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1

Es war kein Traum, sondern eine Vision, von der Doktor Samuel heimgesucht wurde.

Der Alte befand sich an einem Ort, den er mit eigenen Augen noch niemals zuvor gesehen hatte. Und doch wusste oder ahnte er genau, um was für einen Platz es sich handelte.

Es war die Allerheiligenkirche von Sedlec, allgemein als Knochenkirche bekannt.

Geografisch war es kein weiter Weg vom Prager Ghetto bis zu der Kleinstadt Kutna Hora, auf deren Gebiet die Knochenkirche lag. Doch innerlich trennten Doktor Samuel Welten von diesem christlichen Gotteshaus, denn er selbst war fest im jüdischen Glauben verwurzelt.

Und doch spürte er während seiner Vision eine Verbundenheit mit der Knochenkirche, die er nie zuvor gekannt hatte. Es war ein gleichermaßen befremdendes wie auch verblüffendes Gefühl. Da gab es diese zahlreichen fremdartigen Anbetungsgegenstände, die zu allem Überfluss auch noch aus Menschenknochen geformt worden waren: die beinahe menschengroßen Abendmahlskelche, das aus Knochen und Schädeln geformte Jesus-Monogramm, schließlich die mächtigen Beleuchtungskörper, die jeweils aus sämtlichen Knochenarten eines Menschenleibes bestanden.

Doktor Samuel kam sich plötzlich vor wie einer der Zisterziensermönche, die den makabren Anbetungsraum einst geschaffen hatten. Er hatte das Gefühl, wie ein Geist durch das ihm aus eigener Anschauung fremde Kirchenschiff zu schweben. Und doch konnte er die Knochenberge in den Seitenschiffen und die Monstranzen neben dem Hauptaltar ganz deutlich vor sich sehen. Der Alte befand sich in einem seltsamen Zwischenzustand. Er begriff, dass seine momentanen Eindrücke nicht real waren. Und doch erkannte er, dass mächtige kosmische Kräfte ihm etwas mitzuteilen hatten. Es gab einen triftigen Grund dafür, dass seine Seele mit diesen starken Eindrücken eines ihm nicht vertrauten Gebäudes überflutet wurde.

Was verband Doktor Samuel mit der Knochenkirche?

Bevor er diese Frage für sich selbst beantworten konnte, erklangen heftige Schläge. Zunächst glaubte der Alte, dass jemand mit einem Hammer auf einen der unzähligen Totenköpfe eindreschen würde, die sich in der Knochenkirche befanden. Er hatte einmal gehört, dass es mehrere zehntausend sein sollten.

Doch dann schlug Doktor Samuel die Augen auf. Er war offenbar am Schreibpult seiner Studierstube eingenickt. Und das monotone Geräusch stammte von einem Besucher, der beharrlich an die Tür klopfte.

„Herein“, krächzte Doktor Samuel und strich sich über seinen langen Bart.

Ein Bote trat herein, ganz offensichtlich kein Bewohner des Ghettos. Er grüßte und überreichte Doktor Samuel einen Brief. Stirnrunzelnd brach der Alte das Adelswappen, mit dem das Schreiben verschlossen worden war. Er überflog die Zeilen.

Nun würde er den Ort, der ihn soeben in einer Vision heimgesucht hatte, schon bald aus eigener Anschauung kennenlernen. Und Doktor Samuel ahnte, dass er von diesem Ausflug nichts Gutes zu erwarten hatte …

2

Weihrauchdämpfe drangen in die Nase des alten Mannes. Doktor Samuel wusste, dass die Christen in ihren Gotteshäusern gerne Räucherwerk verbrannten. Aber in diesem Beinhaus hatte er eigentlich solche Gerüche nicht erwartet. Die Friedhofskapelle in dem verträumten Ort Sedlec war alles andere als ein gewöhnlicher Anbetungsort. Sie wurde nicht umsonst Knochenkirche genannt, denn der Sakralraum und sämtliche Ornamente des Gotteshauses bestanden aus menschlichen Knochen und Totenschädeln, die zu bizarren Kunstwerken zusammengefügt worden waren.

Doktor Samuel schritt langsam vorwärts, wobei der Saum seines schwarzen Kaftans den Steinboden berührte. Der Greis betrat zum ersten Mal in seinem langen Leben diese Totenstätte. Und doch fand er den genauen Verabredungsort auf Anhieb.

Graf Ludwig wollte sich vor dem Wappen der Fürstenfamilie Schwarzenberger mit Doktor Samuel treffen. Diese Nachricht hatte den alten jüdischen Mystiker durch einen verschwiegenen Boten im Prager Ghetto erreicht, und er war von einer schwarzen Kutsche mit verhangenen Fenstern hierher gebracht worden. Doktor Samuel fragte sich, was der jüngste Sprössling einer der bedeutendsten Adelsfamilien der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie von ihm wollte. Und weswegen Graf Ludwig einen so melodramatisch anmutenden Treffpunkt gewählt hatte.

Doch einstweilen war Doktor Samuel offenbar allein in der gotischen Kapelle, die von zahlreichen Kerzen in Knochenlüstern in ein geheimnisvolles Licht getaucht wurde. Und solange der weise Mann über den Grund seines Besuchs nur spekulieren konnte, betrachtete er eingehend das Wappen der Schwarzenberger.

Es wurde von einer Reichskrone geziert, die ebenfalls aus menschlichen Gebeinen bestand. Das knöcherne Symbol dieser Reichsgrafen-Dynastie verkörperte nach Doktor Samuels Meinung sowohl große irdische Macht als auch unabwendbare Vergänglichkeit. Gewiss, die Schwarzenberger gehörten zu den tonangebenden Geschlechtern der Donaumonarchie, waren noch einflussreicher als die Familie, aus der Graf Ludwig stammte. Aber was nutzte ihnen diese Machtfülle, wenn sie in der Todesstunde nicht mehr ins Jenseits hinüber retten konnten als ein nackter Bettler?

„Ich hatte dich mir älter vorgestellt.“

Doktor Samuel drehte sich um, nachdem dieser halblaute Satz gefallen war. Sein Gegenüber war ein blasser blonder Hänfling in einer Uniform der kaiserlichen Leibgardereiter. Graf Ludwig wirkte so kindlich, als ob er sich die martialische Montur von seinem Bruder ausgeliehen hätte. Aber so etwas hatte ein österreichischer Adliger natürlich nicht nötig. Und der weise Mann wusste, dass er den Bengel auf keinen Fall unterschätzen durfte. Graf Ludwig konnte Doktor Samuel so leicht töten wie ein Habicht eine Maus.

Doktor Samuel lächelte und verneigte sich vor dem Jungen, der sein Urenkel hätte sein können. Es wunderte ihn nicht, dass er von dem Jungen geduzt worden war. Das passte zu der Verachtung, die ein österreichischer Adliger für einen Mann aus dem Ghetto empfand. Und doch wollte der junge Graf etwas von Doktor Samuel, sonst hätte er ihn wohl kaum zu diesem merkwürdigen Treffpunkt befohlen.

„Erlaucht, ich bin Ihrer Aufforderung sofort gefolgt. Was kann Ihr ergebener Diener für Sie tun?“

Graf Ludwig bewegte sich leise, obwohl er Reitstiefel trug. Deshalb hatte Doktor Samuel auch nicht mitbekommen, dass er sich von hinten angenähert hatte. Nun marschierte der Knabe in Uniform vor dem aus Gebeinen geformten Wappen hin und her, wobei er unruhig mit seiner Reitpeitsche spielte. Er warf dem Juden im Kaftan immer wieder kurze Seitenblicke zu. Doktor Samuel konnte nur schwer einschätzen, was im Kopf seines Gegenübers vor sich ging. Dabei war er eigentlich ein guter Menschenkenner.

„Es geht um eine sehr delikate Angelegenheit, Doktor Samuel. Du wurdest mir von verschiedenen hochgestellten Persönlichkeiten empfohlen. Es heißt, dass du Zauberkräfte besitzt. Ich glaube eigentlich nicht an solchen Hokuspokus, aber der Zweck heiligt die Mittel.“

Doktor Samuel breitete lächelnd die Arme aus, ließ seine großen Altmännerhände aber gleich darauf wieder in den weiten Ärmeln seines Kaftans verschwinden.

„Ich habe mich darauf spezialisiert, Probleme auch mit ungewöhnlichen Mitteln zu lösen, Erlaucht. In den Traditionen und Überlieferungen meines Volkes gibt es so manche diskrete Methoden, die dabei behilflich sind. Und diese Techniken stehen nicht immer in Übereinstimmung mit dem naturwissenschaftlichen Wissen, wie es an den kaiserlichen Hochschulen gelehrt wird.“

Der blasse Jungoffizier sah nicht so aus, als ob er die Erwiderung des alten Mannes verstanden hätte. Er zog ungeduldig die Augenbrauen zusammen.

„Ich habe eine wichtige Aufgabe für dich. Und wenn du sie zu meiner Zufriedenheit meisterst, werde ich dich mit hundert Goldmünzen belohnen.“

Doktor Samuels Antwort bestand in einer noch tieferen Verneigung. Es kam öfter vor, dass er sogenannten Stützen der Gesellschaft aus der Klemme helfen sollte. Man liebte ihn nicht für diese Dienste, aber seine Auftraggeber wussten, was sie an ihm hatten. Besonders schätzten sie seine Verschwiegenheit. Ohne diese Eigenschaft wäre Doktor Samuel wohl nicht über neunzig Jahre alt geworden.

„Hast du dich noch gar nicht gefragt, weshalb ich dich ausgerechnet hier in der Knochenkirche treffen wollte, Doktor Samuel?“

„Ein Gardeoffizier kann nicht in das jüdische Ghetto von Prag gehen, ohne Aufsehen zu erregen. Selbst wenn Erlaucht inkognito erscheinen würde, bestünde die Gefahr, erkannt zu werden. Und dass Sie jemanden wie mich auf das Schloss Ihrer werten Familie einladen, hatte ich ebenfalls nicht angenommen.“

Graf Ludwig nickte mürrisch. Es war ihm anzumerken, dass er sich in Gegenwart von Doktor Samuel unwohl fühlte. Der Alte war dem Bürschchen offensichtlich unheimlich. Aber Graf Ludwig hätte sich lieber die Zunge abgebissen als das zuzugeben. Von Kindesbeinen an hatte man ihm beigebracht, dass er etwas Besseres war. Wahrscheinlich glaubte er inzwischen selbst daran.

Der Blick des jungen Adligen wanderte über das aus Menschenknochen bestehende Schwarzenberger-Wappen und hinüber zu den Gebein-Monstranzen, Skelett-Leuchtern und Schädelpyramiden. Doktor Samuel fragte sich, ob der Milchbart plötzlich von einem Gefühl der eigenen Vergänglichkeit ergriffen wurde. Aber stattdessen suchte er offenbar nur nach den passenden Worten, um sein Anliegen vorzubringen.

„Ich nehme an, dass du die schöne Lea kennst.“

Der Alte nickte langsam und versonnen.

„Gewiss, denn Lea ist die schönste Blume im Prager Ghetto. Ihr Gang gleicht den Bewegungen einer orientalischen Schleiertänzerin und ihr anmutiger Körper ist so biegsam wie eine Weidenrute. Wenn auch nur eine Strähne ihrer glänzenden schwarzen Locken unter dem Tuch sichtbar wird, geraten die Männer schon in Ekstase. Wenn ich selbst sechzig oder siebzig Jahre jünger wäre, würde ich mir ebenfalls den Hals nach der schönen Lea verrenken, Erlaucht. – Bedauerlicherweise ist sie seit einigen Wochen spurlos verschwunden. Ihre Eltern weinen sich die Augen nach ihr aus.“

Das Uniformjüngelchen machte eine zustimmende Handbewegung. Doktor Samuels poetische Beschreibung des Mädchens schien bei ihm auf fruchtbaren Boden zu treffen.

„Lea ist wirklich ganz entzückend, Doktor Samuel. Und wenn sich viele Männer bei ihr auch nur auf lüsterne Blicke beschränken, so gibt es doch einen Unhold, der sie ganz für sich allein haben will. – Baron Schacht hat die wundervolle Jungfer aus dem Ghetto verschleppen und in seine Bergfeste Geiergipfel schaffen lassen!“

Der Alte benötigte einige Momente, um diese für ihn neue Information zu verdauen. Obwohl Doktor Samuel übersinnliche Kräfte besaß, war er doch nicht allwissend. Auch er hatte nur darüber spekulieren können, wo die junge Ghettoschönheit abgeblieben war. Baron Josef Schacht genoss einen zweifelhaften Ruf als Wüstling und Gewaltmensch. Es gefiel Doktor Samuel gar nicht, die schöne Lea in seinen Klauen zu wissen. Und schon gar nicht in der abgelegenen Trutzburg, die sich inmitten von lebensfeindlicher Einöde befand.

„Das sind beunruhigende Neuigkeiten, Erlaucht. Nach dem, was ich über Baron Schacht gehört habe, wird er Lea gewiss nicht freiwillig wieder gehen lassen. Womöglich leugnet er sogar, mit ihrem Verschwinden etwas zu tun zu haben.“

„Darauf kannst du wetten, alter Mann! Ich kenne den Baron, er ist ein widerliches Rabenaas. Bedauerlicherweise verfügt seine Familie über einen sehr großen Einfluss bei Hofe. Daher besteht keine Möglichkeit, Druck auf ihn auszuüben. Und die Justiz frisst Schacht ohnehin aus der Hand. – Daher will ich dich damit beauftragen, Lea aus dieser Bergfeste zu holen und hierher in die Knochenkirche zu bringen.“

Nun verstand Doktor Samuel, weswegen Graf Ludwig mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Und er machte sich keine Illusionen über die Motive seines adligen Gegenübers. Der halbwüchsige Gardeoffizier wurde gewiss nicht von seinem guten Herzen oder von anderen edlen Motiven zu diesem Vorhaben gedrängt. Vielmehr war es Graf Ludwigs Lüsternheit, die ihn mit Baron Schacht wetteifern ließ. Der junge Adlige wollte die schöne Lea für sich allein haben, und dafür musste sie natürlich zunächst aus ihrer Gefangenschaft befreit werden.

Und wenn Doktor Samuel sich weigerte? Das wäre keine gute Idee. Graf Ludwig sah nicht so aus, als ob er eine Zurückweisung mit stoischer Gelassenheit hinnehmen würde. Der Jüngling erinnerte den Alten an ein verzogenes Kind, das sein Spielzeug aus purer Langeweile zerstört. Also fügte er sich in sein Schicksal.

„Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, den Auftrag von Erlaucht perfekt auszuführen“, sagte der weise Mann, wobei sein Blick über das Gebein-Wappen schweifte. Es hing wie ein Damoklesschwert über ihm.

3

Der Golem war stark wie ein Ochse und unverwundbar wie ein Felsbrocken in den böhmischen Bergwäldern. Doktor Samuel hatte den künstlichen Menschen mit Hilfe von geheimen Zaubersprüchen und überlieferten Formeln in mühsamer Kleinarbeit aus Lehm geformt. Für den Greis war der Golem so etwas wie sein Sohn. Er redete sogar mit ihm, obwohl die stumme Kreatur nicht antworten konnte.

Doktor Samuel stand in dem Verschlag, wo der Golem vor den Augen der Welt verborgen wurde. Nur das trübe Licht einer Petroleumlampe beleuchtete den Schuppen mehr schlecht als recht. Der Alte arbeitete mit einem Spachtel an den beeindruckenden Oberarmen des Monstrums. Eigentlich war der Golem schon fertig, aber Doktor Samuel konnte sich von seiner Kreatur einfach nicht lösen.

„Du bist stärker als der kräftigste Gewichtheber auf dem Jahrmarkt, Golem. Und doch bist du kein Mann. Du wirst niemals verstehen, dass Männer wegen einer schönen Frau die größten Dummheiten begehen und sogar Blut vergießen. Es gibt nur eine Person, der du die Treue hältst, nicht wahr? Und diese Person bin ich.“

Der Kunstmensch überragte Doktor Samuel um mindestens zwei Haupteslängen. Der Golem hätte die Knochen des Alten mit einer einzigen Armbewegung zerschmettern können. Und doch hätte er niemals auch nur den kleinen Finger gegen den Mann erhoben, der ihn erschaffen hatte. Doktor Samuel fuhr mit seinem Monolog fort.

„Ich spüre, dass mein langes Leben an seinem Ende angekommen ist. Aber ich bin gar nicht traurig, verstehst du? Es ist nämlich, als ob ein Teil von mir in dir weiterleben würde, Golem. – Gewiss, du kannst nicht klug reden und noch nicht einmal heilige Schriften lesen. Aber ich habe dich gelehrt, die Schwachen zu beschützen und das Böse zu bekämpfen.“

Die Lehmstatue blinzelte. Wenn man von ihr überhaupt in irgendeiner Form eine Antwort erwarten konnte, dann war diese soeben erfolgt.

„Noch heute Nacht werde ich zum Geiergipfel aufbrechen“, erklärte Doktor Samuel. „Ich bediene mich eines Kutschers, dem ich sein Gedächtnis nehmen werde. Er wird sich nicht daran erinnern können, mich dorthin gebracht zu haben. Und auch den Anblick seiner liebreizenden Fracht, die ich auf dem Rückweg mitzunehmen gedenke, wird er nicht genießen. Denn wenn er später aufwacht, wird diese nächtliche Kutschfahrt für ihn nicht stattgefunden haben. Und du wirst im Schutz der Dunkelheit auf mich warten, nicht wahr? Und ich bin sicher, dass du auch ohne meinen Befehl zu den richtigen Handlungen fähig bist.“

Der Golem neigte seinen mächtigen Schädel, mit dem er Eichenbohlen zertrümmern konnte.

4

Lea Cohen fürchtete sich sehr.

Die junge Frau hatte ihre Schönheit schon oft als einen Fluch des Allmächtigen angesehen. Oder als eine Prüfung ihres Glaubens, um es etwas positiver zu sehen. Seit Lea vom Mädchen zur jungen Frau geworden war, konnte sie den Neid und die Missgunst ihrer einstigen Freundinnen nur allzu deutlich spüren. Und die Männer waren noch schlimmer. Lea konnte die Gier und Lüsternheit in ihren Augen deutlich erkennen. Sie konnte schon verstehen, dass ihr Vater sie vor der Welt beschützen wollte. Oft genug war Lea in den vergangenen Jahren dazu verdammt gewesen, allein in ihrem Zimmer zu hocken.

Doch es hatte nichts genützt.

Gelegentlich musste sie doch einmal auf den Markt gehen. Und bei einer solchen Gelegenheit war Lea von einigen vermummten Kerlen verschleppt worden. Sie hatte noch nicht einmal einen Schrei ausstoßen können, denn starke Männerfinger in einem Lederhandschuh hatten sich auf ihren Mund gepresst. Sie war brutal in eine Kutsche gestoßen worden. Mit lautem Räderrattern und Peitschenknallen war die Karosse davon gerast.

Und nun lag Lea in einem Verlies. Das Ghetto und die Stadt Prag waren von hier aus wahrscheinlich so weit entfernt wie der Mond. Die junge Frau warf einen Blick aus dem Fenster. Es war nicht vergittert. Doch das nutzte ihr nichts. Die Maueröffnung war winzig. Noch nicht einmal eine so schlanke Frau wie Lea Cohen hätte sich durch das Fenster quetschen können. Doch selbst wenn es ihr gelungen wäre – wohin sollte sie sich wenden?

Außerhalb ihres Gefängnisses waren nur schroffe Felswände zu sehen, außerdem weit entfernte schneebedeckte Berggipfel am Horizont. Lea war noch niemals zuvor in ihrem neunzehnjährigen Leben draußen in der Natur gewesen. Sie kannte nur das Ghetto und die Welt ihrer Bücher. Manchmal träumte sie von aufregenden Abenteuern in fremden Ländern. Doch nun, als sie so plötzlich und gewaltsam ihrer gewohnten Umgebung entrissen worden war, sehnte sie sich nach der Einförmigkeit des Alltags zurück.

Am Schlimmsten war die Ungewissheit. Lea erinnerte sich an furchtbare Geschichten über Frauen aus dem Ghetto, die verschleppt und geschändet worden waren. Bisher war ihr dieses Los erspart geblieben. Ihre Entführer hatten sie zwar rau angefasst, ihr aber wenigstens nicht die Kleider vom Leib gerissen. Und ihre Kerkerzelle war sogar halbwegs gut eingerichtet. Die Matratze des schmalen Feldbetts war weich, und dank der dicken Wolldecken musste Lea noch nicht einmal frieren. Durch eine Öffnung in der Tür war ihr auch schon heiße Suppe und Brot hinein gereicht worden.

Doch diese fragwürdigen Wohltaten konnten sie trotzdem nicht trösten. Ihre Eltern wussten nicht, wo sie waren. Und selbst wenn sie es erfahren hätten – von wem konnte sie Hilfe erwarten? Lea machte sich keine Illusionen darüber, dass die kaiserlich-königliche Gendarmerie wegen des Verschwindens einer jüdischen Schneidertochter einen Großalarm auslösen würde. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es kam ihr so vor, als wäre sie schon seit Monaten in Gefangenschaft.

Wieder einmal füllten sich Leas Augen mit Tränen. Mehrere Male hatte sie auch schon die Nerven verloren und mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert. Aber selbst bei solchen Gelegenheiten war niemand gekommen, um sie zur Räson zu bringen. Nur die Mahlzeiten wurden ihr hineingereicht. Und nachts, wenn sie schlief, leerte offenbar jemand den Blecheimer für ihre Notdurft aus. Aber Lea bekam auch bei diesen Gelegenheiten kein menschliches Wesen zu sehen.

Doch nun vernahm sie plötzlich leise Schritte vor ihrer Kerkertür.

Lea hielt unwillkürlich den Atem an, hörte ihr Herz rasen. Einen Moment lang dachte sie, dass ihre überreizten Nerven ihr einen Streich spielen wollten. Aber sie täuschte sich nicht. Sie bekam wirklich Besuch. Und zwar zum ersten Mal, seit sie entführt worden war. Die junge Frau hätte am liebsten vor Erleichterung geschrien, doch gleichzeitig war auch die Angst wieder da.

Was würden diese Kerle mit ihr anstellen? Musste sie sich nun mit einem grauenvollen Schicksal abfinden, vor dem sie sich so sehr fürchtete? Unwillkürlich wich Lea bis in die hinterste Ecke des kleinen Raumes zurück. Sie hatte das Kämpfen nicht gelernt, und an Flucht war nicht zu denken. Nicht in diesem kleinen Kerker, der nur einen einzigen Eingang besaß.

Langsam öffnete sich die Tür. Doch wenn Lea geglaubt hatte, dass ihre Panik nicht mehr gesteigert werden konnte, so irrte sie sich in dieser Hinsicht. Die junge Frau konnte nämlich deutlich hören, wie jemand zu ihr in das Gefängnis kam. Aber sie erblickte keine Menschenseele.

Ihr unheimlicher Besucher war unsichtbar.

5

Leas Knie wurden weich wie Pudding. Ihre Unterlippe begann zu zittern, und sie hatte kalten Schweiß auf der Stirn. Sie wollte ein leises Gebet sprechen, aber ihr Gedächtnis schien plötzlich leergefegt zu sein. Und dann hörte sie eine tiefe Männerstimme.

„Fürchte dich nicht, mein Kind. Du kennst mich doch.“

Leas Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Aber dann, nur einen Moment später, wurde sie von einem starken Gefühl der Erleichterung durchströmt. Ja, nun wusste sie, wer zu ihr gekommen war. Es war der geheimnisvolle Alte, den alle Menschen im Ghetto nur Doktor Samuel nannten. Er galt als so gelehrt wie ein Rabbi, doch man sagte ihm außerdem Zauberkräfte nach. Dieses Gerücht stimmte wohl, denn sonst hätte er sich ja nicht unsichtbar machen können.

„Doktor Samuel?“

„Ja, der bin ich. Aber jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen. Ich habe die Wachtposten mit einem Bewusstlosigkeitsbann belegt. Doch sie werden schon bald wieder erwachen. Dann müssen wir verschwunden sein. – Nimm‘ einfach meine Hand.“

Lea lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als der alte Mann sanft ihre Finger umfasste. Es war ein sehr seltsames Gefühl, dass sie seine Hand nur fühlen, nicht aber sehen konnte. Und doch spürte die junge Frau, dass sie ihm vertrauen musste. Doktor Samuel war der einzige Mensch, der sie aus ihrer aussichtslosen Lage befreien konnte. Er führte die Gefangene aus dem Kerker heraus. Lea erschrak, als sie auf dem Korridor einen kahlgeschorenen Kerl in einer Art Hausdiener-Uniform erblickte. Doch dieser Glatzkopf thronte auf einem Hocker. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und schien fest zu schlafen.

Lea und Doktor Samuel gingen an ihm vorbei.

Die junge Frau blickte sich scheu um. Sie war offenbar in einer verwinkelt gebauten Burg festgehalten worden. Durch die gotisch spitz zulaufenden Fenster auf dem Korridor sah Lea einige Gebäudeflügel, die auf den Spitzen von schroff abfallenden Felsen errichtet worden waren. Eiskalter Wind schlug Lea entgegen, als der Unsichtbare sie durch eine Pforte auf den gepflasterten Hof der Bergfeste führte. Auch dort gab es ein paar Wachen, aber sie schienen ebenfalls fest zu schlummern. Für einen Moment musste Lea an ein Märchen denken, das sie als Kind öfter gehört hatte. Die Burg schien in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Und diesen Zustand hatte sie zweifellos dem unsichtbaren Zauberer zu verdanken.

Doktor Samuel brachte Lea zu einem Wagen mit verhängten Fenstern und half ihr beim Einsteigen. Der Mann auf dem Kutschbock schlief zwar nicht, wirkte aber auf die junge Frau seltsam geistesabwesend. Der Alte gab ihm einen Befehl in einer fremden seltsamen Sprache. Daraufhin ließ der Kutscher die Peitsche knallen, nachdem auch Doktor Samuel an Bord geklettert war und die Tür geschlossen hatte.

Das Gefährt rollte an. Und Lea spürte, dass sie gerettet war. Oder? Der unsichtbare Greis ergriff wieder das Wort.

„Wir hatten Glück im Unglück, mein Kind. Baron Schacht, der deine Verschleppung veranlasst hat, wurde überraschend in einer dringenden diplomatischen Mission nach Russland gerufen. Der Geiergipfel ist sein persönliches Refugium, wo er in gottgleicher Herrschaft über Leben und Tod bestimmt. Wenn er vor Ort gewesen wäre, dann hätte ich dich nicht so einfach dort herausholen können.“

„Geiergipfel – so heißt der Ort, an dem ich gefangen war?“

„So ist es, mein Kind. Es ist eine böse Stätte, dort ist viel Leid geschehen. Ich hoffe nur, dass deine ungewisse Zukunft nicht vom Bösen überschattet wird.“

Lea horchte auf.

„Wieso sagen Sie das, Doktor Samuel? Bringen Sie mich nicht zu meinen Eltern zurück?“

„Ich fürchte, das ist mir momentan unmöglich. Ich habe einen anderen Auftrag. Und ich kann es mir nicht leisten, ihn nicht auszuführen.“

„Aber warum nicht? Sie konnten mich doch auch aus dieser furchtbaren Bergfeste befreien.“

„Ja, aber du überschätzt meine Macht. Ich würde großes Unglück über dich und deine Familie und das ganze Ghetto bringen, wenn ich meinen Anweisungen widerspräche. Leider kann niemand von uns seinem Schicksal entrinnen. Du musst dir dein gutes Herz bewahren, mein Kind. Es wird für dich wie eine Kompassnadel sein, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Denn zu deinen Eltern wirst du nicht zurückkehren können.“

Lea verstand nicht, was diese Worte bedeuten sollten. Sie ahnte nur, dass sie womöglich vom Regen in die Traufe kommen würde. Sie musste diese Neuigkeiten erst einmal verdauen, bevor sie mit tonloser Stimme eine Frage stellte.

„Und wohin bringen Sie mich, Doktor Samuel?“

„In die Knochenkirche von Sedlec.“

6

Es war stockfinstere Nacht, als die Kutsche ihr unheimliches Ziel erreichte. Doktor Samuel hatte die Fahrt von Geiergipfel bis zu dem bizarren Beinhaus genutzt, um seinen Unsichtbarkeitsbann wieder aufzuheben. Nun konnte Lea zumindest die Umrisse seines Körpers erkennen, als sie gemeinsam mit dem Alten das Fahrzeug verließ. Der Mond spendete nur ein wenig fahles Licht, aber aus dem Inneren des Gotteshauses schien die Helligkeit der Knochenkandelaber durch die halb offenstehende Tür.

„Was ist das für ein Ort?“

Leas Stimme zitterte, als sie diese Frage hauchte.

„Ein christlicher Mönch vom Zisterzienserorden hat diese Friedhofskirche einst mit 40.000 Skeletten ausgeschmückt. Die Gebeine stammen von aufgelassenen ehemaligen Gräbern, es sind Pesttote oder Gefallene aus den Hussitenkriegen.“

„Aber – was soll ich hier?“

Doktor Samuel beantwortete Leas Frage mit einem Lachen, obwohl ihm nicht danach zumute war.

„Es ist ein hervorragender Treffpunkt, denn dieses Beinhaus ist wohl der letzte Platz, an dem man eine schöne junge Frau wie dich vermuten würde. – Nun aber vorwärts, wir werden erwartet.“

Lea hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, aber sie gehorchte. Immerhin hatte der mysteriöse Alte sie aus der Gewalt von Baron Schacht befreit. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was der mächtige Adlige mit ihr vorgehabt hatte. Lea war unerfahren, aber sie wusste, dass Männer sehr schlimme Dinge fertigbringen konnten.

Sie kam sich vor wie in einem Traum oder einer Fieberfantasie, als sie zwischen den fremdartigen Schädelpyramiden und Kruzifixen hindurch ging. Jeden Moment erwartete sie, in ihrem eigenen Bett liegend aufzuwachen. Doch dann sah Lea den Jüngling in der Offiziersuniform, und sie spürte sofort die Bedrohung, die von ihm ausging.

Lea warf Doktor Samuel einen fragenden Blick zu. Erkannte der Alte nicht, in welcher Gefahr sie beide schwebten? Er war doch so viel lebenserfahrener als sie. Doch Leas Begleiter streckte nur den Arm in dem weiten Kaftanärmel aus und deutete auf den blonden Milchbart.

„Lea, bedanke dich bei seiner Erlaucht für deine Rettung, denn er beauftragte mich damit. Deine untertänigste Ehrerbietung gilt Graf …“

„Keine Namen!“ Diese zwei Worte kamen so schnell und hart wie ein Peitschenknall. Lea zuckte zusammen. Da begriff Graf Ludwig wohl, dass er seine Angebetete verschreckt hatte. Er lächelte ihr zu, wobei sein Gesicht zu einer lüsternen Grimasse wurde.

„Du bist noch viel schöner als ich dich in Erinnerung hatte.“ Mit diesen Worten packte der Jüngling Lea am Handgelenk. Und er hielt sie voller Besitzerstolz fest. Lea konnte sich nicht erinnern, diesem Mann in der Uniform der Leibgardereiter jemals begegnet zu sein. Vielleicht hatte er sie nur aus sicherer Entfernung angestarrt. Sie wusste, dass manche Herren sich inkognito ins Ghetto schlichen, wenn sie dort zweifelhafte Geschäfte zu tätigen hatten. Der dünne Blonde war ihr fremd und durch und durch unheimlich, obwohl er auf den ersten Blick harmlos aussah. Sie spürte instinktiv, dass sie von ihm nichts Gutes zu erwarten hatte. Wieder einmal verfluchte sie ihre eigene Schönheit.

Nun meldete sich Doktor Samuel zu Wort. Er räusperte sich verlegen und senkte sein Haupt.

„Meine Belohnung, Erlaucht …“

„Ach ja, deine Belohnung. – Da hast du sie!“

Graf Ludwig zog mit der Rechten seine Pistole, während er mit links immer noch Lea festhielt. Der Adlige erschoss den Greis, ohne sich mit einer langen Vorrede aufzuhalten. Doktor Samuel taumelte, während zwei Projektile in seinen Oberkörper eindrangen. Er hatte nicht ernsthaft erwartet, von diesem Jüngling hundert Goldstücke zu bekommen. Eigentlich wunderte Doktor Samuel sich gar nicht darüber, ermordet zu werden. Es war eine ruchlose Bluttat, die zu einem hinterhältigen Feigling wie Graf Ludwig passte.

Doch Doktor Samuel starb in dem beruhigenden Bewusstsein, dass Lea nicht lange in der Gewalt dieses Unholds bleiben musste. Die junge Frau schrie natürlich entsetzt auf, als die granitenen Bodensteinplatten vom Blut des Alten benetzt wurden.

„Halt‘ den Mund!“, fuhr Graf Ludwig sie an. „Glaubst du, ich kann einen lebenden Zeugen brauchen? Du bleibst jetzt bei mir, verstehst du? Und du wirst nett zu mir sein, sonst geht es dir schlecht. Ich bringe dich in ein Versteck, wo ich dich ganz für mich allein habe.“

Lea antwortete nicht, sie stand unter Schock. Sie wollte nicht mit diesem gewalttätigen Jungen gehen, der kaum als Mann bezeichnet werden konnte. Doch es sah nicht so aus, als ob sie eine Wahl hätte.

Aber in diesem Moment bewegte sich etwas im Eingangsbereich der

Impressum

Verlag: Elaria

Texte: Martin Barkawitz
Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2019
ISBN: 978-3-96465-100-6

Alle Rechte vorbehalten

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