geschockt.
„Was soll das werden?“, fragte sie.
„Ich dachte mir, einen Versuch wäre es wert.“
„So so“, schmunzelte sie. „Und wie soll es jetzt weitergehen?“
„Zunächst stelle ich einfach nur fest, dass du dich nicht von mir losgerissen hast.“
„Was nicht ist, kann ja noch werden. Bilde dir bloß nichts ein. Und ich bin übrigens ziemlich gut in Selbstverteidigung.“
„Ich habe nicht vor, dich anzugreifen.“
Dafür ist Felix auch nicht der Typ, dachte Lea. Und es fühlte sich ziemlich gut an, mit dem Journalisten Seite an Seite durch den Wald zu spazieren und Händchen zu halten. Sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, mit ihm zu schlafen. Jedenfalls noch nicht. Doch nachdem sie ein paar Minuten lang schweigend die Situation genossen hatte, meldete sich ihr Misstrauen zurück.
„Falls du mich anbaggerst, um unseren aktuellen Ermittlungsstand zu erfahren ...“
Felix fiel ihr ins Wort. Er klang halb amüsiert, halb gereizt.
„Du gefällst mir, ob du es glaubst oder nicht. Ich werde heute Abend keine Silbe mehr über Kriminalität im Allgemeinen und den Mord an Tanja Welling im Besonderen verlieren. Was hältst du davon? Stattdessen erzähle ich dir ein paar spannende Geschichten über Schweinezüchter, Vorstandssitzungen von Sportvereinen oder neunzigjährige Geburtstage von Abonnenten des Landboten.“
Das fand Lea komisch, doch plötzlich kippte die Stimmung.
Ein lautes Lachen ertönte.
Sie hätte schwören können, dass es dieselbe Stimme war, die sie schon unweit der Mordkuhle gehört hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der Mann diesmal noch wahnsinniger und gruseliger klang als bei der ersten Begegnung. Immerhin wusste sie nun, dass sie sich das fürchterliche Geräusch nicht eingebildet hatte. Felix war nämlich abrupt stehengeblieben. Er erbleichte.
„Was war das?“, stammelte er.
Lea erwiderte nichts. Denn während sie nach dem Leichenfund in der Mordkuhle den unheimlichen Lacher gar nicht gesehen hatte, konnte sie diesmal zwischen den Baumstämmen immerhin eine schemenhafte Gestalt erkennen. Allerdings blieb der Unbekannte nicht an dieser Stelle, sondern verschwand.
„Polizei! Bleiben Sie stehen!“, rief Lea. Und sie rannte los. In diesem Moment war es ihr egal, dass sie keine Waffe bei sich trug. Sie hoffte, den Kerl trotzdem überwältigen zu können. Ein keuchendes Geräusch hinter ihr deutete darauf hin, dass Felix ebenfalls die Verfolgung aufgenommen hatte. Natürlich freute sie sich darüber, dass sie nicht allein war. Doch notfalls würde sie es mit dem Fremden auch allein aufnehmen.
Zweige schlugen ihr ins Gesicht, als sie so schnell wie möglich zwischen den hoch ragenden Fichten hindurch flitzte. Hier im dichten Gehölz war es schon ziemlich dunkel. Zwischen den Wipfeln der Bäume drangen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne kaum durch. Lea wollte einerseits den Abstand zu dem Verdächtigen verkürzen, andererseits musste sie auf die zahlreichen Stolperfallen achten. Jenseits des Weges war der Waldboden ziemlich uneben. Es gab auch Kaninchenlöcher und abgebrochene Zweige, die zu gefährlichen Fußangeln werden konnten. Nun ging es zu allem Überfluss bergauf.
Verzweifelt versuchte Lea, den Flüchtenden nicht aus den Augen zu lassen. Aber seine dunkle Kleidung wirkte wie ein Tarnumhang. Er verschwand hinter einer Gruppe besonders dicht beieinander stehender Bäume. Als die Polizistin wenig später diese Stelle erreichte, war er verschwunden.
Wohin konnte der Verdächtige gelaufen sein? Weiter geradeaus? Nach links? Oder nach rechts? Sie hielt inne, rang nach Luft und stützte die Hände auf die Knie. Sie hätte heulen können.
Gleich darauf hatte Felix sie erreicht.
„Warum wolltest du diesen Typen unbedingt einholen?“, stieß er keuchend hervor. „Es ist nicht verboten, abends im Wald zu lachen. Da muss mehr dahinter stecken.“
„Du merkst aber auch alles!“, fauchte Lea. Sie wollte ihre Wut eigentlich nicht an ihrem Begleiter ablassen. Doch nun kamen die Worte über ihre Lippen, ohne dass sie sich selbst stoppen konnte.
„Warum lässt du mich nicht in Ruhe, wenn dir mein Handeln nicht gefällt? Du ...“
Sie brach abrupt ab und ging ein Stück zur Seite.
„Was ist denn nun schon wieder los?“, fragte Felix. Er klang eher neugierig als verärgert. Die Polizistin konnte nicht sofort antworten. Stattdessen winkte sie ihn zu sich heran.
Sie hatte trotz der inzwischen sehr schlechten Lichtverhältnisse im Unterholz etwas Rotes entdeckt. Beim Näherkommen merkte sie, dass dort Reuters Mofa lag. Und Tanja Wellings Ex-Freund befand sich ebenfalls in dem Gebüsch.
Er war tot. Jemand hatte Reuters Kehle von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten.
Der lachende Irre hat uns hierher geführt!
Dieser Gedanke schoss Lea sofort durch den Kopf, als sie den Toten erblickte. Und sie verfluchte ihren eigenen Leichtsinn. Ihr wurde bewusst, dass der Unbekannte nur mit ihr spielte. Hatte sie wirklich geglaubt, ihm ohne eine Waffe in der Hand entgegentreten zu können? Und dass Felix an ihrer Seite war, beruhigte sie auch nicht wirklich. Er war ein lieber Kerl, doch als eisenharten Kämpfer konnte sie sich den Lokalreporter nun wirklich nicht vorstellen.
Der Mörder machte sich einen Spaß daraus, ihnen sein nächstes Opfer zu präsentieren. Jedenfalls ging sie fest davon aus, dass die dunkel gekleidete Gestalt und der Killer ein und dieselbe Person waren. Felix‘ Reibeisenstimme riss sie aus ihren Überlegungen.
„Verflixt nochmal, das ist doch der Typ von der Kiesgrube! War er ein Mordverdächtiger? Was wird hier gespielt, Lea?“
Sie versuchte, ruhig zu atmen und ihre Gedanken zu sammeln. Der Anblick des Ermordeten hatte sie aufgewühlt, doch sie konnte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Die Polizistin ging fest davon aus, dass Tanja Wellings Mörder auch Tom Reuter umgebracht hatte. Womöglich war sie bisher von ganz falschen Voraussetzungen ausgegangen. Es kam ihr jedenfalls unwahrscheinlich vor, dass in diesen Wäldern zwei Mörder gleichzeitig ihr Unwesen trieben.
Obwohl das auch kein Trost war. Sie wandte sich an den Journalisten.
„Felix, wir müssen zum Wanderweg zurück und Verstärkung holen. Traust du dir zu, noch einmal hierher zu finden? Trotz der Dunkelheit?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Sicher, so schwer kann das nicht sein. Wir sind von dem Pfad nach links weggelaufen, an der Stelle war ein großer Baumstumpf. Und länger als ein paar Minuten sind wir nicht gerannt. Ja, das sollte kein Problem sein. Im Film hat man für solche Situationen eine Signalpistole.“
„Die würde uns auch nichts nützen, weil uns niemand sucht. – Komm, wir müssen zum Wanderparkplatz.“
Lea eilte los, wobei sie nicht mehr so schnell vorwärts kam wie noch wenige Minuten zuvor. Es war nämlich inzwischen so finster, dass man sich nicht mehr gut orientieren konnte. Zum Glück hatte sie eine Taschenlampe eingesteckt, die ihr nun gute Dienste leistete.
Die Polizistin erwartete jeden Moment, noch einmal das verstörende Lachen zu hören. Doch entweder hielt ihr rätselhafter Gegenspieler jetzt den Mund oder er war schon längst über alle Berge. Trotzdem hatte Lea das Gefühl, aus sicherer Entfernung beobachtet zu werden. Und das gefiel ihr überhaupt nicht.
Als sie den Wanderweg erreichten, sagte sie: „Ich hab das vorhin nicht so gemeint.“
„Wovon sprichst du?“
„Dass du mich in Ruhe lassen sollst und so. Ich bin nämlich gern bei dir.“
„Schon vergessen“, erwiderte Felix. „Ich frage dich jetzt nicht, weshalb du den Typen an der Kiesgrube verfolgt hast. Das macht mich wahrscheinlich zu einem miesen Reporter, aber damit kann ich leben.“
„Danke.“
Lea gab ihm spontan einen Kuss auf die Wange. Sie fuhren mit seinem Auto zur Dienststelle. Am liebsten hätte die Polizistin sofort Frenz alarmiert, aber das ging in Felix‘ Gegenwart nicht. Es durfte ja niemand etwas von der Existenz des Satellitentelefons erfahren. Stattdessen verständigte sie per Festnetz das Kreisstadt-Kommissariat von dem Leichenfund. Außerdem rief sie Rupp privat an.
„Was gibt es?“, fragte er mit schwerer Zunge. Er schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein.
Sie berichtete kurz davon, dass Tom Reuter mit durchgeschnittener Kehle im Wald läge.
„So ein Mist“, grollte der alte Polizist. „Kannst du mich abholen? Ich bin nicht mehr ganz nüchtern.“
„Ich komme gleich“, sagte sie und legte auf. Dann wandte sie sich an Felix.
„Du musst jetzt gehen, bei den polizeilichen Ermittlungen kannst du nicht dabei sein.“
Er lächelte ihr zu.
„Irgendwie stehen unsere Verabredungen unter keinem guten Stern.“
„Wir dürfen uns eben nicht entmutigen lassen“, erwiderte Lea. Sie warf ihm einen Blick zu, von dem sie hoffte, dass Felix ihn als vielversprechend empfände. Die Zeit mit ihm hatte sich wieder gut angefühlt. Es gefiel ihr, dass sie sich allmählich näher kamen.
Nachdem der Reporter weggefahren war, stieg die Polizistin in den Streifenwagen und fuhr zu Rupps Haus. Er wohnte in einer unscheinbaren Straße hinter der in Konkurs gegangenen Backmittelfabrik. Bisher war sie noch nicht bei ihm daheim gewesen. Doch jeder Mensch, der auch nur ein wenig Orientierungssinn besaß, konnte sämtliche Straßen von Mönchsfelden innerhalb einer Stunde kennenlernen.
Der alte Polizist wartete bereits vor der Tür. Offensichtlich wollte er nicht, dass Lea seine Privatgemächer betrat. Das konnte sie verstehen. Es wäre ihr ebenfalls unangenehm gewesen, ihren Kollegen in ihrem Fremdenzimmer zu empfangen.
Nachdem sie gehalten hatte, stieg Rupp auf der Beifahrerseite ein. Er trug einen altmodischen Trainingsanzug mit dem Emblem des örtlichen Sportvereins. Zum Rasieren hatte die Zeit nicht mehr ausgereicht. Und die Alkoholfahne konnte man auch nicht ignorieren. So schnell nüchterte man nicht wieder aus.
Rupp warf Lea einen undefinierbaren Blick zu.
„Warum suchst du nachts im Wald nach Leichen?“
Mit dieser Frage hatte sie schon gerechnet. Daher kam ihre Antwort wie aus der Pistole geschossen.
„Ich habe nicht danach Ausschau gehalten, Hermann. Felix Novotny und ich sind auf dem Wanderweg spazieren gegangen.“
Trotz der schlechten Beleuchtung in dem Einsatzfahrzeug versuchte sie, Rupps nicht vorhandenes Mienenspiel zu deuten. Wie ein Pokerspieler hatte er seine Gesichtszüge hundertprozentig unter Kontrolle. Genauso gut hätte ein Mann mit einer in Stein gemeißelten Maske neben ihr sitzen können.
„Ist er dein Freund?“
Mit diesem Vorstoß verblüffte Rupp Lea. Bisher hatte er sich noch nie für ihr Privatleben interessiert. Und sie glaubte auch nicht, dass er es in diesem Moment tat. Es ging ihm nur darum, Felix einzuschätzen. Falls Rupp wirklich mit dem wahren Mörder unter einer Decke steckte, konnte ihm die Presse gefährlich werden.
„Noch nicht, aber hoffentlich bald“, erwiderte sie daher. „Mit ihm kann ich den Berufsalltag vergessen. Ich hatte ehrlich nicht an irgendwelche Verbrechen gedacht, als wir förmlich über diese Leiche gestolpert sind.“
Ob das zu dick aufgetragen war? Lea wünschte sich inzwischen nichts sehnlicher, als dass Rupp sie für eine komplette Niete hielte. Dann würde er in ihr nämlich keine Gefahr sehen. Wenn sie in seinen Augen eine dumme Gans war, die sich Hals über Kopf in den schlaksigen Reporter verknallt hatte, konnte sie in aller Ruhe weiter ermitteln.
Der alte Polizist wechselte das Thema.
„Wir sollten unsere Dienstwaffen holen. Oder hast du deine schon dabei?“
„Nein, habe ich nicht."
Sie steckten in der Polizeistation ihre eingeschlossenen Pistolen ein und setzten dann die Fahrt zum Wanderparkplatz fort. Rupp hüllte sich in Schweigen. Entweder war er wirklich noch nicht ganz wach oder er überlegte, ob Lea zu neugierig geworden war. Sie musste mit allen Mitteln versuchen, ihn in Sicherheit zu wiegen. Deshalb erwähnte sie auch den Unbekannten mit dem irren Lachen nicht. Sie beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie es auch bei der ersten Begegnung nicht getan hatte.
Jetzt musste sie sich darauf konzentrieren, den Leichenfundort wiederzufinden. Dabei benahm Lea sich absichtlich ungeschickt, damit Rupp einen schlechten Eindruck von ihren Fähigkeiten gewann. Sie stapften Seite an Seite durch den finsteren Wald. Außer mit den Pistolen waren sie auch mit Taschenlampen ausgerüstet.
Plötzlich kam ihr ein erschreckender Gedanke. Falls Rupp wirklich den Mörder decken wollte, könnte er sie jetzt ganz einfach erledigen. Er müsste Lea nur eine Kugel in den Kopf jagen. Dann könnte er ihren Tod entweder als einen bedauerlichen Unfall darstellen oder die Leiche einfach verschwinden lassen. Für die letztere Variante gab es in den Wäldern der Umgebung mehr als genug stille Plätze. Sie würde niemals gefunden werden. Lea hatte wirklich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Aus welchem Grund wollte ihr Kollege unbedingt die Pistolen mitnehmen? Aus Gründen der Eigensicherung? Oder hatte er wirklich etwas Übles mit ihr vor?
„Da vorn liegt der Tote!“, rief sie laut und deutete in die Richtung.
Reuters Leiche und sein Mofa befanden sich noch im Gebüsch. Zwischenzeitlich hatte sie befürchtet, dass der Mörder den Leichnam beseitigt haben könnte. Rupp kam näher. Der Lichtfinger seiner Taschenlampe glitt über Reuters erstarrtes Gesicht.
„Diese Stelle ist ziemlich weit weg vom Wanderweg“, sagte er nachdenklich. „Ich frage mich, wie du und dieser Schreiberling die Leiche entdeckt habt.“
Lea schwitzte Blut und Wasser. Ob sie jetzt doch den Kerl mit dem irren Lachen erwähnen sollte? Das kam ihr falsch vor. Dabei konnte sie den Grund dafür gar nicht benennen.
Sie lachte nervös, bevor ihr eine Ausrede einfiel.
„Das ist mir jetzt etwas unangenehm, Hermann – aber wir wollten allein sein, verstehst du? Auf dem Wanderweg kommen gelegentlich Leute vorbei, bei dem schönen Wetter sogar am frühen Abend. Also haben wir uns ein ruhiges Plätzchen gesucht ...“
„Ich verstehe schon.“
Sie konnte an seinem Tonfall nicht erkennen, ob er ihr wirklich glaubte. Doch in diesem Moment ertönte eine Polizeisirene aus Richtung Wanderparkplatz.
„Ah, die Kollegen sind da!“, rief sie. „Ich werde sie hierher lotsen!“
Und bevor Rupp etwas erwidern konnte, drehte Lea sich um und rannte davon. Wenn er ihr jetzt eine Kugel in den Rücken jagen würde, würde er eine Menge zu erklären haben.
Die Polizistin fand in dieser Nacht nicht viel Schlaf. Es gab zu viele Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten. Der Mordverdacht gegen Tom Reuter hatte sich sozusagen von selbst erledigt. Lea ging inzwischen davon aus, dass Tanja Welling und ihr Ex-Freund von ein und derselben Person umgebracht worden waren. Doch warum war der Mofa-Rocker an der Kiesgrube abgehauen? Dafür konnte es tausend Gründe geben. Wenn er als Kleinkrimineller ein paar krumme Dinge gedreht hatte, ging er der Polizei logischerweise aus dem Weg. Womöglich hatte er an dem Abend die Beute aus einem Einbruch oder einem Taschendiebstahl bei sich gehabt.
Nachdem die Spurensicherung und ein Team vom Kriminaldauerdienst der Kreisstadt den Tatort übernommen hatten, war der Einsatz für sie und Rupp beendet gewesen. Lea hatte sofort von ihrem Fremdenzimmer aus bei Frenz angerufen, doch auf dem Anschluss des Mordermittlers war nur die Mailbox zu erreichen gewesen. Lea hatte wortlos aufgelegt.
Als sie morgens nach dem Duschen ihre Uniform anzog, klingelte ihr Satellitentelefon. Frenz war am Apparat.
„Es tut mir leid, dass Sie mich nachts nicht erreicht haben, Frau Kramer. Aber um 1.12 Uhr morgens funktioniert mein Gehirn nur sehr eingeschränkt.“
„Wir haben einen weiteren Toten!“, stieß Lea ohne Einleitung hervor. Und dann berichtete sie von dem nächtlichen Leichenfund.
„Nun hat es also auch Tom Reuter erwischt“, murmelte der „Pirat“. „Obwohl wir mit Hochdruck nach ihm gefahndet haben, blieb er wie vom Erdboden verschluckt. Können Sie sich einen Grund denken, weshalb der unbekannte Täter ihn ermordet hat?“
„Womöglich war Tanjas Ex-Freund ein Mitwisser. Oder er ist dem Mörder einfach in die Quere gekommen. Sind wir uns darüber einig, dass beide Opfer von demselben Mann abgeschlachtet wurden?“
„Davon gehe ich zunächst aus“, sagte Frenz. „Dieser Mann mit dem irren Lachen ist höchst verdächtig, nicht wahr? Gewiss handelt es sich um dieselbe Person, die im Hospital um Heinrich Lauges Krankenzimmer herumschlich.“
„Gibt es eigentlich etwas Neues von dem alten Mann?“
„Leider nicht. Immerhin hat sich sein Zustand nicht verschlechtert. – Übrigens werde ich heute mit einem Kriminaltechnik-Team dem Staatsforst von Mönchsfelden einen Besuch abstatten. Es gibt dort tatsächlich eine Körner-Eiche. Und ich bin sehr gespannt, ob wir in der Nähe etwas ausgraben können.“
„Dann glauben Sie also, was in der Kladde steht?"
„Zumindest sollten wir diese Hinweise verfolgen“, erwiderte der „Pirat“. „Vor fünfzig Jahren wurde übrigens intensiv nach dem Riesen namens Bodo Wilbrand gefahndet, doch er konnte niemals gefunden werden. Der Mord an der schönen Artistin Diana Neumann weist einige Parallelen zu unserer aktuellen Ermittlung auf. Doch das erzähle ich Ihnen in Ruhe, wenn wir heute Abend telefonieren. Sie müssen bald zum Dienst, wenn Sie nicht von Rupp angemeckert werden wollen.“
Lea lachte.
„Ja, das muss ich nicht haben. Ich melde mich dann nach Feierabend wieder bei Ihnen.“
Sie beendete das Gespräch und schob ihr Satellitentelefon wieder unter das Kopfkissen. Dann eilte sie los und betrat pünktlich zum Dienstbeginn die kleine Polizeiwache.
Rupp erwiderte ihren Gruß mit einem knappen Kopfnicken. Sie konnte unmöglich einschätzen, in was für einer Stimmung er sich an diesem Morgen befand. Lea führte sich vor Augen, dass er seit einer gefühlten halben Ewigkeit im Polizeidienst war. Er hatte es gelernt, eine Verdächtige über seine Gefühlslage im Unklaren zu lassen. Ob Rupp bereits im Geheimen gegen sie arbeitete und versuchte, sie aufs Glatteis zu führen? Zumindest musste sie damit rechnen.
Äußerlich wirkte der Alte an diesem Morgen wie ein untadeliger Polizist. Er war glatt rasiert und hatte nicht mit After Shave gespart. Sein Uniformhemd war frisch gebügelt. Als er aufstand und sich einen Kaffee holte, konnte sie sehen, dass seine Schuhe blank poliert waren.
Da Rupp die vergangene Nacht mit keiner Silbe erwähnte, tat Lea es auch nicht. Sie beschäftigte sich mit Routinearbeiten.
„Der ukrainische Mordverdächtige hat in der U-Haft Selbstmord begangen.“
Das war der erste Satz, den Rupp seit Dienstbeginn an sie richtete. Er beobachtete sie genau. So, als ob sie ein Insekt unter dem Mikroskop wäre. Lea beging einen Fehler. Sie hätte spontan die Verblüffte spielen, sozusagen aus allen Wolken fallen müssen. Doch sie hatte die Information über Petruks Freitod ja schon von Frenz bekommen.
„Ach, wirklich?“, stammelte sie, viel zu spät. Lea war keine gute Lügnerin. Rupp ließ ein wölfisches Grinsen sehen.
„Du wirkst nicht besonders überrascht.“
Sie hob die Schultern.
„Na ja, Petruk war bestimmt kein gefestigter Charakter. Er hat gesoffen wie ein Loch und war obdachlos. Mit der Mordanklage am Hals hat er wahrscheinlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen.“
„Nein, wahrscheinlich nicht.“ Rupp suchte Blickkontakt mit Lea. „Sein Schuldbewusstsein hat ihm das Genick gebrochen. Er war doch schuldig, oder? Was meinst du?“
Es kam Lea so vor, als ob sie ins offene Messer laufen würde. Aber sie musste weiterhin die Unschuld vom Land mimen. Noch war nicht gesagt, dass Rupp sie durchschaut hatte. Womöglich wollte er ihr einfach nur auf den Zahn fühlen.
„Die Beweise waren doch eindeutig, Hermann. Wir haben bei ihm die Tatwaffe und Tanjas Kleider sowie ihr Fahrrad gefunden. Eindeutiger geht es doch wohl nicht mehr.“
Der alte Polizist kniff die Augen zusammen.
„Und wenn nun jemand Petruk diese Indizien untergeschoben hat?“
„Wer sollte das denn tun?“, fragte Lea, obwohl sie die Antwort kannte.
„Vielleicht der Dreckskerl, der dem Mofa-Rocker die Kehle durchgeschnitten hat.“
„Du siehst einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Delikten?“
„Ich weiß nicht, Lea“, sagte Rupp mit einem lauernden Unterton in der Stimme. „Siehst du ihn denn?“
Sie öffnete bereits den Mund, doch sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Es kam ihr so vor, als ob ihr Kollege sie in eine Falle gelockt hätte. Es spielte überhaupt keine Rolle, was sie jetzt von sich gäbe.
Rupp hatte sie durchschaut und wusste, dass sie im Mordfall Tanja Welling weiter ermittelte. Womöglich ahnte er sogar, dass Lea im Auftrag seines Widersachers Frenz handelte.
Noch war sie ihrem Kollegen eine Antwort schuldig. Da klingelte das Telefon. Rupp griff schnell zum Hörer.
„Polizeistation Mönchsfelden, mein Name ist Rupp. Was können wir für Sie tun?“
Lea merkte, dass der Lautsprecher abgeschaltet war. Sie hörte jedenfalls nicht, was die Person am anderen Ende der Festnetzleitung sagte. Das Gespräch dauerte ohnehin nur kurz.
„Aha ... und wo genau ist das? Ja, ich danke für den Hinweis.“
Mit diesen Worten legte er wieder auf. Rupp warf seiner Kollegin einen zornigen Blick zu.
„Komm mit“, sagte er und stand auf. Seine Stimme war gefährlich ruhig.
„Haben wir einen Einsatz?“
Lea versuchte, möglichst arglos zu klingen. Es gelang ihr nicht.
„Halt einfach den Mund und komm mit.“
Sie folgte ihm in den Streifenwagen. Rupp hatte schlechte Laune, das war offensichtlich. Wenigstens verzichtete er momentan darauf, mit ihr Katz und Maus zu spielen. Freuen konnte Lea sich darüber trotzdem nicht. Sie ahnte, was Rupp die Petersilie verhagelt hatte. Wenig später wurde ihr Verdacht zur Gewissheit. Ihr Kollege fuhr auf den südlichen Ortsausgang zu, wo nach wenigen hundert Metern der Rand des Staatsforstes begann. Dort parkten zwei Polizeibusse. Rupp brachte ihr Einsatzfahrzeug direkt dahinter zum Stehen, stieg aus und marschierte schnell los. Lea eilte hinter ihm her, wobei sie sich ziemlich idiotisch vorkam. Doch sie wusste in diesem Moment nicht, was sie anderes hätte machen können.
Weit mussten sie nicht laufen.
Am Fuß einer mächtigen Eiche hoben einige Kollegen von der Bereitschaftspolizei eine Grube aus. Sie waren mit Schaufeln und Spaten ausgerüstet. Obwohl es noch früh am Tag war, lief ihnen der Schweiß über die Gesichter.
Frenz beaufsichtigte die Arbeiten.
Lea war über seine Anwesenheit nicht verblüfft, schließlich hatte er diese Maßnahme morgens am Telefon angekündigt. Nur Rupp wurde auf dem falschen Fuß erwischt. So gut konnte er seine Gefühle dann doch nicht verbergen. Als der alte Polizist den Mordermittler erblickte, zeigte sein Gesichtsausdruck offenen Abscheu.
„Was tun Sie hier?“, rief Rupp, während er sich der Eiche und den grabenden Beamten näherte.
„Wonach sieht es denn aus?“, fragte Frenz zurück. Er wandte sich Leas Kollegen zu. Seine Lippen wurden von einem ironischen Lächeln umspielt. Die junge Polizistin hatte Rupp noch niemals so wütend gesehen. Es kam ihr so vor, als ob er dem „Piraten“ am liebsten einen Kinnhaken verpasst hätte.
Ob Frenz diese Situation bewusst heraufbeschwören wollte? Lea führte sich vor Augen, dass Rupp in den Augen des Mordermittlers höchst verdächtig war. Sie selbst glaubte ebenfalls, dass ihr Kollege sehr viel zu verbergen hatte. Und wenn Rupp jetzt einen Vorgesetzten tätlich angreifen würde, würde er dadurch einen erstklassigen Vorwand für ein Disziplinarverfahren bieten.
Lea bewunderte Frenz‘ Raffinesse. Die Mordakte Tanja Welling wurde wahrscheinlich geschlossen, da der einzige Verdächtige Selbstmord begangen hatte. Doch wenn Rupp jetzt die Nerven verlor, konnte man die Untersuchung von einer anderen Seite her komplett neu aufrollen.
Allerdings verfügte ihr Kollege über eine sehr große Selbstbeherrschung. Zwar schwoll die Zornesader auf seiner Stirn stark an, und die Augen schienen ihm beinahe aus dem Kopf zu quellen. Aber das waren keine Gründe, um ein Verfahren gegen ihn einzuleiten.
„Was haben Sie hier verloren, Frenz?“, stieß Rupp zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und erzählen Sie mir nicht, dass Sie Ihre uniformierten Sklaven buddeln lassen. Das kann ich nämlich selbst sehen.“
Die im Schweiße ihres Angesichts schuftenden Kollegen warfen dem alten Polizisten gereizte Seitenblicke zu, während sie weiter arbeiteten. Es gefiel ihnen verständlicherweise nicht, dass so verächtlich über sie gesprochen wurde.
Der Mordermittler lächelte nun nicht mehr. Seine Stimme klang ruhig, beinahe sanft.
„Ich verstehe Ihre Aufregung nicht, Herr Rupp. Wir befinden uns außerhalb der Mönchsfelder Gemeindegrenze. Und diese Arbeiten dienen dazu, Licht in einen lange zurückliegenden Mordfall zu bringen.“
„Was Sie nicht sagen!“, höhnte Leas Kollege. „Und warum diese Heimlichtuerei?“
Der „Pirat“ zuckte mit den Schultern.
„Wenn Sie die Dinge so sehen, kann ich Sie nicht daran hindern. Allerdings verstehe ich nicht, weshalb Sie informiert werden wollten. Sie sind doch hier gar nicht zuständig. Wir sind hier nicht in der Mordkuhle.“
Den letzten Satz hatte Frenz sich offensichtlich nicht verkneifen können. Rupp zuckte zusammen, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte. Es war offensichtlich, dass Frenz ein rotes Tuch für ihn darstellte. Womöglich wäre Leas Kollege viel entspannter mit der Situation umgegangen, wenn ein anderer Mordermittler die Arbeiten geleitet hätte.
Bevor Rupp auf die Bemerkung seines Widersachers eingehen konnte, hob ein blonder junger Polizeimeister den Kopf.
„Wir haben etwas gefunden, Herr Frenz!“
Sowohl der „Pirat“ als auch Rupp und Lea eilten an den Rand der Grube. Die Polizisten hatten so viel Walderde ausgehoben, dass sie jetzt knietief in der Kuhle standen. Zwischen den braunschwarzen Bodenklumpen waren Knochen zu erkennen. Lea hatte während der Ausbildung schon einmal ein menschliches Skelett gesehen. Bei den Gebeinen, die nun zu sehen waren, musste es sich um Überreste des Brustkorbs handeln. Die Rippen waren so angeordnet, wie Lea es kannte. Die Polizisten hatten ihre Werkzeuge beiseitegelegt und gruben nun mit bloßen Händen weiter, um die Knochen nicht versehentlich zu beschädigen. Es dauerte nicht mehr lange, bis der tote Mann komplett freigelegt war.
Nein, kein Mann, korrigierte Lea sich in Gedanken selbst. Ein Riese.
Sie schätzte, dass der Tote mindestens 2,30 Meter groß war. Der Schädel und die Handknochen schienen im Verhältnis zum restlichen Körper noch weitaus voluminöser gewesen zu sein.
Eine Laune der Natur. So hätte Leas Oma einen solchen Riesenwuchs genannt. Die Polizistin konnte sich lebhaft vorstellen, dass in früheren Zeiten ein solcher Mann nur beim Zirkus eine Anstellung gefunden hatte. Ein normales Leben war für ihn gewiss nicht denkbar gewesen, weil er überall die Blicke des sensationslüsternen Publikums auf sich gezogen hätte.
Lea war sicher, die sterblichen Überreste von Bodo Wilbrand vor sich zu haben. Ob der Verfasser der Zirkus-Aufzeichnungen den Toten hier eigenhändig begraben hatte? Doch warum war der Mord an dem Riesen überhaupt unter den Teppich gekehrt worden? Die Antwort auf diese Frage ergab sich ganz von selbst, doch sie wollte Lea nicht gefallen.
Die Mönchsfelder Polizei war vor fünfzig Jahren schon so korrupt gewesen wie jetzt.
Sie wurde durch Rupps Lachen aus ihren Gedanken gerissen. Amüsiert klang ihr Kollege allerdings nicht.
„Schön, Sie haben also einen Knochenmann aus dem Erdreich gerissen. Vielleicht ist er sogar umgebracht worden? Und was wollen Sie jetzt tun? Einen Mörder verhaften, der vielleicht schon vor vielen Jahren den Löffel abgegeben hat?“
„Mord verjährt nicht“, stellte Frenz fest. „Und wenn man vielleicht auch den Täter nicht mehr zur Verantwortung ziehen kann, so bekommen die Familien der Opfer wenigstens Gewissheit.“
Der alte Polizist machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Sie klingen so salbungsvoll, Sie sollten von Pirat auf Priester umsatteln, Frenz. – Komm mit, Lea. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit!“
Rupp drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zum Streifenwagen zurück. Der Mordermittler zwinkerte der jungen Polizistin hinter seinem Rücken kurz zu. Sie konnte es kaum abwarten, abends mit Frenz zu telefonieren.
Im Auto wischte sich der alte Polizist den Schweiß vom Nacken. Dann drehte er seinen Kopf ruckartig in Leas Richtung.
„Steckst du dahinter?“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, murmelte sie. In diesem Moment wünschte sie sich, eine bessere Lügnerin zu sein. Rupp war noch nicht losgefahren. Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
„Du solltest deine Nase nicht in Dinge stecken, die dich nichts angehen.“ Seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. „Wahrscheinlich kannst du es dir nicht vorstellen, aber ich meine es gut mit dir. Verrichte einfach deinen Dienst und stelle keine dummen Fragen.“
„Ehrlich, ich habe keine ...“
„Du solltest mich nicht für einen Volltrottel halten!“, knurrte Leas Kollege. „Wenn du und dein Zeitungsfreund Detektiv spielen wollt, kann ich euch nicht daran hindern. Aber ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr euch anlegt!“
Vielleicht mit Tanja Wellings wahrem Mörder? Dieser Satz lag Lea auf der Zunge. Sie konnte ihn gerade noch rechtzeitig hinunterschlucken. Einstweilen sagte sie überhaupt nichts. Auf der kurzen Fahrt zur Dienststelle beruhigte Rupp sich einigermaßen. Für einen schweigsamen Mann wie ihn hatte er schon sehr viel von sich gegeben. Im Grunde war Lea ihm dankbar für seinen Temperamentsausbruch. Denn nun wusste sie hundertprozentig, dass sie sich vor ihm in Acht nehmen musste.
Als sie die Polizeistation erreicht hatten, wartete dort eine junge Frau. Sie trug Shorts sowie ein orangefarbenes Top und wirkte sehr aufgeregt.
„Da sind Sie ja, ich wollte gerade bei Ihnen anrufen! Mein Fahrrad wurde gestohlen!“
„Meine Kollegin kümmert sich darum, Maren“, sagte Rupp zu der Melderin. „Ich muss telefonieren.“
Mit diesen Worten schloss er die Tür auf und warf sie hinter sich ins Schloss. Lea war erleichtert darüber, dass sie sich jetzt mit dieser Straftat befassen konnte und nicht die nächsten Stunden in Gesellschaft des schlecht gelaunten Rupp verbringen musste.
Lea trat auf die junge Frau zu.
„Hallo, ich bin Polizeimeisterin Kramer. Erzählen Sie mir bitte, was genau sich ereignet hat. Und ich bräuchte zunächst Ihren vollständigen Namen.“
„Ich heiße Maren Wagner und ich arbeite als OP-Schwester im Krankenhaus der Kreisstadt. Heute habe ich frei, aber morgen muss ich wieder zum Hospital fahren. Und jetzt musste ich gerade feststellen, dass irgendein Mistkerl mein Rad geklaut hat!“
„Zeigen Sie mir bitte, wo der Diebstahl stattgefunden hat. Vielleicht gibt es dort noch verwertbare Spuren.“
Lea ließ Maren in den Streifenwagen einsteigen und setzte sich selbst ans Steuer. Sie war dankbar dafür, dass sie sich momentan mit einem so relativ unbedeutenden Delikt wie einem Fahrraddiebstahl beschäftigen musste. Es tat Lea gut, sich von ihrer eigenen Situation ablenken zu können.
Die Krankenschwester lotste das Polizeiauto zum Maienweg. Die beiden Frauen stiegen aus. Maren zeigte auf ein rotes Einfamilienhaus aus Backsteinen.
„Dort wohne ich in der Einliegerwohnung im ersten Stockwerk. Mein Rad stelle ich immer in den Schuppen. Ehrlich gesagt ist er nie abgeschlossen. Aber wer rechnet auch schon damit, hier in Mönchsfelden bestohlen zu werden?“
Die Polizistin nickte. Sie hatte es während ihrer Laufbahn schon öfter mit völlig sinnlosen Straftaten zu tun gehabt. Doch traf das in diesem Fall wirklich zu? Auf jeden Fall war es schwachsinnig, in diesem kleinen Kaff mit einem gestohlenen Rad durch die Gegend zu fahren.
„Wie würden Sie den Wert Ihres Fahrrads einschätzen?“, forschte Lea.
Maren lachte bitter.
„Ich bin knapp bei Kasse. Die alte Gurke habe ich vor einem halben Jahr für fünfzig Euro gebraucht in der Kreisstadt gekauft. Seitdem hat das Rad mir treu gedient, aber es ist ziemlich abgerockt. Wer klaut denn so einen Schrott?“
Lea antwortete nicht sofort. Sie ließ ihren Blick durch den Maienweg schweifen.
„Wie kommen Sie zur Arbeit, wenn Sie kein Rad haben?“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern.
„Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben als morgens den Bus um sechs Uhr zu nehmen. Dann bin ich zwar zu früh im Krankenhaus, aber anders geht es nicht. Sie wissen wahrscheinlich, wie be...scheiden die Verkehrsverbindungen zu den Nachbargemeinden sind.“
Die Polizistin nickte. Sie überlegte. Wenn Maren den Bus erwischen wollte, musste sie um 5.45 Uhr aus dem Haus gehen. Und der kürzeste Weg zur Haltestelle würde durch die Buchenallee führen. Dort war es so früh am Morgen menschenleer.
Und niemand würde ihre Schreie hören.
Lea fragte nach.
„Gehen Sie dann durch die Buchenallee?“
„Wahrscheinlich schon. Das ist eine gute Abkürzung.“
„Es gibt aber keine nennenswerte Straßenbeleuchtung. Besser wäre es, wenn Sie den Maienweg in die andere Richtung gehen und dann auf den Rathausplatz abbiegen. Dort sind überall Straßenlaternen, und Sie kommen überall an Wohnhäusern vorbei.“
„Das wäre aber ein großer Umweg“, gab Maren zu bedenken.
Lea fragte sich, ob ihre Besorgnis nicht übertrieben war. Würde der Mörder wirklich so raffiniert zu Werk gehen, dass er ein Fahrrad klaute, um seinem Opfer auflauern zu können?
Die Polizistin schaute der Krankenschwester direkt in die Augen. Maren war blond und schlank, genau wie Tanja Welling.
„Ich will Sie nicht beunruhigen, aber Sie sollten vorsichtig sein, wenn Sie allein durch solch einsame Straßen gehen. Besteht keine Möglichkeit, dass Sie sich zur Arbeit fahren lassen?“
Maren runzelte die Stirn.
„Ich kenne kaum jemanden in Mönchsfelden. Meine Vermieter kann ich nicht fragen. Herr Meier arbeitet hier im Sägewerk und hat keine Zeit, für mich den Chauffeur zu spielen. Und Frau Meier hat noch nicht mal einen Führerschein.“
Die beiden Frauen standen bei dem Schuppen. Wie Maren es gesagt hatte, war er nicht abgeschlossen. Lea öffnete mit ihrer behandschuhten Rechten die Tür. Im Inneren roch es nach feuchter Erde. Ihr fiel sofort ein moderner Rasenmäher auf. Das Gerät war viel mehr wert als ein Schrottfahrrad. Aus Sicht eines Diebes wäre es viel sinnvoller gewesen, den Mäher mitgehen zu lassen. Wenn ein Transporter nachts hinter dem Haus hielt, konnten zwei Männer die Maschine innerhalb von wenigen Minuten verladen und sich damit auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub machen.
Lea atmete tief durch.
„Es wäre gut, wenn Sie nicht frühmorgens in der Dunkelheit diesen einsamen Weg nehmen würden.“
„Wieso das denn? Ich dachte, Sie hätten Tanjas Mörder verhaftet.“
„Der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Bitte versprechen Sie mir, dass Sie vorsichtig sind.“
Die Polizistin spürte, dass ihre Worte die junge Frau beunruhigten. Sie fuhren gemeinsam zur Wache zurück, wo Maren die Diebstahlanzeige unterschrieb. Rupp verschanzte sich hinter seiner Arbeit und hüllte sich in Schweigen. Gelegentlich warf er Lea einen misstrauischen Blick zu.
Die Atmosphäre war gründlich vergiftet.
Noch nie zuvor hatte Lea den Feierabend so herbeigesehnt wie an diesem Tag. Sie konnte es kaum abwarten, mit Frenz zu telefonieren. Und als sie in ihrem Fremdenzimmer zum Satellitentelefon griff und seine Stimme hörte, fühlte sie sich sofort besser.
„Ich fürchte, Rupp hat mich durchschaut!“, platzte sie heraus. „Er ahnt, dass ich weiter ermittle. Und er hat mich mehr oder weniger unverhohlen davor gewarnt, weiterzumachen.“
„Er wird allmählich nervös“, stellte der „Pirat“ fest. „Das ist ein gutes Zeichen. Doch wenn Sie aussteigen wollen, kann ich das verstehen. Ich habe nämlich noch eine Hiobsbotschaft für Sie.“
Leas Magen krampfte sich zusammen.
„Was ist geschehen?“
„Eins nach dem anderen. Es gibt auch erfreuliche Nachrichten.“
„Das ist gut“, sagte die Polizistin eifrig. „Ich glaube nämlich, dass der Mörder schon sein nächstes Opfer im Visier hat.“
Sie berichtete von Maren Wagner und ihrem gestohlenen Fahrrad. Außerdem erwähnte sie die große Ähnlichkeit zwischen dem Diebstahlopfer und der Ermordeten.
„Ja, ich kann Ihren Gedankengang nachvollziehen“, murmelte Frenz. „Nach Lage der Dinge konnten sie wirklich nicht mehr tun als die junge Frau zu warnen.“
„Was ist bei der Ausgrabung des Skeletts letztlich herausgekommen?“, wollte Lea wissen.
„Ich bin kein Mediziner, aber ich gehe davon aus, dass dieser Bodo Wilbrand an Akromegalie litt.“
„Was ist das?“
„Krankhafter Riesenwuchs. Der Leichnam war 2,30 Meter groß. Doch er ist nicht an Akromegalie gestorben, sondern vermutlich erschlagen worden.“
„Gab es schon eine Obduktion?“, fragte Lea verblüfft.
„Nein, das nicht. Aber das Loch in seinem Schädel ist nicht zu übersehen. Natürlich könnte es ihm auch post mortem zugefügt worden sein. Aber in Ihrer Kladde steht ja schließlich, dass Bodo Wilbrand getötet wurde.“
„Konnten Sie der alten Fallakte noch weitere Informationen entnehmen?“
„Es wurde damals mit Hochdruck nach dem Riesen gefahndet, allerdings ist er niemals wieder aufgetaucht. Jetzt kennen wir auch den Grund dafür, nicht wahr? Andere Verdächtige gab es nicht. Wilbrand wurde laut Zeugenaussagen als stiller Mensch beschrieben. Die Theorie des damaligen Ermittlers lautete, dass der Riese unglücklich in die Artistin verliebt gewesen wäre. Doch Diana Neumann hat aufgrund seines abstoßenden Äußeren seine Gefühle nicht erwidert. Daraufhin tötete er sie aus Frustration und Verzweiflung.“
„Ohne die Aufzeichnungen in der Kladde wäre das eine plausible Möglichkeit“, räumte Lea ein.
„Es kommt noch besser – oder schlimmer. In der alten Fallakte sind auch Fotos von Diana Neumanns Obduktion. Der Artistin wurden die Buchstaben M und Z mit einem Messer oder einem spitzen Gegenstand in die Bauchdecke geritzt.“
„Genau wie bei Tanja Welling!“
„Richtig, Frau Kramer. Da fragt man sich natürlich, wieso das Morden nach fünfzig Jahren plötzlich weitergeht. Der Täter von damals müsste schon ein sehr rüstiger Rentner sein, um heute dort anzuknüpfen, wo er damals aufgehört hat. Und weshalb die Pause von einem halben Jahrhundert? Es gibt übrigens noch ein pikantes Detail.“
„Wovon sprechen Sie?“
„Sowohl die Artistin als auch das heutige Opfer waren zum Zeitpunkt ihres Todes noch unberührt. Bei beiden war das Jungfernhäutchen noch intakt.“
„Der Täter muss geisteskrank sein“, mutmaßte die Polizistin. „Wenn wir nur wüssten, wofür M und Z steht. Sind es seine eigenen Initialen? Oder haben die Buchstaben eine andere Bedeutung?“
„Und es dürfte kein Zufall sein, dass beide Frauen noch keinen Sex hatten. Im Altertum gab es Jungfrauenopfer. Womöglich wollte der Killer an diese widerwärtige Tradition anknüpfen. – Wir werden es wohl nie erfahren.“
„Wie meinen Sie das? Worin besteht die Hiobsbotschaft, die Sie für mich haben?“
Lea konnte am Telefon hören, dass Frenz tief durchatmete, bevor er antwortete.
„Die Polizeiführung hat mir untersagt, den ungeklärten Mordfall Diana Neumann weiter zu verfolgen. Und die Akte Tanja Welling wurde sowieso geschlossen, da der einzige Verdächtige Selbstmord begangen hat.“
Lea fühlte sich, als ob ihr jemand mit einer Schaufel vor den Kopf geschlagen hätte. Sie benötigte einige Augenblicke, um Frenz‘ Worte zu begreifen.
„Sind Sie noch am Apparat, Frau Kramer?“
„Ja ... hat man Ihnen eine Begründung geliefert?“
Der „Pirat“ lachte, aber er klang nicht amüsiert.
„Angeblich bleiben zu viele aktuelle Fälle liegen, wenn ich mich mit einem Mord befasse, der vor einem halben Jahrhundert geschah. Ich vermute aber, dass eine einflussreiche Persönlichkeit den Polizeipräsidenten kontaktiert hat. Natürlich können wir in unserer Freizeit weiter ermitteln. Allerdings stehen uns dann keine polizeilichen Ressourcen zur Verfügung.“
„Vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit“, murmelte Lea.
„Wie meinen Sie das?“
„Darüber möchte ich nicht sprechen, bevor ich Klarheit habe.“
„Sie spielen die Geheimnisvolle, das gefällt mir. Und noch besser wäre es, wenn wir unsere gemeinsame Mörderjagd fortsetzen könnten. Ich drücke uns die Daumen, Frau Kramer. Mehr kann ich momentan nicht tun – außer, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen.“
Frenz beendete das Gespräch.
Lea stand vom Bett auf und lief durch ihr Fremdenzimmer wie eine Tigerin im Käfig. Wie viel war ihr diese kriminalistische Untersuchung wert? Was würde sie dafür opfern? Sie fand, dass sie schon genug aufgegeben hatte. Doch was würde aus Maren Wagner und anderen möglichen Opfern werden, wenn sie jetzt die Flinte ins Korn warf?
Ihre Handflächen waren feucht, als sie erneut zum Satellitentelefon griff. Doch diesmal wollte sie nicht mit dem „Piraten“ sprechen. Die andere Nummer kannte sie auswendig.
„Hoffmann.“
„Ich bin es, Rolf.“
„Was fällt dir ein, meine Privatnummer anzurufen?“, fauchte der Polizeipräsident.
Lea gab sich cooler, als sie war.
„Warum denn so nervös, mein Lieber? Ist Doris in Hörweite?“
„Nein, meine Frau hat heute ihre Bridgerunde. Was willst du?“
„Ich finde, du könntest netter zu mir sein. Ich weiß noch, wie charmant du warst. Damals, als du mich geschwängert hast.“
„Ach, Lea ...“
Hoffmanns Stimme klang nun wirklich weicher. Aber sie wollte gar nicht ihre Affäre mit ihm wieder aufleben lassen. Die Polizistin hatte ein ganz anderes Anliegen.
„Ich habe mich dir zuliebe auf dieses Märchen mit der Strafversetzung eingelassen. Wegen dir wohne ich jetzt in einem langweiligen Kaff am Ende der Welt. Und das alles nur, damit nicht über uns getratscht wird. Ich finde, du könntest mir entgegenkommen.“
„Es war die beste Lösung für uns beide.“
„Ach, wirklich? Glaubst du im Ernst, du hättest mehr zu verlieren als ich? Wegen dir habe ich mein Baby nicht bekommen.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, obwohl sie das gar nicht wollte.
„Die Kollegen hätten geredet, ich habe viele Neider“, sagte der Polizeipräsident eindringlich. „Dein Transfer in die tiefste Provinz war die beste Lösung für alle. Und ich habe das Wort Strafversetzung nie in den Mund genommen. Das waren nur böswillige Gerüchte. – Warum rufst du an, Lea? Brauchst du Geld?“
Sie lachte.
„Nein, ich bin bestens versorgt. – Ich will, dass in den Mordfällen Diana Neumann und Tanja Welling weiter ermittelt wird. Und zwar von Hauptkommissar Frenz!“
„D...das geht nicht“, stammelte Hoffmann.
„Warum nicht? Du hast doch angeordnet, dass die Akten geschlossen werden sollen. Wem hast du dein Versprechen gegeben?“
„Darüber kann ich nicht sprechen.“
„Gut, dann rede ich jetzt mal Klartext: Wenn Herr Frenz von dir kein grünes Licht für diese Fälle bekommt, dann werde ich der Klatschpresse eine rührselige Geschichte erzählen. Eine Story über eine naive junge Polizistin, die von ihrem Polizeipräsidenten geschwängert und dann zur Abtreibung gezwungen wurde.“
„Das wagst du nicht!“
„Willst du es darauf ankommen lassen?“, fragte Lea mit honigsüßer Stimme. „Ich habe nicht mehr viel zu verlieren.“
„Warum tust du das?“
„Es hat hier einen grauenvollen Mord gegeben. Und erzähl mir jetzt nicht, dass der Täter in der U-Haft Selbstmord begangen hat. Petruk war unschuldig. Der Killer ist immer noch da draußen, Rolf. Herr Frenz und ich können ihn erwischen.“
Der Polizeipräsident antwortete nicht. Doch Lea legte nicht auf. Nach einer Weile hörte sie wieder seine Stimme. Er klang angespannt.
„Also gut, ich werde dir deinen Wunsch erfüllen. Diesen einen, haben wir uns verstanden?“
„Du wirst mir also nicht verraten, wer die Ermittlungen torpedieren wollte?“
„Leb wohl, Lea.“
Hoffmann beendete das Telefonat. Die Polizistin schob das Satellitentelefon wieder unter ihr Kopfkissen. Es war gar nicht notwendig, dass ihr Ex-Liebhaber den Namen ihres Widersachers erwähnte. In Mönchsfelden gab es nur einen Mann, der für einen solchen Vorstoß über genügend Einfluss verfügte.
Meinhard Richter, der Besitzer des Sägewerks.
Lea brauchte jetzt dringend etwas Alkoholisches. Sie ging hinunter in die Gaststube, die zu dieser Abendzeit gut gefüllt war. Frau Schatz stand wieder hinter der Theke. Sie schien niemals zu schlafen oder auch nur einen anderen Platz zu haben, an dem sie sich gern aufhielt. Ihre Kittelschürze war makellos wie immer. Sie warf der Polizistin einen fragenden Blick zu.
„Ein Bier und einen Kurzen“, orderte Lea. Sie rutschte auf den letzten freien Barhocker. Ob Hoffmann sein Wort halten würde? Sie wollte sich jedenfalls nicht darauf verlassen. Und was war mit dem Mord an Reuter? Den hatte Frenz mit keiner Silbe erwähnt. Diese Bluttat passte nicht ins Schema. Trotzdem war die Polizistin überzeugt davon, dass der Unbekannte auch dieses Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Vermutlich war der Mofa-Rocker ihm irgendwie in die Quere gekommen. Dass der Mörder keine Buchstaben in den Körper des jungen Mannes geschnitzt hatte, konnte die unterschiedlichsten Gründe haben.
Lea trank den Schnaps auf Ex. Die Flüssigkeit brannte in ihrer Kehle. Ihre flatternden Nerven beruhigten sich etwas. Ihre Blicke schweiften über die Gesichter der anderen Gäste. Wie viele von ihnen wohl das Geheimnis der Mordkuhle kannten?
Die Wirtin hatte Lea jedenfalls mit ihrer Eremiten-Geschichte einen Bären aufgebunden. Und Frau Schatz war bei Heinrichs Reaktion auf die Mordkuhle sehr ungehalten geworden.
Die Polizistin trank einen Schluck Bier, während die ältere Frau hinter dem Tresen weiter zapfte.
„Einen anstrengenden Tag gehabt?“
„Ja, so einen Leichenfund erlebt man nicht dauernd“, gab Lea zurück. Sie durfte eigentlich keine Informationen weitergeben. Doch wenn sie diesen Fall lösen wollte, musste sie allmählich damit aufhören, alle Regeln zu befolgen.
Das Gesicht der Wirtin blieb unbewegt.
„Es gab einen Toten?“
„Oh, der Mord liegt schon sehr lange zurück. Ungefähr fünfzig Jahre. Damals gastierte ein Zirkus in Mönchsfelden.“
„Ja, ich erinnere mich dunkel. Ich war damals ein junges Mädchen. So ein riesiger Kirmestyp hat eine Artistin ermordet. Aber die Leiche ist doch damals schon entdeckt worden, oder?“
„Heute wurde im Wald ein weiterer Toter gefunden. Es handelt sich um den Riesen, der vor einem halben Jahrhundert falsch beschuldigt wurde. Jemand anders könnte die Artistin umgebracht haben.“
Frau Schatz zuckte kurz zusammen, zumindest kam es der Polizistin so vor.
„Warum kümmern Sie sich um diese alten Geschichten?“
Lea lag die passende Antwort auf der Zunge. Doch obwohl sie den Alkohol bereits im Blut spürte, funktionierte ihr Verstand noch sehr gut. Nein, sie würde sich ganz gewiss nicht in die Karten schauen lassen.
„Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum.“
Mehr sagte sie nicht. Ihr fiel nur auf, dass die Wirtin sich wortlos von ihr abwandte und Gläser zu polieren begann. Die Polizistin hätte zu gern gewusst, was jetzt im Kopf ihres Gegenübers vor sich ging.
Lea hatte ihr Glas noch nicht ganz ausgetrunken, als Felix das Gasthaus betrat. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Nein, dieser schlaksige Typ war ihr nicht gleichgültig. Dabei entsprach der Lokalreporter so gar nicht ihrer Idealvorstellung von einem Mann.
Na, und wenn schon!, dachte sie. Ich muss mich ja nicht jedes Mal in einen verheirateten Kerl verlieben, der mich schwängert.
Nun hatte auch Felix Lea entdeckt. Er kam lächelnd auf sie zu.
„Was für eine schöne Überraschung!“
„Wirklich?“, gab sie zurück. „Weißt du nicht, dass ich hier wohne? Also, natürlich nicht an der Theke. Sondern in diesem Gasthof.“
Felix zuckte mit den Schultern und quetschte sich neben ihr an den Tresen. Er bestellte ein Bier für sich und ein weiteres für die Polizistin.
„Willst du mich abfüllen?“, fragte sie augenzwinkernd. Allmählich geriet sie in eine alberne Stimmung. Das kam ihr nach diesem harten Tag sehr gesund vor.
„Einen Versuch wäre es wert.“
Felix prostete ihr zu.
„Nein, ernsthaft: Was machst du hier?“, wollte Lea wissen.
„Der Mord an Tom Reuter ist für den Landboten eine Top-Story. Deshalb recherchiere ich nicht nur in der Kreisstadt, in Knappenfels und Birkenrode, sondern auch hier. Je mehr Informationen ich über das Opfer sammle, desto näher werde ich dem Täter kommen.“
Lea runzelte die Stirn.
„Du gehst aber bitte kein unnötiges Risiko ein, ja?“
„Soll das heißen, dass du um mich besorgt bist?“
Sie verzog den Mund und knuffte ihn in die Seite.
„Blödmann! Du solltest wissen, dass wir es mit einem gefährlichen Verbrecher zu tun haben. Ich möchte einfach nicht, dass du dasselbe Schicksal erleidest wie Tom Reuter.“
„Ich kann ganz gut auf mich aufpassen“, versicherte der Lokalreporter.
Lea dachte darüber nach, inwieweit sie ihn in ihre Ermittlungen einweihen sollte. Sie musste jetzt jede Hilfe in Anspruch nehmen, die sie kriegen konnte. Ob es möglich war, den Mörder durch einen geschickt platzierten Zeitungsartikel aus der Reserve zu locken? Die Polizistin fand ihre eigene Idee grundsätzlich gut. Allerdings wollte sie mit Felix nicht hier darüber reden, denn Frau Schatz schien ihrem Zwiegespräch intensiv zu lauschen. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Außerdem stellte Lea fest, dass sie nicht mehr ganz nüchtern war. In diesem Zustand traute sie ihren Gedankengängen nur noch bedingt.
„Lass uns jetzt nicht mehr über die Arbeit reden“, sagte sie daher und lehnte sich gegen Felix‘ Schulter. Er zuckte zusammen. Doch es schien ihm zu gefallen, dass sie seine Nähe suchte.
„Manchmal habe ich gute Instinkte“, sinnierte er. „Ich wollte mich hier eigentlich nur ein wenig umhören, doch stattdessen habe ich dich getroffen.“
„Glaubst du an Zufälle?“
„Ich weiß nicht, Lea. Es hat schon etwas zu bedeuten, dass wir uns dauernd begegnen.“
„Das könnte auch daran liegen, dass man in Mönchsfelden nichts geheimhalten kann.“
Noch während sie diesen Satz aussprach, wurde ihr klar, dass er nicht stimmte. Der wahre Mörder von Diana Neumann war fünfzig Jahre lang unbehelligt davongekommen. Leas Wunsch, diesen verzwickten Fall für einen Abend zu vergessen, löste sich in Luft auf. Bevor der Mörder nicht gefasst war, konnte sie ihre innere Ruhe vergessen. Lea trank ihr Bier aus, legte Geld auf die Theke und zog Felix am Ärmel.
„Komm mit.“
„Wohin?“
„Wir reiten in den Sonnenuntergang, was sonst? Nun beweg dich schon!“
Der Journalist grinste verlegen, bezahlte ebenfalls seine Zeche und ließ sich von der Polizistin aus der Gaststube zerren. Sie gingen Seite an Seite die steile Treppe hoch, die zu den Fremdenzimmern führte. Ob Felix sich Hoffnungen auf eine Nacht in Leas Armen machte? Diese Fantasie würde sie ihm zerstören müssen, zumindest vorerst.
Als sie vor ihrer Zimmertür angekommen waren, legte sie ihre Handflächen auf seine Brust.
„Was weißt du über Meinhard Richter, Felix?“
„Er ist der reichste Mann weit und breit. Seiner Familie gehört nicht nur das Sägewerk, auch die meisten Baugrundstücke sind fest in Richter-Hand. Nur der Staatsforst ist, wie der Name schon sagt, im Besitz der öffentlichen Hand.“
„Könntest du so viel wie möglich über diesen Mann herausfinden? Vor allem Dinge, die man sich zuflüstert und von denen möglichst niemand erfahren darf.“
Der Lokalreporter hob die Augenbrauen.
„Glaubst du, dass er etwas mit den Morden zu tun hat?“
„Er selbst vielleicht nicht, aber er deckt womöglich jemanden. Details kann ich dir nicht nennen. Noch nicht. Nur so viel: Die polizeilichen Ermittlungen stecken in einer Sackgasse. Womöglich würden sie durch einen Presseartikel wieder etwas angestoßen.“
Felix grinste.
„An mir soll es nicht scheitern.“
„Es ist gut, dass ich mich auf dich verlassen kann“, sagte Lea mit weicher Stimme. „Schlaf gut. Ich rufe dich morgen in der Redaktion an.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte schnell einen Kuss auf seine Lippen. Bevor er sich von der Überraschung erholen konnte, hatte sie ihre Tür aufgeschlossen und war in ihrem Zimmer verschwunden.
Am nächsten Morgen stand die Polizistin sehr früh auf. Sie wollte noch vor dem Dienstantritt etwas erledigen, das sie ihre gesamte weitere Laufbahn kosten konnte. Doch sie sah keinen anderen Ausweg.
Lea trug Shorts und einen Kapuzenpulli, als sie sich in der Kühle des stillen Sommermorgens zum Haus von Heinrich Lauge schlich. Falls es wirklich Zeugen gab, wollte sie es ihnen nicht zu einfach machen. Deshalb hatte sie nicht vor, den Einbruch in ihrer Polizeiuniform zu begehen.
Das Haus des Ortschronisten war sorgsam abgeschlossen worden, nachdem Lea und Rupp den Alten ins Krankenhaus hatten schaffen lassen und die Spurensicherung fertig war. Doch Lea war schon bei ihrem ersten Besuch in diesen vier Wänden aufgefallen, dass die Fenster keine nennenswerte Einbruchsicherung hatten. Sie konnte mit ihrem normalen Taschenmesser eines der alten Glasfenster aufhebeln. Innerhalb von wenigen Augenblicken kletterte sie in das Gebäude.
Dort roch es immer noch nach dem Luminol, das die Kriminaltechniker versprüht hatten. Lea wollte sich nicht lange aufhalten. Eine kleine Handschriftenprobe von Heinrich Lauge reichte völlig aus, um ihn als den Autor der Zirkus-Kladde zu entlarven.
Die Polizistin wurde in der Küche fündig. Dort lag ein Notizblock auf der altmodischen Anrichte. Auf der obersten Seite befand sich eine Einkaufsliste: Milch, Butter, Kaffee, Jagdwurst, Kartoffeln. Lea riss sie ab und steckte sie in die Tasche. Dann verschwand sie auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war. Je länger sie sich in dem Haus aufhielt, desto größer war die Gefahr einer Entdeckung.
Lea hatte bereits ein beschriftetes Kuvert bei sich, adressiert an Frenz‘ Dienstadresse. Eine Briefmarke hatte sie auch schon auf den Umschlag geklebt. Sie schob den Einkaufszettel hinein und verschloss ihn. Sie hoffte, dass der Polizeipräsident ihre Forderung erfüllen würde. Ansonsten wäre die ganze Aktion nämlich sinnlos gewesen.
Auf dem Weg zum Gasthof steckte sie den Brief in den Postkasten. Er wurde nur einmal am Tag geleert, nämlich um neun Uhr. Aber bis dahin war noch Zeit. Mönchsfelden glich so früh am Morgen noch stärker als sonst einem Geisterort. Die Polizistin kehrte in ihr Zimmer zurück, holte das Satellitentelefon hervor und rief den „Piraten“ an.
„Sie sind offenbar eine Frühaufsteherin, Frau Kramer.“
„Ja, das gesunde Landleben bekommt mir ausgezeichnet“, witzelte sie düster. „Ich habe eine Handschriftenprobe von Heinrich Lauge ergattert. Sie geht Ihnen per Post zu.“
Der Hauptkommissar seufzte.
„Das ist gut, nur können wir leider nicht mehr auf eine Zeugenaussage des alten Mannes hoffen.“
Lea fühlte sich, als ob jemand ihre Kehle zusammendrücken würde.
„Also ist er gestorben?“
„Ja, und zwar auf heimtückische Art und Weise. In der gesamten Krankenstation hat es gebrannt. Jemand muss die Sprinkleranlage außer Betrieb gesetzt haben. Es handelt sich eindeutig um Brandstiftung. Heinrich Lauge und zwei weitere Patienten sind an Rauchgasvergiftungen gestorben. Einige weitere Personen wurden durch den Brand verletzt. Darunter auch der Kollege, der den Zeugen bewachen sollte.“
Die Polizistin konnte nicht sofort antworten. Sie musste diese Neuigkeit zunächst verkraften.
„Also hat der Täter diesmal ganze Arbeit geleistet“, brachte sie schließlich hervor. „Er wollte um jeden Preis sicherstellen, dass der Dorfchronist das Geheimnis der Mordkuhle mit ins Grab nimmt.“
„Ja, und er ist raffiniert vorgegangen. Die Brandermittler werden gewiss nachweisen können, dass das Feuer gelegt wurde. Doch da es noch andere Opfer außer Heinrich Lauge gegeben hat, werde ich die Ermittlungen im Fall Tanja Welling wohl nicht wieder aufnehmen können.“
„Das bleibt abzuwarten.“
„Ich kann Ihre Zuversicht leider nicht teilen, Frau Kramer.“
„Kennen Sie eigentlich Meinhard Richter persönlich?“
„Nur flüchtig“, erwiderte Frenz. „Er zieht in Mönchsfelden sämtliche Fäden, die meisten Einwohner arbeiten in seinem Sägewerk oder wohnen in Häusern, die auf seinen Grundstücken stehen. Oder beides. Glauben Sie, dass er etwas mit den Morden zu tun hat?“
„Ihr spezieller Freund Rupp scheint sich jedenfalls sehr gut mit Richter zu verstehen. Oder ich begreife diese Art von Männerfreundschaft einfach nicht.“
Der Hauptkommissar lachte.
„Ich finde es bewundernswert, dass Sie nicht aufgeben wollen, Frau Kramer. Und ich werde ebenfalls nach Wegen suchen, den Mörder am Ende dingfest zu machen.“
„Ich melde mich später noch einmal bei Ihnen“, sagte Lea und beendete das Telefonat. Dann vertauschte sie ihre Zivilklamotten gegen die Uniform, warf noch einen kritischen Blick in den Spiegel und verließ ihr Fremdenzimmer wieder. Es war noch etwas Zeit bis zum Dienstbeginn in der Polizeiwache. Lea ging durch die stillen Mönchsfelder Straßen in Richtung Buchenallee. Sie hätte selbst nicht sagen können, warum sie das tat. Vielleicht, weil sie sich an ihr gestriges Gespräch mit Maren Wagner erinnerte. Der Bus Richtung Kreisstadt war jedenfalls schon weggefahren. Wenn die junge Krankenschwester ihn hatte erwischen wollen, musste sie bereits aus dem Haus gegangen sein.
Die Nachricht von Heinrich Lauges Tod verdeutlichte der Polizistin, wie skrupellos ihr Widersacher wirklich war. Der Mörder hatte eiskalt auch den Tod von völlig unbeteiligten Personen in Kauf genommen. Außerdem war es nach Leas Meinung besonders perfide, ein Hospital anzuzünden.
Sie glaubte fest daran, dass Lauge der Verfasser des Hefts war. Wenn er nur den Namen des Mörders von Diana Neumann und Bodo Wilbrand niedergeschrieben hätte! Doch was würde ihr diese Information für ihren aktuellen Fall nützen?
Lea hatte nun die Buchenallee erreicht. Der Wind rauschte durch die Baumwipfel. Es herrschte ein idyllisches Bild, doch plötzlich spielte Leas Kreislauf verrückt. Sie erblickte mitten auf der rissigen Asphaltdecke einen Gegenstand, der dort nicht hingehörte.
Einen weißen Tennisschuh.
Genau diese Art von Fußbekleidung hatte Maren Wagner am Vortag getragen. Das Herz der Polizistin raste, ihr liefen abwechselnd heiße und kalte Schauer über den Rücken. Vielleicht war das auch nur ein dummer Zufall, womöglich gehörte der Schuh einer ganz anderen Person.
Doch von der Größe her passte er gewiss eher einer Frau als einem Mann. Es gab nicht viele Kerle, die Schuhgröße achtunddreißig hatten. Lea presste die Lippen aufeinander. Sie musste sich jetzt Gewissheit verschaffen. Sie drehte auf dem Absatz um und lief zu dem kleinen Einfamilienhaus, in dem die Krankenschwester in der Einliegerwohnung lebte.
Lea klingelte Sturm. Eine ältere Dame öffnete. Sie hatte genau dieselbe Dauerwellenfrisur wie die Wirtin des Gasthofs. Das musste Frau Meier sein, die Vermieterin von Maren Wagner. Sie schaute Lea ängstlich an.
„Polizei? Was ist denn passiert?“
Hoffentlich gar nichts, dachte Lea. Sie sagte: „Wissen Sie, ob Ihre Mieterin heute zur Arbeit gefahren ist? Ihr wurde gestern das Rad gestohlen.“
Frau Meier nickte.
„Ja, sie ist sehr zeitig aus dem Haus gegangen, um den Bus in die Kreisstadt zu erwischen. Ich habe ihre Schritte auf der Treppe deutlich gehört. – Warum wollen Sie das wissen, Frau Wachtmeister?“
Lea blieb die Antwort schuldig. Sie ließ die Vermieterin einfach stehen und rannte so schnell wie möglich zur Polizeistation. Dort war noch abgeschlossen, obwohl der Dienst bereits seit einigen Minuten begonnen hatte. Bisher hatte es noch keinen Tag gegeben, an dem Rupp nicht pünktlich auf der Wache erschienen wäre. Doch sie wollte sich jetzt nicht über ihren Kollegen den Kopf zerbrechen.
Lea hastete zum Telefon und rief im Krankenhaus der Kreisstadt an. Es dauerte nicht lange, bis sie mit der richtigen Station verbunden wurde.
„Nein, Schwester Maren ist heute nicht zur Arbeit erschienen“, sagte die Oberschwester. „Es ist nicht ihre Art, unentschuldigt fortzubleiben. Und Sie sind von der Polizei, wenn ich Sie richtig verstanden habe? Müssen wir uns Sorgen machen?“
„Wir halten Sie auf dem Laufenden“, murmelte die Polizistin und legte auf. Sie lehnte sich gegen die Wand. Ob Maren noch lebte? Lea wurde von den schlimmsten Selbstvorwürfen geplagt. Sie hätte energischer sein müssen. Wenn sie der jungen Frau verboten hätte, den gefährlichen Weg zu nehmen ... aber sie hatte Maren schließlich gewarnt! Doch das war anscheinend nicht genug gewesen.
Die Polizistin biss die Zähne zusammen. Noch gab es keinen Beweis dafür, dass der Krankenschwester wirklich etwas zugestoßen war. Den Tennisschuh konnte man als ein Indiz ansehen, mehr nicht.
Lea fragte sich, was frühmorgens an der Buchenallee geschehen war. Wenn der Täter sein Opfer an Ort und Stelle niedergestochen hätte, wäre auf dem Asphalt Blut zu sehen gewesen. Es hatte schon seit Tagen nicht geregnet, also konnten die Spuren nicht einfach weggespült werden.
Wahrscheinlicher war, dass der Mörder Maren lebend gefangen und in sein Auto gezerrt hatte. Bei dem Handgemenge hatte sie einen Schuh verloren. Ja, so könnte es gewesen sein. Doch wohin hatte er die junge Frau gebracht?
Bevor sie den Gedanken weiterführen konnte, öffnete sich die Tür. Rupp trat ein. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie immer.
„Wo bist du gewesen?“, rief sie.
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Ich musste etwas erledigen. Warum machst du gleich zu Dienstbeginn so einen Zwergenaufstand?“
Die Polizistin ging auf seinen dummen Spruch nicht ein.
„Wir haben einen Vermisstenfall, Hermann.“
„Ach, wirklich? Und wer hat die Anzeige aufgegeben?“
„Es gibt noch keinen Vorgang. Ich habe festgestellt, dass Maren Wagner ihren Arbeitsplatz in der Kreisstadt nicht erreicht hat. Das ist die junge Frau, die gestern ihr Fahrrad als gestohlen gemeldet hat.“
Der alte Polizist grinste.
„Und daraus willst du gleich eine Vermisstenmeldung stricken? Vielleicht macht die Kleine ja einfach nur blau.“
„Oder die Kleine wurde umgebracht!“, fauchte Lea. „Aber wen kratzt das, solange wir einen Obdachlosen einsperren können, dem wir es in die Schuhe schieben!“
Rupp sah aus, als ob er gleich einen Schlaganfall bekommen würde.
„Wie sprichst du überhaupt mit mir?“, fragte er. Seine Stimme klang heiser. Lea wusste, dass sie sich jetzt um Kopf und Kragen redete. Aber es war ihr egal, der alte Polizist traute ihr sowieso nicht mehr.
„Wundert dich das, Hermann? Glaubst du, dass ich nicht merke, was hier in Mönchsfelden passiert? Es geschehen grauenvolle Morde, und der wahre Täter genießt Narrenfreiheit. Und du weißt genau, was ich meine.“
Rupp erwiderte nichts. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. So, als ob er einen ganz normalen Arbeitstag in einem verschlafenen Dorf mit niedriger Kriminalitätsrate vor sich hätte.
„Du bist verrückt geworden“, sagte er nach einem kurzen Schweigen.
„Wenn du so über mich denkst – meinetwegen. Ich habe dir nichts mehr zu sagen, Hermann.“
Sie wandte sich zum Gehen.
„Wo willst du hin, Lea?“
„Ich gehe jetzt, um nach Maren zu suchen. Vielleicht lebt sie noch. Dann hat sie wahrscheinlich Todesangst und hofft ... ja, worauf? Auf uns? Du hast mal einen Diensteid geschworen, Hermann. Es ist zwar lange her, aber vielleicht erinnerst du dich noch daran.“
Mit diesen Worten eilte sie hinaus. Eigentlich hatte die Polizistin erwartet, dass ihr Kollege sie aufhalten würde. Aber das geschah nicht. Und er würde ihr wohl auch nicht eine Kugel in den Rücken jagen. Nicht hier und jetzt, wo Mönchsfelden allmählich zum Leben erwachte und ziemlich viele Menschen auf der Straße waren. Lea setzte sich in den Streifenwagen und fuhr los. Sie handelte wie in Trance. Und sie musste nicht lange überlegen, wohin sie fuhr.
Ihr Ziel war die Mordkuhle.
Die Polizistin spürte, dass dieser Ort für den Täter eine ganz besondere Bedeutung haben musste. Das Funkgerät sprang an. Rupp versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Natürlich hatte er mitbekommen, dass sie das Dienstfahrzeug genommen hatte. Er war schließlich nicht taub.
Doch sie griff nicht zum Mikrofon. Lea war wütend auf ihren Kollegen. In ihren Augen hatte er sich mitschuldig gemacht. Ob Meinhard Richter der Mörder war? So ein mächtiger Mann konnte sich in einem abgelegenen Ort wie Mönchsfelden gewiss als Herr über Leben und Tod fühlen. Doch als die Artistin und der Riese umgebracht wurden, war der Sägewerk-Besitzer höchstens zehn Jahre alt gewesen. Er konnte diese beiden Menschen damals kaum getötet haben. Oder folgte er einer perversen Familientradition? Und was sollte die Signatur MZ bedeuten? Gewiss, M konnte für Meinhard stehen. Aber der Buchstabe Z?
Es war müßig, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Lea wollte herausfinden, was Richter und seine Handlanger zu verbergen hatten. Doch zunächst musste sie erfahren, was mit der jungen Krankenschwester geschehen war.
Obwohl sie sich vor der Wahrheit fürchtete.
Die Polizistin erreichte die Stelle, wo man von der Kreisstraße auf einen Forstweg abbiegen musste. Sie hoffte, dass sie sich nicht vertan hatte. Für Lea sah der Wald überall gleich aus: bedrohlich, düster, scheinbar unendlich. Und hinter jedem Baumstamm konnte die Gefahr lauern. Es gab unzählige Möglichkeiten, ihr eine Falle zu stellen.
Wenn der Mörder sein Opfer extra verschleppt hatte, um die Polizistin in einen Hinterhalt zu locken? Er hatte schon durch den Krankenhausbrand bewiesen, dass er in seinem Sinn reinen Tisch machen wollte. Sie brachte den Wagen zum Stehen, stieg aus und lauschte.
Vögel waren zu hören, außerdem viele kleine Geräusche im Unterholz. Der Staatsforst lebte, er war wie ein atmender Organismus. Und er bot den perfekten Rückzugsort für einen skrupellosen Killer.
Lea hatte die Hand an ihrem Pistolenholster, als sie sich Richtung Mordkuhle bewegte. Die vorschriftsmäßig eingeschlossene Dienstwaffe hatte sie sofort beim Betreten der Polizeistation eingesteckt. Ein Automatismus, der sich nun bezahlt machte. Sie wollte ihrem unheimlichen Widersacher jedenfalls nicht mit leeren Händen gegenüber treten.
Es raschelte im Gebüsch. Ihre Anspannung stieg, je näher sie ihrem Ziel kam. Von weitem sah sie schon das rot-weiße Trassierband, das nach dem Verbrechen an Tanja Welling gespannt worden war.
Sonnenstrahlen fielen zwischen den Baumwipfeln hindurch auf die Senke. Leas Magen krampfte sich zusammen, denn schon aus der Entfernung sah sie etwas in der Mordkuhle liegen. Auf den ersten Blick schien es ein Bündel von Altkleidern zu sein. Doch daran glaubte die Polizistin nicht. Es kam öfter vor, dass Leute ihren Schrott oder Abfall in einem Gehölz entsorgten. Das geschah allerdings niemals so weit von der Straße entfernt.
Und wenn ich nun direkt in eine Falle tappe?
Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Wenn Lea Gewissheit haben wollte, musste sie weiter vorwärts gehen. Sie zog ihre Pistole. Von Tanja Wellings und Tom Reuters Mörder hatte sie keine Gnade zu erwarten. Und sie war sicher, dass sie bei diesem Angreifer ohne Zögern den Abzug betätigen würde.
Das Blut jagte heiß durch ihre Adern, als sie die letzten Baumstämme hinter sich ließ und auf die Lichtung trat. Lea hatte sich innerlich schon darauf eingestellt, Marens blutüberströmten Körper in der Mordkuhle zu erblicken. Doch das geschah nicht.
Stattdessen starrte Lea fassungslos auf Felix. Tot und ausgeblutet lag er nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo Tanjas sterbliche Überreste gefunden worden waren. Seine Kehle war durchtrennt worden. Und diesmal hatte der Mörder wieder seine Signatur hinterlassen. Das T-Shirt des Lokalreporters war zerschnitten. Daher konnte man die in seine Brust geritzten Buchstaben M und Z unmöglich übersehen.
Lea kämpfte mit einem Brechreiz.
Ihre rechte Hand krampfte sich um den Griff ihrer Dienstwaffe, während sie sich mit links an einem Baum abstützte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Blut brauste in ihren Ohren. Einen Moment lang schien es, als ob sie das Bewusstsein verlieren würde. Schon senkten sich die schwarzen Schleier, um sie ohnmächtig zu Boden sinken zu lassen.
Doch sie kämpfte mit aller inneren Kraft dagegen an. Die Polizistin durfte jetzt auf gar keinen Fall hilflos in die Mordkuhle stürzen. Darauf wartete ihr grausamer Feind vermutlich nur. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wenn der Mörder sie mit Felix‘ Tod hatte verletzen wollen, so war ihm dieses Vorhaben gelungen. Lea war drauf und dran gewesen, sich in den jungen Journalisten zu verlieben. Er war der Einzige, mit dem sie in diesem verflixten Kaff am Ende der Welt etwas anfangen konnte.
Oder hatte der Täter noch aus einem anderen Grund wieder zugeschlagen? War Felix im Rahmen seiner Recherchen auf des Rätsels Lösung gestoßen? Das konnte sie momentan nicht nachvollziehen. Sie musste jetzt systematisch vorgehen, durfte sich nicht in ihren Schmerz und ihre Trauer fallenlassen. Lea wartete einige Minuten, bis ihr Körper den ersten Schock dieses Anblicks überwunden hatte. Sie war selbst über ihre Stärke erstaunt, die es ihr ermöglichte, noch weiter auf die Leiche zuzugehen.
Sie würde sich gewiss nicht heulend über den Toten werfen, wie es Schauspielerinnen in melodramatischen Filmen oft taten. Vielmehr sie wollte die Tat in ihrer ganzen Unmenschlichkeit begreifen, um den Mörder überführen zu können. Der Boden in Felix‘ Nähe wies nicht viele Spuren auf. Hätte hier ein Kampf stattgefunden, dann wäre die Beschaffenheit eine andere gewesen. Also musste der Täter sein Opfer hier einfach abgelegt haben. Doch dafür war gewiss Hilfe nötig gewesen. Die Polizistin schätzte, dass Felix ungefähr achtzig Kilo gewogen haben musste. Wenn der Verbrecher nicht gerade ein Hüne war, würde er den Toten wohl kaum allein von der Forststraße bis hierher geschleppt haben. Jedenfalls nicht, ohne entsprechende Spuren zu hinterlassen.
Darum soll sich die Kriminaltechnik kümmern, dachte Lea. Und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass sie jetzt schon wieder klar denken konnte. Das schmerzliche Gefühl des Verlustes würde vermutlich erst später richtig einsetzen. Wenn sie allein wäre und sich nach diesem Mann sehnte, der sie nie wieder würde berühren können.
Und genau jetzt ertrug sie es nicht, seine toten Augen Richtung Himmel starren zu sehen. Kurz entschlossen zog sie ihre Uniformbluse aus. Darunter trug sie noch ein weißes T-Shirt. Sie nahm das Kleidungsstück und drapierte es über den Kopf und Oberkörper der Leiche.
Gewissermaßen war es auch ein symbolischer Akt, dass sie nun die Bluse mit dem Schriftzug POLIZEI nicht mehr anhatte. Es kam ihr so vor, als ob sie nun völlig auf sich allein gestellt wäre. Sie würde den Mörder als Einzelkämpferin jagen, nicht mehr als Teil einer Strafverfolgungsbehörde.
Und es war noch eine Aufgabe dazugekommen: die Rettung von Maren. Bis Lea einen Beweis für den Tod der Krankenschwester hatte, würde sie davon ausgehen, dass sie gefangen gehalten wurde. Womöglich sollte sie diesem kranken Dreckskerl als Lockvogel dienen.
Das kannst du haben!, dachte Lea. Aber es wird anders ausgehen, als du es dir vorgestellt hast!
Sie spürte, dass Trauer und Wut ihren Verstand zu vernebeln drohten. Das durfte nicht geschehen. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, sonst hatte ihr Feind schon gewonnen. Auch wenn sie sich allein auf die Suche nach dem Täter machen wollte, so musste doch Felix‘ Leichnam so bald wie möglich obduziert und seine Kleidung kriminaltechnisch untersucht werden.
Lea wollte Frenz anrufen, natürlich mit dem Satellitentelefon. Sie traute Rupp weniger als jemals zuvor. Ob er womöglich sogar etwas mit dem Mord an dem Reporter zu tun hatte?
Diese Frage musste einstweilen unbeantwortet bleiben. Lea eilte zurück zum Forstweg. Dabei erwartete sie jeden Moment, das triumphierende wahnsinnige Gelächter ihres Widersachers zu vernehmen. Doch das geschah nicht. Ob er sich gar nicht in der Nähe aufhielt? Davon war sie nicht überzeugt. Vielmehr bildete sie sich ein, dass sie aus sicherer Entfernung beobachtet wurde. Allerdings war zwischen den Bäumen nirgendwo eine Gestalt zu erblicken. Das wunderte Lea nicht. Wenn der Staatsforst für den gut getarnten Mörder eine zweite Heimat geworden war, dann konnte er sich hier beinahe unsichtbar machen.
Immer wieder warf sie spontan Seitenblicke nach links und rechts. Doch auch wenn sie öfter Geräusche hörte, die ihr verdächtig vorkamen, konnte sie keinen greifbaren Gegner in der Nähe sehen.
Wenn der Verbrecher Lea zermürben wollte, dann hatte er mit dieser Taktik Erfolg. Das musste sie sich eingestehen. Endlich erreichte sie die Stelle, wo sie den Streifenwagen zurückgelassen hatte.
Doch das Fahrzeug war fort!
Einen Moment lang dachte Lea, dass sie den Verstand verlieren würde. Aber sie hatte es sich nicht eingebildet, dass sie mit dem Auto gekommen war. Die Reifenspuren waren immer noch deutlich zu sehen. Und überhaupt: Wer mehrere bestialische Morde beging, würde gewiss keine Hemmungen haben, ein Polizeifahrzeug zu stehlen.
Sie war sicher, dass der Mörder dahinter steckte. Jedenfalls konnte Lea sich nicht vorstellen, dass eine andere Person damit zu tun hatte. Allenfalls ein Komplize. Mehr und mehr verfestigte sich ihre Annahme, dass der Täter handfeste Hilfe von mindestens einem anderen Mann bekam.
Vielleicht von Rupp?
Sie schob diesen Gedanken einstweilen beiseite. Lea ging auf dem Forstweg bis zur Kreisstraße. Dort schlug sie die Richtung nach Mönchsfelden ein. Ihre Pistole hatte sie zunächst wieder geholstert. Lea plante nämlich, per Anhalter zu fahren. Und wenn sie eine Schusswaffe in der Hand hielte, würde dadurch gewiss so mancher gutwillige Mensch abgeschreckt werden.
Es dauerte nicht lange, bis ein Auto kam. Der VW Passat hatte auswärtige Nummernschilder. Das war gut, wie Lea fand. Denn bei jedem Mönchsfeldener musste sie davon ausgehen, dass er mit Richter unter einer Decke steckte.
In dem Wagen saß ein älteres Paar. Die Frau auf dem Beifahrersitz kurbelte die Seitenscheibe herunter. Ihr Blick fiel auf Leas Uniformhose und ihren Waffengurt.
„Sind Sie eine Polizistin?“
„Ja. Könnten Sie mich bitte nach Mönchsfelden mitnehmen?“
Die beiden erklärten sich einverstanden. Falls sie sich darüber wunderten, dass sie mit einem weißen T-Shirt bekleidet war, ließen sie es sich nicht anmerken. Das Paar kam aus einem weiter entfernten Bundesland, wo die Polizeiuniform sowieso anders aussah.
„Wie geht es jetzt eigentlich in Mönchsfelden weiter, junge Frau?“, fragte der Fahrer, nachdem er den Motor wieder gestartet hatte.
„Wie meinen Sie das?“, erwiderte Lea irritiert. Im Rückspiegel konnte sie seine Augen sehen. Der ältere Mann blinzelte ihr zu.
„Nun, ich spreche davon, dass das Sägewerk kurz vor der Pleite steht. Und soweit ich weiß, ist der ganze Ort wirtschaftlich von diesem Betrieb abhängig.“
„Alfred, das geht uns nichts an“, bemerkte seine Frau tadelnd.
Lea hatte nicht gewusst, wie es um Richters Unternehmen stand. Doch falls Alfreds Behauptung stimmte, würde sich ein weiteres Puzzleteil ins Gesamtbild fügen. Natürlich ging es dem Betrieb nicht gut, wenn sich der Chef die ganze Zeit mit Verbrechen befasste, anstatt das Sägewerk aus den roten Zahlen zu holen.
„Woher haben Sie diese Information?“, wollte Lea wissen.
„Ich bin vereidigter Wirtschaftsprüfer, da bekommt man so einiges mit“, sagte Alfred. Lea wusste nicht, ob er sich nur wichtigmachen wollte oder ob sie gerade eine wichtige Information bekommen hatte. Falls das Gerücht stimmte, stand Richter jedenfalls mit dem Rücken zur Wand. Und das machte ihn noch gefährlicher, als er es ohnehin schon war.
„Aha.“
Das war alles, was Lea dem Passat-Fahrer erwiderte. Sie hatte keine Lust auf eine unverbindliche Plauderei. Es war ihr unter Auferbietung aller Kräfte gelungen, den Schock über Felix‘ Ermordung zu unterdrücken. Doch sie wusste, dass er später umso stärker wieder an die Oberfläche kommen würde.
Alfred nickte.
„Sie als Beamtin sind ja zum Glück von diesen Entwicklungen nicht betroffen“, meinte er gönnerhaft.
Die Polizistin war froh, als sie wenig später die Stadtgrenze von Mönchsfelden passierten und sie sich von dem Ehepaar vor dem Rathaus absetzen ließ. Der – selbsternannte? Wirtschaftsprüfer war ihr schon nach wenigen Minuten Bekanntschaft extrem auf den Wecker gegangen.
Lea flitzte schnell in die Turmgasse, bevor sie von Rupp bemerkt werden konnte. Der Streifenwagen stand nicht vor der Polizeistation. Sie vermutete, dass das Einsatzfahrzeug vom Mörder oder einem seiner Komplizen geklaut worden war. Ob ihr Kollege immer noch hinter seinem Schreibtisch saß wie die Spinne im Netz? Sie wusste es nicht. Doch sie wollte auf jeden Fall vermeiden, ihm über den Weg zu laufen.
Die Polizistin schlug einen Bogen und näherte sich dem Gasthof von hinten. Sie schloss die seitliche Außentür auf. Von dort aus gelangte man über eine steile Stiege direkt zu den Fremdenzimmern.
Die Tür zu ihrem eigenen Zimmer war nicht abgeschlossen. Lea runzelte die Stirn. Sie war hundertprozentig sicher, dass sie beim Weggehen abgeschlossen hatte. Sie betrat den Raum und unterdrückte einen Fluch.
In ihrer Abwesenheit war jemand hier gewesen, hatte alles durchwühlt. Ihre Matratze lag aufgeschlitzt auf dem Boden, die Bücher und andere Gegenstände waren aus den Regalen gerissen worden. Das Satellitentelefon fehlte natürlich.
Lea stand immer noch in der offenen Tür. Da vernahm sie ein leises Geräusch hinter sich. Und sie erkannte, dass die Rückkehr nach Mönchsfelden ein Fehler gewesen war.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine schemenhafte Gestalt. Im nächsten Moment bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Hinterkopf. Lea stürzte in den schwarzen Abgrund der Bewusstlosigkeit.
Als Erstes bemerkte sie den Geruch nach fauligem Holz. Und sie schmeckte Blut, vermutlich ihr eigenes. Lea musste sich auf die Zunge gebissen haben, als sie ohnmächtig geworden war. Ihre Kopfschmerzen waren grässlich, doch nach ein paar tiefen Atemzügen ließen sie etwas nach. Nun taten allerdings ihre Rippen weh. Und sie fror, und das mitten im Hochsommer.
Noch konnte Lea sich nicht dazu aufraffen, die Augen zu öffnen. Sie wusste auch ohne visuelle Eindrücke, dass sie sich nicht mehr im Gasthof befand. Man hatte sie verschleppt, an einen anderen Ort.
An einen bösen Ort.
Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als sie nach ihrem Pistolenholster tastete. Es war leer. Man hatte ihr die Dienstwaffe abgenommen. Doch während ihre Finger über den Gürtel und ihre Uniformhose glitten, konnte sie feststellen, dass sie nach wie vor komplett bekleidet war.
Immerhin haben sie mir noch nicht die Kleider vom Leib gerissen, dachte Lea grimmig. Ich sollte auch für Kleinigkeiten dankbar sein!
Die Vorstellung, skrupellosen Verbrechern hilflos ausgeliefert zu sein, hätte sie eigentlich in Panik versetzen müssen. Doch Felix‘ gewaltsamer Tod übte eine seltsam dämpfende Wirkung auf ihr Gefühlsleben aus.
Lea kam sich vor, als ob sie neben sich selbst stehen würde und die Ereignisse nur zeitverzögert mitbekäme. Oder war diese seltsame Empfindung auf den Schlag zurückzuführen, mit dem sie ausgeknockt worden war?
Sie rang sich endlich dazu durch, die Augen zu öffnen. Langsam drehte sie den Kopf. Lea befand sich in einem Raum, der mehr schlecht als recht durch eine altmodische Stalllaterne beleuchtet wurde. Ein Fenster schien es nicht zu geben. Die Polizistin lag an einer Wand, die aus grob behauenen Steinen bestand. War sie in einer Burgruine oder einem ähnlichen Gemäuer? Es gab eine hölzerne Tür mit eisernen Beschlägen. Sie war so niedrig, dass ein ausgewachsener Mensch sich bücken musste, um eintreten zu können.
Ein Verlies.
Dieser Gedanke schoss Lea durch den Kopf. Sie kannte solche Gelasse nur aus Mantel-und-Degen-Filmen. Hier fehlte allerdings das schmutzige Stroh und die zerlumpte bärtige Gestalt, die schon seit vielen Jahrzehnten gefangen gehalten wurde. Genau genommen bestand die ganze Einrichtung ihres Gefängnisses nur aus einem Holzschemel. Lea selbst lag auf dem nackten Boden.
Allmählich konnte sie die Kälte der steinernen Quader unter sich spüren. Sie zog die Beine an und versuchte, sich an der Wand in eine sitzende Position zu erheben. Die Hände konnte Lea dabei nicht zu Hilfe nehmen, denn ihre Gelenke waren hinter ihrem Rücken gefesselt. Und zwar mit einem Jutestrick, wenn sie das Scheuern auf ihrer Haut richtig einordnete.
Warum hatte man ihr nicht ihre eigenen Handschellen angelegt? Sie wusste es nicht. Vielleicht war die stählerne Acht aus ihrem Gürtel gerutscht, als man sie verschleppt hatte.
„Hallo? Ist hier jemand?“
Lea erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. Und das lag nicht nur daran, dass sie sich brüchig und verängstigt anhörte. Ihre Worte hallten von den Steinwänden wider. Eine Antwort kam nicht. Die Polizistin lauschte. Es war unmöglich einzuschätzen, wie weit entfernt von jeder Zivilisation sie sich befand. Selbst Mönchsfelden erschien ihr plötzlich im Vergleich zu diesem verflixten Gemäuer als eine pulsierende Metropole.
Und ein furchtbarer Gedanke breitete sich immer stärker in ihrem Bewusstsein aus: Was, wenn sie einfach hier zurückgelassen worden war? Es spielte überhaupt keine Rolle, ob ihr jemand die Kehle durchschnitt. Lea würde verdursten und verhungern, wenn man sie nicht fände.
Ein grässlicher Tod. Sie hatte gelesen, dass man zuerst den Verstand verlor. Das Gehirn benötigte dringend Wasser.
Doch so weit war es noch nicht. Sie zwang sich dazu, ihre Lage möglichst objektiv einzuschätzen. Obwohl ihre aufsteigende Panik es ihr nicht gerade einfach machte. Frenz würde früher oder später misstrauisch werden, wenn sie sich gar nicht mehr meldete. Vor allem dann, wenn er nach einer Dienstanweisung des Polizeipräsidenten an dem Fall weiter arbeiten durfte.
Und wenn der „Pirat“ nun kein grünes Licht bekäme?
Diese Befürchtung hing mit der Frage zusammen, wer Lea gekidnappt hatte. Und da fiel ihr nur ein Drahtzieher im Hintergrund ein.
Meinhard Richter.
Der Unternehmer hatte gewiss ursprünglich dafür sorgen wollen, dass die Morduntersuchung Tanja Welling eingestellt wurde. Das war ihm auch gelungen – bis Lea ihren Ex-Liebhaber angerufen und ihn erpresst hatte. Jetzt, da sie eingesperrt war, konnte sie dem Polizeipräsidenten nicht mehr gefährlich werden. Es gab in dieser Gleichung allerdings eine Unbekannte.
Hoffmann würde gewiss nicht Richter anrufen und sich bei ihm ausheulen, weil seine Ex-Geliebte plötzlich rebellisch wurde. Der Polizeipräsident hatte das größte Interesse daran, dass Leas Schwangerschaftsabbruch vertuscht wurde. Also würde er ihre Forderung erfüllen.
Diese Überlegung war zumindest momentan ihr einziger Hoffnungsschimmer.
Wie sollte es nun weitergehen?
Es war offensichtlich sinnlos, noch einmal zu schreien. Es hörte sich nicht so an, als ob irgendjemand in Hörweite wäre. Vermutlich befand Lea sich wirklich in einer Ruine. Sie glaubte, weit entfernt Waldgeräusche zu vernehmen.
Dieser verflixte Staatsforst! Es kam ihr so vor, als ob er sich bis in die Unendlichkeit ausbreiten würde. Warum war sie hierher geschafft worden? Sie versuchte, die Pläne ihrer Widersacher zu durchschauen.
Warum hatte man sie nicht an Ort und Stelle getötet? So hätte man sicher sein können, dass Lea keine Schwierigkeiten mehr machen würde. Aber sie lebte noch, und dafür konnte es nur einen überzeugenden Grund geben.
Man wollte herausfinden, wie viel sie bereits wusste. Und das war leider nicht allzu viel.
Ein leises Knarren riss sie aus ihren Überlegungen. Sie widerstand der Versuchung, sich lautstark bemerkbar zu machen. Wer immer jetzt gleich zu ihr kam, war ihr gewiss nicht wohlgesonnen. Lea wollte sich keine Blöße geben. Sie musste versuchen, ihre Furcht und Beklemmung zu unterdrücken. Nur dann hatte sie eine Chance, die nächsten Stunden lebend zu überstehen. Sie führte sich vor Augen, dass die Zeit für sie arbeitete. Je länger sie verschollen blieb, desto eher würde Frenz etwas zu ihrer Rettung unternehmen.
Er war der intelligenteste Kriminalbeamte, den sie kannte. Auf wen sollte sie hoffen, wenn nicht auf ihn?
Schritte näherten sich ihrem Gefängnis. Lea presste die Lippen zusammen. Ihr Herz schlug schneller. Es klang, als ob ein Riegel zurückgeschoben wurde. Dann stieß jemand die Tür auf.
Ein Mann trat ein.
Sie war nicht wirklich überrascht, Meinhard Richter vor sich zu sehen.
„Halten Sie es für eine besonders clevere Idee, eine Polizistin im Dienst niederzuschlagen und zu entführen?“
Diesen Satz warf Lea dem Unternehmer an den Kopf, noch bevor er den Mund öffnen konnte. Sie wollte ihm gleich deutlich machen, dass sie sich vor ihm nicht ängstigte. Ob es funktionierte, konnte sie noch nicht einschätzen.
Sein Gesicht blieb ausdruckslos, während er langsam näher kam und sich auf dem Schemel niederließ. Richter blieb auf Abstand, aber sie konnte trotzdem sein teures After Shave riechen.
Er hob die Augenbrauen und schenkte ihr ein schmallippiges Lächeln.
„Von was für einer Entführung sprechen Sie, Frau Kramer? Dafür gibt es keine Augenzeugen.“
„Darauf möchte ich wetten!“, fauchte Lea. „Allein schon, weil das ganze Kaff nach Ihrer Pfeife tanzt!“
Richter runzelte die Stirn.
„Sie sollten nicht so abfällig über Mönchsfelden sprechen.“
„Ich mag nun mal keine Orte, an denen grausame Morde vertuscht werden.“
Der Sägewerk-Besitzer ging auf diesen Satz nicht ein. Stattdessen sagte er: „Niemand wird auf die Idee kommen, dass Sie entführt wurden. Ihr Zimmer wurde bereits wieder hergerichtet, Ihre Sachen sind verschwunden. Es wird heißen, dass Sie mit unbekanntem Ziel abgereist sind. Ihr Ruf bei der Polizei ist ja nicht der allerbeste, Frau Kramer. Diese Tatsache spielt uns natürlich in die Hände. Herr Rupp wird gern bestätigen, dass Sie eine äußerst unzuverlässige Kollegin waren, die sich vor ihren Dienstverpflichtungen gedrückt hat und offen Befehle verweigerte.“
„Klar, Rupp frisst Ihnen ja aus der Hand“, höhnte Lea. Sie musste zugeben, dass Richters Plan tatsächlich funktionieren könnte. Es gab genügend Kollegen, die es ihr zutrauen würden, den Job hinzuwerfen und mit unbekanntem Ziel unterzutauchen.
Nur Frenz würde die Wahrheit erraten. Zumindest hoffte sie das.
Der Unternehmer schaute sie prüfend an.
„Ich muss zugeben, dass dieses Satellitentelefon eine gute Idee war. Vermutlich hielten Sie damit Kontakt zu diesem genialen Ermittler? Er wird der Pirat genannt, nicht wahr?“
„Darüber werden wir ausführlich sprechen, nachdem ich Ihnen Handschellen angelegt habe.“
Richter lachte.
„Ich fürchte, dass Sie den Ernst Ihrer Lage verkennen, Frau Kramer.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Keineswegs. Ich frage mich nur, weshalb Sie mich am Leben gelassen haben.“
„Sie verkennen mich“, behauptete er. „Halten Sie mich für einen Mörder?“
„Sagen Sie es mir.“
„Ich habe noch niemals einen Menschen getötet.“
Lea schaute ihn prüfend an. Wollte Richter sie verschaukeln? Nein, so war es nicht. Er nahm eine ähnliche Rolle ein wie Rupp es tat. Die beiden Männer schützten den wahren Verbrecher. Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Zumindest einen Mord können Sie nicht begangen haben. Der Tod dieser jungen Artistin geht nicht auf Ihr Konto, oder? Es sei denn, Sie wären frühreif gewesen.“
Richter zuckte kurz zusammen, doch dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
Sie grinste, obwohl ihr nicht danach zumute war. Aber solange dieser Mann mit ihr redete, würde er sie nicht umbringen. Außerdem wollte sie endlich die Wahrheit erfahren.
„Wirklich nicht, Herr Richter? Ich habe die Aufzeichnungen von Herrn Lauge gelesen. Er muss als Jüngling sehr für das Mordopfer geschwärmt haben. Und der Riese, der zu Unrecht verdächtigt wurde? Er wollte in Wirklichkeit die Artistin nur beschützen. Dafür hat er mit seinem Leben bezahlt. Und Sie können mir nicht erzählen, dass der Dorfchronist bei dem Krankenhausbrand rein zufällig ums Leben kam.“
Die Gesichtszüge des Sägewerkbesitzers verhärteten sich, während Lea redete. Sie fragte sich, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
„Aus Ihnen hätte wirklich eine gute Polizistin werden können“, sinnierte Richter. „Sie haben schon viel herausgefunden. Daher haben Sie es verdient, die ganze Geschichte zu erfahren.“
Wie großmütig von Ihnen! Diesen Satz wollte Lea ihrem Gegenüber schon an den Kopf werfen. Allerdings erschien es ihr sinnvoller, den Mund zu halten. Sie war äußerst gespannt darauf, was sie jetzt hören würde.
Richter ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Ob er nach einem passenden Anfang suchte?
„Wissen Sie überhaupt, wo Sie sich hier befinden, Frau Kramer?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Dieses Gebäude ist eine Klosterruine. Das Konvent wurde vor über hundert Jahren offiziell säkularisiert. Meine Familie hat damals das Grundstück erworben. Hier sollten Holzlager errichtet wurden. Aber als man die Kreisstraße baute, wurden die Pläne hinfällig. Dieses ehemalige Kloster liegt einfach zu weit vom Schuss.“
„Warum erzählen Sie mir das alles?“
„Nicht so ungeduldig, junge Frau. Wir befinden uns hier mitten im Wald. An diesem abgelegenen Platz lässt sich ein dunkles Familiengeheimnis bestens verstecken.“
Nun begriff Lea allmählich. Darauf hätte sie schon längst kommen können.
„Ein Verwandter von Ihnen hat damals die Artistin und den Riesen niedergemetzelt!“
Richter nickte langsam. Für einen Moment zeigte sein Gesicht beinahe so etwas wie Bedauern.
„Mein Onkel war ein kranker Mann. Er litt an einer unheilbaren psychischen Störung. Sie werden mitbekommen haben, dass meine Familie hier in Mönchsfelden eine sehr starke Position hat. Es gab und gibt viele Neider. Niemand durfte vom Zustand meines Verwandten erfahren. Also setzte mein Vater das Gerücht in die Welt, dass sein Bruder nach Amerika ausgewandert wäre.“
„Und in Wirklichkeit befand er sich nicht in Übersee, sondern in der Klosterruine.“
„Sie haben es erfasst, Frau Kramer. Wir mussten meinen Onkel vor sich selbst beschützen. Gelegentlich hatte er Anfälle von unkontrollierbarer Aggression. Bei einer dieser Attacken gelang ihm die Flucht.“
„Ich verstehe“, grollte Lea. „Ihr Onkel tötete die Artistin und den Riesen. Aber es gab mindestens einen Zeugen, nämlich Heinrich Lauge.“
„Lauge war zum Glück ein Feigling“, sagte Richer verächtlich. „Er hat sich niemals getraut, sein Wissen weiterzugeben. Darum konnte ich es mir leisten, ihn in Ruhe zu lassen. Bis es zu den tragischen Ereignissen im Zusammenhang mit Tanja Wellings Tod kam.“
„Tragische Ereignisse? So kann man es auch nennen“, höhnte Lea. „Wenn Ihr Onkel vor fünfzig Jahren diese Taten begangen hat, muss er noch ziemlich rüstig ... nein, das ist Unsinn.“
Sie unterbrach sich selbst. Und dann erkannte sie den offensichtlichen Zusammenhang. Lea fuhr zögernd fort: „Es gibt einen Nachfahren! Ihr Onkel hat irgendwann einen Sohn gezeugt.“
Richter verzog keine Miene.
„Das stimmt. Wir hatten eine verschwiegene tschechische Pflegerin engagiert, um meinen Onkel zu betreuen. Leider konnte er sie eines Tages überwältigen ...“
Lea fiel ihm ins Wort.
„Der Mörder hat diese Frau mit Gewalt genommen und geschwängert! Was ist aus ihr geworden?“
Der Sägewerk-Besitzer schaute die Polizistin prüfend an, bevor er antwortete.
„Sie starb bei Gregors Geburt. Zunächst schien das Kind sich völlig normal zu entwickeln, wir schöpften Hoffnung. Doch leider zeigte sich schon früh, dass Gregor die psychischen Beeinträchtigungen seines Vaters geerbt hatte. Wir konnten ihn nicht frei herumlaufen lassen.“
Lea fragte sich allmählich, wer das eigentliche Monster war. Der Killer oder derjenige, der ihn wie ein wildes Tier gefangen hielt? Wahrscheinlich beide. Richter und sein Cousin Gregor bildeten eine unheilvolle Symbiose. Wären die Morde nicht passiert, wenn man den Geisteskranken in einer richtigen Fachklinik therapiert hätte? Wahrscheinlich nicht. Und selbst wenn er von dort hätte fliehen können, wäre sofort eine Fahndung eingeleitet worden. Während hier in Mönchsfelden alles versucht wurde, um die Existenz dieses Menschen zu verleugnen.
„Aber gelegentlich entwischt Gregor Ihnen trotzdem“, stellte Lea mit tonloser Stimme fest. „Dann meuchelt er Menschen, was ihn zu bizarren Lachanfällen veranlasst.“
„Er ist leider nicht Herr seiner Sinne“, sagte Richter. Aber es klang nicht so, als ob ihn diese Tatsache besonders berühren würde.
„Sowohl Gregor als auch sein Vater haben die Buchstaben M und Z in die Haut ihrer Opfer geritzt. Können Sie mir sagen, was das bedeuten soll?“
Richter hob die Schultern.
„Die Initialen stehen wohl für Malefiz.“
„Malefiz?“, echote die Polizistin verständnislos. Sie kannte nur ein Brettspiel, das so hieß.
„Malefiz ist ein veralteter Ausdruck für Missetat oder Verbrechen“, erklärte der Unternehmer. „Mein Onkel war sich trotz seines verwirrten Geistes darüber im Klaren, dass er etwas Falsches tat. Weshalb Gregor diese Signatur übernommen hat, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht hat er auf irgendwelchen seltsamen Wegen von den Taten seines Vaters erfahren.“
Lea hatte einen Kloß im Hals. Und doch musste sie ihre nächste Frage stellen.
„Hat Gregor eine junge Frau namens Maren Wagner entführt?“
Der Unternehmer schien Leas Beklemmung zu spüren. Sie hatte eine Schwäche oder Verletzlichkeit gezeigt, und das gefiel ihm offenbar. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Grinsen.
„Sie können völlig unbesorgt sein, Frau Kramer. Gregor hat die junge Krankenschwester nicht angerührt – noch nicht. Ich selbst habe mir erlaubt, sie durch einige Mitarbeiter ... sagen wir ... mit Nachdruck hierher zu bitten.“
Die Polizistin wusste nicht, was sie von diesem Geständnis halten sollte.
„Sie haben Maren kidnappen lassen? Aus welchem Grund?“
Richter machte eine unbestimmte Handbewegung.
„Nun, sie passt genau in Gregors Beuteschema. Nachdem wir ihr Fahrrad entwendet hatten, musste sie sich auf einen sehr einsamen Weg zur Bushaltestelle begeben. Es war ein Kinderspiel, sie dort abzupassen und in einen Transporter zu zerren.“
Lea konnte immer noch nicht glauben, was sie zu hören bekam. Sie musste sich Klarheit verschaffen.
„Maren ist also hier?“
„Ja, ich habe sie ebenfalls in der Klosterruine unterbringen lassen. Dass Sie hierher gebracht wurden, geschah relativ spontan und ungeplant, Frau Kramer. Sie haben für meinen Geschmack ein wenig zu viel Staub aufgewirbelt. Ich konnte nicht riskieren, dass Sie oder Ihr Reporterfreund meine Familiengeheimnisse ans Licht der Öffentlichkeit bringen.“
Leas Augen füllten sich mit Tränen, als der Sägewerk-Besitzer Felix erwähnte. Sie wollte um keinen Preis der Welt vor diesem elenden Schurken weinen, doch ihre Gefühle waren aktuell stärker als ihr Verstand.
„Sind Sie ... haben Sie Felix‘ Tod ebenfalls befohlen?“
Richter schüttelte den Kopf.
„Nein. Was diesen Todesfall angeht, kann ich meine Hände in Unschuld waschen. Vermutlich hat Gregor sich an Ihrem Freund ausgetobt. Selbiges gilt auch für diesen Mofa-Rocker. Er hatte einfach das Pech, meinem Verwandten über den Weg zu laufen. Er war sozusagen zur falschen Zeit am falschen Ort. Das ist alles.“
Es entstand eine kurze Pause, in der Lea ihre Gedanken ordnete. Sie hätte gern ihre Tränen weggewischt, aber mit hinter dem Rücken gefesselten Händen ging das nicht. Und sie wollte ihren Peiniger ganz gewiss nicht darum anflehen, den Strick zu lösen. Davon versprach sie sich überhaupt nichts.
„Also ist Gregor immer noch da draußen“, stellte die Polizistin mit tonloser Stimme fest.
„Ja, richtig. Obwohl er einen Großteil seines Lebens in der Klosterruine verbracht hat, scheint er sich intuitiv in den Wäldern gut auszukennen. Fragen Sie mich nicht, woran das liegt. Ich bin kein Wissenschaftler.“
„Nein, Sie sind ein skrupelloser Verbrecher!“, stieß Lea voller Abscheu hervor.
Daraufhin sprang Richter von seinem Schemel auf, trat schnell einige Schritte auf sie zu und verpasste ihr eine fürchterliche Maulschelle. Das Blut floss aus ihrer Nase. Gleich darauf nahm er wieder auf seiner Sitzgelegenheit Platz und redete in normalem Tonfall weiter.
„Wir wollen uns doch nicht auf das Niveau persönlicher Beleidigungen begeben, oder? Ich habe lediglich unkonventionelle Schritte unternommen, um den Ruf meiner Familie zu beschützen.“
Die Polizistin schwieg. Sie hatte es schon öfter erlebt, dass Kriminelle ihre Handlungen unbedingt glaubten rechtfertigen zu müssen. Sogar Ladendiebe schoben die „Schuld“ auf die Einzelhändler, weil diese angeblich ihre Ware nicht genügend gesichert hätten. Warum konnten sich diese Leute nicht einfach dazu bekennen, dass sie mit voller Absicht und aus eiskaltem Kalkül die Gesetze gebrochen hatten? Richter war ein besonders extremes Beispiel. Er hatte offensichtlich überhaupt kein Unrechtsbewusstsein und ging buchstäblich über Leichen, um das düstere Geheimnis seiner Sippe zu bewahren.
Was für eine Ironie, dass so ein Mann ausgerechnet Richter heißt!, dachte Lea.
Ihr Gegenüber fuhr fort: „Erfahrungsgemäß wird mein Cousin früher oder später in die Klosterruine zurückkehren.“
Lea kam plötzlich eine Idee: „Haben Ihr Onkel und Ihr Cousin deshalb Jungfrauen abgeschlachtet? Weil sie in diesem ehemaligen Konvent hausen mussten und dadurch zu religiösen Wahnvorstellungen angeregt wurden?“
„Diese Frage könnte Ihnen wohl nur ein Nervenarzt beantworten, Frau Kramer. Ich hoffe, dass ich Ihre Neugier befriedigen konnte. Allerdings wird Ihnen Ihr frisch erworbenes Wissen nichts mehr nützen.“
Lea presste die Lippen aufeinander, bevor sie etwas erwiderte.
„Sie halten Maren Wagner und mich hier gefangen, damit Gregor uns töten kann?“
Richter nickte.
„Das habe ich vor. Erfahrungsgemäß wird sein Blutdurst dann gestillt sein, und er dürfte sich widerstandslos einsperren lassen. Ich versichere Ihnen, dass mein Cousin uns nicht noch einmal entkommen wird.“
Mit diesen Worten wandte Richter sich ab und verließ Leas Gefängnis. Sie konnte hören, wie der Riegel von außen wieder vorgeschoben wurde. Wenigstens verfügte sie dank der Stalllaterne über etwas Licht. Der Unternehmer hatte darauf verzichtet, ihr etwas zum Essen oder Trinken anzubieten. Doch nach Lage der Dinge musste die Polizistin nicht befürchten, dass sie verhungerte oder verdurstete.
Gregor würde sie töten, bevor es dazu käme.
Lea begriff einfach nicht, warum Richter seinen Verwandten nicht in einer diskreten Spezialklinik behandeln ließ. Dort hatte man ein großes Interesse an Verschwiegenheit. Der Unternehmer würde nicht befürchten müssen, dass die Geisteskrankheit eines engen Familienmitgliedes ans Licht der Öffentlichkeit gelangte.
Doch es war sinnlos, die Gedankengänge eines Kriminellen nachvollziehen zu wollen. Möglicherweise gefiel es dem Sägewerk-Besitzer vielmehr, sich hier in Mönchsfelden zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen zu können.
Wie sollte Lea dem sicheren Tod entrinnen?
Sie schaute sich in ihrem Verlies um. Als Erstes musste sie ihre Fesseln loswerden. Gab es einen scharfkantigen Gegenstand, an dem sie den Strick durchscheuern konnte? Nein, auf den ersten Blick nicht. Die Polizistin lag auf dem kahlen Boden, nirgendwo war eine Glasscherbe oder ein ähnlich gut geeigneter Gegenstand zu sehen. Doch wenn sie die Stalllaterne zerschlug, würde der Zylinder dieser Lichtquelle zerbrechen. Mit etwas Glück entstünde dadurch eine genügend große Scherbe, um die Fesseln damit zu zerschneiden.
Aber wie sollte Lea die an der Wand aufgehängte Laterne zerstören? Zunächst musste sie aus ihrer hockenden Position hochkommen. Die Anstrengung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, weil sie ihre Hände natürlich nicht zu Hilfe nehmen konnte. Ihre Oberschenkelmuskeln brannten, doch nach einiger Zeit stand sie auf ihren Füßen. Lea gönnte sich eine kurze Pause, dann ging sie zu der Lichtquelle hinüber. Die Stalllaterne hing an einem Haken, und zwar ziemlich hoch. Aber wenn die Polizistin ein Stück weit nach oben sprang, konnte sie von unten gegen die Leuchte stoßen und diese zu Fall bringen.
Dann würde Lea zwar im Dunkeln auf ihren Mörder warten müssen, doch diesen Nachteil konnte sie in einen Vorteil umwandeln. Ihre Augen waren dann nämlich schon an die Finsternis gewöhnt, und sie hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Außerdem stellte der Holzschemel ein erstklassiges Schlaginstrument dar.
Bestens geeignet, um es einem Mörder über den Schädel zu ziehen!, dachte Lea grimmig. Doch zunächst musste sie sich auf die Laterne konzentrieren. Die Polizistin spannte ihre Muskeln an und schnellte gegen die Leuchte. Es gelang ihr zunächst nur, die Laterne in Schwingungen zu versetzen. Außerdem zuckte ein Schmerz durch ihren Schädel, als ihre Kopfhaut gegen das Metall prallte. Doch es war auszuhalten.
Der zweite Versuch gelang.
Die Stalllaterne segelte an Lea vorbei zu Boden und zersprang. Wäre der Leuchtkörper mit Petroleum oder einer anderen brennbaren Flüssigkeit betrieben worden, hätte die Polizistin jetzt mit einem Feuer zu kämpfen gehabt. Doch offenbar wurde die Lampe mit einer Batterie betrieben. Jedenfalls breiteten sich keine Flammen aus. Stattdessen wurde Lea nun von völliger Finsternis umhüllt.
Sie lauschte.
Ob jemand auf ihre Aktion aufmerksam geworden war? Falls ja, dann war draußen nichts davon zu hören. Lea hatte keine Ahnung, wie weitläufig die Klosterruine war. Richter konnte sich nicht mehr in der Nähe befinden, er wäre bei dem Geräusch garantiert zurückgekehrt. Sie glaubte, kurz zuvor einen anspringenden Automotor vernommen zu haben. Aber das konnte auch eine Illusion gewesen sein. Lea kniete nieder und beugte sich so weit wie möglich nach hinten, um mit ihren Fingerspitzen eine Glasscherbe zu angeln.
Dieses Vorhaben erwies sich in der Dunkelheit als äußerst schwierig. Die Anstrengung ließ ihr den Schweiß über den Rücken laufen, obwohl es in dem Verlies eher kühl war. Die Polizistin war froh darüber, dass sie sich selbst eine Aufgabe geschaffen hatte. Jede Beschäftigung war besser als gefesselt herumzuliegen und auf das sichere Ende durch die Hand eines mehrfachen Mörders zu warten.
Endlich bekam sie ein Stück Glas zu fassen. Es war scharfkantig, wie sie nach einem ersten Kontakt mit ihrer Haut feststellen konnte. Lea fing damit an, die Stricke an ihren Gelenken zu bearbeiten. Mehrfach stach sie sich selbst, doch das ignorierte sie. Immerhin musste Lea sich ausschließlich auf ihren Tastsinn verlassen. Der Schweiß lief ihr in die Augen, aber allmählich machte sie Fortschritte. Das Seil zerfaserte, Lea konnte es deutlich spüren. Nun sägte sie umso motivierter an ihren Fesseln. Die Finger schmerzten, weil sie die Scherbe so fest hielt. Zwischendurch prüfte die Polizistin immer wieder, ob die dicke Schnur bald nachgeben würde.
Plötzlich riss die Handfessel!
Lea hätte am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen, doch sie hielt sich zurück. Sie durfte ihren Vorteil nicht leichtfertig riskieren. Es war überhaupt nicht klar, ob sich jemand in der Nähe befand und sie hören konnte.
Die Polizistin entfernte die Reste des Seils von ihren schmerzenden Gelenken. Sie dachte nach. Ob es eine Chance gab, die Tür aufzubekommen? Danach sah es überhaupt nicht aus. Als das Licht noch brannte, hatte Lea sich den Ausgang genau angeschaut. Das Holz machte einen massiven Eindruck, und die eisernen Beschläge ließen sich ohne Werkzeug nicht entfernen. Abgesehen davon, dass ein solcher Ausbruchsversuch Geräusche verursachen würde.
Sie griff in ihre Hosentaschen. Die Verbrecher hatten ihr nicht nur ihre Dienstwaffe, sondern sämtliche Gegenstände abgenommen. Leas Taschen waren so leer wie die eines armen Schluckers.
Also musste sie bei ihrem ursprünglichen Plan bleiben, den eintretenden Mörder mit dem Schemel niederzuschlagen. Es war ihre einzige Chance, lebend zu entkommen. Die Polizistin hoffte sehr darauf, dass dieser Gregor zuerst sie aufsuchen würde. Dann hatte nämlich Maren Wagner noch eine Überlebenschance. Lea tastete sich in der tintenschwarzen Finsternis vorwärts und fand die hölzerne Sitzgelegenheit. Sie hob den Hocker an einem der drei Stuhlbeine hoch. Es war ein gutes Gefühl, diesen massiven und soliden Gegenstand in der Hand zu halten. Wenn sie mit dem Schemel zuschlüge und ihre ganze Kraft in den Überraschungsangriff legte, hätte sie eine gute Chance.
Jetzt gab es nur noch eine Gefahr, der sie sich stellen musste. Lea durfte auf keinen Fall einschlafen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, und ihre Armbanduhr befand sich vermutlich ebenfalls im Besitz der Kriminellen. An ihrem Handgelenk war sie jedenfalls nicht. Wenn sie im Schlaf von Gregor überrumpelt würde, wäre ihre ganze Selbstbefreiungsaktion sinnlos gewesen.
Lea spürte, dass die vergangenen Minuten (oder Stunden?) sie sehr angestrengt hatten. Doch die Kopfschmerzen und ihr quälender Durst hielten sie wach. Plötzlich vernahm sie wieder Schritte.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie packte das Schemelbein fester. Ja, es gab keinen Zweifel. Die Schritte waren lauter als jene von Meinhard Richter. Zumindest kam es ihr so vor. Sie hatte keine Vorstellung, wie dieser Gregor aussehen würde. Ob er eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem Unternehmer besaß? Es spielte eigentlich keine Rolle. Wer immer Leas Tür öffnete, musste sofort von ihr ausgeknockt werden.
Nun bemerkte Lea einen schmalen hellen Streifen jenseits der unteren Türkante. Er war zuvor nicht dort gewesen. Wahrscheinlich hatte der Mörder eine Taschenlampe oder Stableuchte bei sich. Nun wurde wieder der Riegel zurückgeschoben.
Die Polizistin hob den Schemel und stellte sich breitbeinig in Positur. Sie hatte nur einen Versuch. Wenn sie versagte, würde sie das nächste Mordopfer sein.
Die Tür wurde langsam einen Spalt breit geöffnet. Licht einer starken Stableuchte fiel in den Raum, allerdings hatte der helle Strahl Lea noch nicht erreicht.
Da ertönte eine vertraute Stimme.
„Bist du hier, Lea? Hab keine Angst, ich komm dich holen.“
Die Polizistin war verblüfft.
Sie erkannte Rupps Stimme sofort, immerhin arbeitete sie seit einigen Wochen mit ihrem Kollegen zusammen. War er Gregor? Nein, das ergab keinen Sinn. Aber was hatte sein Auftauchen zu bedeuten? Rupp hatte Lea völlig aus dem Konzept gebracht. Sie blies ihre Attacke ab. Trotzdem bemerkte der Alte den Schemel in ihrer Hand, als er sie mit der Taschenlampe anleuchtete.
„Wolltest du mir den Schädel einschlagen?“
„Ich hatte vor, mich zu befreien. Warum willst du mich holen kommen? Ich dachte, du stehst auf Richters Lohnliste.“
Den letzten Satz konnte Lea sich nicht verkneifen. Sie war einfach zu enttäuscht darüber, wie Rupp sich seit dem Fund von Tanja Wellings Leiche verhalten hatte. Während ihrer Zeit auf Metropolen-Polizeiwachen hatte sie einige schwierige Kollegen kennengelernt. Aber keiner von ihnen hatte das Gesetz so mit Füßen getreten wie dieser alte Polizist in dem Provinznest.
„Du hältst mich für einen korrupten Bullen, das habe ich wohl verdient“, knurrte Rupp. „Ich war auch mal wie du, Lea. Voller Ideale. Aber so einfach sind die Dinge nicht.“
„Warum nicht? Weil man sich an prall gefüllte Umschläge voller Bargeld gewöhnt?“
Rupp lachte, aber er klang nicht amüsiert.
„Du glaubst also, ich werde von Richter geschmiert?“
„Nimmst du etwa kein Geld an? Was läuft denn sonst zwischen dir und ihm?“
„Meinhard ist mein Halbbruder.“
Lea war viel zu verblüfft, um etwas erwidern zu können. Ihr Kollege fuhr fort:
„Hör zu, jetzt ist keine Zeit für weitschweifige Erklärungen. Nur so viel: Richter Senior hat damals meine Mutter geschwängert, sie war Dienstmädchen bei der Familie. Die Richters haben immer ihre schützende Hand über mich gehalten, auch wenn ich in der Tinte saß. Deshalb habe ich immer beide Augen zugedrückt. Bis heute.“
„Warum dieser plötzliche Sinneswandel, Hermann?“
„Du hast mich an meinen Diensteid erinnert. Und ich weiß, dass du mich für einen schlechten Polizisten hältst. Aber ich lasse nicht zu, dass eine Kollegin diesem Monster geopfert wird.“
„Dann weißt du also über Gregor Bescheid?“
„Schluss mit der Plauderstunde“, knurrte Rupp. „Hier, das ist für dich. Du wirst beides brauchen.“
Mit diesen Worten drückte er Lea ihre Dienstwaffe und eine Taschenlampe in die Hand.
„Das ist meine Pistole“, stellte sie fest. „Wo hast du sie her? Hast du sie mir abgenommen?“
„Natürlich nicht. Ich fand die Waffe in der ehemaligen Sakristei, wo sich Meinhards Wachen normalerweise aufhalten. Im Moment sind sie fort, aber sie können jeden Moment zurückkehren. Die Kerle machen einen Rundgang, um die Umgebung abzusuchen. Meinhard will herausfinden, ob Gregor vielleicht schon in der Nähe ist. Die Männer haben strikte Anweisung, nicht auf ihn zu schießen.“
Natürlich nicht, er gehört ja zur Familie, dachte Lea bitter. Während Rupp sprach, hatte sie ihre Pistole geholstert. Als sie mit ihrem Kollegen auf den Korridor hinaus trat, schimmerte Sonnenlicht durch einige Mauerfugen. Offenbar befand sich ihr steinernes Gefängnis unter der Erdoberfläche.
Der alte Polizist deutete nach links.
„Dort in der hintersten Kammer wird die junge Krankenschwester festgehalten. Ihr fehlt nichts, soweit ich weiß. Du holst sie her, damit wir zusammen verschwinden können.“
Eigentlich hatte Lea nicht vorgehabt, sich jemals wieder etwas von Rupp sagen zu lassen. Andererseits war er durch seine 180-Grad-Wendung plötzlich zu einem Verbündeten geworden. Oder war sie gerade dabei, in eine teuflische Falle zu tappen? Auf dem Weg zu Marens Verlies zog Lea noch einmal ihre Pistole und checkte das Magazin. Es war voll. Wenn Rupp sie verschaukeln wollte, würde er ihr wohl kaum eine Waffe mit scharfer Munition in die Hand geben.
Lea leuchtete mit der Stablampe vor sich her. Leises Pfeifen ertönte, und sie sah einen grauen kleinen Pelz schnell dem Lichtkegel entkommen. Ratten waren in einem uralten Gemäuer kein ungewöhnlicher Anblick. Sie beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie in ihrem Verlies keinen Besuch von den Nagern bekommen hatte.
Die Polizistin schob den Türriegel zurück. Ein leises Schluchzen ertönte. Lea öffnete. Sie sah vor sich einen Raum, der etwas kleiner war als ihr eigenes Gefängnis. Diese Zelle war mit einem faulig stinkenden Strohsack ausgestattet. Darauf hockte Maren Wagner, das Gesicht hinter den Handflächen verborgen. Ihre Schultern zuckten. Sie war offenbar von Richter und dessen Schergen als so harmlos eingestuft worden, dass man sie nicht gefesselt hatte.
Der Lichtstrahl von Leas Taschenlampe war auf die Krankenschwester gerichtet. Maren hob ihren Kopf.
„Bitte lassen Sie mich gehen!“, flehte sie. „Ich werde auch nichts verraten!“
„Hier ist die Polizei“, erwiderte Lea mit fester Stimme. „Stehen Sie bitte auf, Frau Wagner. Wir holen Sie hier heraus.“
Die Entführte schien nicht glauben zu können, was sie soeben gehört hatte. Doch offenbar hatte sie Leas Stimme wiedererkannt. Jedenfalls kam sie vom Boden hoch und stürmte auf die Polizistin zu.
„Wie haben Sie mich gefunden?“, jubelte Maren.
„Lange Geschichte“, erwiderte Lea knapp. Sie wollte nicht erzählen, dass sie selbst bis vor kurzem eingesperrt gewesen war. Jedenfalls nicht in diesem Moment. Sie fuhr fort: „Kommen Sie, wir verschwinden von diesem ungastlichen Ort.“
Maren war etwas durcheinander, schien die gute Nachricht noch gar nicht richtig begreifen zu können. Lea nahm sie bei der Hand und zog sie resolut hinter sich her.
Da Rupp immer noch seine Taschenlampe eingeschaltet hatte, konnten sie sehen, wo er sich befand. Die beiden Frauen eilten auf ihn zu.
In diesem Moment flammte am anderen Ende des Korridors Mündungsfeuer auf!
„Haut ab, ich gebe euch Feuerschutz!“, brüllte Rupp, während er die Schüsse erwiderte. Die lauten Geräusche hallten in dem unterirdischen Gang wider, schmerzten in Leas Trommelfellen.
Und sie handelte instinktiv. Ihr Job war es jetzt, die Zivilistin so schnell wie möglich aus der Schusslinie zu bekommen. Dann konnte sie ihren Kollegen immer noch unterstützen. Am besten wäre es natürlich, wenn man Verstärkung anfordern könnte. Doch dafür benötigte sie entweder ein Funkgerät, ein Festnetztelefon oder einen Satellitenapparat.
Während hinter ihr weiterhin eine wilde Ballerei im Gange war, stürmte Lea mit Maren im Schlepptau die steilen Stufen einer steinernen Treppe hinauf. Am oberen Ende wurden sie von Sonnenlicht empfangen, das durch die teilweise geborstenen Mauern eines ehemaligen Kirchenschiffs fiel.
„Wo sind wir hier?“, brachte die Krankenschwester keuchend hervor.
„Das ist eine Klosterruine. Sie wissen nicht zufällig, in welcher Richtung sich Mönchsfelden befindet? Oder zumindest die Kreisstraße?“
Maren schüttelte den Kopf. Sie war totenbleich, die Schießerei hatte sie offenbar in Panik versetzt. Das konnte Lea gut verstehen. Auch sie fand es nicht angenehm, wenn ihr die Kugeln um die Ohren flogen. Dabei hatte sie in ihrer Ausbildung selbst gelernt, mit einer Schusswaffe umzugehen. Allerdings hatte die junge Polizistin noch niemals im Dienst auf einen Menschen feuern müssen. Doch momentan sah es ganz danach aus, dass sie sich dieser Herausforderung bald würde stellen müssen.
„Ich stamme nicht aus Mönchsfelden“, murmelte die Krankenschwester. „Ich kenne mich in dieser Gegend überhaupt nicht aus.“
Da sind wir schon zwei, dachte Lea verdrossen. Aber sie wollte Maren ihre eigene Unsicherheit nicht spüren lassen. Ihr Blick fiel auf die nackten Füße ihrer Begleiterin.
„Haben Sie einen Schuh verloren, als Sie gekidnappt wurden?“
Die Entführte nickte eifrig.
„Ja, woher wissen Sie das? Den anderen habe ich dann ausgezogen. Was soll ich mit nur einem Schuh? Da kann ich besser barfuß gehen. Was soll denn nun werden? Wer sind diese Leute?“
In dem unterirdischen Gang wurde immer noch geschossen . Das war in Leas Augen ein gutes Zeichen. Es bedeutete nämlich, dass Rupp noch lebte. Richters Handlanger würden wohl kaum versuchen, sich gegenseitig zu erschießen. Am liebsten wäre sie ihrem Kollegen zu Hilfe gekommen. Doch sie konnte Maren nicht allein lassen. Jeden Moment war damit zu rechnen, dass der mehrfache Mörder Gregor auf der Bildfläche erschiene.
Wie war Rupp hierhergekommen? Mit dem Streifenwagen? Das konnte Lea sich nicht vorstellen. Die Klosterruine lag offensichtlich mitten im Wald. Wenn hier ein Einsatzfahrzeug über einen Forstweg gerumpelt kam, konnte man es schon von weitem bemerken. Nein, ihr Kollege musste sich zu Fuß diesem Ort genähert haben.
Plötzlich verstummten die Schussgeräusche. Die Polizistin spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Es gab nur eine fünfprozentige Chance, dass Rupp aus dem Feuergefecht als Sieger hervorginge. Darauf konnte sie sich nicht verlassen. Ihr Auftrag lautete weiterhin, Maren in Sicherheit zu bringen. Lea machte einen langen Hals, um sich einen Überblick zu verschaffen. Es gab eine schmale Schneise in der unendlich erscheinenden grünen Wand des Waldrandes. Dort erblickte sie ein Autodach.
„Kommen Sie!“
Wieder zog die Polizistin die Krankenschwester hinter sich her. Sie kletterten über eine eingestürzte Mauer und sahen einen schwarzen SUV, der auf einem halb zugewucherten Forstweg parkte. Lea rannte auf das Fahrzeug zu und riss die Fahrertür auf. Die Glücksgöttin meinte es offenbar gut mit ihr, denn der Zündschlüssel steckte.
Die beiden Frauen hätten nun fliehen können, doch ohne Rupp wollte Lea nicht verschwinden. Sie hegte immer noch Groll gegen diesen Mann, weil er einen Mord vertuschen wollte. Und wer konnte sagen, was er sich sonst noch hatte zuschulden kommen lassen? Doch sie musste sich eingestehen, dass er tätige Reue gezeigt hatte.
„Steigen Sie ein!“, rief Lea Maren zu. Es gefiel ihr nicht, die Frau so herumzukommandieren. Aber die Entführte verhielt sich völlig passiv, zeigte keine Eigeninitiative. Wahrscheinlich litt sie immer noch unter dem Schock, auf dem Weg zur Arbeit völlig unerwartet verschleppt worden zu sein.
Maren gehorchte. Lea hatte den Motor bereits angelassen und wartete mit geöffneter Fahrertür. Noch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, Rupps breite Gestalt in den Ruinen auftauchen zu sehen.
Sie erfüllte sich nicht.
Leas Herz raste, als sie zwei Kerle in grauen Kapuzenpullovern erblickte. Einer von ihnen war angeschossen, der linke Ärmel seines Hoodies hatte sich blutrot gefärbt. Das war nur ein schwacher Trost, denn die beiden Männer hielten Pistolen in den Händen. Sie würden die Frauen nicht entkommen lassen.
Lea zog ihre Dienstwaffe und schoss. Sie wollte Richters Schergen mit ihren Kugeln in Deckung zwingen. Und das gelang, zumindest vorübergehend. Die Handlanger des Unternehmers zogen die Köpfe ein. Einer von ihnen erwiderte das Feuer. Die Polizistin wurde nicht getroffen, Maren ebenfalls nicht. Allerdings begann die Krankenschwester vor Angst zu schreien.
Lea warf sich auf den Fahrersitz, rammte die Tür zu und trat aufs Gaspedal. Der SUV machte einen gewaltigen Satz nach vorn. Doch das nützte nicht viel, denn die Männer nahmen zu Fuß die Verfolgung auf. Es war auf dieser schlechten Wegstrecke nicht möglich, ein wirklich hohes Tempo zu entwickeln. Die Polizistin hatte die Zentralverriegelung betätigt. Aber ein Verfolger versuchte, mit dem Pistolengriff die hintere Fensterscheibe einzuschlagen.
Lea beschleunigte noch weiter. Da sah sie im Rückspiegel, dass der Kerl strauchelte und stürzte. Wahrscheinlich war er über eine Baumwurzel gestolpert. Der zweite Handlanger blieb allerdings am Ball. Er stoppte, um auf die Hinterreifen zu feuern. Lea musste zugeben, dass dieses Vorhaben sinnvoll war.
Nun geschah allerdings etwas, womit weder sie noch ihre Verfolger gerechnet hatten.
Plötzlich brach eine dunkle Gestalt aus dem Unterholz hervor. Der Pistolenmann hatte keine Chance. Bevor er reagieren konnte, wurde seine Kehle durchschnitten. Das Blut spritzte weit, das konnte Lea sogar aus der Distanz im Rückspiegel sehen. Es war, als ob eine eiskalte Klaue nach ihrem Herzen greifen würde.
Sie hatte soeben den ersten Blick auf Gregor geworfen.
Zum Glück machte der mehrfache Mörder keine Anstalten, nun seinerseits hinter dem SUV her zu rennen. Weshalb nicht? Die Polizistin führte sich die Tatsache vor Augen, dass dieser Mann nicht Herr seiner Sinne war. Deshalb fragte sie sich auch nicht, weshalb Gregor diesen Handlanger seines Cousins getötet hatte. Vermutlich war ihm gerade danach gewesen. Und was würde mit dem zweiten Kerl geschehen, der zuvor gestolpert war?
Darum konnte Lea sich jetzt nicht kümmern. Sie hatte alle Hände voll damit zu tun, den SUV auf dem Forstweg zu halten. Außerdem musste sie versuchen, die inzwischen völlig hysterische Maren zu beruhigen. Wenigstens hatte die Krankenschwester nicht mitbekommen, dass soeben noch ein Mord geschehen war. Jedenfalls hatte sie nicht in den Rückspiegel geschaut.
„Atme mal tief durch!“, rief die Polizistin, um das laute Wimmern zu übertönen. „Wir haben das Schlimmste hinter uns. Dieser Trampelpfad hier wird irgendwo in die Kreisstraße münden. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir Mönchsfelden oder die Kreisstadt erreichen.“
Maren warf ihr einen Seitenblick zu. Ihre Augen waren rot vom Weinen, die Unterlippe zitterte. Doch sie versuchte nun offensichtlich, sich zusammenzureißen.
„Ich hätte auf deinen – Verzeihung: Ihren – Rat hören sollen. Es wäre besser gewesen, den Umweg zu nehmen.“
Lea grinste.
„Wir können uns ruhig duzen. Momentan sitzen wir ja sozusagen in einem Boot. Oder besser gesagt: in demselben SUV. Ich bin die Lea.“
Die Krankenschwester lächelte nun ebenfalls, obwohl es etwas verkrampft wirkte.
„Meinen Namen kennst du ja, Lea. Ich habe mich noch gar nicht für die Rettung bedankt. Woher wusstet ihr, dass ich in diesem fürchterlichen Gemäuer eingesperrt war?“
Die Polizistin beantwortete die Frage nicht direkt.
„Du bist in eine laufende Untersuchung geraten. Es gibt einen Verdächtigen, den wir schon länger im Visier hatten.“
Maren wischte sich ihr tränennasses Gesicht mit dem Ärmel ihres Kapuzenpullovers ab.
„Wieso wart ihr eigentlich nur zu zweit? Im Fernsehkrimi rückt die Polizei immer mit einer halben Hundertschaft an, um eine Geisel zu befreien.“
„In der Wirklichkeit ist vieles anders“, murmelte Lea.
Sie wollte ungern zugeben, dass sie selbst ebenfalls gefangen gewesen war. Immerhin lamentierte Maren nun nicht mehr, sondern unterhielt sich ganz normal mit ihr. Das war doch schon mal ein Fortschritt, wie die Polizistin fand.
„Was sind das für Irre, die mich gefangen hielten? Haben die wirklich mein Rad geklaut, damit sie mich auf der einsamen Wegstrecke schnappen können?“
Lea nickte. Sie bemerkte, dass Maren ihr einen seltsamen Seitenblick zuwarf. Die Stimme der jungen Krankenschwester klang misstrauisch.
„Irgend etwas ist hier faul, das spüre ich. Deine Montur ist total schmutzig, Lea. So, als ob du auf dem Boden gelegen hättest. Und warum trägst du keine Uniformbluse und keine Schutzweste?“
Maren war nicht dumm. Die Polizistin beschloss, sie zumindest ein wenig in den Fall einzuweihen. Sie sollte nicht das Gefühl bekommen, hinters Licht geführt zu werden.
„Es stimmt, ich war selbst kurzzeitig in der Hand dieser Kidnapper. Sie beschützen einen gefährlichen Mörder. Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen.“
„Und dein Kollege hat dich befreit, nicht wahr? Glaubst du, dass ... er tot ist?“
Diese Frage stellte Lea sich selbst ununterbrochen, seit die Schießerei beendet war. Es gab nämlich keinen Beweis dafür, dass Rupp nicht mehr lebte. Womöglich lag er schwer verletzt in diesem verflixten unterirdischen Gang und hoffte auf Hilfe, während er allmählich verblutete.
Falls das in diesem Moment geschähe, würde Lea für den Rest ihres Lebens von ihrem schlechten Gewissen geplagt werden, weil sie ihm nicht geholfen hatte. Doch konnte sie es riskieren, in die Klosterruine zurückzukehren? Der Polizistin lief ein Schauer über den Rücken, als sie an Gregors Messerattacke auf den bewaffneten Handlanger dachte. Dieser Wahnsinnige ließ sich offensichtlich nicht von einer Pistole abschrecken.
Lea saß in der Klemme. Einerseits musste sie Maren schützen. Andererseits wollte sie herausfinden, was mit Rupp geschehen war. Doch Lea konnte die junge Frau nicht allein im Wald zurücklassen, solange Gregor im Staatsforst sein Unwesen trieb. Also würden sie und Maren gemeinsam zur Klosterruine zurückkehren müssen, was die Polizistin unbedingt verhindern wollte.
Doch die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als hinter der nächsten Kurve ein massiver Baumstamm den Forstweg blockierte. Lea unterdrückte einen Fluch und trat auf die Bremse.
„W-was hat das zu bedeuten?“
Maren hörte sich nun nicht mehr skeptisch, sondern wieder verängstigt an.
„Nichts Gutes“, murmelte Lea. „Dieses Hindernis wird nicht zufällig dort liegen.“
„Du meinst, jemand will uns an der Flucht hindern?“
Lea ließ die Frage unbeantwortet. Sie öffnete die Fahrertür.
„Bleib im Auto, ich schaue mir die Sache näher an.“
Mit diesen Worten drückte die Polizistin die Tür von außen zu und zog gleichzeitig ihre Pistole. Außerdem ließ sie ihren Blick über die Umgebung gleiten. Ein sanfter Sommerwind ließ die Zweige knacken, Vögel sangen. Doch Lea traute dem Frieden nicht. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass sie und Maren von Gregor belauert wurden. Er hockte in einem sicheren Versteck, wo er auf die passende Gelegenheit zum Zuschlagen wartete.
Und die schien für ihn noch nicht gekommen zu sein.
Lea ging am Stamm des querliegenden Baums entlang. Schon bald wurde ihr Verdacht zur Gewissheit. Am Stumpf bemerkte sie deutliche Spuren von Axthieben. Hier hatte sich jemand große Mühe gegeben, um den Zugangsweg zur Klosterruine zu versperren.
Auf jeden Fall hinderte der Baumstamm auch mögliche Verstärkung daran, mit Fahrzeugen schnell bis zu dem Gemäuer vorzudringen. Die Kollegen würden noch mindestens einen Kilometer zu Fuß zurücklegen müssen, was Gregor einen taktischen Vorteil verschaffte.
Doch es war müßig, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Lea kehrte zum SUV zurück und forderte Maren mit einer Geste auf, die Beifahrertür zu öffnen. Die Krankenschwester schaute die Polizistin fragend an.
„Wir müssen zu der Klosterruine zurück. Mein Kollege braucht wahrscheinlich Hilfe. Es ist auch möglich, dass er den Einsatz nicht überlebt hat. Aber ich muss mich vergewissern.“
Maren wurde bleich.
„Dorthin willst du zurück?“
„Ich kann dich nicht dazu zwingen, mich zu begleiten. Du kannst auch im Auto bleiben und es verriegeln. Doch dann kann ich dich nicht beschützen, falls Gefahr droht.“
Maren schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, ich bleibe bei dir. Diese Verbrecher haben mich verschleppt, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Ich glaubte schon, mein Leben wäre vorbei. Und es war schrecklich, allein in dieser modrigen Kellerkammer eingesperrt zu sein. Das halte ich nicht noch einmal aus.“
Lea legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Gehen wir.“
Die Polizistin führte sich vor Augen, dass Gregor buchstäblich hinter jedem Baumstamm lauern konnte. Also war äußerste Vorsicht geboten. Die beiden Frauen schlichen durch den Wald, wobei sie sich an dem Forstweg orientierten. Schon bald erblickten sie zwei leblose Körper.
Lea zog die Augenbrauen zusammen und packte ihren Pistolengriff fester. Sie hatte sich nicht getäuscht. Gregor wollte wieder morden, also waren zwei weitere Leben von ihm ausgelöscht worden. Nun sah auch Maren die Leichen. Sie schlug sich die flache Hand vor den Mund.
„Sieh nicht hin“, riet Lea.
Sie selbst fand den Anblick der blutüberströmten Mordopfer ebenfalls nicht gerade angenehm. Die Polizistin ging davon aus, dass Maren als Krankenschwester schon öfter tote Menschen gesehen hatte. Aber ein sanft entschlafener Patient beunruhigte vermutlich weit weniger als eine Person, der ein Killer die Kehle durchgeschnitten hatte.
„Waren das die Männer, die auf uns geschossen haben, Lea?“
„Ja.“
Die Polizistin trat näher an die Leichen heran. Gregor hatte zwar gemordet, es aber nicht für nötig befunden, seine Opfer zu entwaffnen. Lea kniete sich hin und schaffte es, erst dem einen und dann dem anderen Toten die Schusswaffe aus den erstarrten Händen zu winden.
Es handelte sich um eine Pistole und einen Revolver. Sie schob die Glock in ihren Hosenbund und kehrte zu Maren zurück, die wie angewurzelt stehengeblieben war. Sie streckte ihr den Remington entgegen.
„Hier, der Revolver ist für dich.“
Die Krankenschwester schaute sie entsetzt an.
„Ich habe noch nie eine Schusswaffe in der Hand gehabt. Ich kann überhaupt nicht schießen.“
„Das hier ist ein Revolver. Du legst auf das Ziel an, spannst den Hahn und betätigst den Abzug. Wahrscheinlich wirst du die Waffe gar nicht brauchen.“
„Warum gibst du sie mir dann?“ Marens Tonfall wurde wieder hysterisch. „Was verheimlichst du mir noch, Lea? Warum kommen deine Kollegen nicht, um uns hier herauszuholen? Weiß überhaupt jemand, dass wir hier sind?“
„Wahrscheinlich nicht“, lautete die Antwort.
Die Polizistin wollte ihrer Begleiterin keine Komödie vorspielen. Es konnte nichts schaden, wenn Maren den Ernst der Lage begriff.
Maren hielt jetzt den Revolver unbeholfen in der Faust. Sie richtete den Lauf auf die beiden Leichen.
„Es hat den Männern nichts genützt, dass sie mit Schießeisen bewaffnet waren. Was ist das für ein Mörder? Ist er überhaupt ein Mensch?“
„Wir müssen weiter, Rupp braucht womöglich unsere Hilfe.“
Mit diesen Worten ging Lea weiter. Erleichtert hörte sie, dass Maren ihr folgte. Es stimmte natürlich, dass Gregor sich nicht durch Schusswaffen abschrecken ließ. Doch was nützte die beste Pistole, wenn man aus dem Hinterhalt angegriffen wurde? Richters Handlanger hatten keine Chance gehabt, mit ihren Waffen auf den geisteskranken Killer zu zielen. Es war beängstigend schnell gegangen.
Und plötzlich ertönte wieder das schrille Lachen!
Lea blieb abrupt stehen. Sie hob ihre Pistole in den Beidhandanschlag und drehte sich langsam einmal um die eigene Achse. Ihre Knie waren weich wie Pudding, doch sie wollte sich vor Maren keine Schwäche eingestehen. Und sie hoffte darauf, dass die Krankenschwester ihre Unsicherheit nicht bemerkte.
„War er das?“, hauchte Maren mit rauer Stimme.
Der Osterhase wird es wohl kaum gewesen sein, dachte Lea verdrossen. Es machte sie sehr nervös, dass Gregor sich fast niemals zeigte. Tat er das mit Absicht? Ging es ihm darum, seine zukünftigen Opfer zu zermürben? Wenn ja, dann gelang es ihm gut.
Lea konnte nirgendwo in der Nähe auch nur einen Fetzen von dunkler Kleidung entdecken.
„Wir gehen weiter“, entschied sie. Seit der Schießerei konnten höchstens zehn Minuten vergangen sein, doch es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Der Zeitraum reichte jedenfalls aus, um zu verbluten. Zumal dann, wenn man schwer verwundet war. Lea wusste nicht, wie es Rupp ging. Doch sie machte sich kaum noch Hoffnungen, ihn in dem Gang lebend anzutreffen.
Die Polizistin rechnete jeden Moment damit, Gregor hinter einem Baum hervorspringen zu sehen. Bisher hatte sie den Mörder ja nur für wenige Sekundenbruchteile erblickt. Sie war auch nicht sicher, ob sie ihn auf der Straße wiedererkennen würde – ohne seine dunkle Kleidung und ohne ein blutiges Messer in der Hand.
Sie hatte erkannt, dass Gregor sehr schnell war. Wenn sie den Kampf mit ihm überleben wollte, durfte sie nicht zögern. Sie hatte den Zeigefinger am Druckpunkt des Pistolenabzugs. Ob Lea es wirklich schaffen würde, ohne Zögern auf einen Menschen zu schießen? Und wenn sie es täte, dürfte sie nicht einfach auf die Beine zielen. In der Theorie klang es gut und richtig, einen Angreifer auf diese Art außer Gefecht zu setzen. Doch von ihren Ausbildern hatte sie andere Dinge gehört. Angeblich war ein unter Adrenalin stehender hochaggressiver Angreifer auch mit mehreren Kugeln im Körper noch brandgefährlich. Und so, wie sie Gregor einschätzte, gehörte er zweifellos zu dieser Kategorie. Jedenfalls konnte sie sich nicht vorstellen, dass er mit einer leichten Verwundung einfach aufgäbe.
Da würde sie ihn schon gezielt ins Herz schießen müssen.
Während Lea diese beunruhigenden Gedanken durch den Kopf gingen, näherten sie und Maren sich wieder der Klosterruine. Lea warf der Krankenschwester einen Seitenblick zu. Ihre Begleiterin hielt den Revolver ungeschickt in der rechten Hand. Lea bezweifelte, ob sie sich im Notfall auf Maren als Rückendeckung
Verlag: Elaria
Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2019
ISBN: 978-3-96465-138-9
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