Dies ist ein Roman. Alle Ereignisse und Personen in „Raubhure“ sind frei erfunden und beruhen nicht auf Tatsachen. Eventuelle Namensähnlichkeiten wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Inhalt:
Sex und Geld waren gestern.
Heute zählt das Überleben.
Kea verdient auf St. Pauli Geld mit ihrem Körper, als ein lukrativer Auftrag sie an ihre Grenzen bringt - und darüber hinaus. Im Handumdrehen muss sie um ihr Leben kämpfen und diejenigen beschützen, die sie liebt. Ihr sadistischer Gegner scheint ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Er scheut auch vor brutalen Morden nicht zurück, um skrupellos seine Ziele zu verfolgen.
Doch Kea ist nicht nur clever und hübsch, sondern kann auch mit einer Pistole umgehen. Und sie hütet ein großes Geheimnis, das niemals aufgedeckt werden darf. Aber am Ende steht sie allein gegen einen unbarmherzigen Feind.
Wird sie diese St.-Pauli-Nacht überleben?
Der Jute-Strick wurde immer fester um Keas Hals gezogen.
Das Atmen fiel ihr jetzt schon qualvoll schwer, und sie war gerade erst vor zwanzig Minuten in dem Hotelzimmer des Freiers eingetroffen. Als Edel-Callgirl hatte Kea schon viele brenzlige Situationen erlebt. Das Wichtigste war, die Nerven zu behalten. Und auf ihren Überlebensinstinkt hatte sie sich bisher immer noch verlassen können.
Kea lag auf dem Kingsize-Bett. Ihr Blick war auf die unzähligen Lichter des nächtlichen Hamburg gerichtet, das sich unter ihr ausbreitete. Irgendwo in dieser Stadt befand sich René. Nur wegen ihm hatte sie sich auf diese Würgespiele im zwölften Stockwerk des Nordic Flair Hotels eingelassen.
„Gefällt dir das, du Miststück?“
Diese Worte wurden von dem Freier hervorgestoßen, der sich Manfred Müller nannte. Wahrscheinlich ein erfundener Name, aber das war Kea egal. Erwartete er etwa eine Antwort von ihr?
Sie bekam ja kaum noch Luft. Ihre Lungen fühlten sich an, als ob sie mit flüssigem Feuer gefüllt wären. Es kribbelte in ihren Fingern und Zehen, die Blutzirkulation funktionierte nicht mehr richtig. Kea hatte nicht vor, bewusstlos zu werden. Sie konnte sie lebhaft vorstellen, was dieser Feigling dann mit ihr tun würde.
Frauen wie Kea waren für ihn nur ein Stück Fleisch. Er kaufte eine Ware, um über sie verfügen zu können. Nur war er diesmal an die Falsche geraten. Das konnte er natürlich nicht ahnen.
Manfred Müller kniete neben der auf dem Bett liegenden Kea und ergötzte sich an der jämmerlichen Macht, die ihm der Strick verlieh. Kea war noch mit ihren halterlosen Strümpfen, schwarzen Dessous und Lackpumps bekleidet. Der Freier würde sie vermutlich erst ausziehen, wenn sie bewusstlos war. Wenn überhaupt. Es machte ihn offenbar mehr an, eine Frau zu quälen als sie zu berühren.
Darüber konnte Kea auch später noch philosophieren. Jetzt kam es darauf an, die nächste Minute zu überstehen. Denn mehr Zeit würde ihr kaum bleiben, bis sie die Kontrolle über die Situation verlor.
Kea versuchte verzweifelt, durch die Nase Luft zu holen. Der saure Schweißgestank des Freiers überdeckte bereits den Duft ihres Chanel No. 5. Zum Glück hatte der Kerl sich nicht komplett entkleidet. Der Freier trug noch seine Feinripp-Unterhose.
Kea verfügte über einen sehr gelenkigen Körper. Obwohl sie bereits durch den Sauerstoffmangel geschwächt war, zog sie blitzschnell ihr linkes Bein an den Körper. Und sie bekam ihren Schuh zu fassen.
In Keas Hand wurde er zur gefährlichen Waffe.
Das bekam Manfred Müller im nächsten Moment zu spüren.
Er war so auf seine Sadistennummer konzentriert, dass er Keas Attacke nichts entgegensetzen konnte. Vielleicht hielt er es auch für unfassbar, dass eine Hure sich wehrte.
Der Freier kreischte im hohen Falsett, als der Schuhabsatz seine Schläfe traf.
Nun war er es, der in den schwarzen Abgrund der Bewusstlosigkeit stürzte.
Kea ließ ihren Schuh fallen und packte mit beiden Händen die Schlinge, lockerte den Strick um ihren Hals. Ihre Augen wurden feucht.
Es waren Tränen der Wut.
Sie beförderte Manfred Müller mit einem Stoß vom Bett hinunter. Sein feister Körper rollte auf den Teppichboden. Kea fuhr sich mit beiden Händen über ihr schweißnasses Gesicht und strich ihr schulterlanges Haar nach hinten.
Sie gönnte sich eine kleine Pause, bis ihre Atemzüge wieder gleichmäßig kamen und das Luftholen nicht mehr mit Schmerzen verbunden war. Dann zog sie ihren Hackenschuh wieder an, taumelte auf ihren ohnmächtigen Widersacher zu und trat ihm schwungvoll in die Rippen.
„Wie fühlt sich das an, du Jammerlappen?“
Natürlich erwartete Kea keine Antwort. Sie konnte nicht einschätzen, wie lange der Freier außer Gefecht sein würde. Sie schlüpfte in ihr dunkles Kleid und begann damit, das Hotelzimmer zu durchsuchen. Nubik hatte ihr eingeschärft, wonach sie Ausschau halten sollte. Der Henker mochte wissen, was dieser Psychopath mit René anstellen würde, falls sie nicht lieferte.
Versagen war für Kea keine Option.
Zum Glück benötigte sie keine fünf Minuten, um das Blackberry zu finden. Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung. Aber vielleicht hatte der Freier ja zwei Geräte dieser Art? Kea schaute in seine Reisetasche, seinen Aktenkoffer, sogar in den Hotelsafe. Sie kannte einen Trick, um die Kombinationen dieser standardisierten Tresore im Handumdrehen zu knacken.
Vielleicht hätte ich Hoteldiebin werden sollen, anstatt für solche Idioten die Beine breitzumachen, dachte Kea.
Immerhin war es ihr erspart geblieben, von Manfred Müller bestiegen zu werden. Außerdem hatte sie das Blackberry klauen können. Im Gesamtergebnis also eine erfolgreiche Nacht. Natürlich nahm Kea dem Bewusstlosen auch noch sein Bargeld, seine Kreditkarten und seiner Protzer-Armbanduhr ab.
Erstens wäre es Verschwendung gewesen, so viel Beute einfach zurückzulassen. Und zweitens sollte der Eindruck vermieden werden, dass es ihr nur auf das Blackberry angekommen wäre.
Kea nahm ihren Lippenstift zur Hand und schrieb damit die Worte ICH BIN EIN VERSAGER auf Manfred Müllers Hühnerbrust.
Dann zog sie die Tür hinter sich zu.
Im Lift warf sie einen Blick in den Spiegel. Abgesehen von leichten Abschürfungen an ihrem Hals deutete nichts darauf hin, dass sie noch vor wenigen Minuten verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatte.
Und sie wirkte nicht nuttig, jedenfalls nicht auf Außenstehende. Nachtportiers hingegen schienen einen sechsten Sinn für Frauen ihres Gewerbes zu haben. Aber da Kea sich zu benehmen wusste und unauffällig blieb, hatte sie nie Ärger mit dem Rezeptionspersonal. Nach einigen Jahren im Job kannte sie die meisten Hamburger Portiers zumindest vom Sehen.
Kea verließ das Hotel. Es war inzwischen drei Uhr morgens. Schon kam ein Taxi herangerauscht. Sie wollte einsteigen, als plötzlich ein Kerl neben ihr auftauchte. Er musste ihr aufgelauert haben, jedenfalls erschien er wie aus dem Nichts.
„Setz dich hinten ins Auto“, kommandierte er. Und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er seine Revolvermündung gegen Keas Flanke presste.
René wollte gewinnend grinsen, aber es blieb bei dem Versuch. Wahrscheinlich hatte sich sein Gesicht soeben in eine verzweifelt wirkende Grimasse verwandelt. Checken konnte er es nicht, denn in dem fensterlosen Lagerraum gab es keinen Spiegel.
Und er war hier allein mit einem der gefürchtesten Männer St. Paulis.
„Echt, Nubik, auf Kea ist Verlass. Die Kleine ist gut wie Gold und außerdem eine treue Seele. Wenn du sie angeheuert hast, dann ist die Sache so gut wie geritzt“, sagte er mit zitternder Stimme. René konnte deutlich seinen eigenen Angstschweiß riechen. Ansonsten hing in dem zum Gefängnisraum umfunktionierten Lager Whisky- und Biergeruch in der Luft. Nubik hatte hier offenbar Vorräte für seinen Nachtklub gebunkert gehabt, bevor seine Leute eine Luftmatratze und eine Decke sowie einen Eimer für René in das Kellerverließ geschafft hatten.
René war kein Schwächling. Dennoch wäre es für ihn unvorstellbar gewesen, es mit Nubik aufzunehmen. Momentan fühlten sich seine Knie so weich an, dass er sich noch nicht einmal von seiner Luftmatratze erheben konnte. Also blieb er dort sitzen und blickte zu dem Nachtklubbesitzer auf, der sich gegen die Betonwand gelehnt hatte.
„Kea ist spät dran“, stellte Nubik fest. „Es wäre besser für dich, wenn sie vor dem Morgengrauen mit dem Blackberry hier aufkreuzt. Ich habe einen Ruf zu verlieren, René. Diese Tatsache müsste sogar ein Hohlkopf wie du verstehen. Wenn ich dich kidnappen lasse und meine Forderung nicht erfüllt wird, dann wird jeder auf St. Pauli den Respekt vor mir verlieren. Und Respekt ist alles.“
„Kein Grund zur Aufregung.“ René lachte nervös. „Echt, Kea hat es drauf.“
Nubik würdigte seinen Gefangenen keines Blickes. Als er den Mund öffnete, war es, als ob er zu sich selbst spräche.
„Ich weiß, dass ich nicht so dämlich bin wie du. Mein Intelligenzquotient beträgt 128, falls dir das etwas sagt. Und dennoch gibt es Dinge, die ich nie begreifen werde. Kea ist nicht wie diese anderen Nutten, sie ist etwas Besonderes. Kea hat ein Geheimnis, das sagt mir mein Instinkt. Und ich verstehe nicht, was sie an einem Loser wie dir findet.“
René zuckte mit den Schultern. Seine Kiefernmuskeln schmerzten aufgrund seines Dauergrinsens.
„Tja, muss wohl an meinen schönen blauen Augen liegen ...“
Kaum hatte René diese Worte ausgesprochen, als auch schon Nubiks Arm nach vorn schoss. Der Nachtclubbesitzer packte seinen Gefangenen an der Kehle. Mit der anderen Hand holte er sein Springmesser aus der Tasche und ließ es aufschnappen.
„Du kommst dir wohl unglaublich cool vor, du Komiker? Soll ich dir deine schönen blauen Augen rausschneiden und sie Kea per Expresslieferung zukommen lassen? Ich hätte nicht übel Lust, genau das zu tun.“
René erstarrte, fühlte sich innerlich wie gelähmt. Was sollte er nur tun? War er nicht unterwürfig genug gewesen? Hatte er es an Respekt mangeln lassen? Obwohl René schon seit Jahren auf St. Pauli wohnte, gehörten Kiezgrößen wie Claude Nubik nicht zu seinem Bekanntenkreis.
René wusste selbst, dass er für den Nachtclubbesitzer nur eine Made war. Und was für einen Auftrag Kea für Nubik ausführen sollte, hatte er auch nicht mitgekriegt. René wusste nur, dass er sein Augenlicht behalten wollte. Doch momentan gab es niemanden, der ihm beistehen konnte.
Nubik ließ René genauso abrupt los wie er ihn sich gekrallt hatte. Er versenkte die Messerklinge wieder im Griff.
„Vielleicht fehlt es mir einfach an Verständnis für Gefühle, obwohl sie meine Geschäftsgrundlage sind, René. Tatsache ist, dass sich Kea in diesem Moment auf einen perversen Freier einlässt, nur um mir einen Gefallen zu tun. Wer weiß, was dieser Dreckskerl mit ihr anstellt. Und warum macht sie das? Weil ich ihr ein Foto von dir geschickt habe, wie du auf deiner blöden Luftmatratze hockst und flennst.“
René war nicht sicher, ob er früher am Abend wirklich geheult hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch ziemlich stark unter Drogen gestanden. Inzwischen war er dank seiner Todesangst wieder stocknüchtern. Immerhin konnte er sich noch dunkel daran erinnern, dass einer von Nubiks Handlangern mit dem Smartphone ein Bild von ihm gemacht hatte.
René sagte jetzt lieber nichts, die Furcht hatte ihn fest im Griff. Nubik schien ohnehin laut nachzudenken, als er fortfuhr: „Ich kriege ziemlich viel von dem mit, was auf St. Pauli läuft. Wissen ist Macht, diesen Ausspruch wird vielleicht sogar ein Halbaffe wie du schon gehört haben. Du verdankst deinen unfreiwilligen Aufenthalt in meinen Gemächern der Tatsache, dass Kea dich mag. Vielleicht lässt sie dich sogar gratis auf sie drauf rutschen, das will ich gar nicht so genau wissen. Also bist du aus meiner Sicht ein hervorragendes Druckmittel. Ich hätte natürlich auch einfach Theo einschalten können. Aber je weniger Leute von der Sache wissen, desto besser ist es.“
René kannte Keas Zuhälter und verabscheute ihn, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und es stimmte, dass Kea René gelegentlich ranließ, ohne ihr übliches Honorar zu berechnen. Als René von Nubiks Männern verschleppt worden war, hatte er zunächst befürchtet, Theo in die Hände gefallen zu sein.
Doch nun wäre er lieber in der Gewalt des Zuhälters gewesen als dem Unterweltkönig Nubik ausgeliefert zu sein. Er hätte über seinen Sinneswandel lachen können, wenn seine Todesangst nicht so groß gewesen wäre.
René zuckte zusammen, als Nubiks Handy klingelte. Das Geräusch kam ihm in dem engen Lagerraum so laut vor, dass seine Trommelfelle schmerzten. Der Nachtclubbesitzer nahm das Gespräch entgegen. Seine Augenbrauen zogen sich währenddessen stärker zusammen. Nubiks Blick schien René zu durchbohren.
„Okay, dann meldest du dich wieder, wenn es Neuigkeiten gibt.“
Mit diesen Worten beendete Nubik das Telefonat und steckte sein Smartphone wieder ein. Dann wandte er sich an seinen Gefangenen.
„Es sieht jetzt nicht so aus, als ob du diese Nacht überleben würdest.“
Kea presste die Lippen aufeinander. Krampfhaft versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen.
Wer waren die Kerle, von denen sie soeben verschleppt wurde? Zu Nubiks Leuten gehörten sie nicht, obwohl man nie ganz sicher sein konnte, wer alles auf der Lohnliste des Nachtklubbesitzers stand.
Und zu Theos Freunden konnte man sie auch nicht zählen. Kea kannte die meisten Zuhälter auf St. Pauli zumindest vom Sehen. Natürlich gab es auch noch in anderen Ecken Hamburgs Prostitution, aber die Reviere waren abgesteckt und wurden von allen Beteiligten penibel respektiert.
Der Taxifahrer machte jedenfalls gemeinsame Sache mit dem Revolvermann. Falls Kea es überhaupt mit einem echten Taxler zu tun hatte. Vermutlich war die Karre geklaut, aber das fand sie jetzt nebensächlich.
„Wohin bringt ihr mich?“
„Dorthin, wo niemand deine Schreie hören kann.“
Diese Antwort auf Keas Frage bewies ihr, dass es ernst war. Aber sie hatte das Kidnapping ohnehin nicht für einen schlechten Scherz gehalten. Aus den Augenwinkeln musterte sie die pockennarbige Visage des Mannes neben ihr. Das Angenehmste an ihm war der Duft eines teuren After Shaves, den er verströmte. Ansonsten hielt sie ihn für einen Widerling. Und das nicht nur, weil er immer noch seinen Revolver auf sie gerichtet hatte.
Keas Kehle fühlte sich staubtrocken an. Der Freier war kein ernstzunehmender Gegner gewesen. Bei diesem Duo lagen die Dinge anders. Die beiden Männer wussten genau, was sie taten. Der Taxifahrer hielt sich genau an die Straßenverkehrsordnung. Auf der Rothenbaumchaussee fuhr eine Zeitlang ein Streifenwagen hinter dem Taxi.
Ob Kea an einer roten Ampel aus dem Wagen springen und um Hilfe rufen sollte?
Sie entschied sich dagegen. Erstens benötigte der Kerl neben ihr nur einen winzigen Moment, um ihr eine Kugel zu verpassen. Und zweitens kamen Kea die Männer wie ausgekochte Profis vor. Sie würden keine Hemmungen haben, auf Polizisten zu schießen.
Es war, als ob der Revolvertyp ihre Gedanken gelesen hätte.
„Braves Mädchen“, sagte er grinsend, als die Ampel auf Grün umsprang und das Taxi wieder anfuhr. Er tätschelte ihr Knie.
„Wer schickt euch?“, brachte Kea hervor.
„Das willst du nicht wissen“, lautete die Antwort.
Kea versuchte, ihre Chancen einzuschätzen. Wenn sie nichts unternahm, würde sie diese Nacht nicht überleben. Für sie war es sonnenklar, dass es den Männern ebenfalls um das Blackberry ging. Aber nicht nur darum.
Die Dreckskerle hätten ihr schon längst ihre Handtasche abnehmen können, in der sich das Smartphone befand. Dafür wäre es noch nicht einmal nötig gewesen, sie in dem Taxi zu verschleppen. Doch das reichte ihnen nicht.
Das Duo würde vermutlich über Kea herfallen und sie anschließend als lästige Augenzeugin umbringen.
Kea wusste, dass sie mit dieser Vermutung richtig lag. Nun musste sie nur noch den Spieß umdrehen. Sie wandte sich dem Revolvertyp zu und quälte sich ein Lächeln ab.
„Hör mal, ich mag es auf die harte Tour. Du musst nicht ständig deine Bleispritze auf mich gerichtet halten.“
Der Widerling stieß ein heiseres Lachen aus.
„Ach, ist das so? Du wirst noch um Gnade winseln, bevor wir mit dir fertig sind“, antwortete er. Und drückte weiterhin seine Revolvermündung gegen Keas Leib.
Maulhelden gibt es im Dutzend billiger, dachte sie.
Der Taxifahrer lenkte seine Mietkutsche Richtung Nordwesten. Von diesem Mann hatte Kea bisher nur den Hinterkopf sowie die mit Schuppen bedeckten Schultern zu sehen bekommen. Außerdem erblickte sie dann und wann seine Mörderaugen im Rückspiegel. Instinktiv spürte sie, dass er gefährlicher war als der Revolverschwinger, mit dem sie Körperkontakt hatte. Die Schweigsamen erwiesen sich meist als die wirklich üblen Gegner. Sie verschwendeten keine Energie mit sinnlosem Gefasel, sondern hoben sich ihre Kraft für die absolute Vernichtung auf. Solche Männer musste man wirklich fürchten.
Der Taxifunk war abgeschaltet.
Als der Mercedes-Benz die Stadtgrenze erreichte, verlor Kea endgültig die Orientierung. Sie kannte sich in Hamburg gut aus, als Callgirl hatte sie praktisch alle Stadtteile der Metropole schon aufgesucht.
Natürlich, das Duo würde sich Kea irgendwo in der ländlichen Einsamkeit vorknöpfen. Da das Licht im Auto ausgeschaltet war und die Finsternis draußen nicht mehr durch Straßenlaternen erhellt wurde, schien das Taxi mitten in einen finsteren Schlund zu fahren. Nur dann und wann kam ihnen ein anderes Fahrzeug entgegen, dessen Scheinwerfer für Momente das Wageninnere erhellten. Ansonsten bestand die einzige Beleuchtung aus den Leuchten am Armaturenbrett.
Und dann blieb das Taxi plötzlich stehen.
Der Fahrer stellte den Motor aus. Nun war das Zirpen von Grillen als das einzige Geräusch zu hören. Es war, als ob die Natur Kea verhöhnen wollte. Sie selbst vernahm ansonsten nur noch den rasend schnellen Rhythmus von Hammerschlägen. Aber sie erkannte, dass dies ihre eigenen Herztöne waren.
„Jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil.“
Mit diesen Worten rückte der Revolvermann etwas von Kea ab, während er gleichzeitig seine Hand ausstreckte.
„Du gibst mir jetzt das Blackberry!“
Kea öffnete ihre Handtasche und überreichte dem Kerl ohne Zögern ihre Beute.
„So, und jetzt zieh dich aus!“
„Sorry, aber ich bin schüchtern“, erwiderte Kea. Dann zog sie ihre Glock hervor und verpasste dem Ekel ein Stück heißes Blei.
Das Schussgeräusch im Taxi war ohrenbetäubend. Kea konnte nicht genau sehen, wo sie ihren Widersacher getroffen hatte. Auf jeden Fall lebte er noch, denn er schrie wie am Spieß. Kea feuerte noch einmal in seine Richtung. Angesichts der geringen Distanz war es fast unmöglich, ihn zu verfehlen. Sie hoffte nur, dass sie nicht versehentlich das Blackberry getroffen hatte. Stillschweigend war sie davon ausgegangen, dass sie Nubik das Smartphone unbeschädigt übergeben musste, damit René kein Haar gekrümmt wurde.
Ihre beiden Gegner hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass eine Hure außer Kondomen und Papiertaschentüchern auch noch eine Pistole in ihrer Handtasche hatte.
Der Revolvermann schoss nun zurück. Die Kugel sirrte knapp an Kea vorbei und zerstörte das Seitenfenster hinter ihr. Keas Ohren klingelten. Sie schwenkte ihre Pistolenmündung in Richtung des Taxifahrers. Aber der reagierte mit beachtlicher Kaltblütigkeit. Ob er keine Schusswaffe hatte? Auf jeden Fall drehte er sich um. Und bevor Kea noch einmal abdrücken konnte, sprühte er ihr eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht.
Kea fühlte sich, als ob ihre Augäpfel in Fritierfett geworfen würden.
Sie bekam keine Luft mehr.
Und das fühlte sich diesmal noch gemeiner als bei den Würgespielen im Hotel. Wütend schoss sie in die Richtung, wo sie den Taxler vermutete. Gleichzeitig tastete sie mit der anderen Hand nach dem Türgriff hinter ihr. Eigentlich hatte sie sich das Blackberry zurückholen wollen, aber das konnte sie nun vergessen. Wie sollte das funktionieren, wenn sie nichts mehr sah und keine Luft kriegte?
Kea fiel aus dem Auto, landete mit dem Gesicht im Dreck. Sie schmeckte feuchte Erde auf ihrer Zunge.
Der Motor wurde gestartet. Gleich darauf entfernte sich das Geräusch ziemlich schnell. Bei der Schießerei war den beiden Widerlingen offenbar die Lust auf eine Vergewaltigung vergangen. Immerhin hatten sie es geschafft, das Blackberry in ihre Finger zu kriegen.
Kea blieb auf dem Bauch liegen und wartete, bis sich ihre Atemzüge beruhigt hatten und der Schmerz in ihren Augen allmählich nachließ. Sie musste sehr oft blinzeln, aber nach einer Weile konnte sie wieder einigermaßen sehen.
Sie lag neben einem Feldweg. Irgendwo weit entfernt erblickte Kea die Lichter eines Dorfes. Sie checkte den Inhalt ihrer Tasche und stellte beruhigt fest, dass sie ihre Glock und ihr Handy nicht verloren hatte.
Alles andere war nebensächlich.
Kea musste jetzt dringend etwas unternehmen, sonst hatte sie René auf dem Gewissen.
Also rief sie Nubik an.
„Kea hat versagt.“
Diese Worte warf Nubik René an den Kopf. Die Todesangst in den Augen seines Gefangenen verbesserte seine Laune nur ein wenig. Wen kümmerte es, ob eine Wanze wie René Kemper lebte oder starb? Nubik verschwendete daran keinen weiteren Gedanken. Ihn beschäftigte jetzt nur die Frage, wie er an das Blackberry kommen sollte. Solange das Gerät sich im Besitz des Freiers befand, hatte Nubik wenigstens noch gewusst, wo er es zu suchen hatte. Und nun war das Blackberry mitsamt der Nutte verschwunden.
Kea war Nubik egal.
Wahrscheinlich hatten diese Bastarde ihr längst die Kehle durchgeschnitten.
„Weißt du, wer mich gerade angerufen hat?“, fragte Nubik René. Der Versager schüttelte den Kopf.
„Nein, das weißt du natürlich nicht, du weißt ja sowieso kaum etwas“, fuhr Nubik fort. „Das war Ed, einer meiner Männer. Er sollte Kea im Auge behalten, ihm hätte sie das Blackberry übergeben sollen.“
„Und sie hat es nicht getan?“, fragte René dümmlich. Nubik verpasste ihm eine Ohrfeige.
„Natürlich nicht, du Flachzange! Ich hätte eindeutig bessere Laune, wenn das Blackberry schon auf dem Weg hierher wäre. Aber Kea ist von zwei Typen gekidnappt worden, bevor Ed dazwischengehen konnte.“
Nubik fragte sich, ob er selbst einen Fehler gemacht hatte. Ed war allein. Wenn Nubik zwei Männer zu dem Hotel geschickt hätte, dann wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Andererseits wollte Nubik Aufsehen um jeden Preis vermeiden. Das war schlecht fürs Geschäft.
„Ed hat das Taxi verfolgt, in dem deine Nuttenfreundin verschleppt wurde“, sagte der Nachtklubbesitzer. „Irgendwann gelang es den Typen, Ed abzuschütteln. Er ist noch eine halbe Stunde durch die Gegend gekurvt, um sie wiederzufinden. Allerdings ohne Ergebnis. Erst dann hat er sich getraut, bei mir anzurufen. Er weiß, dass ich Versager hasse.“
Renés Unterlippe zitterte, seine Augen waren feucht. Ob er sich schon auf sein unausweichliches Ende vorbereitete? Zum Glück hielt er momentan die Klappe. Nubik konnte auf die wenig geistreichen Bemerkungen seines Gefangenen getrost verzichten.
Da klingelte sein Smartphone erneut.
Nubik glaubte schon, dass es Ed mit einer weiteren Hiobsbotschaft wäre. Stattdessen hörte er Keas helle Stimme.
„Hallo, Nubik.“
„Du wagst es, hier anzurufen? Wo ist mein Blackberry?“
„Momentan habe ich es nicht, aber ...“
„Momentan? Was soll das heißen? Ich weiß, dass du in einem Taxi gekidnappt wurdest. Willst du behaupten, du hättest das Gerät dem Fahrer geliehen und er würde es dir gleich wiedergeben?“
„Ich habe es mir abnehmen lassen, aber ...“
„Das ist schlecht, vor allem für deinen Busenfreund René. Ich werde mir eine möglichst qualvolle Todesart für ihn ausdenken.“
„Das lässt du schön bleiben!“, rief Kea mit gellender Stimme.
Nubik war verblüfft. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass eine Hure es jemals gewagt hatte, ihn anzuschreien. Das machte ihn für einen Moment sprachlos, und Kea redete weiter: „Renés Tod nützt dir überhaupt nichts. Du willst das Blackberry, und du sollst es bekommen. Ich kümmere mich persönlich darum.“
„Und wie willst du das anstellen?“, höhnte Nubik. „Du kannst doch nur die Beine breitmachen, damit verdienst du schließlich dein Geld.“
„Glaubst du das wirklich? Und wie habe ich es deiner Meinung nach geschafft, dem Taxifahrer und seinem Freund zu entkommen?“
Darauf fiel Nubik keine Antwort ein. Er begriff, dass er Kea unterschätzt hatte. Oder machte sie gemeinsame Sache mit ihren Kidnappern? Aber wenn das so war, wieso sollte sie ihm dann versprechen, das Blackberry zurückzuholen?
Um Zeit zu gewinnen.
Das hätte zumindest Nubik an ihrer Stelle getan.
„Du willst mich doch verladen, du Miststück“, knurrte er. „Glaubst du vielleicht, du kannst mir ein anderes Blackberry unterschieben? Ich will genau das Gerät, das du dem Schwabbel geklaut hast. Und glaube bloß nicht, dass ich es nicht erkennen würde.“
„Ich will dich nicht verschaukeln, ich brauche nur etwas Zeit.“
„Wieviel?“
„Keine Ahnung, ich rufe dich wieder an. Und bis dahin lässt du René in Ruhe.“
„Glaubst du, ich lasse mir von einer Nutte Vorschriften machen?“
„Ja, das glaube ich. Du würdest alles tun, um dieses Gerät in die Finger zu bekommen. Sonst hätte du nicht schon so lange mit mir telefoniert.“
„Fahr zur Hölle!“
„Tschüs, Nubik. Und schöne Grüße an René.“
Das Gespräch war beendet.
René blickte unterwürfig zu dem Nachtklubbesitzer auf.
„Ich soll dich von deiner Freundin Kea grüßen.“
Mit diesen Worten schlug Nubik seinen Gefangenen mit dem Handrücken ins Gesicht. René jaulte, Blut floss aus seiner Nase. Trotzdem begann er im nächsten Augenblick zu reden.
„Bitte töte mich nicht, Nubik. Ich verrate dir auch Keas Geheimnis, das kann dir bestimmt nützlich sein.“
Nubik schnaubte ironisch.
„Was für ein Geheimnis meinst du? Dass Kea eine Drogenfresserin ist? Diese Tatsache dürfte halb St. Pauli bekannt sein.“
René schüttelte den Kopf.
„Das war früher. Kea ist clean, und das schon seit einem halben Jahr.“
Nubik zuckte mit den Schultern.
„Na und? Schön für sie.“
„Wenn ich dir sage, was ich über Kea weiß, lässt du mich dann am Leben?“
„Spuck es aus, dann sehen wir weiter“, sagte Nubik. René sprach nun zögernd und stockend. Der Nachtklubbesitzer spürte, dass sein Gefangener die Wahrheit sagte.
Vielleicht konnte dieser Trottel René ihm doch noch nützlich sein.
Kea hätte jetzt gut eine Line Koks vertragen können.
Aber hier mitten in in der Natur gab es das weiße Pulver nicht, und außerdem war sie sehr stolz auf die Klarheit in ihrem Kopf. Das wollte sie nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen, obwohl die Verlockung ständig vorhanden war.
Ihre Augen brannten immer noch ein wenig, aber der Schmerz war auf Keas persönlicher Skala von unerträglich auf leicht unangenehm abgerutscht. Mit leicht unangenehm konnte sie leben. Vieles in ihrem Alltag war leicht ungenehm: Die ekligen Freier, das versiffte St. Pauli, die öden Tage und die Schlafmangel-Nächte. Daran hatte sie sich gewöhnt.
Kea stand neben dem Feldweg und dachte über das Telefonat mit Nubik nach.
Er war ein Mistkerl, aber im Gegensatz zu einigen anderen Unterweltgrößen war er intelligent. Ihm konnte sie so leicht nichts vormachen, und unterschätzen durfte sie ihn auf gar keinen Fall.
Kea seufzte. Dann rief sie einen Mann an, der die Weisheit garantiert nicht mit Löffeln gefressen hatte: Ihren Zuhälter.
Sie musste es dreimal klingeln lassen, bevor er sich meldete.
„Ja?“
„Warum klingst du so schlecht gelaunt, Theo? Verlierst du schon wieder beim Pokern?“
„Was willst du, Kea?“
„Also verlierst du, alles klar. Du musst mich sofort abholen. Wozu habe ich einen Beschützer, wenn er im entscheidenden Moment nicht für mich da ist?“
„Du machst doch sowieso nur das, was dir gefällt.“
„Richtig, aber diesmal ist es wirklich ernst. Also, schwing deinen Hintern ins Auto und sammle mich ein.“
„Hat dich ein Freier rausgeschmissen? Der Kanaille breche ich jeden Knochen einzeln. Wo bist du denn?“
„Woher soll ich das wissen? Ehrlich, ich habe keinen Plan. Aber du hast doch mal so ein Ortungs-Dingsbums in meinem Handy installiert, oder? Damit wirst du mich wohl finden können. Und bring mir Klamotten zum Wechseln mit, ich bin total dreckig.“
„Dreckig auch noch?“, regte Theo sich auf. „Der Freier kann sein Testament machen.“
„Es war kein Freier, aber das erzähle ich dir später. Und nun beeile dich, mir ist kalt.“
Mit diesen Worten beendete Kea das Telefonat.
Sie war das einzige Pferdchen in Theos Stall, das so mit ihm reden durfte. Der Zuhälter war ganz gewiss kein Chorknabe, und die anderen Frauen hätten sich für solche Unverschämtheiten schon längst einen Satz heiße Ohren eingefangen. Aber Theo war wie Wachs in Keas Händen.
Sie konnte sich vorstellen, dass er sie auf eine verquere und merkwürdige Art sogar liebte. Normalerweise lief es auf dem Kiez umgekehrt. Die meisten Frauen gerieten ins Prostitutionsgeschäft, indem sie sich in ihren Luden verknallten und dann buchstäblich alles für ihn taten.
Bei Kea und Theo war das anders.
Es machte ihr nichts aus, mit ihm zu schlafen, aber es war für sie auch keine grandiose Offenbarung. Kea hatte das Gefühl, dass er viel mehr für sie empfand als sie für ihn. Sie musste grinsen, als sie sich den bulligen glatzköpfigen Theo als einen Romeo vorstellte, der unter dem Balkon seiner Julia Kea ein paar Liebeslieder zum besten gab. Theo sang höchstens, wenn er besoffen war. Und dann auch nur Stücke von Meat Loaf oder Metallica.
Kea zündetes sich eine Zigarette an. Wenn sie schon auf Kokain verzichtete, dann wollte sie wenigstens eine Fluppe durchziehen. Theo war schwer in Ordnung, wenn sie es sich richtig überlegte. Es gab auf dem Kiez Zuhälter, die ihre Mädchen richtig übel zurichteten. Theo hingegen hatte noch niemals seine Hand gegen Kea erhoben. Das war mehr, als so mancher nach außen hin treusorgende Ehemann von sich behaupten konnte.
Sie verzog das Gesicht, als sie an diese Typen dachte.
Das waren dann die selbsternannten Frauenhelden, die bei einer Hure Dampf ablassen wollten. Wenn solche Kerle auf eine schüchterne achtzehnjährige Bulgarin trafen, dann konnte das sogar funktionieren.
Aber nicht bei Kea, die sich nichts gefallen ließ.
Manchmal hatte sie sich selbst schon gefragt, ob sie nicht lieber etwas devoter sein sollte. Wäre das nicht besser fürs Geschäft?
Wohl kaum, denn Kea machte mehr Umsatz als Theos andere Ladys. Irgend etwas an ihrer Art musste den Männern also zusagen.
Kea sog an ihrer Zigarette und schaute nachdenklich auf die Glut, die wie ein Glühwürmchen die Dunkelheit um sie herum durchbrach. Es gab weit und breit keine weitere Lichtquelle. Einen Steinwurf weit entfernt verlief eine Landstraße, auf der dann und wann ein Auto vorbeifuhr.
Kea fragte sich, wann Theo sie endlich abholen würde. Ihre Füße waren kalt und ihre Augen brannten immer noch ein wenig. Ganz zu schweigen von ihrer Sorge um René. Kea hoffte wirklich, dass sich Nubik einstweilen zurückhalten würde. Aber sicher sein konnte sie natürlich nicht. Er war ein Typ, der seine eigenen Regeln machte.
Nach einer gefühlten halben Ewigkeit vernahm Kea das satte Motorengeräusch von Theos SUV, der den Feldweg hoch gerumpelt kam. Kea hielt sich die Hand vor die Augen, als sie in das Scheinwerferlicht des schweren Wagens geriet. Dann trat sie zur Seite, öffnete die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz neben Theo fallen.
„Endlich! Ich dachte schon, dass mir gleich die Füße abfallen würden.“
„Danke gehört wohl nicht zu deinem Wortschatz?“
„Danke dafür, dass ich am Leben bleiben und dir weiterhin einen Haufen Kohle einbringen darf.“
Theo verzog sein feistes Gesicht zu einem Grinsen.
„Nun sag schon, was geschehen ist, Kea.“
Sie erzählte ihrem Zuhälter von dem Hotelauftrag und davon, dass Nubik sie auf den Freier angesetzt hatte. Theo pfiff durch die Zähne.
„Als Nubik zu mir kam, um dich zu buchen, sprach er nur von einem leichten Job für dich. Und weil die Kohle gestimmt hat, habe ich nicht nachgebohrt.“
„Zumindest theoretisch war die Aufgabe wirklich leicht. Ich musste den Kerl noch nicht mal ranlassen. Aber den Job konnte ich trotzdem nicht erledigen, weil diese elenden Maden mir das Blackberry wieder abgenommen haben.“
Kea schaltete das Licht im Auto ein.
„Wo sind denn meine Klamotten zum Wechseln? Oder hast du sie vergessen?“
„Nee, die liegen in einer Tüte auf dem Rücksitz.“
Kea griff hinter sich und schaute in die Tragetasche.
„Ein Abendkleid? Echt jetzt?“
Theo zuckte mit den Schultern.
„Ich habe das Nächstbeste eingepackt. - Deine Augen sehen ja echt übel aus. So rot wie bei einem Albino.“
„Das kann ich mir vorstellen. Aber diesem Revolvertypen konnte ich ein Loch in seinen Wanst pusten. Der wird es sich das nächste Mal überlegen, ob er einfach eine Frau verschleppt.“
Mit diesen Worten schälte Kea sich aus ihrem schmutzigen und teilweise eingerissenen Fummel und schlüpfte in das Abendkleid. Ihre Strümpfe wiesen Laufmaschen auf, aber das war zu verschmerzen. Kea schaute in ihren Schminkspiegel und brachte notdürftig ihr Make-up in Ordnung.
„Du hast nicht zufällig etwas dabei, Theo?“
Der Zuhälter schaute sie von der Seite an.
„Hattest du dir nicht geschworen, die Finger von den Drogen lassen zu wollen?“
„Ja, stimmt schon. Vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe, okay?“
Theo grinste. Dann griff er in die Innentasche seiner Lederjacke. Kea befürchtete (oder hoffte?), dass er ein Kokain-Briefchen hervorziehen würde.
Stattdessen drückte er ihr eine Schachtel Munition in die Hand.
„Hier, du solltest deine Glock nachladen. Es gibt nicht Blöderes, als mit einer leer geschossenen Waffe herumzurennen.“
Kea gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Theo war kein Geistesakrobat, aber manchmal dachte er eben doch mit.
„Wie geht es jetzt weiter?“, wollte Theo wissen, während Kea die verschossenen Patronen ersetzte.
„Ich muss das Blackberry zurückholen, sonst macht Nubik René einen Kopf kürzer.“
„Wäre nicht schade um den Penner.“
Für diese Bemerkung bekam Theo von Kea eine Kopfnuss verpasst.
„Ich weiß, dass du kein Mitglied im René-Fanclub bist. Aber trotzdem sollte es dir nicht egal sein, dass das Blackberry futsch ist.“
„Wieso?“
„Weil Nubik dich fürstlich bezahlt hat, damit ich das Teil klaue! Willst du wirklich bei ihm in Ungnade fallen?“
Theo öffnete und schloss seine mächtigen Pranken, die auf dem Lenkrad ruhten.
„Stimmt schon, Nubik könnte unsere Existenz mit einem Fingerschnipsen beenden. - Und du hast echt keine Ahnung, wer diese beiden Typen sein könnten?“
„Nein, aber das macht nichts. Wir wissen, dass sie in einem Taxi unterwegs waren. Außerdem habe ich mindestens einen von ihnen angeschossen. Mit so einer Wunde kann er nicht in einem Krankenhaus aufkreuzen, weil solche Verletzungen gleich den Bullen gemeldet werden. Also wird er zu einem der Quacksalber gehen, die auf St. Pauli Leute zusammenflicken und keine Fragen stellen.“
„Und das Taxi? Meinst du, sie haben es geklaut?“, fragte Theo.
„Vielleicht, glaube ich aber nicht. Die Wagen haben doch heutzutage alle GPS. Das wäre zu riskant. Der Typ wird ein echter Taxifahrer sein.“
„Dann könnte Lars ihn vielleicht finden.“
„Dieser Hackerfreak? Ja, das ist möglich. Lars könnte irgendwie in die Datenbank der Taxizentrale eindringen. Fragt sich nur, ob er uns diesen Gefallen tut. Ich könnte ja meine weiblichen Reize einsetzen.“
Kea schlug die Beine übereinander.
„Oder ich verpasse ihm eine gewaltige Abreibung“, schlug Theo vor. Dann schaltete er das Licht aus und lenkte seinen SUV wieder Richtung Hamburg.
Und er steuerte auf St. Pauli zu.
„Wie geht es dir, Joe?“
Pete stellte diese Frage, während er das Taxi so schnell wie möglich vorwärts knüppelte. Zwischendurch warf er immer wieder einen Blick in den Rückspiegel. Aber viel war im Inneren des Wagens nicht zu erkennen. Pete wusste nur, dass sein Bruder auf dem Rücksitz lag und vor sich hin blutete.
„Das wolltest du das letzte Mal vor drei Minuten wissen“, stieß Joe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich fühle mich blendend. Stelle mir gerade vor, was wir mit dem Miststück machen, wenn wir es wieder in die Finger bekommen.“
„Die Kleine wird noch um ihren Tod betteln, das schwöre ich dir“, sagte Pete.
„Wir müssen dringend das Blackberry loswerden.“
Der Taxifahrer schüttelte den Kopf.
„Das hat Zeit. Erst bringe ich dich zu Dr. Skull. Ich werde jedenfalls nicht dieses dämliche Smartphone übergeben, während mein kleiner Bruder verblutet.“
Joe rang röchelnd nach Atem. Dieses Geräusch schnitt wie eine Rasierklinge in Petes Seele. Sein Bruder durfte einfach nicht sterben!
„Ich frage mich, was an diesem Blackberry so wertvoll sein soll. Vielleicht ... könnten wir es besser behalten“, sagte Joe. Seine Stimme war so leise, dass Pete ihn kaum verstehen konnte. Ob es bereits mit ihm zu Ende ging?
„Also übergeben wir es gar nicht an die Typen, die uns beauftragt haben?“, vergewisserte sich der Taxifahrer.
„Ja, das habe ich mir gerade vorgestellt. Okay, die 10.000 Euro Honorar sind nicht übel. Aber vielleicht ist das nur ein Trinkgeld im Vergleich zum echten Wert dieses Blackberrys.“
„Den kennen wir aber nicht“, gab Pete zu bedenken. Er wollte sich eigentlich nicht mit seinem schwerverletzten Bruder streiten. Andererseits war es in seinen Augen ein gutes Zeichen, dass Joe überhaupt noch redete. Daher versuchte er, das Gespräch in Gang zu halten. Sein Bruder durfte nicht das Bewusstsein verlieren. Instinktiv spürte Pete, dass es dann mit ihm zu Ende gehen würde.
„Okay, aber das muss doch rauszukriegen sein. Vielleicht ist das Gerät eine Million oder mehr wert, wer weiß? Dann können wir uns in die Karibik absetzen und dieses elende St. Pauli für immer hinter uns lassen.“
„Ja, das wäre schön“, murmelte Pete. Mit 10.000 Euro kam man in dem Hamburger Amüsierviertel nicht weit - vor allem dann nicht, wenn man Spielschulden hatte. Pete stellte sich vor, in die Sonne zu jetten und niemals zurückkehren zu müssen. Diese Vision überlagerte kurzzeitig die Sorge um das Leben seines Bruders.
Doch dann begann Joe zu fluchen.
„Ich halte es kaum noch aus ... hätte nie gedacht, dass ich so eine Memme bin.“
Pete hatte einen dicken Kloß in der Kehle, als er diese Worte vernahm. Joes Stimme hörte sich so schwach an.
„Wir sind bald da, Bruderherz. Und du bist kein Jammerlappen, sondern ein harter Knochen. Wir machen sie alle fertig, okay?“
Joe antwortete nicht mehr. Pete wäre am liebsten an den Straßenrand gefahren, aber er konnte allein nichts für seinen Bruder tun. Nachdem sie die Hure losgeworden waren, hatte Pete ein paar Kilometer weiter angehalten und die Wunden des Verletzten notdürftig versorgt. Aber nun war alles Verbandsmaterial aus dem Erste-Hilfe-Kasten aufgebraucht.
Der Taxifahrer hatte Dr. Skull in seinem Smartphone auf Kurzwahl. Er setzte die Freisprecheinrichtung in Gang.
Petes Herz raste, während das Freizeichen ertönte. Endlich meldete sich der Quacksalber mit seiner tiefen Reibeisenstimme.
„Ja, was gibt es denn?“
„Hier ist Pete. Du musst dich gleich um meinen Bruder kümmern, es hat ihn erwischt.“
„Was fehlt Joe?“
„Nicht am Telefon. Wir sind in ungefähr zehn Minuten bei dir.“
„Okay, ich mache alles bereit.“
Dr. Skull beendete die Verbindung. Pete schöpfte neue Hoffnung. Das Blut jagte heiß durch seine Adern, er spürte das Pochen in seinen Schläfen. Immer wieder musste er sich zurückhalten, als das Taxi endlich auf Hamburger Stadtgebiet rollte. Am liebsten hätte er das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgetreten, aber davor scheute er zurück. Das Letzte, was Pete jetzt gebrauchen konnte, war eine Geschwindigkeitskontrolle durch die Polizei. Die Cops würden sich gewiss brennend für einen blutüberströmten Mann auf der Taxi-Rückbank interessieren, der außerdem auch noch einen nicht registrierten Revolver in der Hand hielt.
Pete wollte auf keinen Fall in den Knast, um nichts in der Welt. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder war es ihm bisher stets gelungen, bei seinen krummen Dingern nicht erwischt zu werden. Und dabei sollte es auch bleiben.
An jeder roten Ampel schien die Zeit so zäh wie Ahornsirup zu vergehen. Pete bildete sich ein, dass in jeder Seitenstraße ein Streifenwagen auf ihn lauerte.
„Ich drehe gleich ab“, sagte er laut zu sich selbst. Von Joe kam kein Laut mehr. Pete wurde es plötzlich eiskalt, obwohl es im Taxi warm und stickig war. Die Klimaanlage funktionierte wieder einmal nicht.
Nach einer gefühlten halben Ewigkeit bog der Mercedes-Benz endlich in die Silbersackstraße ein. Dr. Skull wartete bereits in seiner Toreinfahrt. Er betrieb eigentlich ein Tattoo-Studio, in dessen Schaufenster Fotos seiner besten Arbeiten ausgestellt waren.
Reeperbahn-Nachtschwärmer torkelten grölend und singend an dem Laden vorbei. Pete hätte ihnen allen den Hals umdrehen können. Sie amüsierten sich hier, während sein Bruder im Sterben lag! Andererseits war es gut, dass die Typen so hackedicht waren. Von ihnen würde sich später garantiert keiner mehr an das Taxi erinnern, von dessen Zulassungsnummer ganz zu schweigen.
Pete setzte rückwärts in die Einfahrt. Dr. Skull nickte ihm zu. Dann zogen sie gemeinsam den Verletzten aus dem Taxi.
„Vorsichtig!“
„Ich mache das nicht zum ersten Mal“, brummte der dicke Tätowierer. Pete schätzte, dass er zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt war. Er trug einen grauen Bart, der bis auf seine Brust hinunter wallte. Seinen unförmigen Körper hatte Dr. Skull in ein schwarzes Iron-Maiden-T-Shirt und eine Blue Jeans gezwängt. Die farbigen Motive auf seinen Armen bewiesen, dass er selbst ein Fan von coolen Tattoos war.
Sie schafften es, den Schwerverletzten in das Tätowierstudio zu schaffen. Die bierselige Partymeute war inzwischen weitergezogen. Joe wurde auf eine Liege gehievt. Dr. Skull beugte sich über seinen Patienten und tastete nach der Halsschlagader.
„Dein Bruder lebt, aber er hat viel Blut verloren. Normalerweise müsste er in ein Krankenhaus.“
„Glaubst du, das wüsste ich nicht?“, fauchte Pete. „Schau ihn dir doch mal an, dieses Weibsstück hat ihn mit Blei vollgepumpt!“
„Genau genommen ist es nur eine Kugel, die in seiner Flanke steckt, das andere ist ein Streifschuss“, meinte der Tätowierer und zog sich Latex-Handschuhe über. Dann sagte er: „Die Kugel kann ich rausholen, aber ich garantiere für nichts.“
Als sie Joe aus dem Taxi zogen, hatte Pete sich dessen Revolver geschnappt und eingesteckt. Nun drückte er die Mündung gegen Dr. Skulls mächtigen Schädel.
„Du sorgst besser dafür, dass mein Bruder am Leben bleibt. Sonst blase ich dir dein Hirn aus dem Kopf!“
Kea dachte laut nach, während sie neben ihrem Zuhälter im Auto saß.
„Wem würdest du dich auf dem Kiez anvertrauen, wenn du dir eine Kugel eingefangen hättest, Theo?“
Er legte nachdenklich die Stirn in Falten.
„Meine erste Wahl ist immer noch Mirko, der Kroate. Im Jugoslawienkrieg war er angeblich Militärarzt. Aber dann muss er wohl Mist gebaut haben. Mirko ist auch nicht sein richtiger Name.“
Kea grinste.
„Habe ich einen Witz verpasst?“, fragte Theo.
„Wie man es nimmt. Wer benutzt denn auf St. Pauli seinen echten Namen?“
Ich jedenfalls nicht, ergänzte sie in Gedanken.
Theo zuckte mit den Schultern.
„Also, mein Alter wollte, dass ich Theodor heißen sollte. Schlimm genug, oder? Aber die Abkürzung Theo finde ich gut. Klingt irgendwie männlich und gefährlich.“
Kea lag eine ironische Bemerkung auf der Zunge, aber sie hielt sich zurück. Sie wollte Theo nicht gegen sich aufbringen. Schließlich konnte Kea seine Hilfe gut gebrauchen.
„Und wer kommt noch in Frage?“, hakte sie nach. „Ich habe mir in meinem Job zwar schon Einiges an Gesundheitsschäden eingefangen, aber eine Schussverletzung gehörte nicht dazu.“
Der Zuhälter kratzte sich nachdenklich im Genick.
„Da wären noch Flatau und Piontek, die fallen mir auf Anhieb ein. Aber Piontek ist momentan in der Klapsmühle, soweit ich weiß. Der scheidet also aus. Dann gibt es noch einen Tätowierer, der sich Dr. Skull nennt. Er hat sein Studio in der Silbersackstraße.“
„Das kenne ich, die Tattoos im Schaufenster sehen nicht schlecht aus“, meinte Kea. „Wenn Dr. Skull genauso gut Wunden nähen wie Tätowierungen stechen kann, dürfte er gut im Geschäft sein. Lass uns zuerst diesem Kroaten auf die Bude rücken, okay? Ich versuche inzwischen, Lars zu erreichen.“
Kea griff sich ihr Handy und holte die Nummer des Hackers aus dem Kurzwahlspeicher. Aber es sprang nur seine Mailbox an.
„Verflixt“, murmelte sie.
„Ich wette, dass Lars bei irgendeiner LAN-Party ist“, meinte Theo grinsend. „Oder er daddelt allein vor sich hin. Wir schauen nachher bei ihm vorbei, dann wird er schon aufmachen. Oder ich trete die Tür ein.“
„Das wirkt immer“, stimmte Kea zu.
Mirko war noch wach, als sie an seine Tür klopften. Der Kroate war ein Glatzkopf mit Bodybuilder-Schultern. Nach Keas Meinung hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem Türsteher als mit einem Ex-Militärarzt. Wenn er im Jugoslawienkrieg gedient hatte, konnte er nicht mehr ganz jung sein. Aber sein vernarbtes Gesicht wirkte alterslos.
„Express-Abtreibung?“, fragte er und maß Kea mit einem Blick vom Scheitel bis zur Sohle.
„Sehe ich aus wie ein Amateurin?“, erwiderte sie. „Wir suchen einen Typen mit Schussverletzung.“
Sie beschrieb den Revolvermann so gut wie möglich. Mirko zuckte mit den Achseln.
„Heute hatte ich noch keinen akuten Notfall. Aber ihr könnt euch umsehen, wenn ihr wollt.“
Er machte eine einladende Bewegung. Mirkos Patienten wurden in einem Hinterzimmer behandelt, in dem Kea sich noch nicht einmal die Fingernägel gefeilt hätte, von einem Schwangerschaftsabbruch ganz zu schweigen. Aber so eine Prozedur hatte sie noch nie über sich ergehen lassen müssen. Und dabei konnte es auch gern bleiben, wenn es nach ihr ging. Sie kritzelte ihre Mobilnummer auf einen Zettel.
„Rufst du mich an, falls der Typ, den ich beschrieben habe, noch bei dir aufkreuzt?“
Mirko grinste.
„Und was habe ich davon?“
„Ich dachte an eine Gratis-Nummer.“
„Da habe ich aber auch noch ein Wörtchen mitzureden“, protestierte Theo.
„Hauptsache, du vergisst den Anruf nicht“, sagte Kea, hakte ihren Zuhälter unter und verließ die Wohnung des Kroaten.
„Du kannst doch nicht einfach auf meine Kosten Werbegeschenke verteilen“, schimpfte Theo.
Kea verdrehte genervt die Augen.
„Eine Hand wäscht die andere, hast du diesen Spruch schon mal gehört? Ich möchte nicht wissen, was Nubik mit uns anstellt, wenn wir das Blackberry nicht abliefern.“
„Ich höre immer wir. Du hast dir doch das Teil abnehmen lassen“, stellte Theo richtig.
Es wäre wirklich gut, wenn Theo öfter mal lichte Momente hätte.
„Ganz toll“, höhnte Kea. „Nubik lässt seine Wut an mir aus, ich sterbe, er verschont dich - und was dann? Glaubst du, dass du so leicht einen Ersatz für mich findest? Diese anderen Hühner, die du auf den Strich schickst, kannst du doch komplett vergessen.“
„Das stimmt nicht“, murmelte der Zuhälter. Aber er war nun schon bedeutend kleinlauter geworden. Eigentlich wusste er, was er an Kea hatte.
Man muss ihn nur gelegentlich mal mit der Nase draufstoßen, dachte sie.
Die nächtliche Quacksalber-Suche ging weiter, ein Erfolg blieb allerdings aus. Schließlich hatten sie nur noch das Studio von Dr. Skull auf ihrer Liste. Keas Puls beschleunigte sich, als Theos SUV sich dem Ladengeschäft näherte.
Ein Stück weit die Straße herunter parkte ein Taxi!
Sie deutete auf den Mercedes.
„Da, wir sind auf der richtigen Spur.“
Theo war skeptisch.
„Es gibt noch ein paar mehr von diesen Kutschen in Hamburg.“
„Was du nicht sagst! Aber ich wette, dass die Blutflecken noch nicht beseitigt sind. Und kommt es dir nicht komisch vor, dass die Karre zur besten nächtlichen Taxi-Geschäftszeit dort parkt?“
„Nachschauen kostet ja nichts“, erwiderte Theo.
Sie stiegen aus und gingen zu dem Mercedes hinüber. Die Straßenlaternen spendeten genügend Licht. Die großen roten Flecken auf dem Rücksitz waren nicht zu übersehen. Eine betrunkene Partymeute zog vorbei. Einige Kerle stießen Pfiffe aus, als sie Keas Figur musterten. Doch als Theo ihnen einen wütenden Blick zuwarf, hatten sie es plötzlich sehr eilig.
„Dr. Skulls Bude hat einen Hintereingang“, sagte der Zuhälter zu Kea. „Du bleibst hier, ich gehe rein und hole das Blackberry.“
„Vergiss es, ich komme mit! Ist ja schön, dass du für mich den Helden spielen willst. Aber die Drecksäcke sind zu zweit, und du bist allein.“
„Einer ist doch verletzt“, murmelte Theo. Aber es war klar, dass Kea wieder einmal ihren Willen durchsetzen würde.
Sie gingen über den schlecht beleuchteten Hof auf die Hinterfront des Tattoo-Studios zu. Dort brannte Licht, Stimmen waren zu hören. Theo und Kea wechselten einen Blick. Manchmal verstanden sie sich, ohne Worte verlieren zu müssen. Sie konnten sich das Klopfen sparen, dann wäre bloß der Überraschungseffekt dahin.
Der Zuhälter maß die Tür mit einem prüfenden Blick.
Dann trat er sie ein.
Sowohl Theo als auch Kea hatten ihre Pistolen schussbereit in den Händen, als sie in das Gebäude stürmten. Der Tätowierer stand über einen Mann mit nacktem Oberkörper gebeugt, der auf einer Art Pritsche lag. Dr. Skulls blutige Hände steckten in Latexhandschuhen. Er war offensichtlich gerade dabei, eine Wunde zu nähen.
Von ihm ging keine Gefahr aus. Und von seinem Patienten ganz gewiss auch nicht. Der Revolvermann schien ohnmächtig zu sein.
Doch dessen Kumpan, der Taxifahrer, reagierte kaltblütig auf den Überfall. Er riss seine Waffe hervor und feuerte, während er hinter einem Sessel in Deckung hechtete. Die Kugeln flogen Kea und Theo um die Ohren. Der Taxler befand sich offenbar nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation.
Dr. Skull hob die Hände und presste sich gegen die Wand hinter ihm.
Kea tauchte unter den Projektilen ihres Widersachers weg. warf sich zu Boden, rollte ab und richtete ihre Glock erneut auf den Taxifahrer. Eines ihrer Geschosse durchschlug die Polsterung des Sessels, wobei das Füllmaterial herausquoll.
Hinter dem Sitzmöbel blitzte noch einmal Mündungsfeuer auf. Das heiße Blei sirrte in Keas Richtung, verfehlte sie aber. Kea schnellte vom Boden hoch, nahm ihre Glock in den Beidhandanschlag und schnellte auf ihren Gegner zu. Sie sah die Panik auf seinem Gesicht, aber für Gnade war es jetzt zu spät.
Keas Kugel hämmerte in die Brust des Kerls. Er riss den Mund auf, ein röchelndes Geräusch drang aus seiner Kehle. Durch die Aufprallwucht wurde er gegen die Wand hinter ihm geschleudert. Langsam glitt er daran hinab, wobei er Blutschlieren auf der Mauer hinterließ.
Das Adrenalin jagte durch Keas Körper.
Dieser Rausch ist besser als Koks.
Sie hielt die Pistole weiterhin im Anschlag, während sie langsam auf den Taxifahrer zu ging. Seine Augen waren gebrochen, das Blut sickerte immer noch aus seinem Körper. Von diesem Gegner ging keine Gefahr mehr aus.
Kea kniete sich neben ihn und durchwühlte seine Taschen. Sie musste sich beeilen, denn die wilde Schießerei hatte garantiert auf Aufsehen gesorgt. Nicht, dass die Polizei auf St. Pauli besonders viel zu melden gehabt hätte. Trotzdem würden die Beamten ziemlich bald hier auftauchen.
Sie suchte das Blackberry vergeblich, aber dann schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Natürlich, der andere Kerl hatte ihr das Gerät abgenommen. Sie wandte sich der Pritsche zu, auf der sich das halbnackte Patient befand. Dessen Oberbekleidung war achtlos zu Boden geworfen worden. In der Jacke des Bewusstlosen fang sie endlich das Blackberry.
Der Tätowierer hatte sich während des Schusswechsels durch eine schmale Seitentür aus dem Staub gemacht, aber das war Kea egal.
Erst jetzt dachte sie wieder an Theo, drehte sich zu ihm um.
„Wir müssen den Abflug machen, wir ...“
Kea verstummte, als sie Theo in seinem Blut liegen sah. Er war genauso mausetot wie der Taxifahrer. Eine der Kugeln, die für Kea bestimmt gewesen waren, hatte ihn in den Kopf getroffen. Unter seinem rasierten Schädel hatte sich bereits eine gewaltige Blutlache gebildet, die immer weiter anwuchs.
Kea presste die Lippen aufeinander. Ihr fehlte die Zeit für Sentimentalitäten. Sie griff in Theos Tasche und schnappte sich seine Zündschlüssel. Dann eilte sie hinaus, warf sich auf den Fahrersitz des SUV und fuhr Richtung Reeperbahn davon.
Da klingelte ihr Handy.
St. Pauli war Nubiks Königreich.
Er hatte sich mit einigen anderen Unterweltfürsten die Claims aufgeteilt. Auf seinem Gebiet wurden keine Drogen verkauft und keine Huren abkassiert, ohne dass er seinen Anteil bekam. Doch wer stillsteht, bewegt sich rückwärts. Diesen Leitsatz hatte Nubik verinnerlicht, und danach handelte er.
Und Geduld gehörte nicht zu seinen stärksten Charaktereigenschaften.
Deshalb beschloss er, Kea ein wenig Druck zu machen. Es waren schließlich schon zwei Stunden vergangen, seit er zum letzten Mal mit ihr telefoniert hatte. Wenn Nubik jetzt bei ihr anrief, sollte sie sich zu Tode ängstigen. Und dafür brauchte er die nicht ganz freiwillige Hilfe ihrer Freundin Valeska.
Nubik lachte höhnisch, als er seinen Nachtclub verließ und seine Blicke über die Menge der betrunkenen Vergnügungssüchtigen schweifte. In seinen Augen glichen sie einer Schafherde - nur allzu gern bereit, ihre Wolle zu spenden und keinen Widerstand zu leisten. Von diesen Jammergestalten lebte Nubik sehr gut, aber das reichte ihm nicht mehr. Für seine Lungen war das feucht-kalte Klima hier am Hafenrand pures Gift, und er träumte von einem Luxusleben unter Palmen.
Und seine Eintrittskarte ins Tropenparadies war das Blackberry.
Nubik erblickte vor sich den Abschnitt der Talstraße, wo Valeska anschaffen ging. Er hatte Glück, sie war gerade nicht bei einem Freier.
Die junge Blonde mit den Highheels und dem superkurzen Lederminirock war noch völlig arglos. Sie stolzierte hin und her, als ob sie sich auf einem Laufsteg befände. Und nicht auf einem dreckigen Bürgersteig, wo sie von im Schritttempo vorbeifahrenden potentiellen Freiern lüstern angeglotzt wurde.
Aber für Nubik war Valeska keine Prostituierte.
Sie war eine Schachfigur, so wie alle anderen Menschen.
Und er wollte sie zum Bauernopfer machen.
Die Blonde hatte ihn noch nicht bemerkt, als er um die Ecke bog und langsam näher kam. Sie stand unmittelbar vor einem Sexshop, links und rechts von ihr warteten andere Pferdchen aus Theos Stall auf Kunden.
Nubik fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Kea auf den Dickwanst anzusetzen. Doch er musste sich eingestehen, dass eine andere Hure womöglich die Nerven verloren hätte. Selbst abgebrühte Bordsteinschwalben kamen nicht damit klar, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt zu werden. Und Kea war nicht nur belastbar, sie sah auch noch verflixt gut aus. Nein, mit ihr lag Nubik schon richtig.
Sie brauchte jetzt nur einen Motivationsschub, um wieder in die Spur zu kommen.
Während Nubik diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, war er bis auf dreißig Meter an Valeska herangekommen. Da drehte sie sich in seine Richtung. Die Hure blinzelte, öffnete die Lippen. Normalerweise setzten diese Mädels immer ein professionelles Dauergrinsen auf. Valeska hingegen zeigte in diesem Moment ihre wahren Gefühle gegenüber Nubik.
Furcht und Abscheu.
Nubik hatte mit Valeska noch niemals direkt zu tun gehabt, aber sein Ruf eilte ihm voraus. Hinzu kam der starre tote Blick seines linken Auges, das aus Glas war. Und Valeska schien zu spüren, dass Nubik es auf sie abgesehen hatte.
Sie wandte sich ab, machte einige schnelle Schritte von ihm weg.
„Bleib stehen!“, rief Nubik.
Valeska zuckte zusammen, als ob sie einen Schlag bekommen hätte. Sie verharrte zögernd. Die anderen Huren mischten sich nicht ein, was auf St. Pauli eine gängige Überlebenstechnik war.
Nubik konnte Valeskas Furcht beinahe mit Händen greifen. Er beschleunigte seine Schritte nicht, das wäre unter seiner Würde gewesen. Für einen Unterweltkönig waren Respekt und Ruf alles. Deshalb würde er gewiss nicht wie ein lüsterner Freier hinter der Hure herrennen. Auch dann nicht, wenn sie selbst zu laufen begann.
Valeska nahm jetzt nämlich ihren ganzen Mut zusammen und eilte davon, was angesichts ihrer High Heels ziemlich grotesk aussah. Sie bog um die Ecke, in die Simon-von-Utrecht-Straße. Nubik folgte der fliehenden Nutte, wobei er nach wie vor langsam und locker vor sich hin schlenderte. So, als ob ihm die ganze Welt gehören würde.
Es gab keinen Ort, an dem Valeska vor Nubik sicher sein würde. Jedenfalls nicht in diesem Stadtteil, den er bestens kannte. Nubik griff zum Smartphone, überlegte kurz und holte eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher.
„Ruby, bist du an deinem Lieblingsplatz?“
„So wie jede Nacht. Was kann ich für dich tun, Nubik?“
„Gleich müsste eine blonde Hure bei dir vorbei gerannt kommen. Sie ist eines von Theos Mädchen. - Könntest du sie eben festhalten, bis ich da bin?“
„Ich sehe sie schon. - Wird erledigt, Nubik.“
Der Nachtklubbesitzer beendete das Telefonat. Ruby fraß ihm aus der Hand, so wie jeder Andere in seinem Herrschaftsbereich. Schon von weitem hörte Nubik Valeskas verzweifeltes Kreischen. Als er um die Ecke bog, erblickte er ein Stück weit vor sich die Blonde. Sie versuchte, sich von Ruby loszureißen. Aber der bullige Zuhälter hatte ihr die Arme auf den Rücken gedreht. Ruby pflegte seine Nächte im Lorenzo-Café zu verbringen. Von dort aus hatte er die Straße im Visier, was Nubik natürlich klar gewesen war.
Er grinste selbstzufrieden. Es freute ihn immer, wenn er Entwicklungen vorhersehen konnte. Schon als Kind hatte Nubik Puzzles geliebt. Allerdings nur dann, wenn jedes Teilchen am Ende an seinem Platz war.
Als erwachsener krimineller Nachtklubbesitzer handelte er immer noch so. Allerdings waren es jetzt Menschen und Ereignisse, die er in seinem Sinn miteinander verknüpfte.
Und was nicht passend war, wurde passend gemacht.
Niemand kam Valeska zu Hilfe, obwohl es genügend Zeugen gab. Die Touristen waren ohnehin alle Feiglinge, jedenfalls nach Nubiks Meinung. Und kein St. Paulianer wäre so lebensmüde gewesen, sich mit Nubik oder einem seiner Handlanger anzulegen.
Ruby grinste stolz, weil er Valeska eingefangen hatte.
„Das Vögelchen wollte die Flatter machen, Nubik.“
Der Nachtklubbesitzer nickte und verpasste der Hure eine schallende Ohrfeige.
„Das ist fürs Weglaufen. - Wir bringen sie ins Hinterzimmer vom Lorenzo-Café. Da können wir uns in Ruhe weiter unterhalten.“
Nubik betrat das bis zum Boden verglaste stylishe Nachtcafé. Auch wenn hier eine coole und moderne Atmosphäre herrschte, galten doch dieselben Regeln wie im klassischen alten St. Pauli. Das Gesetz, dem sich alle unterwarfen, hieß Faustrecht.
Die Gäste senkten ihre Blicke auf ihre bunten Cocktails, als die beiden Männer mit ihrer Gefangenen hereinkamen und nach hinten durchgingen. Der Barman dienerte und schloss für Nubik einen fensterlosen Raum auf, der als Flaschenlager diente.
Nubik wandte sich an Ruby.
„Gut gemacht, du kannst jetzt gehen.“
„Das ist eines von Theos Mädchen, oder?“
„Um Theo kümmere ich mich.“
„Natürlich, Nubik. Stets zu Diensten.“
Mit diesen Worten verließ der Zuhälter den Lagerraum. Nubik grinste und weidete sich an Valeskas Todesangst.
„Endlich allein.“
„W-was willst du, Nubik? Ich habe nichts gemacht!“
Ihre Stimme zitterte. Ob es doch besser wäre, sie am Leben zu lassen? Kaum war Nubik dieser Einfall gekommen, als er ihn auch schon wieder verwarf. Nein, das brachte nichts. Es ging ihm um Kea, nur um sie. Und bei dieser Frau musste er schwere Geschütze auffahren. Valeska war ihm im Grunde gleichgültig.
„Du bist doch mit Kea befreundet, oder?“
Die Prostituierte zögerte für Nubiks Geschmack etwas zu lange mit der Antwort. Seine Rechte schoss vor und umklammerte ihre Kehle. Sein Gesicht näherte sich dem ihren so stark, als ob er sie hätte küssen wollen. Valeska konnte ihren Blick nicht von seinem Glasauge abwenden. Sie röchelte leise, dann nickte sie.
Nubik lockerte seinen Griff. Valeska rang nach Luft. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie verstand nicht, was mit ihr geschah.
„Ich habe Sehnsucht nach Kea“, sagte Nubik im Plauderton. „Und deshalb rufen wir sie jetzt an, einverstanden?“
Der Nachtklubbesitzer erwartete nicht wirklich eine Antwort von der Hure. Außerdem war Valeska viel zu eingeschüchtert, um auch nur einen Mucks von sich zu geben. Nubik griff zum Handy. Das Freizeichen ertönte. Wenig später meldete sich Kea.
„Was gibt es, Nubik?“
Sie klang gehetzt. Es hörte sich so an, als ob sie in einem Auto unterwegs wäre. Nubik zog die Augenbrauen zusammen. Die Dinge entwickelten sich nicht so, wie er es wollte. Es wurde dringend Zeit für ihn, die Kontrolle zurückzugewinnen.
„Was es gibt? Das frage ich dich, Kea. Ich bekomme noch etwas von dir, erinnerst du dich?“
„Natürlich, ich bin ja nicht dämlich. Ich habe das Blackberry, es ist alles in Butter. Aber ich kann nicht direkt in deinen Nachtklub kommen.“
„Warum nicht?“
„Es hat eine Schießerei gegeben, hier wird gleich alles voller Bullen sein. Ich muss erst checken, ob ich nicht verfolgt werde. Dann schlage ich bei dir auf und gebe dir das verflixte Gerät.“
„Weißt du was, Kea? Ich glaube, du willst mich verschaukeln. Ich habe immer noch René, falls du das vergessen haben solltest. Und momentan befinde ich mich auch in charmanter Gesellschaft. Deine Freundin Valeska ist bei mir.“
Mit diesen Worten reichte Nubik sein Smartphone an die Prostituierte weiter. Valeskas Stimme war hell vor Panik, sie konnte kaum sprechen.
„Kea? Was läuft hier ab? Ich habe keine Ahnung, ich ...“
Sie konnte den Satz nicht beenden, weil Nubik ihr die Kehle durchschnitt. Sie gab nur noch ein gurgelndes Geräusch von sich, dann stürzte sie zu Boden. Ihr Mörder konnte ihr noch rechtzeitig das Telefon wieder abnehmen und hielt es wieder an sein Ohr.
„Was hast du getan, du Psychopath?“, wütete Kea. Nubik musste Kea unwillkürlich Respekt dafür zollen, dass sie in diesem Ton mit ihm zu reden wagte. Nein, sie war wirklich keine gewöhnliche Nutte. Immerhin schien der Mord seine Wirkung auf Kea nicht verfehlt zu haben.
„Das war nur eine kleine Warnung, Kea. Deine Freundin musste sterben, weil du mich hast warten lassen.“
„Willst du lieber, dass das Polizei auf meinen Fersen in deinen Nachtklub marschiert? Hier ist die Luft bleihaltig geworden, als ich mir dein Blackberry zurückgeholt habe. Ich muss erst ein paar Runden drehen. Wenn ich merke, dass niemand hinter mir her ist, dann komme ich zu dir.“
„Meinetwegen können die Bullen ruhig in meinem Laden auftauchen. Ich bin ein gesetzestreuer Bürger und habe nichts zu verbergen“, höhnte Nubik. „Trotzdem wäre es clever, Aufsehen zu vermeiden. Ich sage dir etwas: Du hast Zeit bis zum Morgengrauen, um mir das Blackberry zu bringen. Wenn du das nicht tust, dann hast du auch René auf dem Gewissen.“
„Okay, Nubik. Lass René in Ruhe, sonst werde ich das Telefon schrotten.“
„Das würde ich dir nicht raten“, entgegnete der Nachtklubbesitzer. „Über Renés Tod würdest du wohl noch hinwegkommen, der ist schließlich nur einer deiner Stecher. Aber was ist mit deiner süßen kleinen Tochter?“
Und bevor Kea etwas entgegnen konnte, hatte Nubik das Telefonat beendet.
Kea musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht mitten auf der Reeperbahn einen Unfall zu bauen. Ihr Herz hämmerte so laut, dass das Geräusch das Sirenengeheul der Streifenwagen übertönte, die Richtung Tattoostudio unterwegs waren. Sie zwang sich selbst dazu, ruhig durch die Nase ein- und auszuatmen. Kea warf einen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass ihre Stirn totenbleich und schweißbedeckt war.
Sie verachtete sich selbst dafür, dass sie sich von Nubik ins Bockshorn jagen ließ. Kea konnte viel ertragen. Aber nicht, wenn es um Suvi ging.
Kea hatte ihre Tochter immer vom Dreck des Amüsierviertels ferngehalten.
Ob Nubik schon wusste, wo das kleine Mädchen aufgezogen wurde?
Kea presste die Lippen aufeinander. Sie durfte sich von ihrem Gegner nicht die Spielregeln aufzwingen lassen. Er wollte, dass sie jetzt in Panik geriet und alles tat, was er wollte. Valeska hatte nur sterben müssen, um Kea in die Knie zu zwingen. Es tat ihr leid, dass ihre Freundin einen sinnlosen Tod erlitten hatte.
Und Kea schwor sich, diesen Dreckskerl dafür zahlen zu lassen.
Je weiter sie sich von St. Pauli entfernte, desto ruhiger wurden ihre Atemzüge. Noch hatte sie Zeit, die Nacht war nicht vorbei. Unwillkürlich lenkte Kea den SUV in Richtung Ottensen. Der ursprüngliche Grund für den Besuch bei Lars hatte sich erledigt. Es war nicht mehr nötig, sich in die Datenbank der Taxizentrale zu hacken. Aber dieser Computernerd konnte ihr trotzdem nützlich sein.
Lars wohnte in einem Altbau an der Ottenser Hauptstraße. Kea parkte um die Ecke, dann klingelte sie bei ihm Sturm. Es war drei Uhr morgens. Keine Zeit, zu der normale Menschen ihre Tür öffnen würden.
Aber Lars war nicht normal.
Erleichtert stellte Kea fest, dass er nach kurzer Zeit den Türsummer betätigte. Sie eilte in den zweiten Stock hoch. Der Hacker erwartete sie in Boxershorts.
„Ich habe kein Callgirl bestellt.“
„Sehr witzig, Lars. Kann ich reinkommen?“
Er nickte. Kea folgte dem durchtrainierten jungen Mann in seine weitläufige Altbauwohnung. Im Gegensatz zu den üblichen Klischeevorstellungen über Computerfreaks war Lars weder chaotisch noch übergewichtig. Er legte offenbar großen Wert auf Fitness, denn der einzige Einrichtungsgegenstand in seinem Arbeitszimmer war neben dem PC-Tisch eine Hantelbank. Lars musterte Kea von Kopf bis Fuß.
„Du machst einen gestressten Eindruck. Wahrscheinlich ist dein Eisenanteil im Blut zu niedrig, du solltest mehr Spinat essen.“
„Ich habe gerade eine Schießerei überlebt, Süßer. Wenn ich mir da eine Kugel eingefangen hätte, dann wäre mein Eisenanteil schon bedeutend höher. Theo hatte nicht so viel Glück.“
Sie erzählte Lars mit einigen knappen Sätzen, was geschehen war. Währenddessen lud Kea ihre Glock nach. Der Hacker hakte nach.
„Und was ist so wertvoll an dem Blackberry, dass deswegen Leute sterben?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Deshalb hatte ich gehofft, du könntest mit mir gemeinsam diese Frage beantworten.“
Kea überreichte Lars das Blackberry. Stirnrunzelnd checkte er das Gerät durch.
„Da sind einige verschlüsselte Dateien drauf.“
„Traust du dir zu, sie zu knacken?“
Lars antwortete nicht sofort.
„Ich kann verstehen, wenn du dich ängstigst. Leider habe ich kein Geld, um dich dafür zu bezahlen. Aber eine Gratis-Nummer könnte ich dir anbieten.“
Kea legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Der Hacker schüttelte den Kopf.
„Nichts gegen Sex, aber alles zu seiner Zeit. Ich habe gezögert, weil dieser Code vermutlich nicht leicht zu entschlüsseln ist. Das reizt mich als intellektuelle Herausforderung.“
„Okay, und wie lange brauchst du in etwa?“
„Einen Tag, wenn ich sofort anfange.“
„So viel Zeit habe ich nicht, ich muss das Blackberry bis zum Morgengrauen abliefern.“
„Kein Problem, ich kann mir die Dateien ja auf meinen Rechner rüber kopieren.“
Diese Aufgabe erledigte der Hacker im Handumdrehen.
„Ich habe noch eine Bitte, Lars. Ist es möglich, so eine Ortungs-App auf dem Blackberry zu installieren? Ich wüsste gern, wo sich das Teil befindet, wenn ich es nicht mehr bei mir habe.“
„Sicher, das kann ich machen. - Wie wäre es mit einem Tee, während du darauf wartest?“
Kea nickte und warf dem Hacker einen dankbaren Blick zu. Er ging in seine penibel aufgeräumte Küche und begann mit der Teezubereitung.
Kea schaute sich in der Wohnung um. Sie ertappte sich dabei, dass ihre Gedanken um Kokain zu kreisen begannen. Lars brauchte sie nicht nach Stoff zu fragen, der würde ihr nur einen Vortrag über die Zerstörungskraft von Rauschgift halten. Als ob sie das nicht selbst wüsste.
Aber sie durfte sich jetzt sowieso nicht ins Drogen-Nirvana katapultieren.
Sie musste einen klaren Kopf behalten, für Suvi.
Also beschränkte Kea sich darauf, den heißen schwarzen Tee zu schlürfen. Die Wärme tat ihrem Körper gut.
Lars werkelte vor sich hin, dann blickte er auf.
„So, die App ist installiert. Gibst du mir dein Handy? Du musst das Programm dann nur noch starten, wenn du den Standort des Blackberrys erfahren willst. Bei wem sollst du das Teil überhaupt abliefern?“
„Das geht dich einen Dreck an!“, blaffte Kea. Dann fuhr sie etwas ruhiger fort: „Ich bin dir dankbar, okay? Aber es ist in deinem eigenen Interesse, wenn du so wenig wie möglich erfährst. Theo ist tot, das soll dir nicht auch noch passieren.“
„Okay, ich wollte nicht zu neugierig sein. Soll ich dich anrufen, wenn ich die Dateien geknackt habe?“
„Ja, das wäre super. Ich muss jetzt abhauen, Danke für den Tee.“
Kea gab Lars einen Kuss auf die Wange. Er saß bereits vor seinem PC und schien tief in die Datenwelten versunken zu sein. Sie zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss.
Lars legte den Kopf in den Nacken und starrte nachdenklich vor sich hin.
Kea bekam nicht mehr mit, dass der Hacker zum Telefon griff und die Nummer von Nubik eintippte.
Kea fuhr wieder Richtung St. Pauli. Ob es ein Fehler war, das Blackberry an Nubik zu übergeben? Womöglich hatte dieser Psychopath René schon längst getötet. Was war das Ehrenwort eines solchen Gewaltmenschen wert?
Dabei ging es gar nicht darum, dass Kea in René verknallt gewesen wäre. Letztlich ging ihr kein Mann wirklich nahe, weder Theo noch René oder einer ihrer zahlreichen Freier. Aber Kea hatte eine Zusage getroffen, und die würde sie auch einhalten. Außerdem waren das Wertvollste an dem verflixten Blackberry zweifellos die verschlüsselten Dateien. Und darauf würde sie gewiss schon bald zugreifen können. Lars war sehr gut in dem, was er tat. Obwohl er sich seit Jahren im Internet kriminell betätigte, hatte die Polizei ihn noch niemals erwischt oder auch nur als Verdächtigen verhört.
Inzwischen neigte sich die Nacht dem Ende zu. Sirenen von Streifenwagen waren immer noch zu hören, aber das gehörte in dem Amüsierviertel dazu. Wahrscheinlich gab es wieder jede Menge Schlägereien von Betrunkenen. Das kümmerte Kea nicht. Ihre Gedanken waren ganz bei der geplanten Blackberry-Übergabe. Sie hielt an einer roten Ampel an der Ecke Reeperbahn/Detlev-Bremer-Straße.
Da wurde plötzlich die Beifahrertür aufgerissen!
Kea verfluchte sich selbst dafür, dass sie ihre Glock nicht griffbereit neben sich liegen hatte. Die Pistole befand sich in ihrer Handtasche. Und ihr Widersacher war sehr flink. Trotz seiner Leibesfülle wuchtete sich Dr. Skull behände auf den Beifahrersitz und drückte sein Messer gegen ihre Flanke.
„Du lässt schön die Hände auf dem Lenkrad, mein Schatz. Sonst muss ich leider deinen schönen Körper aufschlitzen!“
Kea drehte ihren Kopf in seine Richtung und rang sich ein Lächeln ab. Eigentlich hielt sie den Tätowierer für harmlos. Doch sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Die Unterlippe zitterte, die Augen waren blutunterlaufen. Der Schweiß rann im in Strömen über sein bärtiges Gesicht. Dr. Skull mochte normalerweise ein freundlicher Mensch sein. Aber jetzt kam er Kea so vor wie ein in die Enge getriebenes Tier.
Und das machte ihn brandgefährlich.
„Manchmal meint es das Schicksal eben doch gut mit mir“, sagte er mit zitternder Stimme. „Ich habe Theos Karre gleich erkannt. Schön, dass ich dich überraschen konnte. Wir fahren jetzt direkt zu den Bullen, kapiert?“
Bevor Kea etwas erwidern konnte, wurde hinter ihr heftig gehupt. Die Ampel war bereits auf Grün umgesprungen.
„Ist ja gut!“, sagte Kea laut, obwohl die anderen Autofahrer sie nicht hören konnten. Kea fuhr los, setzte den Blinker und bog in die Hein-Hoyer-Straße ab. Auf Dr. Skulls Stirn erschien eine tiefe Zornesfalte.
„Willst du mich verschaukeln, du Biest? Zur Davidwache geht es in die andere Richtung.“
„Glaubst du, das wüsste ich nicht? Ich will dich davon abhalten, einen schweren Fehler zu begehen.“
Der Tätowierer lachte rau.
„Wie rücksichtsvoll von dir! Du und dein Zuhälter Theo, ihr habt heute Nacht meine gesamte Existenz zerstört.“
„Theo ist tot.“
„Soll ich jetzt vielleicht in Tränen ausbrechen?“, knurrte Dr. Skull. „Niemand hat euch darum gebeten, in meinen Laden zu stürmen und auf Pete und Joe zu ballern.“
„So heißen also die beiden Kerle“, stellte Kea fest.
„„Eigentlich lauten ihre Namen Peter und Josef Kappler. Die Brüder treiben sich seit Jahren in der Unterwelt herum.“
„Ich hab sie noch nie gesehen“, widersprach Kea.
„Ihr Revier ist normalerweise Barmbek, hier auf St. Pauli sind sie fremd. - Fährst du jetzt endlich weiter oder willst du wirklich mit meiner Klinge Bekanntschaft machen?“
Dr. Skull fragte, weil Kea den SUV in der Seitenstraße zum Stehen gebracht hatte. Sie schüttelte den Kopf.
„Du weißt doch, wie es hier auf dem Kiez läuft, Süßer. Es geht immer ums Geld, und alles ist frei verhandelbar.“
„Die Bullen sind nicht dämlich“, stellte der Tätowierer fest. „Dass ich illegal Leute zusammenflicke, sieht doch ein Blinder ohne Krückstock. Ich war ja noch gar nicht fertig mit der Operation, als die Ballerei losging. Meinen Laden kann ich vergessen, den macht die Polizei mir dicht. Und ich wandere in den Knast, weil ich ohne ärztliche Approbation Menschen behandelt habe.“
„Ein cleverer Anwalt könnte dich rauspauken. Man könnte es ja so darstellen, dass du dazu gezwungen worden bist.“
Kea redete mit Engelszungen, um die Situation zu ihren Gunsten zu drehen. Noch sah es nicht so aus, als ob ihre Worte Wirkung zeigen würden. Hinzu kam, dass die Nacht bald vorbei war.
Und dann würde René sterben, falls sie nichts unternahm.
„Ein cleverer Anwalt?“, echote Dr. Skull. „Du meinst wohl: Ein teurer Anwalt. Zugegeben, so ein Paragraphenhengst könnte mich retten. Leider kann ich mir so einen Vogel nicht leisten.“
„Ich würde dir das Geld dafür geben. Aber ich habe jetzt keine Zeit, um zu den Bullen zu gehen. Ich muss etwas Anderes erledigen.“
Der Tätowierer lachte, aber er klang nicht amüsiert.
„Du? Woher willst du denn so viel Kohle nehmen? Ich weiß, dass du für Theo anschaffen gehst. Du sollst sein bestes Pferd im Stall sein. Von dem Geld wird trotzdem nicht viel bei dir hängengeblieben sein.“
„Ich bin nicht die, für die du mich hältst“, sagte Kea und schaute Dr. Skull direkt in die Augen. Er nagte an seiner Unterlippe und schien noch unentschlossen zu sein.
„Eine normale Nutte hat keinen Ballermann bei sich, daher könntest du Recht haben. Aber wer bist du?“
Kea antwortete nicht.
„Du spielst gern die Geheimnisvolle, was? Okay, fürs Erste will ich deine Pistole haben. Die wirst du jetzt schön langsam aus deiner Tasche holen, kapiert?“
„Wenn es sein muss ...“
Mit diesen Worten gab Kea sich scheinbar geschlagen. Sie öffnete ihre Handtasche und griff hinein. Dr. Skull wurde unvorsichtig. Er machte einen langen Hals, um in die Tasche zu sehen. Seine Hand mit dem Messer entfernte sich ein kleines Stück von Keas Körper.
Das war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte.
Kea rammte ihm blitzschnell ihren Ellenbogen ins Gesicht. Dr. Skull kippte nach hinten. Sie packte das Gelenk seiner Messerhand und verdrehte es mit ganzer Kraft. Er schrie auf, ließ die Stichwaffe fallen. Sie fiel in den Fußraum des Beifahrersitzes.
Nun holte Kea ihre Glock heraus. Sie ließ ihren Widersacher in die Waffenmündung schauen.
„Hör mir gut zu, du altes Ekel! Es tut mir leid, dass du wegen der Schießerei Ärger kriegst und dein Studio geschlossen wird. So etwas ist eben Pech. Ich hatte im Leben auch schon öfter Pech, glaube mir.“
Dr. Skull drehte die Handflächen nach außen und riss die Augen weit auf. Seine Wut war der Todesangst gewichen. Er hatte schließlich mitbekommen, dass Kea tötete, ohne zu zögern.
„Hey, bleib cool!“, krächzte er.
„Oh, ich bin supercool“, erwiderte sie mit honigsüßer Stimme. „Du bist ein Schlaukopf, Dr. Skull. Ich wette, dass du weißt, für wen Pete und Joe gearbeitet haben.“
Der Tätowierer rang nach Atem. Kea konnte deutlich seinen Angstschweiß riechen.
„Naja, Wissen ist zu viel gesagt ... angeblich stehen sie bei Dragow auf der Lohnliste.“
Dragow? Der Name sagte Kea etwas. Aber sie hatte jetzt keine Möglichkeit, die Angaben zu checken. Stattdessen stieß sie den Pistolenlauf zwischen die Rippen des Tätowierers. Er gab einen unterdrückten Schmerzensschrei von sich.
„Du steigst jetzt aus, kapiert? Meinetwegen kannst du zur Davidwache rennen und dich bei den Bullen ausheulen. Aber du solltest so clever sein, dass du mich nicht erwähnst.“
Dr. Skull nickte und fummelte hektisch an der Tür herum. Gleich darauf ließ er sich auf den Gehweg fallen.
Kea fuhr los.
Er rief ihr etwas nach, das garantiert kein freundlicher Abschiedsgruß war. Kea dachte nach. Die Polizei würde Theo längst identifiziert haben. Jeder Beamte auf St. Pauli kannte die Visage des Zuhälters. Und das Auto, in dem Kea gerade durch die Gegend fuhr, war offiziell auf Theo zugelassen. Die Polizei hatte es wahrscheinlich schon zur Fahndung ausgeschrieben.
Es war, als ob Kea durch diese Überlegung das Unglück heraufbeschworen hätte.
Plötzlich erschien ein Streifenwagen hinter ihr. Er schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Unwillkürlich gab Kea mehr Gas, aber dadurch wurden die Uniformierten hinter ihr nur noch aufmerksamer.
Schon schalteten sie Blinklicht und Sirene ein.
Kea verfluchte ihr Schicksal, während sie Vollgas gab. Sie war nur noch einen Häuserblock weit von Nubiks Nachtklub entfernt, die Erledigung ihrer Aufgabe war zum Greifen nahe. Stattdessen musste sie nun türmen, denn Kea wollte auf keinen Fall im Gefängnis landen.
Es war jetzt schon schlimm genug, dass sie ihre Tochter so selten sehen konnte.
Aber die Vorstellung, Suvi nur noch während der seltenen Knast-Besuchszeiten in den Armen halten zu können, war für sie unerträglich.
Die Erschöpfung war verflogen. Das Adrenalin pumpte durch Keas Körper. Mit radierenden Reifen raste der SUV um die nächste Ecke. Kea musste die Karre dringend loswerden. Es war gar nicht nötig, dass der Streifenwagen sie einholte. Die Polizisten konnten Verstärkung anfordern und sie einkreisen. Womöglich kam auch ein Hubschrauber zum Einsatz. Nein, der SUV war für sie verbrannt.
Kea raste mit Höchstgeschwindigkeit durch die Clemens-Schultz-Straße. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, damit ihr nicht ausgerechnet jetzt ein bierseliger Nachtschwärmer vor das Auto lief. Der Streifenwagen war immer noch hinter ihr, allerdings hatte sie durch ihre Kamikaze-Fahrweise den Abstand vergrößern können.
Ob ihre Verfolger schon wussten, mit wem sie es zu tun hatten?
Würde Dr. Skull auspacken, wenn er im Verhörraum saß?
Darüber konnte sie sich später den Kopf zerbrechen.
Kea überfuhr eine rote Ampel. Ein Taxifahrer musste eine Vollbremsung hinlegen, um nicht mit ihrem Wagen zu kollidieren. Kea schlug das Lenkrad ein und gelangte in die Rendsburger Straße. Zum Glück kannte sie sich in dem Amüsierviertel bestens aus. Sie stieg in die Eisen, öffnete die Tür und ließ den SUV stehen. Er hatte seinen Zweck erfüllt. Schnell zog Kea ihre Pumps aus, denn auf den hohen Absätzen konnte sie nun wirklich nicht sprinten.
Dann setzte sie ihre Flucht fort, mit den Schuhen in der einen und der Handtasche in der anderen Hand. Sie musste einen seltsamen Anblick bieten, wie sie Abendkleid durch die dreckigen Straßen rannte. Aber auf St. Pauli wunderten sich die Menschen allmählich über nichts mehr, das wusste sie aus Erfahrung.
Und dann fand sie das, was sie gesucht hatte: Einen Pulk von Feierwütigen, die allesamt schon reichlich Schlagseite hatten. Keiner von den Leuten nahm Anstoß daran, dass Kea sich unter sie mischte. Ein besseres Versteck gab es momentan für sie nicht.
Die sind so hackedicht, dass sie sowieso nichts mehr mitkriegen.
Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als auch schon der Streifenwagen um die Ecke bog.
Kea konnte nicht einschätzen, ob die Beamten sie gesehen hatten. Sie war nicht besonders groß, ohne Pumps maß sie nur 1,63 m. Die Jungs und Mädels der Partymeute überragten sie zum Teil erheblich.
Kea machte sich so klein wie möglich. Sie hörte, wie einer der Polizisten zu sprechen begann.
„Guten Abend, allgemeine Personenkontrolle. Haben Sie eine brünette Frau in einem dunklen Kleid gesehen?“
Diese Beschreibung passte zweifellos auf Kea - aber auf auf gefühlt tausend Nachtschwärmerinnen, die zwischen Millerntor und Hafenrand unterwegs waren. Wenn die Polizei keine genaueren Angaben machen konnte, sah ihr Pokerblatt gar nicht mal so schlecht aus. Denn nun geschah das, worauf Kea gehofft hatte: Die Saufköpfe begannen eine sinnlose Endlos-Diskussion mit den Uniformierten, wobei sich immer mehr Personen einmischten und schließlich alle wild durcheinander palaverten.
Die beiden Streifenbeamten hatten alle Hände voll damit zu tun, sich die Nervensägen vom Hals zu halten. Sie bemerkten nicht, dass sich Kea in eine Bar schlich und diese wenig später durch den Hinterausgang wieder verließ.
Sie gönnte sich einen Moment Ruhe, indem sie sich gegen eine Hauswand lehnte. Doch dann bemerkte sie voller Panik, dass über den Kränen am anderen Elbufer der Horizont bereits heller wurde. Schon bald würde die Sonne aufgehen.
Kea zog ihre Schuhe wieder an.
Sie griff in ihre Handtasche und benötigte nicht mehr als drei Minuten, um einen am Straßenrand parkenden BMW kurzzuschließen. Dann schwang sie sich auf den Fahrersitz und raste Richtung Nachtklub.
Sie hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war.
Da klingelte plötzlich das Blackberry.
„Ich war bisher zu nachsichtig.“
Nubik sagte diesen Satz zu sich selbst, während er sich in seinem Ankleidezimmer im Spiegel betrachtete. Sein durchtrainierter Körper wies kein Gramm überflüssiges Fett auf. Er investierte viel Zeit in seine Fitness, was seiner Meinung nach die einzig wirklich lohnende Ausgabe war.
Wenn sein Leib nicht mehr funktionierte, dann würde er in das schwarze Nichts stürzen. Ein Leben nach dem Tod war nach Nubiks Ansicht nur eine Vorstellung für Schwächlinge, die sich den Herausforderungen ihrer jetzigen Existenz nicht stellen wollten. Sie verkrochen sich wie Insekten in Bodenritzen und Ecken, um jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen.
Nubik hatte schon ein Auge verloren, das war schlimm genug. Er hasste es, dass sein Körper nicht mehr perfekt war. Immerhin verbreitete sein Glasauge Angst, und in dieser Funktion wusste er es zu schätzen.
Nubik ging hinüber in den Wohnsalon, wo Ed auf ihn wartete.
„Du fährst jetzt nach Bargteheide, dort gibt es einen Reiterhof. Da wohnt Suvi, das ist die kleine Tochter dieser Nutte Kea. Schnapp dir das Mädchen und warte auf weitere Anweisungen. Aber du sollst der Kleinen kein Haar krümmen, kapiert? Jedenfalls vorerst nicht. Lebend ist sie für uns wertvoller. Außerdem reagieren die Bullen allergisch auf Kindermord.“
Ed nickte.
„Das dürfte kein Problem sein, Boss.“
„Nimm dir trotzdem Alex mit“, befahl Nubik. „Du weißt nicht, mit wie vielen Erwachsenen du es dort zu tun haben willst. Das Mädchen wird ja nicht allein da leben.“
„Völlig logisch“, stimmte Ed zu. „Und was sollen wir mit den anderen Leuten machen?“
Nubik rollte ungeduldig mit seinem einen gesunden Auge.
„Wir können keine lebenden Zeugen gebrauchen. Am besten bringt ihr Suvi ins Versteck, da habe ich sie unter Kontrolle.“
„Wird gemacht, Boss. Suvi - was ist das überhaupt für ein Name?“
„Das muss dich nicht kratzen. Mach einfach, was ich dir gesagt habe. Ruf an, sobald ihr das Kind einkassiert habt.“
Ed senkte gehorsam den Kopf und ging hinaus. Nubik seufzte. Dieser Schläger war ein Idiot, aber als Mann fürs Grobe gut geeignet. Außerdem hatte er Nubik noch niemals Anlass dazu gegeben, an seiner Loyalität zu zweifeln. Und das war auf dem Kiez am Wichtigsten.
Nubik schaute aus dem Fenster. In spätestens einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen. Kea würde nun kapieren müssen, dass sie sich mit dem Falschen angelegt hatte. Der Nachtklubbesitzer stieg hinab in das Kellergeschoss des Gebäudes. Er holte einen Hanfstrick aus einer Werkzeugkammer und ging in den Raum, wo er René gefangen hielt.
Der Versager war eingedöst. Er schreckte auf, als Nubik die Neonröhre an der Decke einschaltete. Und der Anblick des Seils ließ René totenbleich werden.
„Du solltest nichts Unüberlegtes tun, Nubik“, stammelte er. Für diese Bemerkung fing René sich sofort eine schallende Ohrfeige ein.
„Das ist nicht meine Art“, gab Nubik ruhig zurück. „Und von einem Tagedieb wie dir muss ich mir sowieso nicht sagen lassen, was ich zu tun habe. Nun wirst du bald die Klappe halten, und zwar für immer.“
Nubik drehte René den Rücken zu. Der Raum verfügte über Stützbalken, die nicht vollständig mit der Zimmerdecke abschlossen. Nubik stieg auf einen Hocker und zog den Strick über eine der massiven Querstreben.
„Ich habe dir verraten, dass Kea eine Tochter hat!“, jammerte René.
„Das weiß ich, und Ed wird sich die Kleine jetzt krallen. Du kannst dich übrigens bei Kea dafür bedanken, dass ich dich hängen werde. Sie trödelt herum und gibt mir nicht das, was ich haben will. Wahrscheinlich hat sie momentan einen Kerl zwischen den Schenkeln und denkt schon gar nicht mehr an dich.“
„Das stimmt nicht, Kea liebt mich!“
Nubik ließ ein eiskaltes Lachen hören.
„Na, da ist aber jemand sehr von sich überzeugt. ‚Ich liebe dich‘ - das sind doch nur drei sinnlose Worte. Wenn Kea wirklich etwas für dich empfinden würde, dann wäre sie jetzt hier, um dich aus meiner Gefangenschaft zu befreien.“
Während Nubik sprach, knüpfte er aus dem einen Ende des Seils eine Schlinge. Er hasste Zeitverschwendung.
„Was kann ich tun, damit du mich am Leben lässt?“, fragte René mit zitternder Stimme.
„Nichts“, erwiderte Nubik schlicht. „Es ist von Vorteil gewesen, dass du mir von Suvi erzählt hast. Ich bin gespannt, ob Kea auch ihre Tochter so einfach sterben lässt. Bei diesen Huren weiß man nie, was ihnen wirklich wichtig ist.“
„Kea ist keine gewöhnliche Nutte!“, stieß René hervor.
Genau denselben Gedanken hatte Nubik auch schon gehabt. Aber das würde er diesem Loser gewiss nicht auf die Nase binden. Er zog an dem einen Ende des Seils und überprüfte die Festigkeit der Schlinge. Nein, sie würde sich nicht öffnen, wenn sie sich gleich um Renés Hals zusammenzog und sein sinnloses Leben beendete. Das war in Nubiks Augen eine gute Aussicht. Er mochte es, wenn die Dinge in seinem Sinn funktionierten.
„Gibt es vielleicht noch etwas, das du mir über Kea sagen möchtest, bevor du unsere Welt verlässt?“, fragte Nubik.
Renés Augen waren feucht. Seine Stimme war ganz hell geworden, wie die eines kleinen Jungen. Und er sprach so undeutlich, dass Nubik ihn kaum verstehen konnte.
„Nein, aber da ist noch etwas. Ein weiteres Geheimnis, vielleicht hat es mit der Tochter zu tun. Kea hat mir nicht verraten, wer Suvis Erzeuger ist.“
„Wahrscheinlich weiß sie es selbst nicht“, vermutete Nubik. „Weißt du, wie viele Nutten auf St. Pauli Kinder haben? Mehr, als du Idiot dir ausmalen kannst. Und jetzt habe ich wirklich genug von deinem Geseier. Hoch mit dir.“
Nubik trat auf René zu und wollte ihn zum Aufstehen bewegen. Aber der Gefangene machte sich schwer und begann zu zappeln.
„Neeeiiiin!“, kreischte er. „Hilfe! Man will mich ermorden!“
Nubik verpasste ihm einen Schwinger in die Magengrube, der René einstweilen den Atem raubte. Nubik warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
„Du warst dein ganzes Leben lang eine Memme. Willst du nicht wenigstens wie ein Mann sterben?“
René beantwortete Nubiks Frage nicht. Normalerweise wäre der Nachtklubbesitzer jetzt sauer geworden. Aber in diesem Moment machte er eine Ausnahme. René war ihm lange genug auf die Nerven gegangen. Nubik konnte nicht einschätzen, ob sein Tod Kea wirklich beeindrucken würde. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, aus denen er nicht schlau wurde. Eine Zeitlang war Nubik wirklich davon ausgegangen, dass sie ihm das Blackberry pünktlich bringen würde. Aber diese Einschätzung war ein Fehler gewesen. Er hatte ihren leeren Versprechungen geglaubt, und nun verachtete er sich selbst dafür.
Letztlich ist sie doch nur eine Nutte, die das Blaue vom Himmel herunter verspricht.
Tränen rannen über Renés Wangen. Er schluchzte hemmungslos vor sich hin, während Nubik ihn mit vorgehaltener Waffe dazu zwang, auf den Hocker zu steigen. Offenbar hatte er sich nun doch dafür entschieden, seine letzten Momente als Schwächling zu erleben. Dafür hatte Nubik nur Verachtung übrig. Und er schwor sich, dass ihm selbst Ähnliches niemals passieren würde.
Er legte die Schlinge um den Hals seines Gefangenen.
„Ich werde deine Leiche an einen hübschen öffentlichen Platz schaffen lassen, wo man sie sehr schnell findet“, kündigte Nubik an. „Dann können die Medientrottel vom Lokal-TV schön ihre Kameras draufhalten. Und selbst wenn Kea die Sendung verpassen sollte, wird sie es im Handumdrehen erfahren. Auf St. Pauli verbreiten sich Neuigkeiten sehr schnell, wie du wissen solltest.“
„Ich will nicht sterben“, wehklagte René.
Nubik machte sich dazu bereit, den Hocker wegzutreten.
Kea zögerte.
Die Zeit lief ihr davon. Konnte sie es sich wirklich leisten, jetzt einen Anruf entgegenzunehmen? Das Blackberry klingelte weiter, während sie in der Nähe von Nubiks Nachtklub einen Parkplatz suchte. Schließlich siegte ihre Neugier. Während sie den BMW zum Stehen brachte, drückte sie das Telefon gegen ihr Ohr.
„Ja?“
Einen Moment lang hörte sie nur schweres Atmen. Der Anrufer war offenbar überrascht davon, sie am Apparat zu haben. Kea wäre an seiner Stelle auch verblüfft gewesen. Das Blackberry gehörte schließlich dem Freier, der sich Manfred Müller nannte.
„Mit wem spreche ich?“, fragte der Anrufer. Die Männerstimme klang dunkel und rau, mit einem leichten osteuropäischen Akzent. Polen, Ukraine, Russland? Das konnte Kea nur schwer einschätzen, obwohl sie sich mit so etwas gut auskannte. Ihre Freier konnten sie belügen, was ihre Namen anging. Aber fast keiner schaffte es, seine Sprache zu tarnen. Dafür hatte sie ein sehr feines Ohr.
„Mit mir.“
„Eine Diebin mit Humor“, grollte der Kerl. „Wenn ich dir die Zunge abschneide, kannst du keinen dummen Sprüche mehr klopfen.“
„Dazu müsstest du mir Auge und Auge gegenübertreten, aber dafür hast du nicht die Eier. Du rufst Frauen lieber nachts an, oder?“
„Ich wusste nicht, dass mein Blackberry in den Händen eines weiblichen Langfingers ist.“
Mein Blackberry? Die Stimme gehörte keinesfalls zu dem Freier, der sich Manfred Müller genannt hatte. Aber dieser Typ war ohnehin nur ein Befehlsempfänger gewesen, für so etwas hatte Kea einen sechsten Sinn.
„Also willst du das Telefon wiederhaben?“
„Wenn du deine Zunge und dein Leben behalten willst, dann rückst du es wieder heraus.“
„Bedaure, aber ich habe schon einen anderen Abnehmer gefunden.“
Mit diesen Worten drückte Kea das Gespräch weg. Der Kerl rief gleich darauf erneut an, aber sie schaltete auf lautlos.
Was konnte der Typ schon machen? Solange er nicht unmittelbar vor ihr stand, musste sie sich nicht über ihn den Kopf zerbrechen. Nubik war es, auf den es ihr jetzt ankam. Er bedrohte Suvi, und das konnte Kea ihm unmöglich durchgehen lassen.
Vor dem Eingang zum Nachtklub lungerten einige Maulhelden herum, die vergeblich an den Türstehern vorbeizukommen versuchten. Mit Nubiks Männern legte man sich besser nicht an, wie Kea wusste. Aber diese Partyhelden hatten zu viel Schlagseite, um das zu kapieren.
Sie drängte sich zwischen ihnen hindurch und wandte sich direkt an Jamal. Der bullige Kerl mit dem rasierten Schädel hatte an der Tür das Sagen.
„Ich muss zu Nubik, er erwartet mich“, rief Kea, um die aus dem Klub dringende Musik zu übertönen. Jamal nickte und ließ sie vorbei. Er war kein Mann der großen Worte. Außerdem kannte er Kea.
Daraufhin protestierten die Wartenden erst recht. Kea hatte sie schon vergessen, als sie ins Innere der eleganten Lounge vordrang. Sie hatte weder Augen für die Stripperinnen auf den beiden Bühnen noch für die Männer, die in drei Reihen vor der Theke an ihrem Vollrausch arbeiteten. Kea fragte die vollbusige Barfrau nach ihrem Boss.
„Nubik ist vorhin in den Keller runtergestiegen“, rief sie Kea zu und deutete auf eine Stahltür mit der Aufschrift PERSONAL.
Kea ging hindurch. Dahinter war eine schmale Treppe, die nach unten führte. Sie rannte so schnell hinab, wie es ihr mit ihren hohen Schuhabsätzen möglich war. Im Kellergeschoss roch es nach Heizöl und billigem Fusel. Es gab zwei lange Korridore, die durch flackernde Neonröhren beleuchtet wurden.
Kea musste sich nicht fragen, wo sich Nubik aufhielt. Sie hörte ein verzweifelt klingendes Wimmern, das wahrscheinlich von René stammte. Sie lief auf den Raum zu, aus dem die Geräusche kamen und riss die Tür auf.
René stand auf einem Hocker, einen Strick um den Hals. Der Nachtklubbesitzer befand sich direkt neben ihm.
„Halt!“, rief sie mit gellender Stimme. Außerdem zog Kea das Blackberry hervor.
Nubiks Auge begann zu leuchten. Er streckte ihr seine Rechte entgegen.
„Gib es mir!“
„Erst löst du die Schlinge von Renés Hals.“
Kea gab sich cool. Sie hoffte, dass Nubik von ihrer Anspannung nichts mitbekam. Sie war hier schließlich in der Höhle des Löwen. Falls sich der Nachtklubbesitzer nicht an die Abmachung hielt, würden weder sie noch René das Gebäude lebend verlassen.
Nubik grinste.
„Wer kann schon widerstehen, wenn er von einer schönen Frau so nett gebeten wird?“, sagte er. Dann ließ er den Strick los, nahm die Schlinge ab und half René vom Hocker herunter.
Kea drückte ihm das Blackberry in die Hand. Nubik schaute es sich genau an.
„Ja, es ist das Richtige. Du hast mich nicht gelinkt“, sagte er.
„Ich habe dir ja gesagt, dass du es bekommst. Theo musste ins Gras beißen, als wir es zurückgeholt haben. Ich hoffe, die Sache war es wert.“
„Das geht dich nichts an“, erwiderte Nubik. „Und nun verschwindet, bevor ich meine gute Laune wieder verliere.“
Kea konnte Nubik anmerken, dass er sich jetzt nur noch mit dem Smartphone beschäftigen wollte. Das konnte ihr nur recht sein. Typen wie Nubik ging man nach Keas Erfahrung am besten aus dem Weg.
Jedenfalls dann, wenn man sie nicht einfach umlegen konnte.
Renés Gesicht war aschfahl. Oder lag das nur an dem fahlen Licht der Neonröhren? In den wenigen Tagen, seit Kea ihn zum letzten Mal gesehen hatte, schien er um zehn Jahre gealtert zu sein. Steifbeinig tappte er neben ihr her, als sie Richtung Kellertreppe ging. Dabei schüttelte er unaufhörlich den Kopf.
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass Nubik mich einfach gehen lässt“, murmelte er. Darauf erwiderte Kea nichts. René folgte ihr wie ein treuer Hund. Sie bahnten sich einen Weg durch die Feiernden im Nachtklub und standen schließlich vor dem BMW. René hob überrascht die Augenbrauen.
„Seit wann fährst du denn so ein eine Nobelkarosse?“
„Seit ich Theos Karre auf der Flucht vor den Bullen stehenlassen musste.“
Darauf erwiderte René zunächst nichts. Er stieg auf der Beifahrerseite ein, Kea brauste los.
„Bist du irgendwie sauer auf mich?“, fragte René. Kea schnaubte ironisch.
„Theo wurde wegen dir abgeknallt, du Weichei. Ich habe Kopf und Kragen riskiert, um dich rauszuhauen. Und du bedankst dich noch nicht mal bei mir.“
René ließ dieses jungenhafte Grinsen sehen, das bei den meisten Frauen so gut ankam. Auch Kea war mehr als einmal darauf reingefallen.
„Sorry, aber ich bin immer noch völlig durch den Wind. Du hast ja selbst gesehen, dass dieser Irre mich beinahe aufgehängt hätte. Also, ich danke dir von Herzen und werde mich erkenntlich zeigen.“
Mit diesen Worten legte René seine Hand auf Keas Knie, aber sie stieß ihn weg.
„Lass‘ den Unsinn! - Wie willst du dich denn erkenntlich zeigen, wie du es nennst? Du hast doch nie Kohle.“
René lächelte erneut.
„Das nicht, aber ich könnte dich wieder mal vögeln.“
„Mein Bedarf ist gedeckt, so toll ist es mit dir nun auch wieder nicht.“
„Ich glaube, du bist wirklich böse auf mich. - Wohin fahren wir eigentlich?“
Kea hatte den BMW Richtung Deichtorhallen gelenkt. Sie hielt nun mitten auf der Oberhafenbrücke. Nachts war dieser Teil des Hafens wie ausgestorben. Dabei befanden sie sich nur wenige Kilometer vom pulsierenden Nachtleben der Reeperbahn entfernt.
Kea zog ihre Glock und richtete sie auf René. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Hey, was ist los? Drehst du jetzt völlig am Rad?“
Kea ging nicht auf seinen Spruch ein. Es war, als ob sie mit sich selbst reden würde.
„Du bist ein Nichtsnutz, der nichts auf die Kette kriegt. Okay, im Bett war es ganz schön mit dir, und du kannst auch charmant und witzig sein. Aber das ist mir zu wenig. Ich weiß, dass ich für dich nur eine Nutte bin, darüber mache ich mir keine Illusionen. Du hast allerdings etwas Unverzeihliches getan.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Kea.“
„Nubik weiß von meiner Tochter, und diese Information kann er nur von dir haben. Ich muss verrückt gewesen sein, mich dir zu öffnen. Wenn Suvi auch nur das Geringste passiert, dann blase ich dir das Hirn weg. Du hast mich unglaublich enttäuscht. Und nun raus mit dir!“
„Hör zu, ich kann alles erklär ...“
René konnte den Satz nicht beenden, denn Kea schlug mit dem Pistolengriff auf seine Nase. Er jaulte auf, als das Blut heraus spritzte. Sie stieg nun ihrerseits aus, umrundete den Wagen und riss die Beifahrertür auf.
Kea packte René am Kragen und zerrte ihn aus dem Auto. Er war zu feige, um sich zu wehren. Außerdem hatte sie eine gewaltige Wut im Bauch, die ihr zusätzliche Kräfte verlieh. So kam es, dass sie ihn ohne nennenswerten Widerstand über das Brückengeländer befördern konnte.
René landete mit einem lauten Platschen in der nächtlich-dunklen Elbe.
„Da müsste sich eine Hafenratte wie du doch wohlfühlen!“, rief sie ihm mit gellender Stimme nach.
Kea wurde plötzlich von einer bleiernen Erschöpfung und Müdigkeit übermannt, als sie wieder in dem BMW saß. Aber das durfte nicht sein, sie hatte noch Einiges vor. Vielleicht war Lars inzwischen mit der Dateienentschlüsselung weitergekommen. Dann würde sich womöglich zeigen, wer dieser Typ war, dem das Blackberry gehörte und der ihr gedroht hatte. Aber dieses Problem war sie jetzt los, damit konnte sich Nubik herumärgern.
Kea kam sich im Nachhinein naiv und gutgläubig vor, weil sie für einen Dreckskerl wie René so viel riskiert hatte. Über den Tod von Theo würde sie hinwegkommen. Dennoch stand sie momentan ohne Renè und Theo ziemlich allein da.
Wie es wohl Suvi ging? Kea beschloss, ihre Tochter möglichst bald zu besuchen. Aber nicht um fünf Uhr morgens. Das Kind würde sich ängstigen, wenn sie zu so früher Morgenstunde auf dem Reiterhof aufkreuzte. Normale Menschen hatten ein normales Leben mit einem normalen Tag-und-Nacht-Rhythmus, das musste sie sich immer wieder vor Augen führen. Das Leben im Amüsierviertel hatte inzwischen seine Spuren bei ihr hinterlassen.
Kea musste dringend nach Hause, sich umziehen und zurechtmachen. Momentan sah sie aus wie eine Sumpfeule, wie ihr nach einem Blick in den Rückspiegel klar wurde. Außerdem hatte sie sich fest vorgenommen, niemals in einem so nuttigen Outfit bei Suvis Pflegemutter aufzukreuzen. Lena sollte es nicht bereuen, dass sie sich um das Kind kümmerte und nicht allzu viele Fragen stellte.
Aber zuvor wollte sich Kea noch etwas Stoff gönnen. Sie fand, dass sie nach dieser Nacht ein wenig Koks redlich verdient hatte. Nicht viel - nur genug, um wieder fit zu werden und die Anforderungen der nächsten Stunden meistern zu können.
Kea zögerte. Sie hatte jetzt schon so lange ohne Rausch durchgehalten. Würde sie es nicht weiterhin schaffen?
Einmal ist kein Mal, sagte sie sich. Dann rief sie Josch an. Der Dealer meldete sich nach dem dritten Klingeln.
„Kea, Süße. Ich hab lange nichts mehr von dir gehört. Dachte schon, du wärst gar nicht mehr in Hamburg.“
„Lassen wir das Vorspiel heute mal weg, okay? Kann ich dich besuchen? Du hast doch bestimmt etwas da?“
„Für dich immer. Komm rüber, ich freue mich auf dich.“
Das ließ sich Kea nicht zweimal sagen. Die Vorfreude ließ das Blut schneller durch ihre Adern fließen. Eigentlich war es doch eine gute Idee, sich gelegentlich ein wenig Spaß zu gönnen. Ihr Alltag war anstrengend und gefährlich genug. Wenn sie es nun schaffte, ihren Konsum in engen Grenzen zu halten? Warum sollte das nicht möglich sein? Andere Leute kriegten das doch auch auf die Reihe.
Kea fantasierte bereits über das weiße Pulver, während sie zu Joschs Wohnung in der Seilerstraße fuhr. Er lebte mitten auf dem Kiez. Als einer der intelligenteren Dealer hatte Josch es stets verstanden, sich vom Drogenelend auf der Straße fernzuhalten. Soweit Kea wusste, hatte die Polizei ihn nicht auf ihrem Radar. Daher konnte er es sich auch leisten, seinen Stoff in seiner Wohnung aufzubewahren.
Keas Herz klopfte laut, als sie bei ihm klingelte. Josch begrüßte sie mit einem charmanten Lächeln. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Kommen wir gleich zum Geschäft“, sagte sie und legte Geld auf den Couchtisch.
„Da hat es aber jemand eilig“, feixte Josch. „Mach es dir schon mal auf meinem Sofa bequem.“
Er verschwand im Nebenraum und kehrte gleich darauf mit einem Kokain-Briefchen zurück. Außerdem gab er Kea einen Handspiegel.
„Ich nehme an, dass du es dir sofort einpfeifen willst.“
„Gut erkannt, Josch.“
Kea arrangierte das weiße Pulver mit Hilfe einer Rasierklinge auf dem Spiegel. Dann griff sie zu ihrem Schnief-Röhrchen, das so lange unbeachtet in ihrer Handtasche geblieben war. Sollte sie es wirklich tun?
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, sagte Kea sich. Heute schien für sie ein Tag der Binsenweisheiten zu sein. Aber das war nicht wichtig, nicht in diesem Moment. Für sie zählte jetzt nur noch der Stoff. Sie wollte keinen Rückzieher mehr machen.
Kea schloss die Augen und zog genießerisch die Line in ihre Nase. Es war ein Gefühl wie Heimkommen.
Doch etwas stimmte nicht. Was sie sich gerade in ihren Körper geballert hatte, konnte kein Koks sein. Kea kannte die Wirkung von Kokain noch sehr genau, auch wenn sie schon länger clean geblieben war.
Es fehlte die Power der Koka-Pflanze. Stattdessen fühlte sich Kea, als ob sie in einen See mit warmem Wasser gleiten würde. Sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. Bleischwere Gewichte schienen auf ihren Lidern zu lasten. Sie richtete ihren Blick auf Josch und bemerkte dessen hämisches Grinsen.
„Du Dreckskerl, was hast du mir untergejubelt?“, krächzte sie.
„Ich soll dir einen schönen Gruß von Nubik ausrichten.“
Diesen Satz des Dealers hörte Kea noch, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Nubik war zufrieden. So wie jedes Mal, wenn er die Entwicklungen richtig eingeschätzt hatte.
Es gab keinen Dealer auf St. Pauli, der sich den mächtigen Nachtklubbesitzer gern zum Feind gemacht hätte. Schon gar nicht wegen einer kleinen Nutte wie Kea. Also hatte Nubik alle Kerle angerufen, die im Rauschgiftgeschäft waren. Er wusste, dass Kea auf Koks stand. Wenn sie als Kundin aufkreuzte, sollten die Dealer ihr stattdessen eine Chemo-Droge unterjubeln, die sie ausknockte.
Nubik hatte nicht lange warten müssen, bis die Erfolgsmeldung von einem Typen kam, der sich Josch nannte.
„Gut gemacht“, lobte der Nachtklubbesitzer. „Ich schicke dir ein paar Boys vorbei, um die Hure wegzuschaffen. Die bringen dir dann auch gleich deine Belohnung mit.“
Nubik beauftragte Lenny und Kurt mit dem Job.
„Ihr schafft die Kleine in Sharifs Teppichlager“, befahl Nubik. „Da kann sie auch tagsüber so viel schreien wie sie will. Und wenn wir mit ihr fertig sind, dann können wir sie einfach im Fleet entsorgen.“
Lenny grinste lüstern.
„Dürfen wir uns mit ihr vergnügen, Boss?“
„Sicher, ich bin ja kein Unmensch. Aber ich will noch mit ihr reden, bevor sie ihre allerletzte Reise antritt.“
„Das kriegen wir hin.“
Die beiden Schläger machten sich aus dem Staub. Nubik fühlte beinahe einen Anflug von Bedauern. Bisher hatte sich Kea als eine würdige Gegnerin erwiesen, aber der Kokainkauf war ein schwerer Fehler gewesen. Sie würde ihn mit dem Leben bezahlen müssen.
Und was sollte mit dem Kind geschehen?
Bisher hatte Nubik noch nichts von seinen Leuten gehört, die auf dem Weg zum Reiterhof waren. Er rief Ed an.
„Wie sieht es aus?“, fragte Nubik.
„Wir haben uns in der Nähe der Ställe postiert“, berichtete der Handlanger. „Die Göre wohnt wirklich auf dem Hof. Momentan kommen wir noch nicht an sie heran. Es gibt zu viele Zeugen.“
„Wieso das denn? Muss das Mädchen nicht irgendwann zur Schule?“
„Nee, momentan sind Ferien. Ich hab das im Internet gecheckt. Der Reiterhof bietet momentan Schnupper-Reitstunden an. Hier sind unheimlich viele Eltern mit ihren Blagen, die unbedingt mal auf einem Pferderücken sitzen wollen.“
Nubik überlegte. Wozu sollte es jetzt überhaupt noch gut sein, die Tochter zu kidnappen? Schließlich war das Blackberry bereits in seinem Besitz. Aber andererseits konnte es nie schaden, ein Druckmittel zu haben. Nubik führte sich vor Augen, dass Kea noch ein anderes Geheimnis zu bewahren schien. Womöglich eine Sache, aus der sich Kapital schlagen ließ. Und sie würde gewiss auspacken, wenn Ed und Alex das kleine Mädchen in ihrer Gewalt hatten.
„Okay, dann wartet ab. Entführt die Tochter, sobald es risikolos möglich ist. Irgendwann werden die Reitstunden ja vorbei sein.“
„Alles klar, Boss“, erwiderte Ed und beendete das Telefonat.
Plötzlich klingelte das Blackberry.
Damit hatte Nubik nicht gerechnet. Wer rief an? Es gab nicht viele Möglichkeiten. Entweder war Dragow oder einer seiner Leute am Apparat. Andererseits konnte sich auch jemand melden, der etwas von Dragow wollte. Es wäre cleverer gewesen, das Gespräch nicht anzunehmen. Aber Nubiks Neugier siegte.
„Hallo?“
Der Anrufer zögerte nur eine Sekunde, bevor er sich meldete.
„Wo ist das Weibsstück?“
Der Akzent war Russisch oder Polnisch, da wollte sich Nubik nicht festlegen. Ob Dragow persönlich am Apparat war? Der Nachtklubbesitzer hatte noch niemals mit dem Oligarchen zu tun gehabt. Nubik hielt es aber für unwahrscheinlich, dass sich Dragow selbst mit solchen Angelegenheiten befasste.
Oder?
Ihm wurde bewusst, dass er nun besser reagieren sollte.
„Ich weiß nicht, welches Weibsstück Sie meinen. Jetzt reden Sie mit mir.“
„Das weiß ich, Nubik. Und ich will mein Eigentum zurück.“
Der Andere kannte also seinen Namen. Das war nicht gut. Woher wusste der Anrufer, dass sich das Blackberry jetzt in Nubiks Besitz befand? Darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
Der Andere lachte, aber er klang nicht amüsiert.
„Sie und ich sind Geschäftsmänner, wir sollten diese Spielchen lassen. Das Blackberry, mit dem Sie gerade telefonieren, gehört mir.“
„Ist es Ihnen abhanden gekommen? Dann gehen Sie doch zur Polizei und geben eine Diebstahlanzeige auf.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann antwortete der Fremde.
„Sie wollen es also auf die harte Tour. Das lässt sich arrangieren.“
Das Telefonat war beendet.
Nubik zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Dragow war kein Mann der leeren Drohungen. Aber was für einen Beweis gab es dafür, dass er überhaupt mit dem Oligarchen gesprochen hatte? Nubik konnte nicht einschätzen, wie viele Leute insgesamt von der Existenz dieses Blackberrys wussten.
Er beschloss, mehr Informationen über Dragow zu sammeln. Ansonsten wollte Nubik die Dateien auf dem Smartphone so schnell wie möglich dechiffrieren lassen. Doch fünf Minuten später wurden seine Pläne schon wieder über den Haufen geworfen.
Vor dem Nachtklub brach nämlich die Hölle los!
Kea hatte gewaltiges Schädelbrummen.
Sie öffnete die Augen und drehte langsam den Kopf nach links und rechts. Kea lag auf einem weichen Perserteppich. Das war allerdings auch das einzig Angenehme an ihrer Lage. Offenbar befand sie sich in einem Teppichlager, denn sie erblickte Stapel von Auslegware aller Art in dem hohen Raum.
Wo war ihre Handtasche?
Kea konnte sie nirgendwo entdecken. Sie richtete sich in eine sitzende Position auf, was einen neuen Kopfschmerzschub zur Folge hatte. Aber nach einigen tiefen Atemzügen fühlte sie sich besser.
In der Tasche befanden sich ihr Smartphone und ihre Pistole. Alle anderen Gegenstände waren momentan unwichtig. Jedenfalls würde sie sich wohl nicht mit Hilfe eines Lippenstifts oder einer Puderdose aus ihrer Gefangenschaft befreien können. Kea war überzeugt davon, dass man sie hier eingesperrt hatte. Und sie wusste auch, wer dafür verantwortlich war.
Nubik!
Sie hätte wissen müssen, dass er sich nicht mit dem verflixten Blackberry zufriedengeben würde. Nubik war kein Mann, mit dem man sich ungestraft anlegte. Hatte sie ihn zu sehr gereizt? War sie nicht devot genug gewesen? Kea wusste genau, dass diese Fragen nicht beantwortet werden konnten. Es gab kein Patentrezept dafür, wie sie mit einem solchen Feind umgehen musste.
Sie hatte ihr Bestes gegeben und versagt.
Keas Magen drehte sich um, als sie an ihre Tochter dachte.
Ob Nubik sich schon Suvi gegriffen hatte? Was würde so ein Psycho mit einem wehrlosen kleinen Mädchen anstellen?
Die Droge in Keas Körper tat immer noch ihre Wirkung. Am liebsten hätte sie sich wieder auf den Teppich gelegt, um sich so richtig auszuschlafen. Aber Kea kämpfte gegen diesen Wunsch an. Sie musste sich vergewissern, dass es ihrer Tochter gut ging. Wenn Suvi etwas zustieß, würde sie sich das niemals verzeihen!
Kea hasste sich für ihre Schwäche. Wenn sie nicht zu diesem Dealer gegangen wäre, dann könnte sie jetzt frei herumlaufen und nach Bargteheide fahren. Sie würde dem Pferdehof einen Besuch abstatten und ihr Kind endlich wieder in die Arme schließen.
Kea erhob sich und ging zum Fenster. Ihre Knie waren butterweich, sie torkelte und taumelte. Doch allmählich kam ihr Kreislauf wieder in Schwung. Sie schwor sich, diesmal endgültig die Finger von den Drogen zu lassen. Einen großen starken Kaffee hätte sie allerdings gern gehabt. Einen Kaffee und ein Franzbrötchen. Allein dieser Gedanke ließ ihren Magen laut knurren. Kea wusste nicht, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute aus einem der hohen Fenster. Inzwischen war es heller Tag. Da Kea keine Uhr hatte, konnte sie die Zeit nur schwer abschätzen. Sie befand sich jedenfalls mitten in der historischen Speicherstadt Hamburgs.
„Hallo? Hört mich jemand?“, rief sie.
Obwohl Kea möglichst laut zu schreien versuchte, kam ihre Stimme ihr selbst so leise wie das Piepsen einer Maus vor. Wann wohl die Wirkung dieser verflixten Droge nachlassen würde?
In einigen Speicherhäusern befanden sich Werbeagenturen und andere Medien-Unternehmen. Doch viele Gebäude dienten nach wie vor Lagerzwecken. Und wenn es weit und breit kein menschliches Wesen gab, konnte sie auch keine Hilfe erwarten. Die Teppiche würden ihr wohl kaum beistehen können.
Immerhin ließ sich das Fenster öffnen.
Ob Kea nach draußen steigen sollte? Sie war im dritten oder vierten Stockwerk. Für einen erfahrenen Fassadenkletterer wäre es kein Problem gewesen, auf diese Weise zu entkommen. Aber in ihrem momentanen Zustand traute Kea ihrem eigenen Körper nicht. Sie war so geschwächt, dass sie sich auf keinen Fall an einer Hauswand hinab hangeln konnte.
Vom Kämpfen ganz zu schweigen.
Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als am anderen Ende des langgestreckten Lagerraum eine Tür geöffnet wurde. Zwei Muskelprotze betraten den Raum. Kea kannte sie nicht, aber sie standen garantiert auf Nubiks Lohnliste.
„Seid ihr hier die Teppichklopfer? Wird auch Zeit, dass ihr kommt. Diese Perser haben etwas Staub angesetzt.“
Einer der Kerle grinste seinen Kumpel an.
„Eine Komikerin, Kurt. Was sagt man dazu?“
„Der wird das Lachen noch vergehen, wenn wir sie kräftig durchnehmen, Lenny.“
Natürlich hatte Kea kapiert, dass es hart auf hart gehen würde. Und sie machte sich keine Illusionen über die Absichten dieses Duos. Sie hatte auf St. Pauli schon genügend Lüstlinge kennengelernt. Kurt und Lenny würden über sie herfallen. Und es gab niemanden, der sie daran hindern konnte.
Noch nicht einmal Kea selbst.
Momentan blieb ihr nichts anderes übrig als Zeit zu gewinnen und sich einen Fluchtplan zu überlegen. Leider fiel ihr nichts Zündendes ein. Die beiden Männer kamen langsam näher. Wenigstens hatten sie die Tür hinter sich nur angelehnt gelassen. Aber Kea musste an ihnen vorbei, um entkommen zu können. Und in ihrer aktuellen Verfassung war sie dafür einfach nicht schnell genug.
Sie verzog ihren Mund zu einem falschen Lächeln.
„Hört mal, ich bin Profi. Ich kann es euch besorgen, dass euch Hören und Sehen vergeht. Ihr müsst keine Gewalt anwenden, wir können auf jeden Fall einen Dreier machen.“
Kurt ließ ein böses Grinsen sehen.
„Was du nicht sagst. Vielleicht wollen wir dir aber wehtun.“
„Weil Herr Nubik es uns nämlich erlaubt hat“, ergänzte Lenny.
Kea hasste die Kerle jetzt schon, obwohl sie von ihnen noch nicht einmal mit der Fingerspitze berührt worden war. Noch größer war allerdings ihre Selbstverachtung, weil sie sich von Josch hatte austricksen lassen. Im Normalfall wäre sie zu einem Überraschungsangriff übergegangen und hätte zumindest einem der Männer mit ihrem Schuhabsatz den Schädel eingeschlagen. Daraufhin wäre dessen Kumpel so geschockt gewesen, dass sie ihn ebenfalls hätte erledigen können.
Soweit die Theorie.
Momentan fühlte sie sich wie eine lahme Ente. Kea wusste genau, dass sie viel zu schlapp für so eine Attacke war.
Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie hatte in den vergangenen Jahren etliche Freier gehabt, von denen einige nicht gerade sanft mit ihr umgesprungen waren. Aber eine Vergewaltigung gehörte nicht zu ihren Erfahrungen.
Bisher.
Kurt wandte sich an Lenny.
„Willst du zuerst?“
Der zuckte der Schultern.
„Warum nicht beide gleichzeitig?“, fragte er lachend zurück und streckte seine Rechte nach Kea aus.
In diesem Moment ertönten zweimal kurz hintereinander zwei Geräusche, die wie das Ploppen von Sektkorken klangen. Das Blut spritzte fast bis zu Kea hin, als die beiden Schläger durch Kopfschüsse aus einer schallgedämpften Waffe erledigt wurden.
Sie waren schon tot, als sie auf die teuren Perserteppiche sanken.
Kea stieß erleichtert die Luft aus ihren Lungen. Dann lächelte sie dem Mann zu, der sich ihr mit einer Pistole in der Hand näherte.
„Das nennt man wohl Rettung im letzten Moment, Oberleutnant“, sagte sie auf Estnisch.
„Es war mir ein Vergnügen, Leutnant“, erwiderte der Schütze in derselben Sprache.
Die Männer mit den Sturmhauben richteten ein Blutbad an.
Sie waren mit zwei dunklen SUVs direkt bis vor Nubiks Nachtklub gefahren. Dann stiegen sie aus und eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer aus Automatikwaffen. Ihre Kugeln mähten sowohl die Türsteher als auch Wartende in der Menschentraube vor dem Eingang nieder.
Schlagartig war alles voller Blut.
Frauen und Männer schrien um Hilfe, die Verwundeten versuchten in Deckung zu kriechen. Und wer sich nicht mehr rührte, für den kam ohnehin jede Hilfe zu spät. Der Spuk dauerte keine Minute, dann fuhren die schweren Wagen mit radierenden Reifen wieder los. Und ließen ein fürchterliches Chaos zurück.
Nubik war alarmiert. Seine Sorge galt allerdings nicht den Toten und Verletzten, sondern ausschließlich sich selbst.
Für ihn stand fest, dass der Feuerüberfall eine Warnung darstellen sollte. Jemand wollte um jeden Preis das Blackberry haben. Würde Nubik das nächste Opfer werden?
Dazu sollte es nicht kommen, wenn es nach ihm ging.
Nubik befand sich momentan in seinem fensterlosen Büro, das einem großen safe room glich. Die beiden stählernen Zugangstüren ließen sich von außen nicht öffnen, außer durch eine massive Sprengladung. Es wäre einfacher gewesen die Mauer zu zerstören. Aber Nubik war bis an die Zähne bewaffnet. Er hätte Dutzende von Eindringlingen töten können, bevor er überwältigt werden konnte. Von der Gasmaske bis zu einer Kiste voller Handgranaten und einer Maschinenpistole hatte er alles bei sich, was er für eine erfolgreiche Verteidigung benötigte.
Doch ein Mann wie er verkroch sich nicht vor seinen Feinden. Es gab Zeiten, wo ein Rückzug sinnvoll war. Jetzt aber bestand die einzig sinnvolle Aktion in einem Gegenangriff.
Wenn Nubik die Codes des Blackberrys knacken ließ, war das in seinen Augen die beste Antwort auf den Einschüchterungsversuch seines unbekannten Widersachers. Denn noch konnte Nubik nicht sicher sein, ob er es wirklich mit Dragow zu tun hatte. Es mochte ganz andere Kräfte geben, die hinter dem Smartphone her waren. Im Grunde spielte es für Nubik keine Rolle, gegen wen er antrat.
Nur das Ergebnis zählte.
Gregor, Nubiks Nachtklubmanager, rief ihn an. Mit vor Panik bebender Stimme berichtete er, was Nubik auf den Monitoren seiner Überwachungskameras bereits gesehen hatte.
„Was sollen wir nur tun, Boss? Die Gäste flüchten durch die Notausgänge, die Bullen werden schon bald hier sein.“
„Du stellst dich dumm, das wird dir ja nicht schwer fallen“, fauchte Nubik. „Ansonsten sagst du der Polizei die Wahrheit - nämlich, dass du die Angreifer gar nicht kennst. Wir haben mit niemandem Ärger, womöglich sind wir das Zufallsopfer von Terroristen geworden. Ja, das ist gut. Wenn die Bullen diesen Köder schlucken, sind wir sie erst mal los.“
„Dann weißt du also, wer das getan hat? Drei unserer Leute sind tot“, sagte Gregor mit Grabesstimme.
„Ich komme für ihre Beerdigungskosten auf, also heul nicht“, gab Nubik grob zurück. „Ich muss weg, habe was zu erledigen. Wenn die Polizei nach mir fragt - du hast mich seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Verstanden?“
„Ja, Boss“, murmelte Gregor.
Nubik beendete das Gespräch. Sein Nachtklubmanager war in seinen Augen ein Weichling. Aber Gregor sah vertrauenerweckend aus und hatte keine Vorstrafen auf dem Kerbholz. Einen Mann wie ihn konnte man gut vorschicken, um mit den Konkurrenten zu verhandeln oder sich bei den Behörden Liebkind zu machen. Nubik achtete darauf, dass er regelmäßig hohe Summen für soziale Projekte spendete. So machte man sich auf dem Kiez Freunde. Dabei trat er allerdings nicht selbst in Erscheinung.
Nubik wusste, dass er kein Sympathieträger war. Die Menschen fürchteten sich vor ihm.
Und das war auch gut so.
Der Nachtklubbesitzer verließ sein Refugium durch den privaten Notausgang. Er führte hinab in den Keller. Nubiks Laden befand sich in einem der wenigen St.-Pauli-Häuser, die im Zweiten Weltkrieg von den Bomben unbeschädigt geblieben waren.
Damals hatte man in vielen Hamburger Häusern zwischen den Kellern von benachbarten Gebäuden Durchbrüche gemacht, damit die Bewohner bei Luftangriffen einen weiteren Fluchtweg hatten.
Jetzt nutzte Nubik diese Möglichkeit, um seinen Nachtklub zu verlassen. Er schlich durch drei Nachbarhäuser, bis er schließlich aus einem Eckgebäude auf die Straße trat. Nubik konnte sich lebhaft vorstellen, dass seine Widersacher die Eingänge zu seinem Klub im Auge behielten.
Momentan rückten Feuerwehr und Polizei an, das Gellen der Sirenen und die Panik der fliehenden Gäste sorgten für ein heilloses Chaos. Nubik musste sich einfach nur unter die Leute mischen, die in Scharen vom Ort des Feuerüberfalls flohen. Aus der Entfernung konnte er die Leichen und das Blut sehen.
Das Schicksal der Opfer war Nubik gleichgültig. Für ihn zählte nur, dass er selbst mit heiler Haut davongekommen war. Er eilte durch einige Seitenstraßen, bis er sich auf der Reeperbahn ein Taxi heranwinkte.
Er nannte eine Adresse und lehnte sich in den Polstern zurück.
Nubik war von dem Taxler erkannt worden, das bemerkte er an dessen respektvollem und ängstlichem Verhalten.
Der Mann, zu dem Nubik nun wollte, hatte schon vor kurzem seine Loyalität bewiesen. Nubik beschloss, dass er ihm nützlich sein konnte. Als das Taxi wenig später am Bestimmungsort eintraf, gab Nubik dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld.
„Du vergisst, wohin du mich gefahren hast“, befahl er.
Der Mann nickte furchtsam. Nubik zweifelte nicht daran, dass er dichthalten würde.
Er klingelte an einer Wohnungstür. Gleich darauf wurde ihm geöffnet.
„Es ist mir eine Ehre, Herr Nubik“, sagte Lars. „Treten Sie doch bitte näher.“
„Sie können sich auf ein gewaltiges Donnerwetter einstellen“, mutmaßte der KAPO-Oberleutnant, während er Kea aus dem Warenspeicher brachte und in seinen Mercedes einsteigen ließ. „Der Hauptmann ist stinksauer, weil Sie rückfällig geworden sind.“
Kea wusste natürlich, dass eine Agentin des Kaitsepoliseiamet, des estnischen Geheimdienstes, eigentlich keine Drogen nehmen sollte. Aber das sagte sich so leicht! Ihre Undercover-Rolle als Hamburger Prostituierte war oft nur schwer zu ertragen. Gewiss, sie hatte Rückendeckung durch ihre Kollegen, die allerdings nur im absoluten Notfall eingriffen. Normalerweise wurde von einem weiblichen KAPO-Leutnant erwartet, dass sie sich selbst aus misslichen Lagen befreite. Immerhin hatte Kea einen Computerchip implantiert, so dass die KAPO-Führung stets wusste, wo sie sich gerade befand.
Aber die Kollegen hielten sich meist zurück, um Kea nicht auffliegen zu lassen.
„Es wird nicht wieder vorkommen“, sagte sie mit metallisch klingender Stimme. „Ich bin etwas durch den Wind.“
„Erklären Sie das dem Alten“, gab der Oberleutnant ungerührt zurück.
Kea erwiderte nichts, sondern checkte ihre Glock. Die Handtasche mitsamt Inhalt war in einem Nebenraum des Teppichlagers aufbewahrt worden. Kea hatte sie wieder an sich genommen, bevor sie gemeinsam mit ihrem Kollegen verschwunden war.
„Warum ist dieses Blackberry eigentlich so wichtig?“, fragte Kea.
„Das wird der Hauptmann Ihnen ebenfalls erklären“, lautete die Antwort.
Der Mercedes überquerte die Elbe. Der Oberleutnant steuerte mitten im Hafengebiet eine unscheinbare Frühstücksgaststätte an, die in einer Baracke untergebracht war. Der Gastraum des schäbigen Lokals war beinahe leer, nur einige Arbeiter hockten in einer Ecke und diskutierten lautstark über den HSV.
Sie quittierten Keas Erscheinen mit lauten Pfiffen, aber das war sie gewöhnt. Ihr Magen reagierte mit lautem Knurren auf den Anblick der belegten Brötchen in der Glasvitrine. Ihr Begleiter gestattete sich ein ganz undienstliches Grinsen.
„Gehen Sie schon mal ins Hinterzimmer, Sie werden erwartet. Ich bringe Ihnen ein Frühstück mit.“
Das ließ sich Kea nicht zweimal sagen.
In dem kleinen Raum, der mit Sammeltellern geschmückt war, saß ihr Vorgesetzter. Der Hauptmann wirkte auf den ersten Blick wie ein harmloser Rentner. Aber Kea wusste, dass er während seiner eigenen aktiven Agententätigkeit zu Zeiten der UdSSR von seinen Gegnern bei der CIA sehr gefürchtet worden war.
Sie war unschlüssig, ob sie salutieren sollte. Aber das kam Kea angesichts ihrer Aufmachung unpassend vor. Sie war schließlich nicht in Uniform. Also nickte sie ihm einfach zu.
Das Gesicht des Hauptmanns glich einer steinernen Maske.
„Sie haben auf der ganzen Linie versagt.“
„Lassen Sie mich erklären ...“, begann Kea, aber ihr Vorgesetzter schnitt ihr das Wort ab.
„Sie sollten von diesem Manfred Müller ein Blackberry entwenden und behalten. Es war keine Rede davon, es an einen windigen Nachtklubbesitzer zu übergeben.“
Kea fühlte sich ungerecht behandelt. Und obwohl sie großen Respekt vor dem Alten hatte, feuerte sie zurück.
„Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Auftrag überhaupt etwas mit meiner Undercover-Mission zu tun hatte! Vielleicht wäre es hilfreich gewesen, mich einzuweihen. Ich hielt den Diebstahl für eine stinknormale kriminelle Tat. Und außerdem ist Nubik nicht einfach nur ein Nachtklubbesitzer, sondern ein eiskalter Killer. Er hat meine Tochter bedroht!“
Durch ihren Gegenangriff hatte sie dem Hauptmann den Wind aus den Segeln genommen. Er lächelte, was selten genug vorkam. In diesem Moment betrat der Oberleutnant den Raum. Er hatte ein Tablett mit einem Kaffeebecher und zwei belegten Brötchen dabei.
„Sie sehen hungrig aus“, sagte der Vorgesetzte. „Essen Sie etwas, dann reden wir weiter.“
Das ließ sich Kea nicht zweimal sagen. Sie verschlang die Brötchen in Windeseile und spülte sie mit Kaffee herunter. Allmählich kehrten ihre Lebensgeister zurück. Und auch die Wirkung dieser verflixten Betäubungsdroge ließ allmählich nach.
Der Hauptmann nahm seine dicke Hornbrille ab und schaute Kea aus kurzsichtigen Augen an.
„Sie haben also keine Ahnung, warum dieses Blackberry so wichtig ist?“
Kea schüttelte den Kopf.
„Dann gebe ich Ihnen die Kurzfassung. Der Name Dragow sagt Ihnen etwas?“
„Das ist ein russischer Oligarch.“
„Exakt, Leutnant. Wussten Sie, dass er zeitweise in Estland gelebt hat?“
„Nein, das war mir nicht bekannt.“
„Dragow hat damals durch Scheingeschäfte Geld unterschlagen, das dem estnischen Staat gehört. Dieses Geld transferierte er auf Konten einer Bank, die sich auf den Cayman Inseln befindet. Also in einem Steuerparadies, auf dessen Regierung ein kleiner Staat wie Estland nicht den geringsten Einfluss nehmen kann. Und die Kontonummern befinden sich verschlüsselt auf dem Blackberry. Der Mann, der sich Manfred Müller nennt, ist nämlich eine Art Finanzberater Dragows.“
„Und außerdem steht er auf sadistische Spielchen“, meinte Kea, während sie den letzten Schluck Kaffee trank. „Es geht also nur um die verschlüsselten Dateien? Da kann ich Sie beruhigen, Hauptmann. Ich habe sie kopiert, sie befinden sich momentan bei einem Freund. Er ist ein Hacker und wird versuchen, die Codes zu knacken.“
Der Vorgesetzte runzelte die Stirn.
„Sie vertrauen diesem Hacker?“
„Ja, das tue ich. - Allerdings verstehe ich noch nicht so ganz, was die Kontonummern allein uns nutzen sollen. Nur, weil wir sie kennen, kommen wir doch nicht an das Geld heran. Über welche Summe reden wir überhaupt?“
„Drei Milliarden Euro.“
Kea musste nicht fragen, warum die estnische Regierung die Summe nicht auf offiziellem Weg zurückzubekommen versuchte. Der Oligarch Dragow stand unter dem Schutz Russlands. Moskau fürchtete sich ganz gewiss nicht vor Drohungen aus Tallinn. Außerdem würde man Dragow vermutlich gar keine dubiosen Geschäfte nachweisen können.
Da war es einfacher, das Geld zurückzustehlen.
„Sie hätten wirklich besser von Beginn an eingeweiht werden sollen, Leutnant“, gab der Hauptmann zu. „Es stimmt, die Kontonummern allein nützen uns überhaupt nichts. Es wartet noch eine zweite Mission auf Sie, die mit Dragow persönlich zusammenhängt.“
Der Vorgesetzte erläuterte, was er von seiner Agentin erwartete. Kea nickte.
„In Ordnung, das sollte kein Problem sein. Was wird aus Nubik?“
„Ohne Passwörter für die Konten kann er mit dem Blackberry gar nichts anfangen“, sagte der Hauptmann. „Vielleicht hofft er darauf, dass die Passwörter dort ebenfalls abgespeichert sind. Das ist aber nicht der Fall.“
Woher will er das wissen?
Diese Frage ging Kea durch den Kopf, sie sprach sie aber nicht laut aus. Sie hatte gelernt, dass man beim Geheimdienst manche Dinge einfach akzeptieren musste. Die Kunst bestand darin, eine gesunde Mischung aus Neugier und Ignoranz zu entwickeln. Und immer mit einem Angriff aus dem Hinterhalt zu rechnen.
„Was wird aus Suvi?“, stieß Kea hervor. „Meine Tochter wird nach wie vor von Nubik bedroht. Dieser Dreckskerl sieht mich als seine persönliche Feindin an. Er könnte mein Leben vernichten, indem er mein Kind tötet.“
„Dazu wird es nicht kommen“, beruhigte der Hauptmann. „Wir sind ja auch noch da. - Sie sorgen für Suvis Sicherheit, verstanden?“
Den letzten Satz richtete er an den Oberleutnant, der daraufhin nickte und den Raum wieder verließ. Kea stieß langsam die Luft aus den Lungen. Es war ein gutes Gefühl, Rückendeckung zu haben.
„Dann fahre ich jetzt zu meinem Hacker-Freund und erkundige mich nach den Dateien“, kündigte sie an. Der Vorgesetzte nickte.
„Tun Sie das. Falls der Mann nicht weitergekommen ist, schicken wir die Dateien nach Tallinn. Unsere Spezialisten werden die harte Nuss schon knacken. Nehmen Sie diesen Wagen.“
Er warf Kea die Zündschlüssel eines Porsche zu.
Sie lächelte ihm dankbar zu und wandte sich zum Gehen. Aber der Alte hob die Hand.
„Eine Sache noch, Leutnant ...“
„Ja?“
„Wenn Sie noch einmal Drogen nehmen, töte ich Sie mit meinen eigenen Händen.“
Kea fühlte sich viel besser, als sie auf dem Weg zu Lars war. Und das lag gewiss nicht nur an dem Kaffee und den Brötchen, die sie sich einverleibt hatte.
Es war gut gewesen, wieder aus iher Undercoverrolle auftauchen zu können und für kurze Zeit wieder zu der Frau zu werden, die sie wirklich war.
Eine KAPO-Agentin, erstklassig ausgebildet und für besonders heikle Aufgaben trainiert. Kea beherrschte neben ihrer Muttersprache Estnisch auch die deutsche, russische und englische Sprache fließend. Sie hatte ihrem Land während ihrer Zeit in Hamburg schon viele wertvolle Dienste geleistet.
Allerdings fragte Kea sich, aus welchem Grund der Hauptmann sie nicht schon früher in die Hintergründe ihres aktuellen Auftrags eingeweiht hatte.
Vertraute er ihr immer noch nicht hundertprozentig?
Kea verstand, dass sie durch ihren früheren Kokain-Konsum viel Porzellan zerschlagen hatte. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie ganz aus der KAPO zu entfernen oder zumindest nach Tallinn zurückzuversetzen.
Und als alleinerziehende Mutter war sie ohnehin verwundbarer als andere Agenten. Deshalb hatte der Hauptmann darauf bestanden, dass Suvi fernab vom Vergnügungsviertel St. Pauli in einer heilen Umgebung aufwuchs. Kea hatte zugestimmt. Wenn es ihr auch schwerfiel, ihre Kleine so selten zu sehen, so war es doch ein beruhigendes Gefühl, Suvi vom Dreck ihres Alltagslebens fernhalten zu können.
Bisher hatte dieses Arrangement funktioniert, und Kea hoffte, ihre Drogensucht nun endgültig überwunden zu haben.
Nie wieder wollte sie in eine so eine hilflose Lage geraten wie es ihr nach dem Besuch bei Josch geschehen war. Sie nahm sich vor, mit diesem Dreckskerl noch persönlich abzurechnen.
Sie hätte sich eigentlich denken können, dass Nubik sämtliche Dealer einspannen würde, um ihr bei einem möglichen Kokskauf eine Falle zu stellen. Dieser verflixte Nachtklubbesitzer war kein Mann, der leicht aufgab. Für Kea stand fest, dass er sich persönlich an ihr rächen wollte.
Wenn ihre Gier nach dem weißen Pulver ihr nicht den Versand vernebelt hätte, dann wäre Nubiks Schachzug vorherzusehen gewesen.
Während Kea diese Überlegungen durch den Kopf gingen, erreichte sie die Thadenstraße. Sie parkte ihren Porsche ein Stück weit von Lars‘ Wohnung entfernt. In dieser ruhigen Wohngegend war Hamburg nicht so spektakulär wie in den Szenevierteln. Hier erregte Kea in ihrem eleganten Abendkleid noch Aufsehen, als sie sich auf das Altbaugebäude zu bewegte.
Lars zuckte zusammen, als er nach ihrem Klingeln öffnete. Es war nur ein winziger Moment der Irritation, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Für Kea blieb es trotzdem nicht unbemerkt. Aber sie tat so, als ob alles ganz normal wäre. Dennoch blieb sie wachsam. Ob noch jemand in der Wohnung war? Lief sie gerade blindlings in eine Falle?
Kea verließ sich ganz auf ihre Instinkte und ihr Bauchgefühl. Sie schenkte Lars ein freundliches Lächeln.
„Ich hätte Brötchen mitbringen können, aber ich habe es ganz einfach vergessen“, behauptete sie. „Hast du schon gefrühstückt?“
Lars deutete auf einen Joghurtbecher, der neben seiner Computertastatur stand.
„Brötchen sind Gift für den Organismus“, dozierte er. „Weißmehl enthält keine Nährstoffe, du könntest genausogut Pappe mampfen.“
„Da bin ich ja froh, dass ich meine Karton-Mahlzeit schon hinter mir habe“, scherzte Kea. „Wie sieht es mit den Dateien aus?“
„Ich bin damit noch nicht wirklich weitergekommen“, entgegnete der Hacker schnell.
Kea kniff die Augen zusammen. Wenn Lars sie hinter das Licht führen wollte, dann musste er sich schon etwas Besseres einfallen lassen. Sie wusste, dass er log.
„Hattest du Besuch, nachdem Theo und ich weg waren?“
„Nein, wie kommst du denn darauf?“, beteuerte er.
Keas Antwort war eindeutig. Sie zog ihre Pistole und drückte die Mündung gegen Lars‘ Schläfe. Er zuckte zusammen, rang nach Atem und wurde kreidebleich.
„Hey, bist du verrückt geworden? Mach dich mal locker!“, stieß der Hacker hervor.
Kea fauchte wie eine Wildkatze.
„Oh, ich bin sowas von locker! Und meine Sinne funktionieren alle ganz hervorragend. Als ich vorhin bei dir war, hattest du noch nicht so einen exquisiten Herrenduft aufgelegt. Seltsam, ich rieche ihn gar nicht, wenn ich in deine Nähe komme. Und doch hängt er in der Luft. Wäre es möglich, dass dieses After Shave von einem Besucher stammt? Womöglich von Nubik?“
„Nein, ich ...“
Lars konnte den Satz nicht beenden, denn Kea verpasste ihm mit dem Pistolengriff eine Kopfnuss. Er schrie, taumelte einen Schritt zurück. Gleich darauf drückte sie die Waffe wieder gegen seinen Schädel.
„Okay, neuer Versuch. Und wenn du mich weiterhin verschaukelst, dann wird es sehr hässlich für dich.“
„Na gut, Nubik war hier“, murmelte Lars. Er warf Kea einen Blick voller Hass und Furcht zu. Das konnte ihr nur Recht sein. Dieser Kerl musste sie nicht lieben. Die Hauptsache war, dass er auspackte.
„Also, was wollte Nubik? Und du lügst mich besser nicht an. Dafür habe ich nämlich einen sechsten Sinn.“
„Es ging um dieses Blackberry, genau wie bei dir. Ich sollte die passwortgeschützten Dateien knacken. Aber die Codierung ist verflixt anspruchsvoll, sehr weit bin ich damit noch nicht gekommen. Das macht man nicht mal eben innerhalb von ein paar Stunden.“
Kea schnaubte verächtlich.
„Okay, wenn du so unfähig bist, dann kann man nichts machen. Also spielst du mir jetzt die Dateien auf mein Smartphone. Das wirst du doch wohl hinkriegen?“
Lars schien nicht begeistert davon zu sein, dass Kea seine Fähigkeiten in Zweifel zog. Aber das war ihr herzlich ergal. Sie drückte ihm ihr Telefon in die Hand und schaute ihm dabei zu, wie er die Daten von seinem PC auf ihr Gerät übertrug.
„Ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass Nubik ausgerechnet bei dir aufgekreuzt ist?“, spottete Kea.
„Nicht jeder denkt so schlecht von meiner Qualifikation wie du es offenbar tust. Ich habe einen guten Ruf in der Hackerszene, das wird auch Nubik mitgekriegt haben. Es ist für mich normalerweise nicht schwierig, diese Dateien zu knacken. Aber wenn du es von jetzt auf gleich haben willst, dann funktioniert das natürlich nicht.“
„Du kannst dich später ausheulen. Ich hoffe, du hast heute nichts besonderes vor.“
Lars‘ Augen weiteten sich, als Kea diesen Satz aussprach. Die Panik stand ihm nun im Gesicht geschrieben.
Kea setzte ihn mit einem wohldosierten Faustschlag gegen die Schläfe außer Gefecht. Bevor er zu Boden fallen konnte, fing sie ihn auf und setzte ihn auf seinen Bürostuhl. Dann schaute sie sich in seinem Schlafzimmer um und fand einige Gegenstände, die sich als Fesseln eigneten. Sie nahm einen Bademantelgürtel und zwei Seidentücher. Damit band sie seine Hand- und Fußgelenke an das Büromöbel.
Wenn Lars sich nicht allzu ungeschickt anstellte, konnte der Hacker sich innerhalb weniger Stunden selbst befreien. Kea benötigte nur einen kleinen Vorsprung.
Sie schickte die verschlüsselten Dateien sofort an das KAPO-Hauptquartier in Tallinn und bat ihre Kollegen, sich so schnell wie möglich darum zu kümmern. Kea wollte sich jetzt ganz auf ihre nächste Aufgabe konzentrieren.
Da klingelte ihr Smartphone. Im ersten Moment glaubte sie, dass die Computerspezialisten aus der estnischen Hauptstadt zurückrufen würden.
Stattdessen war Lena am Apparat.
„Kea?“
Obwohl Suvis Pflegemutter nur ihren Namen aussprach, konnte sie deutlich hören, dass etwas nicht stimmte. Keas Magen krampfte sich zusammen.
„Ist etwas mit meiner Tochter geschehen?“
„Nein, das nicht. Aber hier schleichen so verdächtige Typen herum. Ich habe ein ganz mieses Gefühl.“
Nubik rief Ed an.
„Wie weit seid ihr?“
„Wir werden bald zuschlagen können, Boss. Die Reitstunden dieser Gören scheinen vorbei zu sein. Die Eltern holen ihre Kinder ab. Auf dem Hof lebt eine Frau, sie ist wahrscheinlich die Pflegemutter des Hurenkindes.“
„Ich kann keine lebenden Zeugen gebrauchen“, betonte Nubik.
„Die Reiterhof-Tussi dürfte kein Problem darstellen“, erwiderte Ed.
„Ihr bringt das Kind ins Versteck, sobald ihr es euch gekrallt habt, kapiert? Und krümmt der Kleinen kein Haar. Sie muss mit ihrer Mutter reden können, um sie zu motivieren.“
Ed versprach, sich um alles zu kümmern. Nubik beendete das Gespräch. Er wusste, dass er sich auf seinen Handlanger verlassen konnte. Ed hatte schon oft genug seine Loyalität und seine Skrupellosigkeit bewiesen.
Nubik schloss für einen Moment die Augen und überlegte sich seine nächsten Schritte. Es war für den Hacker Lars kein Problem gewesen, die verschlüsselten Dateien zu knacken. Nubik besaß nun also die Kontonummern, die ihm aber ohne die Passwörter nichts nützten. Er hatte gehofft, dass einige der Dateien auch die Zugangscodes enthalten würden. Aber das war nicht so. Eigentlich hätte er es sich denken können. So unvorsichtig war Dragow nicht.
Also musste Nubik diese Informationen von dem Oligarchen selbst bekommen. Ob er den mächtigen Mann kidnappen und foltern sollte? Kaum war dem Nachtklubbesitzer dieser Einfall gekommen, als er ihn auch schon wieder verwarf. Dieses Vorhaben war illusorisch. Dragow wurde besser bewacht wie die britischen Kronjuwelen. Es musste einen anderen Weg geben, an die Passwörter zu gelangen.
Und zwar mit Hilfe von Kea.
Nubik klopfte sich selbst innerlich auf die Schulter, weil er die Entführung des kleinen Mädchens angeordnet hatte. Kea würde alles tun, damit ihrer Tochter kein Haar gekrümmt wurde. Allerdings hatte Nubik seinen Männern erlaubt, sich mit Kea zu vergnügen. Wenn sie dabei zu sehr ramponiert wurde, wäre sie für Dragow nicht mehr attraktiv. Das durfte nicht geschehen.
Nubik rief Lenny an, erreichte aber nur die Mailbox seines Schergen.
Der Nachtklubbesitzer zog die Augenbrauen zusammen. Da stimmte etwas nicht. Entweder hatte Lenny sein Telefon ausgeschaltet, weil er und Kurt sich momentan noch mit Kea beschäftigten.
Oder es war etwas passiert.
Nubik nahm ein Taxi Richtung Speicherstadt. In seinem Nachtklub konnte er sich momentan nicht blicken lassen. Dort würde nur die Polizei auf ihn warten, um jede Menge lästiger Fragen zu stellen. Darum sollte sich sein Manager kümmern. Wofür bezahlte er den Kerl schließlich?
Nubik versuchte während der Fahrt noch mehrmals, Lenny zu erreichen. Vergeblich. Er rief sich selbst zur Ordnung. Wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen war, würde er dafür auch eine Lösung finden. Den nächtlichen Feuerüberfall hatte Nubik auch nicht vorhersehen können. Und trotzdem war er mit heiler Haut davongekommen.
Er war nämlich intelligenter als seine Gegner.
Mit dieser festen Überzeugung im Hinterkopf bezahlte er den Taxler und betrat den Warenspeicher. Als er die Treppe hochstieg, fiel ihm der Geruch sofort auf. Nubik war schon öfter hier gewesen. Normalerweise hatten die Teppiche einen starken Eigengeruch, der nun aber durch etwas anderes überdeckt wurde.
Es stank nach Blut und Erbrochenem.
Nubik zog seine Pistole. Er machte sich auf eine unangenehme Überraschung gefasst, als er durch die offen stehende Stahltür die Lagerräume seines Geschäftspartners Sharif betrat.
Der Iraner war persönlich anwesend. Er lehnte sich gegen die Backsteinwand, weil er sonst vermutlich zusammengebrochen wäre. Sein Gesicht war bleich, was bei seinem dunklen Teint besonders seltsam aussah. Sharif hatte seinen Mageninhalt vor sich auf den Boden geleert. Und Nubik konnte es ihm nicht verdenken.
Lenny und Kurt waren förmlich hingerichtet worden.
Der Nachtklubbesitzer hatte so etwas schon einmal gesehen. Ein erfreulicher Anblick war es trotzdem nicht. Seine beiden Männer hatten jeweils einen Schuss in den Hinterkopf bekommen. Blut und Gehirnmasse waren überall auf den Teppichen verteilt. Lenny und Kurt waren chancenlos gewesen.
Und das kleine Biest Kea war spurlos verschwunden!
Nubik packte Sharif am Kragen.
„Was ist hier los gewesen?“
„Ich weiß nicht“, stammelte der geschockte Teppichhändler. „Ich bin selbst erst vor ein paar Minuten gekommen. Die Tür stand offen. - Wie soll ich nur die Leichen hier raus schaffen?“
Nubik antwortete nicht. Er versuchte, die Situation zu rekonstruieren. Ob Kea die zwei Männer überwältigt hatte? Es war ihr zuzutrauen, keine Frage. Andererseits: Würden sich Lenny und Kurt wirklich von einer Frau gefangennehmen und widerstandslos in den Kopf schießen lassen? Nichts deutete darauf hin, dass es einen Kampf gegeben hätte.
Die Männer waren offenbar von hinten erledigt worden. Also musste Kea einen Helfer haben. Das hielt Nubik für die wahrscheinlichere Variante.
Aber wen?
Der Nachtklubbesitzer stellte diese Frage einstweilen zurück. Es war unwichtig. Wenn seine Leute die Tochter hatten, dann würde die Hure schon gehorchen. Immerhin schien Kea putzmunter zu sein, sonst hätte sie nicht so einfach verschwinden können. Am liebsten hätte er sie sofort angerufen, aber er unterdrückte den Impuls. Das tat Nubik am besten erst dann, wenn er das Kind in seiner Gewalt hatte.
Nubik drehte sich zu Sharif um, der sich mit zitternden Händen durch sein lockiges Haar fuhr.
„Wenn die Polizei diese Männer hier findet, bin ich erledigt“, jammerte er.
Nubik schüttelte den Kopf.
„Das wird nicht geschehen. Wozu befinden wir uns hier in der Speicherstadt? Sie warten einfach die stillsten Nachtstunden ab. Dann befestigen Sie Gewichte an den Füßen der Leichen und werfen sie aus dem Fenster ins Fleet. Dafür benötigen Sie noch nicht einmal einen Helfer.“
Sharif nickte langsam. Er schien über den Vorschlag nachzudenken. Nubik trat einen Schritt näher auf ihn zu.
„Und ich rate Ihnen dringend, die Klappe zu halten. Sonst sind Sie der nächste Tote!“
Kea trat das Gaspedal des Porsche bis zum Bodenblech durch. Wenn sie jetzt in eine Polizeikontrolle geriet, würde sie wegen der stark überhöhten Geschwindigkeit garantiert sofort aus dem Verkehr gezogen werden. Dieses Risiko musste sie eingehen, denn es ging um Suvi.
Kea machte sich keine Illusionen darüber, wessen Schergen um den Reiterhof herum schlichen. Nubik spielte mit ihr. Er wollte Kea leiden sehen. Und das gelang ihm am besten, indem er ihrer Tochter etwas antat.
Allein die Vorstellung, dass es Suvi schlechtgehen könnte, ließ Keas Kreislauf verrückt spielen. Ihre nackten Arme waren mit Gänsehaut bedeckt, ihr Herz hämmerte und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Momentan wollte sie einfach nur den Reiterhof so schnell wie möglich erreichen. Alles Weitere musste sich finden.
Kea betete darum, dass sie nicht zu spät kam.
Sie war religiös erzogen worden, wodurch es ihr leichter fiel, die Undercover-Existenz als Hure zu ertragen. Sie sündigte, um letztlich ein höheres Ziel zu erreichen. Nur mit dem fünften Gebot hatte sie nach wie vor ihre Schwierigkeiten. Du sollst nicht töten – wie sollte sie diese Regel befolgen, wenn sie gegen einen Mann wie Nubik kämpfen musste? Aber ihr Überlebensinstinkt war im Zweifelsfall bisher immer stärker gewesen als irgendwelche ethischen oder religiösen Skrupel.
Und sie würde jeden erschießen, der ihrer Tochter etwas antun wollte!
Kea schaffte die Strecke bis nach Bargteheide in Rekordzeit. Direkt hinter dem Ortseingang gab es eine Stichstraße, die zu dem Reiterhof führte. Der Porsche rumpelte den schlecht befestigten Weg hoch, bis Kea ihn ungefähr einen Kilometer vor dem Anwesen stehen ließ.
Es erschien ihr nicht so clever, mit Vollgas direkt auf den Hof zu preschen. Falls nämlich Nubiks Leute sich Suvi schon gekrallt hatten, war der Überraschungseffekt dahin.
Ein kleines Gehölz schirmte den Reiterhof zum Ort hin ab. Es gab mehrere Gatter, ansonsten die Stallungen und das Haupthaus sowie einen Werkzeugschuppen. Da Kea ihre Tochter so oft wie möglich besuchte, kannte sie die Örtlichkeiten gut. Sie schloss leise die Wagentür, zog ihre Pumps aus und tat sie in die Handtasche.
Stattdessen zog sie ihre Glock hervor.
Keas Strümpfe würden noch weiter zerreißen, wenn sie über den Waldboden vorwärts stürmte. Das war ihr herzlich egal. Sie rannte, wobei sie jede Deckung ausnutzte und sich möglichst lautlos bewegte. Die geheimdienstliche Grundausbildung in den estnischen Wäldern hatte sie tief verinnerlicht. Nur einen Steinwurf weit von ihrem Porsche entfernt entdeckte sie ein anderes Auto.
Es war ein Nissan SUV, der mehr oder weniger gut getarnt neben dem Weg stand. Sie schlich näher, zielte mit ihrer Pistolenmündung in den Innenraum des Fahrzeugs. Dort war niemand zu sehen. Kea legte ihre Hand auf die Motorhaube.
Es fühlte sich kalt an, also stand der Nissan schon länger dort. Diese Beobachtung trug nicht dazu bei, Kea zu beruhigen. Vielleicht kam sie zu spät. Womöglich hatten die Dreckskerle ihre Tochter bereits ermordet, während sie noch unterwegs gewesen war.
Dieser Gedanke ließ Kea beinahe den Verstand verlieren. Sie rannte erneut los. Diesmal achtete sie nicht hundertprozentig auf jeden ihrer Schritte, dafür war sie viel zu aufgewühlt. Und so kam es, dass sie kurze Zeit später stolperte und der Länge nach auf den weichen Waldboden fiel.
Kea unterdrückte einen Fluch. Sofort kam sie federnd wieder aus ihrer liegenden Position hoch. Dabei warf sie instinktiv einen Blick über die Schulter nach hinten. Und erstarrte. Denn es war keine Baumwurzel und kein großer Stein, der sie hatte straucheln lassen.
Sondern ein toter Mann.
Es war ihr Kollege, der KAPO-Oberleutnant. Er lag mit durchgeschnittener Kehle im Unterholz. Seine erstarrten Augen schienen einen verblüfften Ausdruck angenommen zu haben.
Kea kämpfte mit den Tränen. Er hatte ihr nicht nahegestanden, aber sein Tod führte ihr unmissverständlich den Ernst der Lage vor Augen. Dieser Mann hatte eigentlich Suvi schützen sollen. Stattdessen war Keas Tochter Nubiks Schergen völlig ausgeliefert.
Denn Lena hatte gewiss keine Chance gegen Männer, die selbst einen durchtrainierten KAPO-Agenten problemlos töten konnten. Keas Hand krampfte sich um den Griff ihrer Pistole. Sie drückte ihrem Kollegen die Augenlider zu, bevor sie ihren Weg zum Reiterhof fortsetzte. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie die Gatter vor sich hatte.
Einige Pferde bewegten sich dort tänzelnd und schnaubend ohne Sättel auf den Rücken. Sie schienen den Auslauf zu genießen. Wenn Tiere doch nur sprechen könnten! Dachte Kea verzweifelt. Sie hätte zu gern gewusst, wo ihre Feinde auf sie lauerten. Denn dass die Männer noch da waren, stand für sie fest. Der Nisssan parkte schließlich im Gebüsch.
Keas führte sich außerdem vor Augen, dass die Kerle den Oberleutnant mit einem Messer getötet hatten. Wäre ein Schuss gefallen, dann hätte Lena dadurch gewarnt werden können.
Immerhin hatte Suvis Pflegemutter die verdächtigen Gestalten bemerkt, sonst wäre Kea ja nicht durch ihren Anruf gewarnt worden. Kea konnte sich nicht vorstellen, dass Lena außerdem noch die Polizei gerufen hätte. Sonst wäre wohl längst ein Streifenwagen vor Ort gewesen. Jedenfalls hoffte sie das.
Kea näherte sich lauschend dem Haupthaus. Irgendwo im Dorf bellte ein Hund, aber das Geräusch kam aus großer Entfernung. Auf dem Reiterhof selbst herrschte eine gespenstische Ruhe.
„Suvi?“
Kea hätte sich selbst in den Hintern beißen können, weil sie nach ihrer Tochter gerufen hatte. Jeder Gegner kannte nun ihre Position und konnte sie problemlos ins Visier nehmen. Doch Kea war auch nur ein Mensch. Und sie hielt die Ungewissheit nicht länger aus.
Vor allem, da keine Antwort erfolgte.
Ihre kleine Tochter verfügte über genauso starke Instinkte wie Kea selbst. Suvi schien immer genau zu spüren, wenn ihre Mama im Anmarsch war. Wenn Kea auf Besuch kam, konnte sie kaum aus dem Auto steigen, ohne sofort von ihrem kleinen Wirbelwind angesprungen und abgeküsst zu werden.
Ihre Augen wurden feucht bei dieser Erinnerung. Ob sie Suvi jemals lebend wiedersehen würde? Wenn es jemanden gab, von dem Kea kein Mitgefühl erwarten konnte, dann war das Nubik.
Bitte, lieber Herr Jesus, lass Suvi am Leben bleiben!
Die Tür zum Haupthaus war nur angelehnt. Kea stieß sie mit einem Fuß auf, dann sprang sie ins Innere. Sie hielt ihre Glock im Beidhandanschlag und schwenkte die Waffe langsam von links nach rechts. Da entdeckte sie den Körper.
Lena lebte noch.
Kea kniete sich neben Suvis Pflegemutter, die offenbar von Nubiks Schergen brutal misshandelt worden war. Lena zuckte zusammen, als Kea sie berührte. Aber dann schlug sie die Augen auf und blinzelte, als sie Suvis leibliche Mutter erkannte.
„Kea ... es tut mir so leid ... sie haben Suvi mitgenommen.“
„Wer war es?“, fragte Kea. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass Lena überhaupt noch sprechen konnte. Doch darauf konnte Kea nun keine Rücksicht nehmen. Sie musste wissen, was mit ihrer Tochter geschehen war.
„Zwei Männer … ich kannte sie nicht … Schlägertypen. Ich wollte sie aufhalten, aber ...“
Lena konnte den Satz nicht beenden. Kea wusste, dass sie alles getan hatte, um das Kind zu schützen. Aber was sollte eine unbewaffnete Reitlehrerin gegen Nubiks Brechmänner ausrichten?
Lena rang nach Atem, ein Zittern durchlief ihren Körper. Dann brachen ihre Augen. Es war vorbei. Kea wischte sich den Schweiß von der Stirn. Einen Moment lang blieb sie neben der Toten auf dem Boden hocken. Schließlich kam sie taumelnd wieder hoch. Sie war sicher, dass Suvi noch lebte. Tot würde ihre Tochter diesem Irren nichts nützen. Nubik brauchte Suvi, um Kea unter Druck zu setzen.
Oder um sie endgültig zu vernichten.
Wenn Kea nicht herausfand, was mit ihrer Tochter geschehen war, würde sie den Verstand verlieren. Daran hatte sie keinen Zweifel. Kea ballte die Faust und schrie so laut, dass die Fensterscheiben klirrten. Aber niemand konnte sie hören, wenn man von den Pferden absah. Die Tiere waren durch das schrille Geräusch so aufgeschreckt worden, dass sie nun ihrerseits wild zu wiehern begannen.
Kea musste sich zum Nachdenken zwingen. Wenn der Nissan dieser Dreckskerle noch im Gehölz stand, auf welche Art waren sie dann entkommen? Gleich darauf konnte sie sich diese Frage selbst beantworten. Der Mercedes des Oberleutnants fehlte. Sie würden den Wagen benutzt haben, weil der Nissan vermutlich gestohlen war und bereits auf der Fahndungsliste stand.
Nun waren sie zwar ebenfalls wieder in einem geklauten Auto unterwegs, sie würden es aber bald wechseln. Das hätte jedenfalls Kea an ihrer Stelle getan. Sie taumelte in die Küche und fand im Kühlschrank eine Flasche Mineralwasser. Dort stand auch Wein, aber Kea widerstand der Versuchung, sich zu benebeln. Sie brauchte jetzt einen klaren Kopf, um die Lage in den Griff zu bekommen.
Kea besann sich auf die Dienstvorschriften. Wenn eine Operation nicht nach Plan verlief, war umgehend der Vorgesetzte zu benachrichtigen. Sie verließ den Reiterhof, nahm ihr Smartphone und berichtete dem Hauptmann vom Tod des Oberleutnants. Dabei nannte sie die Dinge natürlich nicht beim Namen. Jedes Kind wusste heutzutage, dass Handys nicht abhörsicher waren.
„Ich werde die Angelegenheit bereinigen“, gab der Leitungsoffizier zurück. Seine Stimme verriet keine Regung. „Sie begeben sich nach Hamburg und warten auf weitere Anweisungen.“
„Ich weiß nicht, wo meine Tochter ist“, sagte Kea wahrheitsgemäß. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht hysterisch zu werden.
„Sie haben mich gehört“, erwiderte der Hauptmann und beendete das Gespräch. Kea hätte ihm den Hals umdrehen können. Wie konnte er nur so gefühllos sein? Und doch wusste sie tief in ihrem Inneren, dass sie dem erfahrenen Geheimdienstmann vertrauen musste. Es war gut, dass er die Nerven behielt. Kea würde dazu schon bald nicht mehr in der Lage sein.
Auf dem Weg zu ihrem Porsche musste sie pausenlos an die glücklichen Momente mit Suvi zurückdenken. Die Geburtstage, die Ritte auf dem Pony … Kea gehörte nicht zu den Frauen, die nahe am Wasser gebaut hatten. Aber in diesem Moment hätte sie nur noch heulen können.
Sie öffnete die Fahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen. Da bemerkte sie im Rückspiegel eine Gestalt, die sich von hinten dem Auto näherte. Kea hatte ihre Pistole noch in der Hand. Sie schnellte wieder aus dem Wagen und legte auf die Person an.
Es war René.
Und er hatte ein Geschenkpaket in der Hand.
„Spinnst du?“, fauchte Kea. „Was schleichst du dich hier an mich heran? Und was soll dieses dämliche Päckchen?“
„Das ist nicht für dich, sondern für Suvi. Darin sind Schokokekse. Die wird sie doch wohl mögen? Alle Kinder stehen auf Süßigkeiten.“
Kea wusste nicht, ob sie verblüfft, wütend oder entgeistert sein sollte. Ihr fiel keine passende Antwort ein, was bei ihr sehr selten vorkam.
René lächelte entschuldigend.
„Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Es war ein großer Fehler, Nubik von deiner Tochter zu erzählen. Wenn ich könnte, dann würde ich es rückgängig machen. Aber das ist nicht möglich. Darum dachte ich, dass ich mal vorbeischauen und Suvi etwas schenken könnte. - Wo hast du überhaupt den coolen Schlitten her?“
Jetzt löste sich Keas Erstarrung.
„Dein Spezi Nubik hat Suvi kidnappen lassen!", wütete sie. „Lena und ein Freund von mir sind tot, weil sie sich Nubiks Männern in den Weg gestellt haben. Und du kreuzt hier auf mit deinem dämlichen Geschenk, weil ... weil ...“
„Weil ich dich liebe, Kea“, sagte René und schaute sie mit diesem Blick an, dem sie früher nicht hatte widerstehen können. „Ich habe noch nie eine Frau wie dich getroffen. Und ich nehme es dir nicht übel, dass du mich ins Wasser geworfen hast. Das hatte ich verdient.“
Kea machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Dein Geschenk kannst du jedenfalls vergessen. Suvi braucht keine Kekse, sondern ihre Freiheit. Ich habe keine Ahnung, wo meine Tochter ist. Und ob ich sie jemals wiedersehen werde.“
Sie kämpfte mit den Tränen, wofür sie sich selbst verachtete. Ausgerechnet jetzt, wo sie stark sein musste, wurde sie schwach. Deshalb wehrte Kea sich auch nicht dagegen, dass René sie in seine Arme zog. Er war ein Chaot und steckte dauernd in Schwierigkeiten. Aber sie musste zugeben, dass sie immer noch etwas für ihn empfand.
Außerdem war es gut, ausgerechnet jetzt nicht allein zu sein.
René strich mit zwei Finger zärtlich über Keas Wange.
„Ich will es wiedergutmachen. Nubik vertraut mir jetzt, nachdem ich dich verraten habe. Er weiß nicht, dass ich hier bin.“
„Wie bist du überhaupt in diese gottverlassene Gegend gekommen?“
„Mit dem Bus natürlich, der hält unten an der Hauptstraße. - Ich kenne einige von Nubiks Leuten. Vielleicht kann ich herauskriegen, wo Suvi gefangen gehalten wird.“
„Als ob sie dir das auf die Nase binden würden“, grollte Kea. Aber sie musste zugeben, dass sie selbst keinen Plan zur Rettung ihrer Tochter hatte. Eigentlich hoffte sie immer noch auf Unterstützung durch die KAPO. Aber es sah nicht so aus, als ob Suvi für den Hauptmann höchste Priorität hätte.
„Ich werde es versuchen. Lass mir dir bitte helfen. Manchmal kommt es mir so vor, als ob Suvi auch meine Tochter wäre.“
„Träum weiter“, erwiderte Kea wütend. Suvis Erzeuger war tot, und sie verschwendete keinen Gedanken mehr an ihn. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, den Kea wirklich liebte.
Ihre Tochter.
Und René? Wenn Kea in guter Stimmung war, dann fand sie ihn gar nicht so übel. Mehr aber auch nicht. Er fühlte offenbar mehr für sie als sie für ihn. Aber wenn sie dadurch Suvi heil und gesund zurückbekam, dann wollte Kea diesen Liebesbeweis gerne annehmen.
Einmal hatte sie sich erweichen lassen und René auf den Reiterhof mitgenommen. Dadurch wusste er überhaupt von ihrem Kind. Als Kea und René an besagtem Tag mit Suvi gespielt hatten, hätte man sie wirklich für eine kleine Familie halten können. Aber diese Illusion war zerplatzt wie eine Seifenblase.
Kea hatte keine Familie, abgesehen vom Kaitsepolitseiamet.
Sie riss sich von Renés Umarmung und ihren Erinnerungen los.
„Steig ein, wir fahren nach Hamburg.“
„Du kannst mich irgendwo auf dem Kiez absetzen“, plapperte René. „Dann werde ich mich in Nubiks Dunstkreis umhören und dich anrufen, sobald ich etwas weiß.“
Kea nickte zerstreut. Sie war nicht wirklich davon überzeugt, dass er von Nutzen sein konnte. Doch momentan musste sie sich an diesen Strohhalm klammern. Nubik würde gewiss nicht so dumm sein, Suvi ausgerechnet in seinem Nachtklub zu verstecken. Er hatte ja auch Kea stattdessen in dieses verflixte Teppichlager schaffen lassen. Nein, ihre Tochter konnte sich buchstäblich überall aufhalten. Und wenn Kea selbst aktiv nach ihr suchte, würde Nubik im Handumdrehen Wind davon bekommen. So gesehen war René wirklich ihre einzige Chance.
Der Porsche näherte sich bereits der Hamburger Stadtgrenze, als Keas Smartphone klingelte.
Nubik war am Apparat.
Keas Kehle fühlte sich plötzlich staubtrocken an. Sie musste sich mehrfach räuspern, bevor sie einen zusammenhängenden Satz herausbekam.
„Was hast du mit Suvi gemacht?“
Nubik lachte.
„Es geht ihr gut - noch.“
Keas Kreislauf spielte verrückt.
„Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann wirst du es bitter bereuen!“
„Du solltest mir nicht drohen, Kea. Dieser Schuss könnte gewaltig nach hinten losgehen. Ich muss zugeben, dass ich dich falsch eingeschätzt habe. Wem verdankst du eigentlich deine Befreiung aus dem Teppichlager?“
„Dem Weihnachtsmann.“
„Und von deiner Frechheit hast du auch noch nichts eingebüsst, wie ich feststelle. Ich habe einen neuen Hurenjob für dich. Und den wirst du zu meiner vollsten Zufriedenheit ausführen, wenn dir etwas am Leben deiner Tochter liegt.“
„Hast du spezielle Wünsche, wie ich es dir besorgen soll?“
„Nicht mir. Es geht um einen Mann namens Dragow. Ich nehme an, der Name sagt dir etwas. Er soll dir Passwörter verraten.“
„Was für Passwörter?“
„Stell dich nicht dumm, Kea. Das ist unter deinem Niveau. Du weißt genau, um welche Passwörter es geht.“
„Und wie soll ich das machen?“
„Das ist mir egal. Ich muss dir wohl nicht erklären, wie du deinen Beruf ausübst. Wichtig ist, dass ich die Informationen noch vor morgen früh bekomme. Sonst lasse ich meine Wut an Suvi aus. Und das willst du nicht.“
„Wie geht es ihr?“, fragte Kea mit zitternder Stimme. „Darf ich mit ihr sprechen?“
„Wir haben deiner Tochter ein Betäubungsmittel verabreicht, damit sie nicht herumzickt. Sie pennt, das hat sie schon seit ihrer Abreise vom Reiterhof getan. Da fällt mir ein: Wer war eigentlich dieser Typ, der meinen Leuten dazwischenfunken wollte? Er hatte eine Knarre, aber keine Papiere bei sich. War das dein Helfer, der dich aus dem Teppichlager geholt hat?“
Kea beschloss, zumindest teilweise bei der Wahrheit zu bleiben.
„Ja, er war ein Freund.“
„Dann hast du jetzt einen Freund weniger“, entgegnete Nubik trocken. „Ich schicke dir gleich Dragows Hoteladresse auf dein Handy. Er steht übrigens nicht auf Huren, also wirst du versuchen müssen, nicht allzu nuttig zu wirken.“
„Notfalls verführe ich auch den Papst, wenn es sein muss. Aber lass bitte meine Tochter in Ruhe.“
„Wie es Suvi geht, liegt bei dir“, sagte Nubik und beendete das Gespräch.
René zündete sich eine Zigarette an, nachdem Kea ihn an der Ecke Reeperbahn/Große Freiheit hatte aussteigen lassen. Das Nikotin half ihm beim Nachdenken, und das war jetzt auch dringend nötig.
René wusste, dass er lieber auf sein Bauchgefühl hörte als tiefschürfende Überlegungen anzustellen. Eigentlich nahm er das Leben von der lockeren Seite, auch wenn er sich dadurch immer wieder in riskante Situationen gebracht hatte. Aber jetzt ging es für ihn um alles.
Er verdankte Kea sein Leben, aber nicht nur deshalb bekam er diese Frau nicht aus dem Kopf. Dank seines Charmes und seines passablen Aussehens war er schon mit vielen Schönheiten der Nacht im Bett gewesen. Doch keine hatte ihn so berührt wie Kea. Sie war ziemlich durcheinander gewesen, nachdem sie mit diesem Sadisten Nubik telefoniert hatte. Kea war tapfer genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Aber René bemerkte trotzdem, dass sie litt wie eine Hündin.
Einen Moment lang schloss René die Augen und stellte sich vor, irgendwo auf dem Land mit Kea und Suvi eine Familie zu gründen. Es war ihm egal, dass das Kind nicht von ihm war. Er mochte Suvi eigentlich und schämte sich in Grund und Boden, weil er das kleine Mädchen ans Messer geliefert hatte. Zum ersten Mal begeisterte René sich für die Vorstellung, St. Pauli hinter sich zu lassen und ein völlig spießiges normales Leben zu führen. Notfalls würde er sogar arbeiten.
Während ihm diese Gedankenfetzen durch den Kopf schwirrten, stiefelte René die Große Freiheit entlang. Die Vergnügungsstraße wirkte tagsüber deprimierend. Er hatte schon oft gedacht, dass man den Kiez am besten im Vollrausch ertragen konnte. René fischte sein neues Handy aus der Tasche und tippte ein Nummer ein. Das Freizeichen ertönte drei Mal, aber dann war eine genervte Frauenstimme zu hören.
„Wer ist denn da, zum Henker?“
„René.“
„Ach, du bist das." Naomi stieß ein erleichtert klingendes Lachen aus. "Wieso rufst du nicht unter deiner anderen Nummer an? Die habe ich eingespeichert, da hätte ich gleich deinen Namen gesehen.“
„Mein altes Smartphone ist futsch. - Egal, ich wollte einfach mal wieder deine Stimme hören.“
„Na, da will mich wohl jemand angraben.“
Naomis Stimme klang nicht so, als ob diese Vermutung ihr unangenehm wäre.
„Kann schon sein. Du bist eben ein richtig heißes Geschoss. Können wir uns sehen? Oder kriege ich dann Stress mit Ed?“
„Ich habe dir doch neulich schon gesagt, dass ich mit dem Idioten nicht mehr zusammen bin“, erwiderte Naomi.
„Okay, aber sieht Ed das genauso?“
„Ed kann mir den Buckel runterrutschen“, betonte Naomi.
René lachte.
„Tanzt du noch in Nubiks Nachtklub an der Stange?“
„Sicher, willst du eine Privatvorführung?“
„Darüber lässt sich reden. Ich will dich auf jeden Fall treffen.“
„Momentan wohne ich bei Charlene, die besucht aber ihre Eltern in Warschau und kommt erst morgen wieder. Ihre Wohnung ist in der Hopfenstraße. Kannst du in einer Stunde hier sein? Ich will mir erst noch etwas Hübsches anziehen und mich stylen.“
„Super, ich freue mich. Bis dann“, sagte René und beendete das Gespräch. Er war froh, dass er Naomis Mobilnummer noch im Gedächtnis behalten hatte. Die Poledancerin hatte schon vor längerer Zeit mit René geflirtet. Er rechnete sich gute Chancen bei ihr aus. Aber deswegen hatte er sie jetzt nicht kontaktiert. Stattdessen hoffte er, sie über Ed aushorchen zu können. Naomi war nicht die hellste Kerze auf der Torte. Sie würde nicht bemerken, dass es René in Wirklichkeit nur um Ed ging. Naomis Ex-Freund war Nubiks Mann fürs Grobe. Wahrscheinlich hatte er sich um ein Versteck für das entführte Kind gekümmert.
Das war jedenfalls Renés Hoffnung.
Vor einer Spielhalle traf er einen Kumpel, der René noch zwanzig Euro schuldig war. Der Typ rückte das Geld überraschenderweise sofort heraus. René nutzte seinen unerwarteten Reichtum, um sich mit einem Döner zu stärken. Er palaverte noch eine Zeitlang mit dem Imbissbudenbesitzer, dann musste er auch schon zu seinem Date aufbrechen.
René war begeistert davon, wie einfach er Naomi um den kleinen Finger hatte wickeln können. Vielleicht sollte er sich als Privatdetektiv versuchen, wenn diese Sache überstanden war? Und falls es ihm gelang, auf eigene Faust Suvi zu befreien, würde Kea ihm bis in alle Ewigkeit dankbar sein. Dann stünde einer glücklichen Zukunft mit dieser Frau nichts mehr im Weg.
René klingelte an Charlenes Wohnungstür. Naomi trug nur ein hauchdünnes Negligé, als sie ihm öffnete. Sie hatte ein einladendes Lächeln auf den Lippen.
„Komm doch näher, Schatz.“
Das ließ sich René nicht zweimal sagen. Doch als er die Wohnung betreten hatte, wurde die Tür zugeknallt. Im nächsten Moment trat ihm jemand in die Kniekehlen. René landete ächzend auf dem Fußboden. Er sah einen Kampfstiefel auf sein Gesicht zurasen und erkannte, dass er sich wieder einmal grandios selbst überschätzt hatte.
Dragow schaute durch das Hotelzimmerfenster auf das nächtliche Hamburg hinab, während er seinen Anwalt am Telefon zusammenfaltete.
„Ich erwarte Ergebnisse, du Schwachkopf. Warum dauert es so lange mit diesen Exportlizenzen?“
Der Jurist wand sich wie ein Aal. Das war seiner Stimme deutlich anzuhören.
„Leider ist der maßgebliche Beamte versetzt worden, und sein Nachfolger scheint gegen Geldzuwendungen immun zu sein.“
Dragow lachte.
„Hast du immer noch nicht gelernt, wie das Spiel funktioniert? Bares oder Blei - so einfach ist das. Wenn der Kerl sich noch länger querstellt, dann wird er eben einen bedauerlichen Unfall erleiden. Darum kümmere ich mich höchstpersönlich, du hast ja offensichtlich keine Eier!“
Bevor der Anwalt etwas erwidern konnte, hatte Dragow das Telefonat beendet. Erst jetzt bemerkte der Oligarch, dass er nicht mehr allein in seiner Luxussuite war. Dragow drehte sich um und erblickte eine sehr schöne junge Frau. Sie trug eine Zimmermädchenuniform des Hotels, hatte einen Stapel Handtücher unter dem Arm und lächelte ihn an.
„Ärger mit dem Personal?“, fragte sie auf Russisch.
Dragow hob eine Augenbraue.
„Sie sprechen meine Muttersprache“, stellte er fest.
„Ich komme ursprünglich aus der Ukraine, Herr Dragow. Und ich hatte nicht vor, Sie zu belauschen. Aber Ihre Leibwächter haben mich hereingelassen, ich wollte nur schnell die Handtücher auswechseln.“
Die schlechte Laune des mächtigen Mannes verschwand im Handumdrehen. Seine Bodyguards kannten seinen Geschmack. Normalerweise hätten sie um Erlaubnis gefragt, bevor eine Fremde in die Suite gelangt wäre. Aber Pjotr und Grigori hatten wohl angenommen, dass dieses Zimmermädchen ihrem Boss gefallen könnte.
Und damit lagen sie richtig.
„Saubere Handtücher haben noch niemandem geschadet“, meinte Dragow lächelnd. „Sie kennen meinen Namen. Dann wissen Sie auch, wer ich bin?“
„Es ist unserem Haus eine Ehre, Sie als unseren Gast begrüßen zu dürfen“, erwiderte die junge Schönheit brav.
„Dann werden Sie wissen, dass ich ein Mann bin, dessen Wünsche man stets erfüllt. Und ich möchte jetzt, dass Sie einen Wodka mit mir trinken.“
„Das ist sehr großzügig von Ihnen, da sage ich nicht Nein.“
Das Zimmermädchen brachte die Handtücher ins Bad, während der Oligarch höchstpersönlich zwei Gläser aus der Minibar mit dem klaren Schnaps füllte. Die Kleine war schätzungsweise zwanzig Jahre jünger als er selbst, aber das störte ihn nicht. Ganz im Gegenteil.
Als sie aus dem Bad zurückkehrte, hatte sie den obersten Knopf ihrer Bluse geöffnet. Dragow schmunzelte. Offenbar stellte sie sich den weiteren Verlauf des Abends genauso vor wie er. Der Oligarch reichte dem Zimmermädchen ein Wodkaglas.
„Momentan ist es in der Ukraine nicht sehr klug, Russisch zu sprechen“, bemerkte er und prostete ihr zu.
„Wir sind hier aber in Hamburg und nicht in Kiew. Ich liebe die russische Sprache. Außerdem kümmere ich mich nicht um Politik, sondern um meine Arbeit. Und um die angenehmen Dinge des Lebens.“
Sie warf ihm einen ermutigenden Blick zu. Dragow blinzelte und trank einen Schluck Wodka.
„Für eine so junge Frau sind Sie sehr weise. Verraten Sie mir, wie Sie heißen?“
„Kea.“
„Das ist kein ukrainischer Name“, stellte der Oligarch fest.
„Nein, meinen richtigen Namen können die Deutschen sich nicht merken und ihn auch nicht aussprechen. Also nenne ich mich Kea, kurz und knapp.“
Dragow hatte auf einem Designersofa Platz genommen und klopfte auf die Sitzfläche neben sich.
„Nehmen Sie doch bitte Platz. - Sie sind wirklich sehr klug, Kea. Warum arbeitet eine Frau wie Sie als Zimmermädchen? Ich bin sicher, dass es weitaus anspruchsvollere Aufgaben für Sie gäbe.“
Sie saß jetzt so nahe bei ihm, dass er die Wärme ihres jungen Körpers spüren konnte. Außerdem stieg ihm der Duft ihres Parfüms in die Nase.
Für einen Moment verschwand das Dauerlächeln vom Gesicht seiner Besucherin.
„Ich habe ein kleines Kind, für das ich sorgen muss. Und für mein Kind würde ich alles tun. Wirklich alles.“
„Diese Einstellung ehrt Sie“, sagte Dragow. „Ich habe auch Kinder, allerdings sind sie schon erwachsen. Ich zeige Ihnen Fotos.“
Der Oligarch zog seine Brieftasche, in der sich Bilder von seinem Sohn und seiner Tochter befanden. Als er sich wieder Kea zuwandte, hatte sie plötzlich eine Spritze in der Hand. Sie musste das Instrument aus ihrer Uniformweste gezogen haben, als er gerade nicht hinschaute.
Dragow öffnete den Mund, um nach seinen Bodyguards zu rufen. Aber da packte Kea ihn bereits an der Kehle. Schockiert bemerkte er die Festigkeit des Griffs. Dieses Miststück war ganz gewiss kein normales Zimmermädchen. Der Oligarch versuchte, sie abzuwehren. Aber da hatte sie bereits mit der anderen Hand die Spritze in seinem Unterarm versenkt.
Dragows mächtiger Körper erschlaffte in Rekordzeit.
Kea hatte keine Zeit zu verlieren.
Sie konnte nicht einschätzen, wie lange Dragows Leibwächter die Füße stillhalten würden. Die beiden Gorillas lauerten draußen vor der Suite. Leider hatte Kea ihre Pistole in der engen Uniform nicht verstecken können. Sie war froh, dass niemand die Spritze bemerkt hatte.
Ob das Wahrheitsserum wirken würde?
Dies war Keas einzige Chance. Sie hatte den Wirkstoff von einem ihrer KAPO-Kontaktleute erhalten. Angeblich sollte es die Psyche nur wenige Minuten lang beeinflussen können. Die Frage war nur, ob die kleine Dosis bei einem so voluminösen Mann wie Dragow wirkte. Eine weitere Portion des Serums hatte Kea jedenfalls nicht bei sich.
Dragow war nicht bewusstlos. Doch sein verschleierter Blick deutete darauf hin, dass er nicht ganz bei sich war. Sie lächelte und tätschelte seine Wange.
„Jetzt sind wir ganz allein, niemand kann uns stören. Bist du scharf auf mich, mein Süßer?“
„Ja“, brachte der Oligarch hervor.
„Wenn du brav bist, dann gibt es auch eine Belohnung. Ich brauche von dir ein paar Passwörter. Ich sage dir jetzt die Kontonummern, und du nennst mir die Zugangscodes, in Ordnung?“
Kea redete weiterhin auf Russisch mit dem mächtigen Mann. Das war seine Muttersprache, deshalb würde er positiv reagieren. Jedenfalls hoffte sie das. Und Kea hielt die ganze Zeit seine Hand, während er mit rauer Stimme Zahlen- und Buchstabenfolgen von sich gab.
Sie tippte die Informationen in ihr Smartphone und schickte ein Stoßgebet nach dem nächsten zum Himmel. Die Wahrheitsdroge schien zu funktionieren. Allerdings verschlechterte sich Dragows Zustand immer mehr. Der Schweiß lief ihm in Strömen über sein flächiges Gesicht, der mächtige Schädel war knallrot angelaufen. Die Substanz trieb offenbar seinen Blutdruck im Handumdrehen enorm in die Höhe. Ob der Mann herzkrank war?
Für Kea zählte momentan nur, dass Dragow alle Passwörter nannte. Ob die Angaben stimmten, mussten ihre Kollegen in Tallinn checken. Das würde sich in dem Moment zeigen, wenn sie ungehinderten Zugriff auf die Milliarden hatten. Oder auch nicht.
Dragows Augen quollen beinahe aus dem Kopf, während ihm das letzte Passwort über die Lippen kam. Dann griff er sich an die Brust, rang nach Luft und kippte nach vorn. Obwohl Kea nicht schwach war, konnte sie den mächtigen Körper nicht halten. Dragow fiel der Länge nach zu Boden und blieb dort zuckend liegen. Er hatte Schaum vor dem Mund. Sein Teint war jetzt beinahe violett.
Obwohl die Velours-Auslegeware weich und hochwertig war, verursachte Dragows Sturz ein unüberhörbares Rumpeln. Es war jedenfalls laut genug, um die vor der Tür wartenden Leibwächter auf den Plan zu rufen. Sie kamen herein und erfassten die Situation mit einem Blick.
„Was hast du ihm angetan, du Miststück?“, rief der Blonde auf Deutsch. Sein Kollege kniete sich neben den Oligarchen und leistete erste Hilfe. Kea spielte die Geschockte.
„Ich bin unschuldig! Der Gast wollte ein Glas Wodka mit mir trinken, und aus Höflichkeit habe ich mich darauf eingelassen. Dann wurde ihm schlecht. Ist er vielleicht krank? Ich werde sofort den Hotelarzt verständigen.“
Sie versuchte, an dem Blonden mit der Bodybuiderfigur vorbeizukommen. Aber er versperrte ihr den Weg zum einzigen Ausgang der Luxussuite. Auf seinen Lippen erschien ein bösartiges Grinsen.
„Du bleibst schön hier. Die Sache ist oberfaul, so einfach bricht der Chef nicht zusammen. Er hat Herzprobleme, ist aber medikamentös gut eingestellt. Wir werden die Polizei rufen, dann ...“
Der Bodyguard konnte seinen Satz nicht beenden, denn nun griff Kea an. Sie musste fliehen, sonst wäre die Aktion sinnlos gewesen. Und Suvi würde sterben. Also verpasste sie dem Blonden einen Faustschlag gegen den Solarplexus, der ihn außer Gefecht setzen sollte. Allerdings hatte sie es mit einem erfahrenen Nahkämpfer zu tun, das merkte sie sofort.
Der Leibwächter drehte seinen Oberkörper, so dass Kea nur seinen Rippenbogen traf. Ihr Gegner verpasste ihr einen Schwinger in die Magengrube, der ihr für den Moment den Atem raubte. Kea krümmte sich zusammen. Der Schmerz raste durch ihren Körper. Sie musste das hier schnell erledigen, die beiden Kerle waren nicht zu unterschätzen. Ein russischer Oligarch beschäfigte keine Weicheier als Bodyguards. Die Männer waren vermutlich bei den Speznas gewesen, bevor Dragow sie angeheuert hatte.
Aber auch Keas Ausbilder in Tallinn hatte einst bei den sowjetischen Elitetruppen gedient.
Der Dunkelhaarige hatte seinen Chef in eine stabile Seitenlage gedreht und Dragows Hemd geöffnet. Jetzt kam er seinem Kollegen zu Hilfe. Sie wollten Kea in die Zange nehmen.
Zum Glück gehörte zur Zimmermädchenuniform des Hotels kein Rock, sondern eine Hose. So war es Kea möglich, bei dem Blonden einen hohen Kung-Fu-Tritt anzubringen, der ihn zurücktaumeln ließ. Die Männer waren nicht dumm. Sie mussten längst begriffen haben, dass sie es nicht mit einer normalen Hotelangestellten zu tun hatten.
Die Tür war nun frei.
Während der Blonde noch Keas Tritt verdauen musste, wurde sie nun von dem Dunkelhaarigen gepackt. Er wollte sie zu Boden ringen. Der Leibwächter war einen Kopf größer als sie und schien aus purer Muskelmasse zu bestehen. Aber Kea konnte sich losreißen und verpasste ihm einen Handkantenschlag gegen den Hals.
Sie erreichte die Tür, riss sie auf. Da hörte sie die Stimme des Blonden.
„Knall das Biest nieder!“
Er benutzte nun die russische Sprache, aber Kea verstand ihn. Sie stürmte den Hotelkorridor entlang. Nur wenige Meter von der Suite entfernt gab es einen Wäscheschrank. Und dort hatte sie zwischen den zusammengefalteten Laken ihre Glock versteckt.
Eine Kugel sirrte knapp an Keas Kopf vorbei, als sie die Schranktür aufriss. Das Adrenalin jagte durch ihren Körper. Sie griff sich ihre Pistole, feuerte zurück. Damit hatten ihre Widersacher nicht gerechnet.
Kea konnte nicht sehen, ob sie einen der Männer getroffen hatte. Wichtig war nur, das Hotel so schnell wie möglich zu verlassen. Die Schüsse waren nicht zu überhören. Wahrscheinlich riefen in diesem Moment schon zahlreiche Hotelgäste und Angestellte die Polizei an.
Sie riss die Tür zum Nottreppenhaus auf und sprang die Stufen hinab. Wenig später hatten auch die Leibwächter den oberen Treppenabsatz erreicht. Doch sie setzten Kea nicht nach, sondern feuerten. Die Schussgeräusche hallten in dem engen Stiegenhaus wider.
Eine Kugel erwischte Kea an der linken Flanke. Es fühlte sich an, als ob sie ein rotglühender Speer gestreift hätte. Durch die Aufprallwucht wurde sie von den Beinen gerissen. Sie fiel mehrere Stufen hinab und blieb auf dem nächstgelegenen Treppenabsatz liegen. Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen. Sie konnte spüren, wie das Blut aus ihrem Körper sickerte.
Kea sog Luft in ihre Lungen. Noch war sie nicht am Ende. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Schädel brummte, weil sie mit dem Kopf gegen eine Stufe geknallt war. Von den Schmerzen in ihrer Seite gar nicht zu reden. Aber noch war sie nicht außer Gefecht gesetzt. Und sie hielt nach wie vor ihre Glock in der Rechten.
Als sie ihre Lider öffnete, sah sie die beiden Bodyguards näher kommen. Ob die Kerle glaubten, dass sie erledigt wäre? Bevor die Männer reagieren konnten, feuerte Kea kurz hintereinander vier Schüsse ab. Ihr blieb keine Zeit zum Zielen, aber auf die kurze Distanz verfehlte sie ihre Feinde nicht. Die Geschosse schlugen in die Oberkörper der Leibwächter. Die Kerle wurden von den Füßen gerissen.
Kea kam taumelnd hoch. Tränen brannten in ihren Augen. Das Blut lief an ihrer Seite hinab. Zum Glück war die Hose schwarz, daher fielen die Flecken nicht sofort auf. Sie wusste nicht, ob ihre Widersacher tot oder nur schwer verwundet waren. Für Kea zählte nur, dass sie nicht weiterhin von den Männern verfolgt wurde.
Irgendwie schaffte sie es, den in der Tiefgarage abgestellten Porsche zu erreichen und den Motor zu starten. Als sie die Garagenausfahrt hinter sich gelassen hatte, kamen ihr bereits mehrere Streifenwagen mit heulenden Sirenen entgegen. Aber die Polizisten würdigten den Sportwagen keines Blickes, sondern hielten direkt auf den Hoteleingang zu.
Keas Handflächen waren schweißnass.
Sie kurvte einige Zeit durch die Gegend, bis sie sicher war, nicht verfolgt zu werden. Dann brachte sie den Porsche in einer stillen Stichstraße zum Stehen und griff sich den Verbandskasten. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nur einen Streifschuss abbekommen hatte. Die Wunde tat trotzdem gemein weh, aber Kea wurde dadurch nicht außer Gefecht gesetzt. Und das war das Wichtigste.
Sie schickte dem Hauptmann die Passwörter als SMS. Gleich darauf rief er zurück.
„Gute Arbeit. Ab hier übernimmt Tallinn. Wir haben mit dieser Angelegenheit nichts mehr zu tun. Ich gehe davon aus, dass Sie Ihre Aufgabe erfolgreich gelöst haben. Meine Anerkennung ist Ihnen sicher.“
„Schön, und was wird nun aus meiner Tochter?“
„Leider liegt mir noch kein Endergebnis vor, aber wir arbeiten daran.“
„Dann muss ich mich wohl selbst darum kümmern!“, fauchte Kea und beendete das Telefonat. Noch nie zuvor hatte sie so respektlos mit ihrem Vorgesetzten gesprochen, aber sie war mit ihren Nerven am Ende.
Kea würde nichts anderes übrigbleiben als mit Nubik in Verbindung zu treten. Und darauf zu hoffen, dass er sich noch nicht an Suvi vergriffen hatte. Ihre Finger fühlten sich bleischwer an, als sie die Mobilfunknummer ihres Feindes wählte. Nubik war kurz angebunden.
„Und? Hast du, was ich brauche?“
„Ja, ich … soll ich es dir gleich schicken?“
„Ich will dich persönlich treffen“, sagte Nubik. „In einer Stunde, am Roßdamm im Hafen. Da ist eine Lagerhalle mit blauem Blechdach.“
„Kann ich dann meine Tochter sehen?“
„Bis später“, erwiderte Nubik und legte auf. Kea fühlte sich, als ob jemand ihre Kehle zugeschnürt hätte. Ihr Feind schien Katz und Maus mit ihr zu spielen. Das war ein fürchterliches Gefühl. Ob Suvi überhaupt noch lebte?
Kea hätte am liebsten noch einmal den Hauptmann angerufen. Aber dann tat sie es doch nicht. Sie kam sich benutzt vor. Jahrelang hatte sie erstklassige Arbeit für den Geheimdienst geleistet, ihren Körper verkauft und sich aus lauter Ekel in die Drogen geflüchtet. Und jetzt, wo sie auf Hilfe angewiesen war, ließen ihre Kollegen und Vorgesetzten sie im Regen stehen. Es hatte nicht danach geklungen, als ob der KAPO besonders viel Energie in Suvis Befreiung stecken würde. Aber vielleicht hatte ja René schon etwas herausgefunden?
Er hatte Kea seine neue Mobilfunknummer gegeben, bevor sie ihn an der Reeperbahn abgesetzt hatte. Ihr Ex-Liebhaber war einer der unzuverlässigsten Menschen, die sie kannte. Es kam ihr wie eine Ironie des Schicksals vor, dass sie nun ausgerechnet ihre ganzen Hoffnungen auf diesen Mann setzte.
Aber bei René sprang nur die Mailbox an.
Kea schnaubte ironisch. Sie hätte sich denken können, dass seine Versprechungen nicht mehr wert waren als das Schwarze unter seinem Daumennagel. Also blieb ihr nichts anderes übrig als sich Nubiks Willkür auszuliefern. Bevor Kea zum Treffpunkt fuhr, vertauschte sie ihre Zimmermädchenuniform gegen eine Jeans und einen Kapuzenpullover. Außerdem zog sie Tennisschuhe an und lud ihre Glock nach.
Der Roßdamm war eine gewundene Gewerbestraße, die unter der Ellerholzbrücke verlief. Hier gab es Schleusen, die zu den westlich und östlich der Fahrbahn gelegenen Hafenbecken führten. Ansonsten befanden sich in diesem Teil des Hafens nur Schuppen und Lager, die nachts völlig menschenleer waren.
Kea fand die Lagerhalle auf Anhieb. Sie erblickte auch einen SUV, der einen Steinwurf weit entfernt geparkt war. Von Nubik oder ihrer Tochter fehlte allerdings jede Spur. Sie hatte ein mieses Gefühl in der Magengegend, als sie aus dem Porsche stieg.
Kea hatte die Pistole in die Tasche ihres Kapuzenpullovers gesteckt. Sie wollte nicht sofort mit einer Waffe in der Hand aufkreuzen. Aber falls ihr Feind dem Kind etwas angetan hatte, dann würde er diese Nacht nicht überleben.
Sie ließ ihren Blick über die mannshohen Stahlkabeltrommeln und die verrosteten Schrott-Container schweifen. Es gab auf dem offenen Gelände unzählige Versteckmöglichkeiten.
„Nubik?“, rief sie. „Wo bist du, zum Henker?“
Kea war erschrocken darüber, wie dünn und kläglich sich ihre eigene Stimme anhörte. Sie war am Ende ihrer Kräfte, wollte nur noch schlafen, vielleicht sogar sterben. Das spielte jetzt keine Rolle mehr, solange Suvi nur leben und glücklich sein würde.
Da ertönte ein leises Geräusch. Im nächsten Moment fiel ein Körper von der Kranbrücke hinab, unter der Kea stand. Einen entsetzlichen Moment lang fürchtete sie, ihre Tochter vor sich zu haben.
Stattdessen lag Renés Leiche vor ihren Füßen.
Kea biss die Zähne zusammen. René war vor seinem Tod gefoltert worden. Man musste kein Mediziner sein, um das zu erkennen. Er hatte also wirklich versucht, Suvi zu finden. Und er war damit gescheitert.
So wie mit allen anderen Vorhaben in seinem Leben.
Instinktiv krampfte Kea ihre Rechte um den Griff ihrer Glock, als Nubik lässig und flink die Stahlleiter hinab gestiegen kam. Er trat langsam auf Kea zu und blieb in einiger Entfernung stehen. Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf den Toten.
„Dein Stecher hat zum letzten Mal versucht, mir in die Suppe zu spucken. Ich hätte ihn neulich in meinem Nachtklub schon aufhängen sollen. Dann wäre sein Tod um Einiges leichter gewesen.“
Nubik lachte hämisch.
„René war so harmlos wie ein Teddybär. Er wollte mir nur helfen!“, blaffte sie.
Ihr Feind schüttelte den Kopf.
„Es bekommt niemandem gut, sich in meine Angelegenheiten zu mischen. Hast du die Passwörter?“
„Ja, sicher. Wo ist Suvi?“
„Ich stelle hier die Fragen. Über deine Tochter reden wir später. Du lässt jetzt zunächst deine Knarre fallen. Ich frage mich sowieso schon die ganze Zeit, warum eine Hure so gut mit einer Schusswaffe umgehen kann.“
Kea zögerte. Nubik hatte oft genug bewiesen, dass ihm ein Menschenleben nichts bedeutete. Er konnte sie schneller töten als er eine Fliege erschlug.
„Noch einmal sage ich es nicht“, drohte er.
Keas Knie fühlten sich butterweich an, als sie den Griff um ihre Glock löste. Die Pistole landete auf dem nassen Asphalt zu ihren Füßen.
„Und jetzt die Passwörter“, forderte Nubik. Kea holte ihr Smartphone aus der Tasche. In diesem Moment klingelte es. Sie war so angespannt, dass es ihr beinahe aus den Fingern geglitten wäre. Ob sie es riskieren konnte, Nubik warten zu lassen?
Das Display zeigte die Nummer des Hauptmanns an. Wollte er sie zusammenstauchen, weil sie zuvor so patzig gewesen war? Oder gab es einen anderen Grund für den Anruf? Es kam Kea so vor, als ob sie einen Eisklumpen im Magen hätte. Sie nahm das Gespräch an, obwohl Nubik ein unheilverkündendes Gesicht machte.
„Ja?“
„Es gibt hier jemanden, der mit Ihnen sprechen möchte“, sagte der Hauptmann auf Estnisch. Gleich darauf hörte Kea ein vertraute helle Stimme.
„Mama? Der Onkel mit der Brille hat mich aufgeweckt. Ich war soooo müde.“
„Schatz.“ Keas Augen wurden feucht. „Geht es dir gut, Schatz?“
„Ja, aber du fehlst mir, Mama.“
Während Kea mit ihrer Tochter telefonierte, ließ sie Nubik nicht aus den Augen. Er fasste in seine Tasche, zog einen Revolver hervor. Sie schaute in seine kalten Mörderaugen.
Kea glitt zu Boden, hob ihre Glock auf und richtete sie auf ihren Feind. Nubik schoss, aber die Kugel sirrte knapp an Kea vorbei.
Sie traf besser.
Das Projektil hackte ein Loch in Nubiks Stirn. Er war schon tot, bevor sein zusammenbrechender Körper den Boden berührte. Kea verharrte einen Moment. Sie hatte während des Schusswechsels ihr Smartphone verloren. Kea nahm es und stellte fest, dass es noch funktionierte. Nun war wieder ihr Vorgesetzter am Apparat.
„Ihre Tochter hat sich erschrocken, weil es gerade so laut geknallt hat. Ich sagte ihr, es wäre ein Spiel.“
„Ja, das stimmt auch. Aber das Spiel ist jetzt für immer vorbei“, entgegnete Kea.
Die Fähre nach Helsinki war abfahrbereit. Von Finnland aus sollte die Reise weiter nach Tallinn gehen.
Kea verabschiedete sich am Travemünder Terminal von dem Hauptmann. Suvi saß neben ihr auf einer Bank und beschäftigte sich mit ihrem neuen Malbuch. Kea warf ihr einen liebevollen Blick zu.
„Sie hätten mir ruhig sagen können, dass auch meiner Tochter ein Mikrochip implantiert wurde“, sagte Kea zu ihrem Vorgesetzten. Der Hauptmann wiegte den Kopf.
„Ich wollte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Die Rettungsaktion hätte ja immer noch schiefgehen können. Als Ihrer Tochter vor einem Jahr der Blinddarm entfernt wurde, haben wir die Gelegenheit genutzt. Seitdem war es ein Leichtes für uns, Suvi zu orten. Und Ihre Tochter hat nichts davon mitbekommen, wie sie befreit wurde.“ Er machte eine Kunstpause. „Wir haben Nubiks Männer lautlos getötet. Und Suvi hat die ganze Zeit geschlummert wie ein kleiner Engel.“
„Was ist eigentlich aus den Milliarden geworden?“, wollte Kea wissen.
„Die sind jetzt da, wo sie hingehören. Das Geld liegt bereits auf estnischen Staatskonten.“
Kea nickte und warf einen Blick auf die weite Wasserfläche der Ostsee.
„Ich freue mich, die Heimat wiederzusehen.“
„Wir sind sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit, Leutnant. Es wird Ihnen guttun, im Innendienst ein wenig zur Ruhe zu kommen. Ich hoffe nur, dass Ihnen St. Pauli nicht fehlen wird.“
„Ganz bestimmt nicht, Hauptmann. Leben Sie wohl. Ich habe jetzt alles, was ich brauche.“
Mit diesen Worten nahm Kea ihre Tochter bei der Hand. Sie traten auf die Gangway des Schiffs und waren gleich darauf in dem großen weißen Rumpf der Fähre verschwunden.
ENDE
Es war Freitag der dreizehnte, als mein Boss in seinem Blut badete. Eigentlich hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass er daheim war. Und schon gar nicht in seinem Jakuzzi, nackt und mit durchschnittener Kehle.
Ich kam in das weiträumige Luxusbad gelatscht und sah die Leiche. Roch das Blut und das teure Badesalz. Eigentlich hätte ich schreien müssen wie eine Irre. Trotzdem blieb ich cool.
Vielleicht halten Sie mich jetzt für ein gefühlloses Luder. Aber das bin ich nicht. Gewiss, das Adrenalin jagte durch meinen Körper und mein Herz hämmerte wie die Bässe in einem St.-Pauli-Nachtclub gegen zwei Uhr morgens.
Nun arbeitete ich schon sechs Monate lang für Heiner Borchert, und es hatte niemals Ärger gegeben. Allerdings war ich auch so kreuzbrav wie nie zuvor in meinem zweiundzwanzigjährigen Leben. Ich ging jede Woche zur Anti-Aggressions-Therapie, wie es meine Bewährungsauflagen vorsahen. Okay, mein Job als Haushälterin bei diesem Blankeneser Investmentbanker war nicht das Gelbe vom Ei. Andererseits riss man sich auf dem Arbeitsmarkt nicht gerade um eine mehrfach vorbestrafte Gewaltkriminelle.
Oder hätten Sie mich eingestellt?
Eben.
Ich verdankte meinen Arbeitsplatz vor allem der sozialen Einstellung von Borcherts Ehefrau Brigitte. Sie wollte unbedingt die Welt retten, düste unermüdlich zwischen Suppenküchen, Flüchtlingsunterkünften und Obdachlosenheimen hin und her.
Und Brigitte Borchert war wild entschlossen, aus mir ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu machen.
Doch in diesem Moment schien alles vorbei zu sein.
Das wurde mir bewusst, als ich die blutige Mordwaffe auf den Bodenfliesen liegen sah.
Es war das Küchenmesser, mit dem ich am Tag zuvor noch Erdbeeren geschnitten und der Familie serviert hatte.
Mit meiner Schulbildung ist es nicht weit her. Aber ich erkenne, wenn man mir eine Falle stellt.
Meine Fingerabdrücke befanden sich auf dem Messergriff. Der Mörder musste erst vor kurzem abgehauen sein, denn das Blut auf dem Boden war noch nicht getrocknet. Und er wusste vermutlich auch, dass ich freitags um zehn Uhr mit dem gründlichen Hausputz begann. Um diese Zeit war mein Chef normalerweise schon seit zwei Stunden bei der Privatbank im Kontorhausviertel, wo er arbeitete.
Wer wollte mir etwas anhängen?
Um diese Frage kreisten meine Gedanken.
Ich stand immer noch wie angewurzelt vor der offenen Badtür. Keine Ahnung, wie lange ich meinen toten Chef angeglotzt habe. Vielleicht eine Minute lang. Mir kam jedes Gefühl für Zeit und Raum abhanden, als ich plötzlich hinter mir einen schrillen Schrei hörte.
Ich wirbelte herum.
Hinter mir stand mitten im Wohnsalon Chantal, Heiner und Brigitte Borcherts neunzehnjährige Tochter. Die Blonde mit der Modelfigur trug ihr Tennisdress. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen.
Natürlich konnte sie die blutige Leiche sehen. Erstens ist die Tür sehr breit, und zweitens bin ich ein ziemlich dünner Hering.
„Hiiiilfeeee! Osman!“
Chantal plärrte erneut. Osman ist der Gärtner der Familie - ein großer Kerl mit breitem Kreuz, der seine Freizeit im Fitnessstudio verbringt. Wenn er mich festhielt, würde ich schlechte Karten haben.
Verstehen Sie, ich kann mich meiner Haut wehren. Während meiner bewegten Jugend in Steilshoop habe ich mich öfter mit Kerlen geprügelt, die größer und stärker waren als ich.
Doch ich stand immer noch unter Bewährung.
Ich drehte mich zu Borcherts Tochter um.
„Hör mal, Chantal, das ist nicht ...“
Sie ließ mich nicht ausreden, sondern riss die Augen noch weiter auf und machte ein paar schnelle Schritte rückwärts.
„Nein, lass mich - du Mörderin! Caro ist eine Mörderin!“
Okay, was hätte sie anderes denken sollen? Da gab es meine dunkle Vergangenheit, die mir den Spitznamen Messermädchen eingebracht hatte. So nannten mich jedenfalls die Zeitungsschmierer nach meiner letzten Verhaftung.
Wer immer den Komplott ausgeheckt hatte, verstand sich auf gutes Timing. Chantal überraschte mich, und Osman sollte mich bis zum Eintreffen der Bullen kaltstellen.
Schon konnte ich seine schnellen Stiefeltritte auf der Gartentreppe hören.
Jetzt war nicht die Zeit für Erklärungen. Und auch nicht dafür, die Mordwaffe verschwinden zu lassen. Das wäre sowieso ein perfektes Schuldeingeständnis gewesen, oder?
Ich wollte nicht mehr hinter Gittern sitzen.
Hannöfersand ist zwar nicht Alcatraz, aber es gibt weit angenehmere Aufenthaltsorte als das Hamburger Frauengefängnis.
Also machte ich den langen Schuh, wie man im Knast so schön sagt.
Da Osman aus Richtung Garten kam, verdünnisierte ich mich zum Haupteingang hin. Die Borchert-Villa hat ihre Frontseite an der Elbchaussee, während die mit einem hohen Eisenzaun gesicherte Grünfläche sich auf der Rückseite befindet.
„Bleib stehen, du Miststück!“, rief Osman laut.
Ich warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Der bullige Gärtner hatte die Verfolgung aufgenommen, wobei er drohend eine Handsichel schwang. Ich wollte mit diesem messerscharfen Werkzeug jedenfalls keine Bekanntschaft machen.
Ob Osman mit dem Drahtzieher unter einer Decke steckte?
Wenn er mich tötete, kam er gewiss mit Notwehr oder Nothilfe oder so etwas davon. Ich war eine gemeingefährliche Kriminelle und so schuldig, wie man nur sein kann, oder?
Abgesehen davon, dass ich Heiner Borchert nicht getötet hatte.
Aber würde wirklich jemand dem Messermädchen glauben?
Ich hatte da so meine Zweifel.
Zum Glück war Osman schätzungsweise doppelt so schwer wie ich. Jedenfalls flitzte ich so schnell es ging durch den Haupteingang hinaus. Mein Mountainbike, das ich für achtzig Euro gebraucht gekauft hatte, war mit einer schweren Kette an dem Eisengitter befestigt.
Mit fliegenden Fingern versuchte ich, es zu öffnen.
Doch meine Angst und Nervosität durchkreuzten meine Pläne. Erst rutschte ich ab, dann verklemmte sich der Schlüssel im Schloss.
Verflucht!
Mit lief der Schweiß über den Rücken. Endlich gelang es mir, das verdammte Fahrradschloss aufzubekommen. Ich umklammerte die Kette mit meiner verschwitzten Hand, zog sie heraus.
In diesem Moment wurde ein riesiger Schatten über mich geworfen.
Mein Verfolger hatte mich eingeholt. Und er holte mit seiner Handsichel aus.
„Hab ich dich, du dreckige Mörderin!“
Ich ließ ihm keine Chance, mich zu erwischen. Schließlich habe ich schon mehr als genug Keilereien überlebt, das können Sie mir glauben.
Um das Schloss zu öffnen, hatte ich mich neben mein Fahrrad gekauert. Nun rollte ich seitwärts ab, bevor Osman mich damit erwischen konnte. Sicher, er war viel stärker als ich, allerdings auch um einiges langsamer.
Ich zog ihm mit ganzer Kraft die schwere Kette einmal quer über seine Visage.
Damit hatte er nicht gerechnet.
Ich auch nicht, ehrlich gesagt.
Eigentlich glaubte ich an die Wirkung des Anti-Aggressions-Trainings. Aber in diesem Moment zählte nur meine Flucht, die unbedingt glücken musste. Und wer sich mir in den Weg stellte, konnte sich warm anziehen.
Der Gärtner taumelte jedenfalls rückwärts gegen den Zaun. Er schrie vor Schmerzen auf, Blut floss aus seiner Nase.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten empfand ich keinen Triumph, eher ein schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich hielt er mich wirklich für eine gefährliche Killerin, die dringend aus dem Verkehr gezogen werden musste.
Doch ich durfte mich von ihm nicht aufhalten lassen.
Also schnappte ich mir mein Mountainbike, schwang mich in den Sattel und trat kräftig in die Pedale.
Aber wohin sollte ich fahren? Ganz gewiss nicht in die betreute Wohngemeinschaft für Ex-Knackis, die momentan mein Zuhause war. Dort würden die Bullen mich als Erstes suchen. Ich zweifelte nämlich nicht daran, dass Chantal bereits die 110 gewählt hatte.
Es war, als hätte ich durch diesen Gedanken das Unglück heraufbeschworen.
Plötzlich ertönte nämlich die Sirene eines Streifenwagens hinter mir. Ich schaute über die Schulter und sah eine Bullenkarre, die mich verfolgte.
Ich riss den Lenker herum und bog von der breiten Elbchaussee in den Mühlenberg ein. Von dort aus gelangte ich auf das Gelände des Hirschparks. Der Polizist am Lenkrad stieg in die Eisen, auf den schmalen Wegen der Grünanlage konnte der Streifenwagen mir nicht folgen.
Doch was nutzte das schon?
Über Funk konnte Verstärkung angefordert werden, um das Gelände zu umstellen. Außerdem gab es auch Fahrradstreifen, die verflixt auf Zack waren. Ich durfte mich also nicht allzu lange in dem Park aufhalten.
Ich raste an Müttern mit Kinderwagen und Joggern vorbei bergab, Richtung Elbe. Dann bremste ich und ließ mein Rad zurück. Es tat mir leid um das Mountainbike, weil ich es für achtzig Euro gebraucht gekauft und mit viel Mühe wieder fit gemacht hatte. Aber was nützte mir der fahrbare Untersatz, wenn ich wieder auf einer Gefängnisinsel die Zeit totschlagen musste?
Die Bullen hielten nach einer Radfahrerin Ausschau, also würde ich zu Fuß die besseren Karten haben. Jedenfalls hoffte ich das, während ich die Steinstufen der langen Hirschparktreppe hinab sprang. Meine Lungen brannten, aber an eine Pause war einstweilen nicht zu denken.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass die Schlinge um meinen Hals sich bereits zusammenzog.
In Rekordzeit erreichte ich den Elbuferweg und rannte stadtauswärts weiter. Ob ich wohl als Joggerin durchgehen konnte?
Naja, ich trug zu meiner schwarzen Jogginghose ein rot-gelbes Teamtrikot der spanischen Nationalelf (für einen Euro im Second-Hand-Shop erstanden), außerdem eine graue offene Kapuzenjacke. Alles war alt, ausgebleicht und zerschlissen.
Was für Klamotten würden Sie zum Putzen anziehen?
Ich blickte nach links auf die Elbe, wo gerade ein Containerriese unter brasilianischer Flagge den Hafen verließ. Was hätte ich darum gegeben, in diesem Moment an Bord sein zu können! Doch solche Wendungen gibt es wohl nur in Romantikkomödien, wo dann am Zielort der Märchenprinz auf mich gewartet hätte.
Nein, das Schiff war unerreichbar, doch stattdessen sah ich vor mir die zweitbeste Rettung.
Ein Bus der Linie 48, der gerade die Haltestelle ansteuerte!
Ich legte noch einen Extra-Sprint ein und konnte an Bord springen, bevor die Türen geschlossen wurden. Brav bezahlte ich meinen Fahrpreis und ließ mich nach Luft ringend auf die nächste Sitzbank fallen.
Das war der Moment, in dem mein Smartphone klingelte.
Mir blieb beinahe das Herz stehen. In meinem Inneren tobte ein Gefühls-Tsunami. Wie hatte ich nur so dumm sein können, das Gerät nicht auszuschalten! Jedes Kind wusste doch heutzutage, dass die Bullen ein Smartphone orten konnten! Ob sie mich zum Aufgeben bewegen wollten? Es wäre clever gewesen, das Telefon an der nächsten Haltestelle durch die offen stehende Bustür zu pfeffern. Aber ich bin nicht immer so schlau, das werden Sie schon mitgekriegt haben.
Meine Stimme war belegt, als ich mich meldete. Und ich sprach laut, um das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren zu übertönen.
„Hallo?“
„Hier spricht Dr. Kirchner, Carolin.“
Es fühlte sich an, als ob jemand langsam meine Kehle zudrücken würde. Dr. Elisabeth Kirchner war meine Anti-Aggressions-Therapeutin und Seelenklempnerin. Ich verdankte ihr viel. Und der Gedanke, sie zu enttäuschen, traf mich wie ein Fausthieb in die Magengrube.
Vor allem, da ich überhaupt nichts getan hatte.
Naja, abgesehen von der Ketten-Attacke auf Osman.
„H-hallo“, hauchte ich. Na, toll. Jetzt musste Frau Dr. Kirchner glauben, dass ich völlig von der Rolle war und alle Wörter vergessen hatte - bis auf Hallo.
„Wo bist du gerade, Carolin?“
Ich hustete, doch die Mundtrockenheit wurde nicht besser. Trotzdem schaffte ich es, eine Gegenfrage zu stellen.
„Was wollen Sie?“
Ich krallte meine freie Hand in die Sitzlehne vor mir. Meine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest war mein Griff.
„Ich möchte mit dir reden. Es gibt
Verlag: Elaria
Texte: Martin Barkawitz
Cover: Oliviaprodesign, www.fiverr.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2018
ISBN: 978-3-96465-097-9
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