Mia Robbins liebte die U-Bahn, und sie liebte die Gefahr. Deshalb stieg sie auch bedenkenlos in den letzten Zug der Piccadilly Line, der um kurz vor ein Uhr nachts verkehrte. Obwohl es ein normaler Donnerstag war, hatte sich ziemlich viel Partyvolk angefunden. Ein London-Trip lohnte sich eben zu jeder Jahreszeit, und zahlreiche Feierwütige waren schon auf den ersten Blick als Touris zu erkennen.
Mia schmunzelte verstohlen über die verwirrten Fremden, die mit Stadtplänen und Handy-Navis bewaffnet durch die Stationen irrten. Obwohl sie erst seit einem Jahr in der Hauptstadt lebte, kam sie sich schon wie eine alteingesessene Londonerin vor. Die U-Bahn hatte es ihr besonders angetan. Bisher hatte Mia noch keinen Führerschein, aber erstens hätte sie sich von ihrem schmalen Gehalt sowieso kein Auto leisten können. Und zweitens liebte sie die Atmosphäre der U-Bahn, die von den Londonern einfach nur Tube genannt wurde.
Zu den Stoßzeiten quetschten sich die Passagiere in die Wagen wie Sardinen in eine Büchse, doch noch nicht einmal diese Enge und die schlechte Luft störten Mia. Wenn sie morgens ins Büro fuhr, dann kam es ihr so vor, als wäre die ganze Welt um sie herum versammelt. Sie teilte sich ihren Weg mit Inderinnen im Sari, mit baumlangen Afrikanern, mit schlipstragenden Asiaten, mit Punks und Gothics und Emos – es kam ihr wirklich so vor, als würde sie mit der ganzen Welt in einem Waggon stehen.
Was für ein Unterschied zu ihrer verschlafenen Heimatstadt in den Midlands!
In der letzten U-Bahn des Tages war es nicht so voll. Mia hatte die Beine übereinander geschlagen und wippte mit der Fußspitze im Rhythmus zu dem Sound, den ihr der MP-3-Player in die Ohrmuscheln spülte. Sie hatte die Lautstärke ziemlich aufgedreht, denn sie hatte keine Lust auf die bierseligen Sprüche der anderen Passagiere. Ihre Körpersprache sagte eindeutig: Mach‘ mich nicht an!
Und plötzlich saß Mia allein im Waggon. Es war, als ob alle anderen Leute wie auf ein lautloses Signal hin plötzlich gleichzeitig an der Station Leicester Square ausgestiegen wären. Das konnte Mia nur recht sein. Sie schaute sich kurz ihr Spiegelbild im Wagenfenster an. Eigentlich wirkte sie noch ziemlich frisch, obwohl sie auf der Party fast drei Stunden lang ununterbrochen getanzt hatte. Mia war gut in Form, sie hielt sich mit Karate fit. Der Kampfsport war auch ein Grund, weshalb sie sich nicht vor nächtlichen U-Bahn-Fahrten fürchtete. Wenn ihr jemand zu nahe kommen wollte, dann legte er sich nämlich mit einer Braungurt-Trägerin an!
Mia wurde oftmals unterschätzt, was auch an ihrer zierlichen Figur lag. Sie hatte erst vor kurzem ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert, wurde aber oft für siebzehn oder höchstens achtzehn gehalten. Diese Tatsache nervte sie gewaltig. Aber zum Glück war sie volljährig, ihre Eltern lebten noch daheim in den Midlands und konnten ihr keine Vorschriften mehr machen …
Während Mia diese Gedankenfetzen durch den Kopf spukten, veränderte sich plötzlich die Atmosphäre in dem U-Bahn-Waggon. Dabei fuhr der Zug genauso schnell wie sonst, soweit Mia das beurteilen konnte. Ein Zittern lief durch den Wagen, als er sich in die Kurve legte.
Mia war irritiert, obwohl sie sich nicht ängstigte. Noch nicht. Sie hatte es sich in dem leeren Waggon auf ihrem Sitzplatz bequem gemacht und die Beine auf die gegenüberliegende Bank gelegt. Nun nahm sie ihre Füße wieder herunter und setzte sich aufrecht hin. Dann drehte sie sich um, wobei sie versuchte, möglichst unbefangen zu wirken.
Nichts.
Hinter sich erblickte Mia nur die menschenleeren übrigen Bänke, ansonsten die Werbetafeln für Shampoo, Burger und andere Konsum-Kinkerlitzchen. Mia ärgerte sich über ihre düsteren Vorahnungen. Sie spürte eine Beklemmung, für die es keinen Anlass gab. Doch die nächste Station war sowieso Russell Square, wo sie aussteigen …
Der Angriff kam so schnell und unerwartet wie ein Messerstich bei einer Hochzeitszeremonie. Plötzlich waren die dunklen Gestalten da, und sie waren zu dritt. Mias zerlumpte Widersacher mussten sich hinter den Sitzbänken versteckt gehalten haben, um einen optimalen Moment für ihre Attacke abzupassen.
Am Unheimlichsten war die Lautlosigkeit, mit der die Typen kämpften. Mia merkte schnell, dass ihre Karatekenntnisse ihr nur wenig halfen. Gewiss, sie schaffte es, sich einen Angreifer mit einem Fußtritt vom Hals zu halten. Aber im nächsten Moment wurde sie auch schon von den beiden anderen Kerlen gepackt. Aus der Nähe bemerkte Mia den penetranten Geruch, den die Männer verströmten.
War es Blut?
Mia holte zu einem verzweifelten Befreiungsschlag aus. Doch sie konnte ihre Faust nicht mehr in die Rippen eines Gegners krachen lassen. Ein fürchterlicher Schlag mit einem Schraubenschlüssel auf ihren Hinterkopf ließ Mia in das tiefe finstere Tal der Bewusstlosigkeit stürzen.
Janet Robbins machte sich noch keine Sorgen, als Mia nicht zum Frühstück erschien.
Sie kochte erst einmal Tee, während sie gleichzeitig das Chaos in der Küche beseitigte, einen Blick auf ihren Vorlesungsplan warf und ihren schwarzen Nagellack suchte. Janet lebte zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Mia, der belgischen Krankenschwester Claire und der spanischen Studentin Lucia in einer Frauen-WG in der Southhampton Road. Und in dem lockeren Quartett schien Janet die Einzige zu sein, die einen gewissen Ordnungssinn in ihren Genen hatte.
Janet schaute auf die Zeitanzeige ihres Handys, während sie ihr Früchte-Müsli löffelte. Sie selbst hatte erst um zehn Uhr eine Informatik-Vorlesung und konnte den Tag halbwegs ruhig angehen lassen. Aber Mia musste jeden Morgen pünktlich in der Spedition erscheinen, wo sie momentan als Büro-Leibarbeiterin knechtete. Mia ließ sich oft wortreich darüber aus, was für ein Drachen ihre Chefin war. Das Büro befand sich am anderen Ende der Stadt, Mia musste fast eine Dreiviertelstunde mit der U-Bahn dorthin fahren und dabei dreimal umsteigen.
Kurz entschlossen ging Janet zu Mias Zimmer, klopfte und trat gleich darauf ein.
Das Bett ihrer Schwester war nicht berührt.
Janet spürte, wie sie von einem leichten Schreck durchzuckt wurde. Eigentlich gab es keinen Grund zur Beunruhigung, wie sie sich selbst einzureden versuchte. Mia war volljährig und konnte gut auf sich selbst aufpassen, Mia trainierte Karate, Mia flirtete gern und hatte sich vielleicht auf der Party spontan verknallt, Mia – Mia ist vor allem meine kleine Schwester!, sagte Janet innerlich zu sich selbst. Und deshalb war es ihr gutes Recht, sich wegen Mia den Kopf zu zerbrechen. Jedenfalls ihrer eigenen Meinung nach.
Sie trat in das Zimmer. Unwillkürlich wünschte sie sich, dass Mia in diesem Moment die Wohnungstür öffnen und sie anraunzen würde, dass sie nicht in ihren Sachen schnüffeln solle. Aber das geschah nicht.
Janet schaute sich flüchtig um. Alles schien wie immer zu sein. Die Unordnung war nur halb so groß wie in der Küche. Aber das lag zweifellos daran, dass Mia meist nur zum Schlafen nach Hause kam. Lebenshungrig stürzte sich Janets jüngere Schwester stets in den Strudel von Partys und Events, den London jeden Tag und jede Nacht zu bieten hat.
Aber bisher war sie immer nach Hause gekommen.
Janet erschrak, als sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in Mias großem Ankleidespiegel erhaschte. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen war totenbleich. Janets große braune Augen, die von einem Ex-Lover als „elfenhaft“ beschrieben worden waren, hatten momentan einen ziemlich panischen Ausdruck. Mias Ausbleiben ging ihr doch mehr an die Nieren, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Janet eilte in die Küche zurück, griff sich ihr Smartphone und holte Mias Nummer aus dem Kurzwahlspeicher. Nichts. Das Handy ihrer kleinen Schwester war ausgeschaltet.
„Hallo? Ist jemand zuhause?“
Janet zuckte zusammen, als die weibliche Stimme hinter ihr ertönte. Sie wirbelte herum. Aber es war natürlich nicht Mia, die sie angesprochen hatte. Erstens sprach Janets Schwester nicht mit einem leichten kontinentalen Akzent, und zweitens war es wohl kaum möglich, Claire für Mia zu halten. Die belgische Krankenschwester war strohblond und füllig, während die zierliche Mia als Titelmodel für ein Teenie-Magazin hätte dienen können.
„Ich habe dir gerade schon mal einen guten Morgen gewünscht, aber du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest. Hast du eine Seance gemacht?“
Janet seufzte genervt. Nur weil sie sich für Mystisches und Unerklärliches aller Art interessierte, wurde Janet von ihrer belgischen Mitbewohnerin für eine Geisterbeschwörerin gehalten. Claire fand es auch sehr merkwürdig, dass Janet Menschen hypnotisieren konnte. Janet hatte ihr schon mehrfach erklärt, dass daran überhaupt nichts Unheimliches wäre und Hypnose auch von Ärzten zur Heilung eingesetzt wurde. Claire konnte in dieser Hinsicht sehr stur sein. Aber das war Janet egal, denn ihr kam gerade eine rettende Erinnerung.
„Sag‘ mal, Claire – wolltest du nicht gestern Abend zusammen mit Mia zu einer Party? Mir ist so, als ob ich im Vorbeigehen so etwas aufgeschnappt hätte.“
Die Belgierin nickte. Sie streifte im Nachthemd durch die Küche und bereitete sich heißes Wasser für ihren Pulverkaffee zu. Claire trank keinen Tee.
„Die Party? Ja, das stimmt. Ich war mit Mia dort – ein total öder Abend, fand ich jedenfalls. Dabei fand sie im feinen Knightsbridge statt. Einer unserer Assistenzärzte hatte mich eingeladen. Tony sagte, dass ich auch noch eine Freundin mitbringen könnte. Das habe ich dann ja auch getan, nämlich deine Schwester. Mia kannte dort keinen Menschen, aber sie stand sofort im Mittelpunkt. Na ja, du weißt ja, wie sie ist. Ein richtiger Wirbelwind, und sie kann auch sehr charmant sein. In meinen Augen sind ja Tony und seine Kollegen nur langweilige Spießertypen. Ich war total enttäuscht. Noch nicht mal die Häppchen waren genießbar. Wenn ich da an diese Bottle-Party in Brixton vorige Woche denke …“
Janet rollte ungeduldig mit den Augen.
„Die Party war also in Knightsbridge? Und wo genau? Und wie heißt dieser Gastgeber, dieser Tony, mit vollem Namen?“
Claire schien allmählich zu kapieren, dass Janet völlig von der Rolle war. Die Krankenschwester blinzelte irritiert, während sie sich zwei Löffel Zucker in ihren Kaffee rührte.
„Warum bist du denn so durch den Wind? Ist mit Mia etwas nicht okay?“
„Keine Ahnung, aber das wüsste ich gern“, fauchte Janet. „Mia ist nämlich nicht in ihrem Zimmer, und ihr Bett ist unberührt.“
Claires volle Lippen formten ein großes O. Sie wirkte erstaunt, aber nicht besonders beunruhigt. „Glaubst du, deine Schwester ist von einem der Partygäste abgeschleppt worden?“
„Ich weiß nicht – sag‘ du es mir, Claire. Im Gegensatz zu mir bist du ja bei diesem blöden Tony gewesen!“
„Er ist nicht blöd, nur ein bisschen langweilig … Außerdem war ich nicht besonders lange auf der Party. Ich bin schon gegen halb elf abgehauen, aber Mia wollte noch bleiben.“
„Und das hast du zugelassen?“
Claire wurde nun langsam sauer. Das konnte Janet an der Antwort ihrer Mitbewohnerin deutlich merken.
„Zugelassen? Hallo, geht’s noch? Ich bin doch nicht die Gouvernante deiner Schwester, Janet! Und selbst wenn ich es wäre – seit wann lässt sich Mia denn etwas vorschreiben? Sie hat ihren eigenen Kopf, das müsstest du doch besser wissen als ich.“
Damit hatte Claire Recht. Vorschriften aller Art waren für Mia ein rotes Tuch. Es hatte schon oft Zoff in der WG gegeben, weil sich Mia nicht an den Putzplan hielt. Um des lieben Friedens willen hatte Janet oft anstelle ihrer Schwester den Dreck entfernt. Mias Verhalten brachte sie zwar oft auf die Palme, aber Janet konnte ihr nie lange böse sein. Mia war eben doch ihre kleine Schwester und würde es immer bleiben.
Und nun war sie verschwunden.
Janet atmete tief durch und zwang sich dazu, nicht noch panischer zu werden. Aber so einfach war das nicht. Es gab tausend furchtbare Dinge, die einer jungen Frau in einer Stadt wie London zustoßen konnten. Leider besaß Janet eine sehr lebhafte Fantasie, mit der sie sich solche Horrorszenarien innerlich ausmalte. Sie schüttelte sich, als ob sie dadurch böse Tagträume abschütteln könnte.
„Mia wird bestimmt nur ihren Spaß haben“, meinte Claire beruhigend. „Bestimmt hat sie ihren Traumtypen getroffen.“
Diese Vorstellung war auch für Janet immer noch die harmloseste. Soweit sie wusste, hatte ihre kleine Schwester momentan keinen festen Freund. Mia flirtete gern und genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie hatte viele Verehrer, aber normalerweise hielt sie die Typen lieber auf Distanz, bevor es ernst wurde. Janet war der Meinung, dass Mia trotz ihrer lockeren Art in Wirklichkeit an die große Liebe glaubte.
Und wenn sie nun an den Falschen geraten war? An einen Dreckskerl, der sich mit Gewalt holte, was er sonst nicht bekam?
Janet versuchte, sich auf die vergangene Nacht zu konzentrieren. Sie wandte sich wieder an ihre Mitbewohnerin, die inzwischen Toast mit Nussnougatcreme in sich hineinstopfte.
„Gab es einen Partygast, der besonders auf Mia abgefahren ist, Claire?“
Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. „Nicht, dass ich wüsste. Aber du musst dir echt keine Sorgen machen, Janet. Tony hat nur harmlose Leute eingeladen. Die meisten sind wohl Assistenzärzte, so wie er selbst. Wie gesagt, biedere Spießertypen. Mia hat mit einigen von ihnen getanzt, aber mehr auch nicht. Jedenfalls habe ich keine Knutschereien oder etwas in der Richtung bemerkt.“
Diese Aussage beruhigte Janet nur halb, denn Claire hatte ja schon ziemlich früh den Heimweg angetreten. Und Mia drehte erst nach Mitternacht so richtig auf, wie ihre ältere Schwester aus Erfahrung wusste.
„Wo wohnt denn nun dieser Tony?“, bohrte Janet nach.
„Die Adresse lautet 77 Brompton Road, das ist in der Nähe der U-Bahn-Station Knightsbridge. Tony heißt mit Nachnamen Ryan. – Hör mal, du willst ihm doch wohl keine Szene machen, oder?“
Janet schüttelte den Kopf.
„Nein, aber ich will wissen, wann meine Schwester seine Party verlassen hat. Und vor allem: mit wem.“
Es gab natürlich auch noch die Möglichkeit, dass Janet Mia im Bett des Gastgebers antreffen würde. Aber das sprach Janet ihrer Mitbewohnerin gegenüber nicht aus. Sie war sowieso schon sauer auf Claire, weil die Krankenschwester Mia zu der Party mitgeschleift hatte. Janet wusste, dass sie Claire damit unrecht tat, denn Mia war ja letztlich für sich selbst verantwortlich. Aber auch Janet konnte nicht aus ihrer Haut.
Sie zog Jacke und Schuhe an, griff zu ihrer Handtasche.
„Ich bin dann weg. Rufst du mich auf dem Handy an, falls Mia inzwischen hier auftauchen sollte?“
„Ja, natürlich“, erwiderte Claire. Sie wollte noch etwas sagen, aber Janet warf die Wohnungstür ins Schloss und eilte aus dem Haus, Richtung U-Bahn-Station. Ihre Uni-Veranstaltung konnte sie vergessen, aber das war Janet in diesem Moment herzlich gleichgültig. Wie sollte sie sich auf irgendwelche Computersprachen konzentrieren, wenn die Ungewissheit über Mias Schicksal sie innerlich auffraß?
Janet quetschte sich in einen der überfüllten Tube-Waggons der Piccadilly-Line. Die Enge und die schlechte Luft machten ihr nichts aus. Viel schlimmer war für Janet die Vorstellung, bei Dunkelheit die U-Bahn benutzen zu müssen. Sie litt unter einer krankhaft gesteigerten Furcht vor der Finsternis, seit sie als Kind …
Janet presste die Lippen aufeinander. Meistens schaffte sie es, sich nicht in ihren qualvollen Erinnerungen zu verstricken. Im Wachzustand hatte Janet ihr Bewusstsein ganz gut im Griff. Nur nachts, wenn die Träume kamen, griffen die Dämonen ihrer Vergangenheit nach ihr. Janet musste einfach herausfinden, was mit ihrer Schwester geschehen war. Vorher würde sie keine innere Ruhe finden, darüber machte sie sich keine Illusionen.
Während sich Janet durch die drängelnden und schubsenden Passagiere schob und an der Station Knightsbridge die Treppe hoch stieg, wurde ihre Anspannung immer stärker. Wie sollte sie sich verhalten, wenn Mia und dieser verflixte Tony wirklich noch im Bett lagen? Sie war innerlich hin- und hergerissen. Einerseits stellte sich Janet die Situation als ziemlich peinlich vor, und zwar für alle Beteiligten. Mia musste sich doch wie ein kleines Kind fühlen, wenn ihre große Schwester sie aus der Wohnung ihres Liebhabers abholen kam! Doch andererseits war ein Assistenzarzt am Chelsea and Westminster Hospital gewiss nicht der übelste Kerl, an den eine junge Frau in London geraten konnte.
Dr. Tony Ryan lebte in einem repräsentativen Stadthaus im viktorianischen Stil. Janet wusste, dass junge Ärzte an staatlichen Kliniken nicht gerade üppig bezahlt wurden. Der Arzt musste also über ein beachtliches Privatvermögen verfügen, sonst hätte er sich eine Wohnung im teuren Stadtteil Knightsbridge niemals leisten können.
Janet kam sich vor wie in einer Filmkulisse für einen Nostalgie-Krimi, während sie in das erste Stockwerk hoch stieg. Offenbar bewohnte Tony dort eine ganze Etage. Janets Finger waren schweißnass vor Aufregung, als sie den Türklopfer in Form eines bronzenen Löwenkopfes betätigte.
Janet zwang sich dazu, ruhig und tief zu atmen, um ihre innere Unruhe in den Griff zu bekommen. Sie wusste noch nicht einmal, wie der Kerl aussah, der ihre Schwester … Bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, wurde die schwere lackierte Eichentür geöffnet. Ein großer schlaksiger Typ in Joggingklamotten stand vor ihr. Er trug eine schwarze Hornbrille im Clark-Kent-Stil, wirkte trotz seiner legeren Kleidung vertrauenerweckend. Er warf seiner Besucherin einen unsicheren und gleichzeitig fragenden Blick zu.
„Ja?“
„Ich bin Janet, die Schwester von Mia Robbins. Ist sie noch bei dir?“
„Wer?“
Der Gesichtsausdruck des Clark-Kent-Doubles zeigte grenzenlose Verwirrtheit.
„Mia Robbins natürlich!“ Janet konnte sehr resolut sein, wenn sie wollte. „Mia war gestern auf deiner Party, sie ist mit Claire Piaget gekommen. Du bist doch Tony Ryan, oder?“
Ihr Gegenüber antwortete nicht sofort, sondern taxierte Janet mit einem Blick von oben bis unten. Normalerweise konnte sie es nicht ausstehen, so angestarrt zu werden. Doch Janet musste dem Typ zugestehen, dass er vermutlich nicht oft von Frauen im Retro-Look mit Gothic-Einschlag aufgesucht wurde. Janet trug an diesem Morgen einen knielangen pechschwarzen Rüschenrock, dazu ein violettes Top und eine Kurzjacke mit silberfarbenen Husarenschnüren und kleinen Totenkopf-Ansteckern. Für Londoner Verhältnisse war das kein allzu schrilles Outfit, aber Dr. Tony Ryan fand Janet offenbar exotisch genug. Jedenfalls schaute er sie an, als ob sie nicht alle Tassen im Schrank hätte.
„Äh, ja. Ich bin Doktor Tony Ryan. Wollen Sie … willst du nicht hereinkommen?“
Einen Moment lang zögerte Janet. Ob das eine Falle war? Aber der Brillenträger wirkte nicht besonders gefährlich. Außerdem hatte sie ja für alle Fälle immer noch eine Dose Pfefferspray in ihrer Flohmarkt-Handtasche. Claire war eine Zeitlang der Meinung gewesen, dass Janet einen Angreifer mit ihren Hypnose-Fähigkeiten schachmatt setzen könnte. Aber so etwas funktionierte nicht, denn wer sich dagegen sträubte, der würde auch nicht in Trance fallen.
Während ihr diese Gedankenfetzen durch den Kopf spukten, folgte Janet dem jungen Arzt in seine großzügig geschnittene Wohnung. Er führte Janet direkt in den Salon. Hier hatte offenbar die Party stattgefunden. Es standen noch einige Weinflaschen und leere Teller herum. Aber im Vergleich zu Janets WG-Küche herrschte trotzdem eine mustergültige Ordnung. Trotzdem räusperte sich Tony verlegen, bevor er zu sprechen begann.
„Ich muss mich für das Chaos entschuldigen, äh, Janet. Aber es waren viel mehr Leute hier als ich eingeladen hatte, unter anderen auch deine Schwester. Ich habe nur kurz mit Mia gesprochen. Als Gastgeber muss man ja überall und gleichzeitig sein.“
„Sicher, das verstehe ich.“ Janet schaute Tony nun direkt in die Augen. „Und du bist sicher, dass Mia nicht rein zufällig in deinem Bett gelandet ist?“
Janet hatte die Unsicherheit ihres Gegenübers bemerkt. Deshalb traute sie sich auch, einem wildfremden Mann diese Frage zu stellen. Die Sorge um Mia ließ sie forscher erscheinen als sie es sonst war. Aber das konnte Tony ja nicht wissen.
„Nein, ich …“ Tony verstummte. Janets Verdacht, dass er etwas vor ihr verbarg, wurde immer stärker.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mich umsehe? Du hast wirklich eine tolle Wohnung, um die werden dich viele Londoner beneiden.“
Und bevor der junge Arzt protestieren konnte, durchmaß Janet den großen Salon mit ihren Schritten. Sie war größer als die meisten Frauen, der hochgewachsene Tony maß nur ungefähr eine Handbreit mehr als sie. Daher fühlte sich Janet auch im Wortsinn als die große Schwester, während Mia klein und niedlich war und von den meisten Typen mit dem Püppchen-Bonus etikettiert wurde.
Janet riss eine Tür auf. Sie blickte in die Küche, wo sich schmutziges Geschirr stapelte. Aber es war keine Mia zu sehen, die am Tisch hockte und grinsend ihren Morgentee schlürfte. Die Küche war menschenleer.
Tony wieselte nervös hin und her. Für Janet stand fest, dass er ihr etwas verschwieg. Durch ihre Beschäftigung mit Hypnose und Trancezuständen hatte sich ihre Menschenkenntnis stark verbessert. Janet checkte noch zwei Räume, die als Abstellkammer und als kleines Arbeitszimmer dienten. Dann wandte sie sich einer anderen Tür zu. Tony machte einen halbherzigen Versuch, sie am Betreten des Zimmers zu hindern. Aber sie schob ihn einfach zur Seite.
Janet stand nun im Schlafgemach des Arztes.
Er besaß ein wunderschönes antikes Himmelbett. Ansonsten war der Raum mit Aktfotografien geschmückt. Aber alle diese Bilder zeigten attraktive junge Männer. Es gab auch Nachbildungen von griechischen oder römischen Statuen aus dem Altertum zu sehen. Aber auch diese Kunstwerke dienten der Verherrlichung von männlicher Schönheit.
„Du stehst überhaupt nicht auf Frauen, oder?“
„Ich finde, das geht dich überhaupt nichts an“, erwidert Tony gekränkt. „Du kennst mich überhaupt nicht, überfällst mich in meiner Wohnung und dringst sogar in mein Schlafzimmer ein!“
Plötzlich wurde Janet bewusst, dass sie sich unmöglich benommen hatte. Sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Tony. Ich mache mir einfach große Sorgen um meine Schwester, verstehst du? Sie war gestern auf deiner Party, und sie ist nicht heimgekommen. Wir wohnen zusammen. Als ich vorhin in ihr Zimmer kam, war ihr Bett unberührt.“
„Du hast Angst, dass ihr etwas passiert sein könnte?“
„Ist das so abwegig? Du bist doch Arzt, du müsstest doch wissen, dass London ein heißes Pflaster ist.“
„Das stimmt leider. Ich bin Internist, aber ein Freund arbeitet als Unfallchirurg und muss oft auch Verbrechensopfer zusammenflicken.“ Tony erschrak plötzlich vor dem, was er gesagt hatte. „Das muss aber nicht heißen, dass deine Schwester … ich meine …“
Er begann zu stammeln. Janet wusste nun immerhin, dass Mia nicht vom Gastgeber verführt worden war. Aber das Schicksal ihrer Schwester blieb immer noch rätselhaft.
„Ich brauche deine Hilfe, Tony. Woran kannst du dich erinnern? Mit wem hat Mia besonders heftig geflirtet? Ich weiß, dass meine Schwester das gerne tut. Da wird sie bei deiner Party keine Ausnahme gemacht haben.“
Tony legte die Stirn in Falten. Es machte den Anschein, als ob er heftig nachdenken würde. Aber dann schüttelte er den Kopf. „Ich bedaure, Janet – aber mir fällt nur Adam ein. Das ist ein sehr gutaussehender Freund von mir, der sich aber ebenfalls nichts aus Mädchen macht. Deine Schwester hat ein paar Mal mit ihm getanzt, wenn ich mich nicht täusche. Aber sie konnte bei Adam natürlich nicht landen. Ich glaube mich aber zu erinnern, dass Mia irgendwann zwischen Mitternacht und ein Uhr plötzlich verschwunden war. Jedenfalls ist sie nicht mit Adam gegangen, der blieb nämlich noch länger und ging mit seinem Freund Michael nach Hause. Vielleicht weiß er Näheres, er hat ja schließlich mit ihr getanzt. Ich rufe ihn an, dann kannst du selbst mit ihm sprechen.“
Tony griff nach seinem Handy. Janet fand es gut, dass er sie unterstützte – wenn auch vermutlich nur, um sie möglichst bald loszuwerden. Aber das war ihr egal. Janet kam es nur darauf an, endlich Mia zu finden. Zwischenzeitlich hatte sie noch mehrfach erfolglos versucht, ihre Schwester anzurufen. Mias Handy war und blieb ausgeschaltet.
Tony hatte nun Adam gerade am Telefon erklärt, worum es ging. Er reichte Janet sein Smartphone. Eine samtweiche Männerstimme ertönte, als Janet das Gespräch annahm.
„Adam Garland hier. Du suchst also deine Schwester?“
„Ja, genau.“
„Ich habe auf Tonys Party mit ihr getanzt, sie ist sehr flippig. Ein süßes Ding. Sie hat irgendwann gemerkt, dass ich mit meinem Freund dort war. Dann sagte sie zu mir, dass sie noch die letzte U-Bahn erwischen wollte. Sie ist gegen viertel vor Eins gegangen.“
„Und Mia wollte nach Hause?“, vergewisserte sich Janet.
„Ja, falls sie mit der Piccadilly-Line dorthin kommt. Die Station liegt ja nicht weit von Tonys Wohnung entfernt. Ich fragte sie noch, ob sie nicht lieber ein Taxi nehmen wolle. Aber Mia meinte, sie habe keine Angst.“
Dafür war Janets Furcht nun umso größer. Sie stellte Adam noch einige Fragen, aber er wusste offenbar nicht mehr. Sie beendete das Gespräch und gab Tony sein Smartphone zurück.
Der junge Arzt schaut sie besorgt an.„Du bist ja totenbleich geworden, Janet! Soll ich mal deinen Blutdruck messen?“
„Nicht nötig“, fauchte sie genervt. „Ich weiß, warum mein Kreislauf verrücktspielt. Meine Schwester ist in der U-Bahn oder auf dem Weg dorthin verschwunden. Ihr kann sonst was passiert sein. Wie soll ich da ruhig bleiben?“
„Das ist ein Fall für die Polizei“, meinte Tony sachlich. „Soll ich dich zur Revierwache begleiten?“
„Nicht nötig, ich schaffe das schon allein.“
„Das bezweifle ich nicht. Aber mein Vater kennt den Innenminister, meine Familie ist in unserem Land nicht ohne Einfluss. Vielleicht kann man dadurch die Suche etwas beschleunigen. Ich fühle mich irgendwie mitschuldig, weil Mia nach meiner Party verschollen ist. – Ich ziehe mich nur schnell an.“
Tony verschwand in seinem begehbaren Kleiderschrank. Janet wartete. Eigentlich ging es ihr gegen den Strich, dass er sich einmischte. Aber insgeheim war sie doch froh darüber. Vermutlich gab es in London unzählige vermisste Personen, und das tagtäglich. Da musste sie jede Unterstützung annehmen, die sie bekommen konnte.
Im Handumdrehen verließ Tony sein Ankleidezimmer wieder. Nun trug er einen konservativen Tweedanzug mit Weste und Krawatte. Er wirkte wie ein junger Lord. Janet wusste, dass sie selbst ziemlich flippig aussah, jedenfalls in den Augen von Polizisten. Da konnte es nicht schaden, sich in Begleitung einer so vertrauenerweckenden und einflussreichen Person zu befinden.
Die zuständige Wache war die Belgravia Police Station in der Pimlico Road. Dort war nicht allzu viel los, denn Tony lebte in einem ruhigen und wohlhabenden Stadtteil. Im Handumdrehen kümmerte sich ein Beamter um sie. Doch obwohl Janet aufgeregt vom Verschwinden ihrer Schwester berichtete und Tony sie unterstützte, schien der Inspektor nicht besonders beeindruckt zu sein. Er hieß Horace Miller und hatte eine spiegelglatte Glatze.
„In der vergangenen Nacht wurden im Bereich der U-Bahn-Station Knightsbridge keine größeren Straftaten gemeldet, Miss Robbins. Es gab nur kurzzeitig Ärger mit aggressiven Bettlern. Aber die haben sich entfernt, nachdem wir einen Streifenwagen geschickt haben.“
„Wie schön.“ Janet konnte ihre Ungeduld kaum bezähmen. „Aber meine Schwester ist verschwunden, und ich verlange von Ihnen, dass Sie etwas unternehmen!“
Tony legte beschwichtigend seine Hand auf ihren Unterarm. Er deutete auf das Foto von Mia, das Janet dem Polizisten vorgelegt hatte.
„Sie können doch gewiss diese Aufnahme abgleichen und prüfen, ob diese junge Frau in eines der Londoner Krankenhäuser eingeliefert wurde, Inspektor.“
„Selbstverständlich. Wenn Sie so lange warten möchten …“
Horace Miller deutete auf eine Holzbank. Dann begab er sich in einen der hinteren Räume, wobei er sich nach Janets Meinung nicht besonders zu beeilen schien. Aber vielleicht tat sie dem Inspektor auch Unrecht. Sie war einfach unglaublich nervös und angespannt.
„Vielen Dank für deine Hilfe, aber ich möchte jetzt lieber allein sein“, sagte sie zu Tony. Der junge Arzt zuckte mit den Schultern. „Wie du möchtest. Ich drücke dir die Daumen, dass alles gut wird. Kopf hoch, Janet.“
Sie nickte ihm zu und versuchte abermals, ihre Schwester zu erreichen. Aber das Handy war und blieb ausgeschaltet. Deshalb konnte es auch von der Polizei nicht geortet werden. Jedenfalls war das in den Thrillern immer so, die Janet gelegentlich las. Momentan war ihr Bedarf an atemloser Spannung allerdings voll und ganz gedeckt. Ihre Fantasie quälte sie mit den übelsten Befürchtungen, was Mia alles zugestoßen sein könnte.
Endlich kam der Inspektor wieder auf sie zu. Janet sprang auf, als ob sie einen elektrischen Schlag bekommen hätte.
„Nun?“
„Ich habe sämtliche Hospitäler kontaktiert, und auch das Leichenschauhaus, Miss Robbins. Es wurde niemand eingeliefert, auf den die Beschreibung Ihrer Schwester auch nur annähernd passt. Die einzige weibliche unbekannte Leiche ist eine Asiatin und vermutlich zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt gewesen.“
Janet musste erst einmal die Tatsache verdauen, dass sich Miller im Leichenschauhaus erkundigt hatte. Aber natürlich musste der Inspektor auch mit dem Schlimmsten rechnen. Das tat Janet selbst ja ebenfalls, wenn sie ehrlich sich selbst gegenüber war.
„Und was geschieht nun?“, fragte sie mit tonloser Stimme.
„Ich habe eine Akte für Ihre Schwester angelegt. Meine Kollegen im Streifendienst werden die Augen offenhalten. Aber bedenken Sie, dass es noch keine Hinweise auf eine Straftat gibt. Vielleicht ist die junge Frau ja inzwischen schon wieder nach Hause zurückgekehrt. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas geschieht. Zum Glück gehen viele dieser Fälle glimpflich aus.“
Janet hätte dem Inspektor am liebsten an den Kopf geworfen, dass Mia kein verantwortungsloses Partyluder war und nicht dauernd in fremden Betten nächtigte. Doch sie würde nichts erreichen, wenn sie die Polizei gegen sich aufbrachte. Also schaffte sie es, sich mit brüchiger Stimme bei Miller zu bedanken.
Als Janet draußen vor der Polizeistation stand, atmete sie erst einmal tief durch. Dann kamen ihr plötzlich die Tränen. Sie fühlte sich von allen Menschen im Stich gelassen. Warum verstand denn niemand, dass Mia in großer Gefahr schwebte? Es dauerte einige Minuten, bis sich Janet wieder halbwegs beruhigt hatte. Sie trocknete ihre Tränen und lehnte sich gegen eine Häuserwand.
Allmählich setzte ihr Verstand wieder ein. Janet wusste, dass es in den U-Bahn-Stationen und in den Waggons flächendeckend Überwachungskameras gab. Wenn Mia wirklich die letzte U-Bahn genommen hatte, dann musste sie doch irgendwo auf einem der Videos zu sehen sein – oder?
Ob sie noch einmal zu Inspektor Miller gehen und ihn darauf aufmerksam machen sollte? Janet entschied sich dagegen. Der Polizeibeamte würde sich von ihr gewiss nicht vorschreiben lassen, wie er seine Arbeit zu machen hatte. Außerdem war es allgemein bekannt, wie gut die Tube überwacht war. Die U-Bahn hatte einen eigenen Sicherheitsdienst, dort konnte Janet ihr Glück versuchen.
Die Security-Zentrale befand sich im Bahnhof Waterloo Station. Janet fuhr dorthin, denn sie musste unbedingt etwas unternehmen. Sie wollte sich nicht darauf verlassen, dass die Polizei einfach nur ihren Job machte. In dem Büro des Sicherheitsdienstes dauerte es eine Zeit, bis jemand Zeit für Janet. Offenbar gab es einige Schwarzfahrer sowie Opfer von Trickdiebstählen und Raubüberfällen, die zuerst an der Reihe waren.
Janet wartete ungeduldig. Endlich stand sie vor dem Schreibtisch einer müde aussehenden Frau in Security-Uniform. Sie warf Janet einen gleichgültigen Blick zu. Wahrscheinlich war sie der Meinung, eine weitere Schwarzfahrerin vor sich zu haben.
„Ja, bitte?“
„Meine Schwester ist gestern Abend in einem Zug der Piccadilly Line verschwunden“, behauptete Janet, obwohl das nur eine Vermutung war.
„Vermisstenanzeigen nimmt die Londoner Polizei auf, Miss.“
Janet rollte genervt mit den Augen.
„Ich komme gerade von der Revierwache! Aber für die Sicherheit in den Zügen und auf den Bahnhöfen sind doch Ihre uniformierten Weihnachtsmänner zuständig, oder nicht?!“
Janet ahnte, dass sie mit Patzigkeit und Frechheit nichts erreichen würde. Aber inzwischen lagen ihre Nerven blank. Sie befürchtete, dass Mia in großer Gefahr war, während sie sich hier auf sinnlose Diskussionen einlassen musste!
„Wenn ein Verbrechen vorliegt, dann übergeben wir der Metropolitan Police unsere Überwachungsvideos“, erklärte die Security-Angestellte geduldig. „Gibt es denn konkrete Hinweise, dass Ihrer Schwester etwas geschehen ist?“
Janet holte tief Luft. Sie spürte, dass auch diese Frau sie nicht ernst nahm. Und deshalb wurde sie jetzt so richtig sauer. Doch bevor Janet ausrasten konnte, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme.
„Ich kümmere mich um die Sache, Annie.“
Janet drehte sich um. Ein hochgewachsener Typ stand hinter ihr und nickte ihr freundlich zu. Er war blond und wirkte so selbstbewusst und athletisch wie einer dieser Personal Trainer, die im Hyde Park ihre übergewichtigen Kunden über den Rasen scheuchten. Seine blauen Augen gefielen Janet, obwohl sie ansonsten eher auf dunkelhaarige Männer stand. Doch sie war ganz gewiss nicht hierhergekommen, um zu flirten!
Daher wanderte ihr Blick von seinem Gesicht tiefer zu dem Ausweis, den der Blonde an seiner Jeansjacke befestigt hatte. Laut dieser Plastikkarte hieß er Liam Carson und war Detektiv des London Transport Sicherheitsdienstes.
„Du nimmst dich also der jungen Lady an, Liam?“, sagte die Angestellte. „Fein, der Nächste bitte!“
Die Frau in Uniform schien nicht unglücklich darüber zu sein, sich nicht mehr mit der Sache befassen zu müssen. Aber das war Janet egal, sie wollte endlich Antworten auf ihre Fragen haben.
Liam Carson forderte sie mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Er führte Janet in einen fensterlosen Verschlag, der ihm offenbar als Büro diente.
„Ich habe gerade am Rande mitbekommen, dass Ihre Schwester verschwunden ist, Miss …?“
„Robbins. Ich heiße Janet Robbins. Der Name meiner Schwester ist Mia. Und von ihr fehlt jede Spur, seit sie gestern Abend den letzten Zug der Piccadilly Line genommen hat. Mia ist an der Station Knightsbridge zugestiegen.“
„Knightsbridge? Sind Sie sicher?“, hakte der U-Bahn-Detektiv nach. Janet bemerkte, dass er nun ebenfalls besorgt wirkte. Oder bildete sie sich das nur ein? Jedenfalls hatte sie endlich das Gefühl, mit ihrem Problem zu einem anderen Menschen durchdringen zu können.
„Ja, meine Schwester war auf einer Party und wollte nach Hause fahren. Die nächstgelegene Station von dort aus ist Knightsbridge. – Weshalb fragen Sie?“
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein“, sagte Liam Carson und schaute Janet direkt in die Augen. „Unser Überwachungssystem ist manipuliert worden. Die Kameras im letzten Zug vor der Betriebspause sind alle gleichzeitig ausgefallen, nachdem die Station Knightsbridge verlassen wurde. Einen technischen Defekt können wir ausschließen. Deshalb kann ich Ihnen nicht sagen, was in diesem Zug geschehen ist.“
Janet benötigte einige Augenblicke, bis sie die Tragweite von Liam Carsons Worten begriff. Ihr wurde plötzlich ganz übel vor Angst.
„Das heißt – meine Schwester ist in diesem verflixten Zug vielleicht sogar gestorben?“
Der Detektiv schüttelte den Kopf.
„Bei der Reinigung nach Betriebsschluss wurden keine Blutflecken oder sonstigen Hinweise auf ein Verbrechen gefunden.“
„Wie kommt es, dass ich trotzdem nicht beruhigt bin?“, fragte Janet mit tonloser Stimme. Sie war innerlich hin und her gerissen. Einerseits war sie ihrem Gegenüber dankbar dafür, dass er ihr von dem Kameraausfall erzählt hatte. Andererseits hätte sie schwören können, dass Liam Carson ihr noch etwas verschwieg. Durch ihre Beschäftigung mit Hypnose hatte Janet ein sehr feines Gespür für das Verhalten ihrer Mitmenschen bekommen.
„Sie sind ja ganz blass geworden. – Kommen Sie, ich lade Sie zu einem Kaffee ein.“
Janet folgte Liam Carson bereitwillig. Waterloo Station war einer der wichtigsten Fernbahnhöfe Londons, durch den tagtäglich zehntausende von Menschen eilten, Der Detektiv lotste sie in einen der zahlreichen Coffee Shops und bestellte für beide einen doppelten Espresso. Janet fühlte sich wirklich etwas besser, nachdem sie von der heißen aromatischen Flüssigkeit getrunken hatte. Liam Carson ließ seine Plastik-Ausweiskarte in der Jackentasche verschwinden.
„Sie wissen ja jetzt, wer ich bin. Ich zeige meine Legitimation meistens nur, wenn ich einen Schwarzfahrer erwische oder einen Gewalttäter aus dem Verkehr ziehe.“
Janet nickte. Der Detektiv wirkte athletisch, aber nicht aggressiv auf sie. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er einen Schläger ohne großen Aufwand in die Knie zwang. Liam Carson strahlte Ruhe und Besonnenheit, aber gleichzeitig auch Kraft aus. Trotzdem störte sie etwas an ihm. Janet beschloss, mit offenen Karten zu spielen.
„Sie haben mir nicht die ganze Wahrheit gesagt, oder?“
„Ich habe einen bestimmten Verdacht, Miss Robbins …“
„Oh, bitte! Nennen Sie mich doch Janet, das bin ich so gewohnt. Miss Robbins sagt man nur in der Uni-Verwaltung zu mir, wenn ich mal wieder mit den Studiengebühren im Rückstand bin.“
Der Detektiv grinste.
„Okay, also Janet – Sie können gern Liam zu mir sagen. Ich arbeite übrigens schon vier Jahre für die U-Bahn-Gesellschaft.“
„Wollen Sie mir jetzt Ihre Lebensgeschichte erzählen?“, fragte Janet ungeduldig.
„Nein, das nicht. Aber ich kann behaupten, dass ich mich im Londoner U-Bahn-Netz sehr gut auskenne. Unsere Stadt besitzt immerhin das älteste U-Bahn-Netz der Welt, es umfasst über 400 Kilometer und hat 270 Stationen.“
„Ich bin schwer beeindruckt von Ihrem Wissen“, sagte Janet ironisch. „Aber was hat das mit dem Verschwinden meiner Schwester zu tun?“
„Neben den 270 Stationen gibt es auch noch zahlreiche Geisterbahnhöfe“, fuhr Liam unbeirrt fort. „Können Sie sich darunter etwas vorstellen?“
Janet zuckte mit den Schultern.
„Ich nehme an, das sind Stationen, die stillgelegt wurden.“
„Richtig. Es gibt auch ungenutzte Luftschutzbunker und Befehlsstände aus dem Zweiten Weltkrieg, die man von U-Bahn-Netz aus erreichen kann. Die Zugänge sind zugemauert worden, damit niemand dort Unfug treiben kann. Aber es ist natürlich nicht schwer, solche verschlossenen Wege wieder zu öffnen. Und es gibt Leute, die so etwas tun.“
Janet erkannte, dass Liam ihr auf schonende Art etwas Schlimmes sagen wollte. Darum sprach er zunächst über Dinge, die ihr unwichtig vorkamen. Sie beschloss, ihre Ungeduld zu zügeln.
„Und was sind das für Leute?“
Janet hatte unwillkürlich leise gesprochen. So, als ob niemand mitbekommen sollte, worüber sie mit Liam redete. Aber die anderen Gäste in dem Coffee Shop beachteten die beiden sowieso nicht. Vermutlich hielten sie Janet und Liam einfach für ein Liebespaar.
„Größtenteils Obdachlose, von denen gibt es ja sehr viele in London. Das sind arme Teufel, die einfach nur einen trockenen Platz zum Schlafen suchen. Aber es gibt auch Gerüchte über eine Gruppe, die sich Nachtvolk nennt.“
„Nachtvolk?“
„Ja, so bezeichnen sie sich angeblich selber. Ich gebe nichts auf Gerede, ich bilde mir mein Urteil lieber selber. Und ich weiß auch nicht, ob das Nachtvolk wirklich existiert. Aber es gibt einige unaufgeklärte Verbrechen im Londoner U-Bahn-Netz, die auf das Konto des Nachtvolks gehen sollen.“
„Aber Beweise haben Sie nicht?“
Liam schüttelte den Kopf.
„Weder die Polizei noch meine Security-Kollegen und ich haben jemals ein Mitglied des Nachtvolks verhaften können. Vielleicht existiert die Bande ja nur in der Fantasie einiger durchgeknallter Freaks.“
Janet kam eine Idee.
„Trauen Sie diesem Nachtvolk zu, die Überwachungskameras in der U-Bahn lahmzulegen?“
„Ich fürchte, ja. Die Störung war das Resultat eines Hackerangriffs auf unsere Computerzentrale. Die Kameras im letzten Zug auf der Piccadilly Line wurden gezielt ausgeschaltet. Angeblich gehören zum Nachtvolk auch irgendwelche brillanten Computerhacker, die früher in Banken gearbeitet haben und durch die Finanzkrise ihre Jobs verloren. Sie wollen sich an der ganzen Welt rächen.“
„Und meine Schwester ist jetzt in der Gewalt dieser Irren.“
Janet bekam eine Gänsehaut, während sie diesen Satz aussprach.
„Das wissen wir nicht“, sagte Liam und legte beruhigend seine Hand auf Janets Unterarm. Sie musste sich eingestehen, dass die Berührung durch seine Finger ihr guttat. Die Hand war genau wie Liam selbst, nämlich fest und vertrauenerweckend.
„Aber die Möglichkeit besteht. – Wann fangen wir mit der Suche an?“
„Wir?“, echote der Detektiv.
„Selbstverständlich! – Glauben Sie, ich fahre jetzt nach Hause und warte darauf, dass ich eine Nachricht von Ihnen bekomme? Das können Sie vergessen. Ich muss selbst etwas unternehmen, sonst werde ich wahnsinnig.“
„Ich kann Sie nicht dorthin mitnehmen, Janet. Es ist gefährlich in diesen Tunneln und Schächten. Wir wissen nicht, was uns dort erwartet.“
„Vorhin haben Sie noch gesagt, Sie würden sich so gut im Londoner U-Bahn-Netz auskennen. Wollten Sie nur vor mir angeben?“
Janet wusste, dass sie Liam mit dieser Unterstellung Unrecht tat. Sie wollte ihn herausfordern, damit er sie mitnahm. Doch dieser Schuss ging nach hinten los.
„Ich kann nicht das Leben einer Zivilistin riskieren. Wenn auch nur ein Teil der Gerüchte über das Nachtvolk stimmt, dann …“
Liam unterbrach sich selbst. Janet ahnte, dass diese Leute wirklich übel sein mussten. Wahrscheinlich hatte der Detektiv sie nicht unnötig beunruhigen wollen. Aber jetzt war sie erst Recht mit ihren Nerven am Ende.
„Dann wird es dringend Zeit, dass jemand dem Spuk ein Ende macht! Versetzen Sie sich doch in meine Lage, Liam. Was würden Sie an meiner Stelle tun?“
Der Detektiv schaute Janet direkt ins Gesicht, dann begann er kopfschüttelnd zu grinsen. Janet begriff, dass sie jetzt den richtigen Ton getroffen hatte.
„Ja, Sie haben Recht. Es spricht sehr für Sie, dass Sie für Mia dieses Risiko eingehen wollen. Sie kann wirklich froh sein, so eine Schwester wie Sie zu haben. – Kennen Sie die U-Bahn-Station Holborn?“
„Ja.“
„Dort werde ich heute um drei Uhr nachmittags einen Kontrollgang unternehmen. Ich schließe auf dem Bahnsteig vier der Piccadilly Line eine Tür auf, um in den versperrten Bereich zu gelangen. Vielleicht schlüpft ja jemand hinter mir ebenfalls in den finsteren Tunnel.“
„Ich, beispielsweise?“, fragte Janet, wobei sie den Kopf schieflegte und versuchte, möglichst süß auszusehen. Das konnte ihre Schwester allerdings besser als sie. Liam hob die Schultern.
„Wenn Sie mir wirklich dorthin folgen wollen, bin ich natürlich für Ihre Sicherheit verantwortlich. Das würden meine Vorgesetzten auch so sehen. Aber ich habe Sie nicht aufgefordert, mich auf meinem Dienstgang in die stillgelegten Schächte zu begleiten.“
„Selbstverständlich nicht“, erwiderte Janet
Verlag: Elaria
Cover: Oliviaprodesign, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2019
ISBN: 978-3-96465-101-3
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