Eine Frauenleiche im Stadtpark wird zur beruflichen und persönlichen Herausforderung für Kommissarin Heike Stein von der Hamburger Polizei.
Beginnt damit die Mordserie eines irren Killers? Zunächst deutet alles darauf hin, doch Heike Stein hat ihre Zweifel.
Die junge Kriminalistin muss sich nicht nur gegen ihren störrischen Vorgesetzten durchbeißen, sie hat es auch mit einem scheinbar übermächtigen Feind zu tun, der ihr immer einen Schritt voraus ist.
Als ihr auch noch die Liebe in die Quere kommt, scheint die Lösung des Rätsels in weite Ferne zu rücken.
Oder ist Heike Stein in eine teuflische Falle getappt?
Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit oder namentliche Übereinstimmung mit lebenden oder toten Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Lediglich die Freie und Hansestadt Hamburg gibt es wirklich ;-)
Julia Sander zitterte vor Angst.
Die junge Frau ging durch den Stadtpark – wie jeden Tag. Warum auch nicht? Das weitläufige Gelände wurde bevölkert von Eltern mit spielenden Kindern, von Hundebesitzern mit ihren vierbeinigen Lieblingen, von Joggern, Sonnenanbetern und natürlich von wachsamen Wärtern.
Es gab also keinen Grund, gerade heute nicht den Stadtpark zu durchqueren. Jedenfalls tagsüber. Nachts kam Julia ohnehin nicht auf die Idee, das Parkgelände zu betreten. Das war ihr zu gefährlich.
Aber jetzt stand die Sonne noch hoch am Himmel. Julia eilte den breiten Doppelweg hinunter, der vom Planetarium zur Hindenburgallee führt. Sie warf ihr langes dunkles Haar zurück, das ihr ein leicht exotisches Aussehen verlieh. Bei dieser Gelegenheit konnte Julia unauffällig über die Schulter hinter sich schauen.
Nichts!
Abgesehen von einer jungen Mutter mit Kinderwagen, die ihr soeben entgegengekommen war und die nun ihr Baby weiter Richtung Jahnkampfbahn schob. Vor sich sah Julia zwei alte Männer, die auf einer Bank saßen und lebhaft über irgendetwas diskutierten. Im Vorbeieilen hörte die junge Frau Wortfetzen wie »HSV«, »Meisterschaft« und »nicht unterkriegen lassen«. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Sie wünschte sich plötzlich, mit anderen Menschen tauschen zu können. Wie schön es wäre, deren Probleme zu haben. Und nicht ihre eigenen. Eine Morddrohung war schließlich keine Kleinigkeit ...
Mord!
Machte Julia sich nicht selbst verrückt? So schnell wurde man nicht umgebracht, selbst in einer so kriminellen Stadt wie Hamburg nicht!
Doch kaum war ihr dieser ermutigende Gedanke gekommen, als sie die dunkle Gestalt sah. Es war ein Mann. Bildete sie es sich nur ein oder hatte er eine Waffe in der Hand?
Voller Panik begann Julia zu laufen. Dafür trug sie nicht das passende Schuhwerk. Aber das war ihr egal. Sie hetzte in ihren halbhohen Pumps die schmalen Parkwege entlang, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.
Sonst sah man hier immer jede Menge Parkwärter. Nur ausgerechnet heute nicht! Oder doch? War es nicht einer dieser Uniformierten, der dort zwischen den Bäumen hervortrat?
Hoffnung keimte in der jungen Frau auf. Hoffnung, die sich schlagartig in helle Panik verwandelte. Denn es war ihr Verfolger, der ihr nun den Weg versperrte. Irgendwie musste er es geschafft haben, sie zu überholen, auf einem der Parallelwege an ihr vorbeizuziehen. Oder wurde sie von mehreren Männern eingekreist?
Julia keuchte, wollte sich auf dem Absatz umdrehen. Doch es war zu spät. Ein Geräusch ertönte. Es klang, als würde eine aufgeblasene Brötchentüte zerplatzen. Dann spürte Julia einen furchtbaren Schmerz in der linken Brusthälfte. Es war die letzte Empfindung in ihrem sechsundzwanzigjährigen Leben.
Julia Sander stürzte in einen schwarzen Abgrund, aus dem es kein Zurück mehr gibt.
Das Telefon klingelte fünf Minuten vor dem Wecker. Kriminalhauptkommissarin Heike Stein tastete schlaftrunken nach dem Mobiltelefon auf ihrem Nachtschränkchen.
»Hallo ...?«
»Hier ist Ben. Guten Morgen.«
Heike fuhr sich mit der linken Hand durch ihre strohblonde Kurzhaarfrisur, während sie mit der Rechten das Telefon an ihr Ohr hielt.
Ben, das war Benjamin Wilken, ihr Kollege und Dienstpartner bei der Kriminalpolizei Hamburg.
»So gut wird der Morgen nicht sein, wenn du mich schon so früh aus dem Bett scheuchst.«
»Das stimmt leider, Heike. Wir haben eine Leiche. Der Fund wurde soeben gemeldet. Soll ich dich abholen?«
»Kommt drauf an.« Heike rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Wo ist denn der Tatort?«
»Im Stadtpark. In der Nähe von der Brunnenhalle.«
»Nein, da fahre ich selbst hin. Ist ja nur ein Katzensprung von hier.«
»Wie du willst. Wir sehen uns dann am Tatort. Ciao.«
Kriminalhauptkommissar Ben Wilken beendete das Gespräch. Auch Heike deaktivierte ihr Telefon wieder. Sie schwang ihre langen, wohl geformten Beine aus dem Bett.
Missgelaunt tappte sie auf nackten Fußsohlen ins Bad. Natürlich war ein unnatürlicher Tod immer eine schreckliche Sache. Obwohl sie nun schon zwei Jahre bei der Mord-Sonderkommission des Landeskriminalamtes Hamburg Dienst tat, ließ sie der Anblick eines getöteten Menschen immer noch nicht kalt. Und das war auch gut so, wie sie fand. Schließlich war sie kein Automat, keine Verbrechensbekämpfungsmaschine.
Als sie die ersten heißen Wasserstrahlen der Dusche auf ihrem Körper spürte, erwachten die Lebensgeister allmählich.
In Windeseile hatte Heike sich fertig geduscht, frottiert und angezogen. Obwohl sie normalerweise viel Wert auf ihr Styling legte, kleidete sie sich an diesem Morgen einfach und sportlich. Eine Jeans, ein Pulli und ein Tweed-Jackett. Auf Make-up verzichtete sie größtenteils. Schließlich war sie in Eile.
Bevor Heike ihre Wohnung in der Isestraße verließ, schob sie noch das Clipholster mit ihrer Dienstwaffe in den Jeansgürtel.
Eine Minute später schwang sie sich auf ihr Mountainbike und trat in die Pedale. Heike besaß keinen Privat-PKW. Sie trug ihr Gehalt lieber in die Boutiquen als in die Auto-Reparaturwerkstätten. Außerdem sah sie einen fahrbaren Untersatz für sich selbst als reine Geldverschwendung an.
Im Dienst konnte sie ohnehin auf den Fuhrpark des Landeskriminalamtes zurückgreifen. Oder sie nahm die U-Bahn, denn die Haltestelle Eppendorfer Baum hatte sie beinahe vor der Haustür. Schlimmstenfalls konnte sie immer noch ein Taxi benutzen.
Heike kam gut voran. Die richtige Rushhour hatte noch nicht angefangen. Sie fuhr durch die Maria-Louisen-Straße, überquerte die Barmbeker Straße und bog rechts in den Grasweg ein. Hier begann schon der Stadtpark.
Sie musste nicht lange suchen.
Zwei Einsatzfahrzeuge parkten mit rotierendem Blaulicht. Uniformierte Kollegen hatten das Gelände weiträumig abgesperrt. Die Technische Abteilung packte bereits ihre Ausrüstung aus dem VW-Transporter.
Heike warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sechs Uhr neunzehn. Keine schlechte Leistung, wenn man bedachte, dass Ben sie erst um fünf Uhr fünfundfünfzig aus süßem Schlaf geklingelt hatte ...
Wenn man vom Teufel spricht, dachte die Kommissarin. Ben kam in einem zivilen Dienstwagen aus Richtung Norden angerollt. Heikes Kollege lebte mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in einem Reihenhaus in Ahrensburg, nördlich von Hamburg.
Heike bremste und warf ihr Fahrrad achtlos ins Gras. Es würde wohl kaum jemand die Nerven haben, es unter den Augen der wachsamen Streifenwagenbesatzungen zu klauen. Ben stieg aus. Die beiden Kriminalbeamten eilten aus verschiedenen Richtungen auf die Fundstelle der Leiche zu. Beide präsentierten ihre Dienstausweise. Sie konnten nicht verlangen, dass jeder uniformierte Polizist sie persönlich als Kollegen in Zivil erkannte.
Ben begrüßte Heike per Handschlag. Er war ein hoch gewachsener und gut aussehender Mann Anfang dreißig. An diesem Morgen trug er beige Chinos, ein lachsfarbenes Flanellhemd und eine Wildlederjacke.
Heike verstand sich gut mit ihm, aber sie waren »nur« befreundete Kollegen. Es gab böse Zungen im Präsidium, die sie als das »Traumpaar vom LKA« (Landeskriminalamt) bezeichneten. Aber dahinter steckte Neid oder Eifersucht, wie Heike vermutete. Der eine oder andere Kollege hätte vielleicht gerne mit ihr Dienst geschoben. Und so manche Kollegin hätte gerne an Heikes Stelle neben Ben im Einsatzfahrzeug gesessen.
Getratscht wurde eben überall, wo mehr als zwei Leute zusammen arbeiteten ...
»Morgen, Heike«, begrüßte Ben sie. »Es sieht so aus, als ob wir den Fall kriegen. Da dachte ich, wir schauen uns gleich mal an, was Sache ist.«
Heike nickte.
»Ich würde gerne die Leiche sehen.«
Bringen wir es hinter uns, fügte sie in Gedanken hinzu. Ein uniformierter Kollege kam zu ihnen – wie ein Schauspieler, der auf sein Stichwort gewartet hat.
»Ich bin Obermeister Hoffmann vom Neunten«, stellte er sich vor. »Wir waren gerade auf Streife, als uns ein Jogger anhielt. Er meldete einen Leichenfund.«
»Wo war das?« Heike zückte ihr Notizbuch.
»Am Jahnring, Frau Hauptkommissarin. Wir haben den Zeugen ins Auto geladen und sind zu der Fundstelle gefahren. Kann nicht länger als eine Minute gedauert haben.«
Heike nickte. Sie war mit der Geographie des Stadtparks in etwa vertraut. Der Jahnring war eine große Durchgangsstraße nördlich des Parkgeländes. Der Park selbst wurde von der Hindenburgstraße sozusagen in zwei Hälften geteilt. Und in der linken Hälfte war die Leiche gefunden worden.
Der Uniformierte machte eine auffordernde Handbewegung. Er führte sie zu einem Gebüsch, wo sich die Technische Abteilung bereits nützlich machte. In grellem Flutlicht wurden Fotos geschossen, die Männer sicherten Spuren und nahmen Proben.
Inmitten der emsig tätigen Spezialisten lag der bleiche Körper einer jungen Frau. Zu Lebzeiten musste die Tote eine Schönheit gewesen sein. Langes dunkles Haar wallte auf ihre Schultern. Der erstarrte Blick drückte grenzenloses Erstaunen aus.
Bekleidet war die Tote mit einem Regenmantel, einem knielangen taillierten Kleid sowie halbhohen Pumps.
»Sexualdelikt?«, fragte Heike mit aller Ruhe, zu der sie bei dieser Frage fähig war.
Obermeister Hoffmann zuckte mit den Schultern.
»Das sollen die Ärzte entscheiden. Aber wenn Sie mich fragen ...«
»Ich frage Sie!«
»Welcher Sexverbrecher würde ihr denn nach der Tat ordentlich die Unterwäsche wieder hochziehen? Noch nicht einmal ihre Strumpfhose ist kaputt oder heruntergerissen.«
Das stimmte natürlich. Heike ärgerte sich darüber, dass ihr so etwas Offensichtliches nicht selbst aufgefallen war.
»Vielleicht hat der Kerl versucht, sich an ihr zu vergehen«, mutmaßte Ben. »Und als sie sich gewehrt hat, da fielen die Schüsse.«
Er deutete auf die Einschussstelle unmittelbar unter dem Herzen.
»Hat der Zeuge die Schüsse gehört?«, fragte Heike.
Der Uniformierte schüttelte den Kopf.
»Der hat gar nichts gehört. Er hat sie gesehen, als er die Hindenburgstraße überquert hat. Unter dem Gebüsch dort. Ihr heller Regenmantel ist ihm aufgefallen.«
»Diesen Zeugen können wir uns auch später noch zur Brust nehmen«, meinte Ben. Er blickte auf. »Da kommt ja Dr. Lehmann.«
Der Dienst habende Pathologe kletterte aus seinem privaten uralten VW Käfer, nahm sein Köfferchen und eilte tatendurstig auf die Leiche zu.
»Wir werden natürlich erst bei der Obduktion in der Gerichtsmedizin genaue Ergebnisse vorlegen können«, sagte der Pathologe. »Aber einen kleinen Überblick kann ich Ihnen schon jetzt geben. Wenn Sie sich etwas gedulden wollen ...«
»Sicher.«
Heike und Ben traten beiseite, um Dr. Lehmann seine Arbeit tun zu lassen. Auch die Technische Abteilung machte unverdrossen weiter.
Heike schaute auf die Sonne, die vor nicht allzu langer Zeit über den Bäumen des Stadtparks aufgegangen war. Ein schöner Morgen. Viel zu schön zum Sterben.
Einer der mit weißen Overalls bekleideten Techniker kam auf sie zu.
»Ist das Ihr Fall?«
»Bis jetzt sieht es so aus.«
»Dann wird Sie das hier interessieren.«
Wie ein Zauberkünstler zog er eine Damen-Schultertasche hervor.
»Die hat im Gebüsch gelegen. Ich wette, sie gehörte der Toten. Wenn Sie sich Einweg-Handschuhe anziehen und vorsichtig sind, dürfen Sie mal drin stöbern. Wir brauchen die Tasche aber für die kriminaltechnische Untersuchung zurück.«
»Versteht sich.«
Genau wie Ben hatte Heike stets Latex-Einweghandschuhe bei sich. Man wusste schließlich nie, was man während eines langen Diensttages untersuchen musste.
Die beiden Kriminalbeamten zogen Handschuhe an. Dann hielt Ben die Umhängetasche auf, während Heike vorsichtig den Inhalt checkte.
»Typisches Frauen-Kuddelmuddel, Ben. Lippenstift, Puderdose, Kopfschmerztabletten, Reserve-Tampons ... ah! Das könnte eine Brieftasche sein.«
Und so war es auch. Das Behältnis bestand aus Kunstleder. Heike blätterte darin herum.
»Unsere unbekannte Leiche hat jetzt einen Namen. Sie heißt Julia Marie Sander, geboren vor dreißig Jahren in Göttingen. Nicht in Hamburg gemeldet.«
»Wenn das die Innenbehörde erfährt!«
»Deine Witze waren auch schon mal besser, mein Lieber. Jedenfalls besaß Julia Sander einen Ausweis für ein Hamburger Fitnessstudio, noch gültig bis Ende nächsten Jahres. Sie war auch mal bei Burger King, jedenfalls ist hier eine Quittung von dem Laden. Dann ihre Chipcard von der Krankenkasse, ihre EC-Karte, Monatskarte vom HVV (Hamburger Verkehrsverbund), Kreditkarte ... und achtzig Euro und 50 Cent in bar.«
»Klingt nicht nach einem Raubmord.«
»Absolut nicht. Und ein Sexualdelikt liegt wohl auch nicht vor.«
Glücklicherweise, fügte sie in Gedanken hinzu. Dadurch wurde Julia Sanders zwar nicht wieder lebendig, aber wenigstens war ihr eine solche Tat erspart geblieben. So sah jedenfalls Heike die Dinge.
»Willst du einen Kaffee?«
Bens Frage kam überraschend, aber Heike stimmte begeistert zu. Den konnte sie jetzt wirklich brauchen. Sie gaben die Handtasche an die Technische Abteilung zurück. Wenn alles ausgewertet war, würden sie sowieso den Inhalt auf ihre Schreibtische im Präsidium bekommen.
Der Hauptkommissar holte eine Thermosflasche aus dem Auto und gab Heike einen Plastikbecher. Gleich darauf füllte er ihn mit der dampfenden, aromatischen Flüssigkeit.
»Mmmh, der ist gut«, meinte Heike nach dem ersten Schluck. »Du denkst aber auch an alles, zu so früher Stunde.«
»Ehrlich gesagt hat Maja ihn gekocht, während ich mich geduscht und rasiert habe.«
Maja, das war Bens Frau. Heike kannte sie persönlich und fand sie äußerst sympathisch. Nicht nur deshalb hätte die Kommissarin niemals eine Affäre mit ihrem Kollegen angefangen. Was Männer anging, hatte sie einen eisernen Grundsatz: Verheiratete und Männer mit fester Freundin waren tabu. Das war für Heike eine Frage der Selbstachtung. Sie wollte keine Familie zerstören.
Außerdem hatten ja auch noch andere Mütter schöne Söhne. Und da Heike sich nicht gerade im Kohlenkeller verstecken musste, mangelte es ihr eigentlich nie an Verehrern ...
Die Vögel zwitscherten an diesem Morgen besonders laut. Aber vielleicht kam es der Kommissarin auch nur so vor. Oder die Tiere waren empört, weil sie durch das grelle Flutlicht in ihrer Ruhe gestört wurden.
Eine halbe Stunde später kam Dr. Lehmann zu ihnen.
»Kriminalbeamter müsste man sein«, meckerte er. »Dann könnte man Kaffee trinken und würde noch dafür bezahlt.«
»Ich schiebe 53 unbezahlte Überstunden vor mir her«, entgegnete Heike trocken. »Was haben Sie denn zu bieten, Doktor?«
»Nicht viel«, behauptete der Pathologe und zückte seine speckige Kladde. »Die Tote ist Anfang dreißig. Der Tod trat durch einen Schuss aus einer Feuerwaffe ein, vermutlich Pistole oder Revolver. Das Projektil wurde noch nicht gefunden. Offenbar war nur ein einziger Schuss notwendig, um die tödliche Wirkung eintreten zu lassen.«
»Hat ein Kampf stattgefunden?«, fragte Ben.
»Sie meinen, ob das Opfer mit dem Täter gerungen hat? Dafür spricht nichts. Keine Quetschungen an den Extremitäten, keine Kratzwunden oder ähnliches. Allerdings ist der Fundort wohl nicht der Tatort. Die Kollegen von der Technischen meinten, das Opfer sei hierher geschleift worden. Vermutlich, nachdem der Tod eingetreten ist.«
Heike spitzte die Lippen. Nun wurde es interessant.
»Können Sie in etwa sagen, wann die Frau erschossen wurde, Dr. Lehmann?«
»Ohne Laboranalyse ..., über den Daumen gepeilt gestern Nachmittag zwischen sechzehn und achtzehn Uhr.«
»Das war am helllichten Tag!«, rief Ben. »Eine Frau wird am helllichten Tag mitten im Stadtpark niedergeschossen – und keiner soll es bemerkt haben?«
Der Pathologe zog ein Gesicht, als ob der Kriminalist ihn persönlich beleidigt hätte.
»Für Schlussfolgerungen sind Sie zuständig, Herr Wilken! Ich halte mich an die Tatsachen. – Sie bekommen dann den schriftlichen Obduktionsbericht so schnell wie möglich!«
Dr. Lehmann rauschte davon wie eine eingeschnappte Operndiva.
»Du weißt doch, wie empfindlich er ist«, tadelte Heike.
»Kann sein – aber soll ich deswegen etwas völlig Unmögliches glauben?«
»Wir brauchen einfach mehr Fakten, Partner. Mal sehen, ob ich uns welche beschaffen kann.«
Mit diesen Worten ging Heike zu Kommissar Paul Sommer hinüber. Der grauhaarige Kriminaltechniker leitete das Spurensicherungsteam.
»Wie lange braucht ihr noch, Paul?«
»Schwer zu sagen, Heike. Meine Jungs haben eine Spur gefunden. Es scheint so, dass die Frau da hinten irgendwo ermordet wurde.«
Er fuchtelte mit der rechten Hand Richtung Nordwesten.
»›Da hinten irgendwo‹ ist mir zu vage.«
»Wir sind ja auch noch nicht fertig, Heike. Weißt du was? Es macht mich nur nervös, wenn ihr uns bei der Arbeit ständig auf die Finger guckt. Ihr kriegt die Ergebnisse so schnell wie möglich.«
»Kannst du uns denn jetzt schon was Bestimmtes sagen?«
Der Kriminaltechniker überlegte kurz.
»Ja. Der Fundort ist definitiv nicht der Tatort. Die Frau wurde nicht hier im Gebüsch erschossen. Außerdem haben wir Abdrücke von Sportschuhen gefunden, die dem Täter gehören können.«
»Die Leiche wurde von einem Jogger gefunden«, wandte Heike ein.
»Weiß ich. Aber dessen Fußabdrücke sehen anders aus. Wenn ich mit meiner Vermutung Recht habe, müsst ihr nach einem Mörder mit Schuhgröße 44 fahnden.«
Wie viele Männer mit dieser Schuhgröße es allein in Hamburg wohl gab? Doch Heike verkniff sich eine ironische Bemerkung. Paul und seine Leute gaben ihr Bestes. Da wäre es nur schäbig gewesen, sich über sie lustig zu machen. Wenn Heike das getan hätte, wäre sie nicht besser gewesen als die Leute, die ihr und Ben eine heiße Liebesaffäre andichteten ...
»Danke, Paul«, sagte Heike mit einem freundlichen Lächeln. »Wenn wir euch sowieso nur im Weg herumstehen, fahren wir schon mal ins Präsidium.«
Der Leiter des Spurensicherungsteams versuchte nicht, seine Erleichterung zu verbergen. Heike nahm nun doch Bens Mitfahrangebot an. Sie schob ihr Mountainbike einfach hinten in den Kombi ihres Kollegen. Nachdem sie sich auf den Beifahrersitz gepflanzt hatte, startete Ben den Wagen.
Ich verstehe nicht, wie jemand am helllichten Tag im Stadtpark abgeknallt werden kann, ohne dass jemand es bemerkt«, brummte er.
»Schalldämpfer«, sagte Heike spontan.
Ben lachte lauthals. Die Hauptkommissarin bedachte ihn mit einem Unheil verkündenden Seitenblick. Sie konnte es nicht leiden, wenn man sie auslachte.
»Entschuldige, Heike – aber das hier ist kein James-Bond-Film! Wie lange bist du jetzt bei der Sonderkommission Mord?«
»Zwei Jahre, wieso?«
»Ist dir in dieser Zeit auch nur ein einziger Fall untergekommen, wo eine schallgedämpfte Schusswaffe benutzt wurde?«
»Nein, aber ...«
»Wir sind hier nicht in Chicago, Heike. Schalldämpferwaffen, das ist etwas für Profis. Warum sollte ein Berufskiller am helllichten Tag im Stadtpark auftreten? Ich tippe eher auf einen Geisteskranken, der wahllos um sich geschossen hat.«
Heike war anderer Meinung. Aber sie hielt einstweilen den Mund. Vorerst konnten sie ohnehin nur die Ergebnisse der Technischen Untersuchung abwarten. Der Obduktionsbefund von Dr. Lehmann würde frühestens am nächsten Tag folgen.
Und dann stand natürlich noch die Morgenbesprechung der Abteilung auf dem Plan ...
Ben lenkte seinen Wagen auf das Gelände des Polizeipräsidiums. Hier befanden sich auch eine Kaserne der Bereitschaftspolizei sowie die Landespolizeischule. Ironischerweise war auch das Präsidium weniger als zwei Kilometer vom Tatort entfernt. Es war, als ob der Täter durch seine Untat nicht nur Heike, sondern auch die Hamburger Polizei allgemein herausfordern wollte.
Aber solche Gedanken waren Unsinn! Oder? Heike machte sich jedenfalls eine Notiz in ihrem Unterbewusstsein.
Heike und Ben stiegen aus dem Auto und betraten das Präsidium, nachdem sie sich legitimiert hatten. Die beiden Kriminalbeamten teilten sich ein Großraumbüro mit den übrigen Mitgliedern der Sonderkommission Mord. Sie alle bearbeiteten auch andere Gewaltverbrechen, wenn nicht gerade ein Tötungsdelikt anlag.
Heike mochte die Atmosphäre im neuen Präsidium, das inzwischen allerdings gar nicht mehr so neu war.
Immerhin roch es noch nach frisch ausgepackten Computerbildschirmen und ebenso frisch gebrühtem Automatenkaffee. Ihr gefielen auch die vielen Grünpflanzen, die als Raumteiler in dem riesigen Büroraum dienten. Dadurch entstand eine – wenn auch gebändigte – Dschungelstimmung.
Die Zeit verging mit einigen Routinearbeiten, bis um zehn Uhr die morgendliche Einsatzbesprechung stattfand. Hierfür versammelten sich Heike und Ben zusammen mit den anderen Kollegen in einem kleineren Raum, dessen Einrichtung aus einem lang gestreckten Tisch, Stühlen und einem Overheadprojektor bestand.
Um Punkt zehn Uhr kam Kriminaloberrat Dr. Clemens Magnussen hereingeschneit. Der Leiter der Sonderkommission Mord war ein schmaler Mann mit hellen Augen und einem sorgfältig gebürsteten Schnurrbart. Seine besondere Eigenart bestand in seiner Tabakspfeife, die er praktisch ständig im Mund hatte.
Doch im Gegensatz zu Sherlock Holmes, dem Urvater aller Kriminalisten, war Dr. Magnussen Nichtraucher. Er stopfte niemals Tabak in seine Pfeife. Dr. Magnussen ließ sich gerne mit Pfeife fotografieren. Und natürlich musste sie auch dabei sein, wenn er gelegentlich im Fernsehen auftrat. Der Kriminaloberrat war der Meinung, dass seine unauffällige Erscheinung durch die Pfeife etwas Unverwechselbares bekäme.
Da konnte Heike ihm nur zustimmen. Ohne sein Maskottchen wäre Dr. Magnussen ein Mann gewesen, an den man sich schwerlich erinnerte.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren!«
Mit diesen Worten nahm der Kriminaloberrat an der Stirnseite des Tisches Platz. Sofort breitete er diverse Schnellhefter und Faxe aus, die er unter dem Arm bei sich geführt hatte.
»Frau Stein und Herr Wilken, was können Sie uns über das neueste Tötungsdelikt im Stadtpark sagen?«
Heike und Ben gaben die bisher bekannten Fakten wieder. Dr. Magnussen zog die Stirn kraus.
»Demnach gibt es also für die Tat selbst keine Zeugen?«
»Bisher haben sich jedenfalls keine von sich aus gemeldet«, sagte Ben. »Aber wenn wir einen Aufruf über die Medien starten ...«
»Das sollten wir auf jeden Fall tun. – Frau Stein, Sie kümmern sich um die Hintergründe des Opfers. Vielleicht gab es ja doch ein Motiv, diese Julia Sander zu ermorden.«
»Ja, das werde ich tun. Und ein Motiv ist sicher vorhanden, Herr Kriminaloberrat. Weshalb wurde sie sonst getötet?«
Heikes Vorgesetzter machte eine unbestimmte Handbewegung.
»Ein geisteskranker Mörder sucht sich seine Opfer oftmals wahllos aus. Wenn man da überhaupt von Aussuchen sprechen kann. Ganz zu schweigen von einem Serienmörder ...«
Heike konnte ihre Verärgerung nicht länger unterdrücken.
»Bisher deutet überhaupt nichts auf einen Serienmörder hin, Herr Dr. Magnussen!«
Es kam Heike so vor, als ob auch in der Kriminalistik die Moden wechselten. So sehr sie bei Kleidern Interesse an und Verständnis für neue Trends hatte, so sehr störte sie diese Masche in ihrem Beruf.
Nach Heikes Erfahrung mordeten Mörder nicht, um einer bestimmten Mode zu folgen. Es gab immer ein Interesse am Tod des Opfers. Das war vor hundert Jahren nicht anders als heute.
Doch der Kriminaloberrat schien sich aus irgendwelchen Gründen für einen Serienmörder als Täter zu erwärmen. Ob Ben ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte?
Heike tauschte einen Blick mit ihrem Kollegen. Aber das konnte eigentlich nicht sein. Schließlich war Ben immer in ihrem Blickfeld gewesen, seit sie das Präsidium betreten hatten.
»Wir werden jedenfalls in alle Richtungen ermitteln«, verkündete Heikes und Bens Vorgesetzter. »Solange wir noch kein überzeugendes Motiv für die Tat haben, kommt auch ein geistesgestörter Serienmörder in Frage.«
Während Dr. Magnussen sprach, klopfte er im Rhythmus seiner Worte mit dem Pfeifenkopf auf den Kunststoff des Besprechungstisches. Ein Takt, der keinen Widerspruch duldete.
Heike beschloss, sich einstweilen zurückzuhalten. Es gab keinen Grund, jetzt schon einen Zwergenaufstand zu veranstalten. Die junge Polizistin war sicher, dass sie Gründe dafür finden würde, warum jemand Julia Sander getötet hatte ...
Der Kriminaloberrat verteilte die Arbeit. Heike und Ben sollten im unmittelbaren beruflichen und privaten Umfeld des Opfers recherchieren.
Ihre Kollegen Melanie Russ und Bernd Engel sollten die Parkwächter befragen, die am Vortag und während der Nacht Dienst hatten.
»Und Herr Wagner und Herr Koch, Sie nehmen sich die Kartei vor. Ich möchte wissen, was für Gewaltverbrechen wir in den letzten fünf Jahren in Hamburger Parkanlagen hatten. Vielleicht ergibt sich ja ein Verhaltensmuster, in das die jetzige Tat hineinpasst.«
Kriminalpsychologie für Anfänger, dachte Heike ironisch. Aber bevor sie ihre freche Zunge nicht mehr im Zaum halten konnte, stürmte sie lieber hinaus. Man musste den Arbeitstag nicht unbedingt damit anfangen, sich mit dem Chef in die Haare zu kriegen.
Auf ihrem Schreibtisch erwartete sie bereits eine positive Überraschung. Die Technische Abteilung hatte ihr die Umhängetasche des Opfers zukommen lassen. Oder jedenfalls die Dinge, die nicht näher untersucht werden mussten.
»Eine Mitarbeiter-Rabattkarte von Paris Moderne«, sagte Heike, während sie die Brieftasche des Opfers genauer als am Morgen unter die Lupe nahm.
»Was ist das?«, fragte Ben, der ihr gefolgt war. Ihre beiden Schreibtische waren mit den Frontseiten gegeneinander geschoben.
»Eine exklusive Boutique im Hanseviertel«, erklärte Heike. Sie erwähnte nicht, dass sie selbst dort schon ein paar sündhaft teure Stücke erstanden hatte. Sie wusste schließlich, dass Ben ein Modemuffel war. Zum Glück hatte seine Frau Maja Geschmack. Sie kaufte nämlich immer die Kleider für ihn, wie Heike wusste.
»Mode ... das machst dann wohl besser du, Heike«, sagte Ben prompt.
Es erstaunte die Kriminalistin überhaupt nicht, diese Antwort von ihrem Kollegen zu hören. Sie nickte und schaute die Brieftasche weiter durch.
»Hier ist eine Visitenkarte – Erik Evermann, MBA. Was soll das sein?«
»Master of Business Administration«, erwiderte Ben, der die fast unheimliche Fähigkeit zur Entschlüsselung von Abkürzungen besaß. Dabei schreckte er auch nicht vor Fremdsprachen zurück. »Das ist ein amerikanischer Universitätsabschluss. Vermutlich hat der gute Erik auf der anderen Seite des Großen Teichs studiert.«
»Willst du den Typen checken, Ben? Falls er noch ein paar Abkürzungen drauf hat, beißt er bei dir auf Granit.«
Der Hauptkommissar grinste und steckte die Visitenkarte ein. Heike hingegen nahm auch das Schlüsselbund von Julia Sander an sich. Ihre Adresse stand zwar nicht im Personalausweis, aber auf einem Abholzettel für eine Postsendung. Dieser hatte ebenfalls in der Umhängetasche gelegen.
»An der Ohlsdorfer Straße hat sie gewohnt«, dachte Heike laut nach. »Das ist zumindest ein Grund, warum sie den Park durchquert hat.«
»Verstehe ich nicht.«
»Weil du in Autofahrerkategorien denkst, Ben. Angenommen, sie wollte zur U-Bahn-Station Borgweg. Wenn man nicht den Stadtpark durchquert, muss man einen Riesenumweg über die Barmbeker Straße machen.«
»Oder man steigt an der Station Hudtwalckerstraße ein«, meinte Ben trocken. »Das reicht mir nicht, um ihre Anwesenheit im Park zu erklären. – Apropos: Soll ich dich mitnehmen, wenn ich zu diesem Erik Evermann fahre? Ich könnte dich irgendwo absetzen.«
»Nein, danke. Ich will mir in der U-Bahn alles noch mal durch den Kopf gehen lassen.«
Ben zuckte mit den Schultern.
»Wie du willst. Wenn es was Wichtiges gibt, können wir uns ja mit den Handys verständigen. Sonst treffen wir uns im Präsidium wieder.«
Mit diesen Worten dampfte Ben ab. Heike war froh, für den Moment alleine zu sein. So gern sie ihren Kollegen auch mochte – oft konnte sie besser denken, wenn sie sich nicht ständig mit ihm austauschen musste.
Heike ließ ihr Mountainbike im Präsidium und fuhr mit der U-Bahn bis zum Gänsemarkt. Dort, zwischen dem Rathaus und dem Alsterufer, lagen die teuersten Grundstücke Hamburgs.
Vor dem Betreten des Hanseviertels nahm Heike noch schnell ein Brötchen und einen Kaffee in einem Stehausschank zu sich. Sie wollte in dem exklusiven Laden nicht durch Magenknurren aus der Rolle fallen. Und ein Frühstück hatte sie bisher nicht gehabt.
Es war ungefähr ein halbes Jahr her, seit Heike zum letzten Mal das Paris Moderne betreten hatte – damals als Kundin. Eine Verkäuferin kam lächelnd auf sie zu. Wie viele gute Modistinnen hatte sie ein erstklassiges Personengedächtnis.
»Ich freue mich, dass Ihre Wege Sie wieder zu uns geführt haben. Wünschen Sie eine Beratung oder ...«
Heike präsentierte sofort ihren Dienstausweis.
»Ich bin heute in amtlicher Eigenschaft hier. Ich möchte die Besitzerin sprechen.«
Die Verkäuferin wirkte überrascht. So ging es vielen Leuten, wenn sie erfuhren, dass Heike Polizistin war. Ein Mann hatte einmal allen Ernstes gesagt, sie sei viel zu hübsch für eine Ordnungshüterin. Eine Bemerkung, die Heike für ihre Kolleginnen als ungerecht und gemein empfand.
»Frau Ostendorf wird gleich zu Ihnen kommen. Einen Moment Geduld bitte.«
Während die Verkäuferin davoneilte, schaute Heike sich die neuesten Designerteile an. Vermutlich kamen sie wirklich direkt aus Paris.
Wer so etwas trug, konnte Aufsehen erregen, sogar auf Hamburgs Flaniermeile Jungfernstieg.
Die Preise ließen Heike allerdings sofort an ihre belastete Kreditkarte denken. Schnell hängte sie diese traumhafte Bluse wieder weg.
»Sie wünschen?«
Heike drehte sich um. Trotz ihrer hohen Pumps war Brigitte Ostendorf fast lautlos herangekommen. Die Geschäftsfrau trug ein Kostüm, das für die Verhältnisse von Paris Moderne beinahe unscheinbar wirkte.
Aber Frau Ostendorf war selbst nicht der Modeltyp, auch wenn sie diese Mode verkaufte. Ihre Hände und Füße waren zu groß, ihre Gesichtskonturen wirkten fast männlich.
Zweifellos eine harte Geschäftsfrau, sagte sich Heike.
Sie zeigte noch einmal Ihren Dienstausweis.
»Hauptkommissarin Heike Stein von der Kriminalpolizei. Ich muss Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Ach wirklich?« Frau Ostendorf hob ihre Augenbrauen um einen Zentimeter. Schlagartig klang ihre Stimme unerträglich arrogant. »Und mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?«
»Sie dürfen«, konterte Heike. Auch sie konnte eiskalt sein, wenn sie wollte. Und in diesem Moment wollte sie es. »Es hat einen gewaltsamen Todesfall gegeben. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie das Opfer kannten.«
Die coole Fassade der Geschäftsfrau bröckelte. Offenbar hatte die Boutiquenbesitzerin nicht damit gerechnet, dass es um Mord gehen könnte.
»K... kommen Sie doch in mein Privatbüro, bitte.«
Es war, als ob Frau Ostendorf bei jedem Schritt, den sie zurücklegte, kleiner werden würde. Jedenfalls klang sie nicht mehr so selbstherrlich, als sie in dem kleinen Büroraum erneut den Mund aufmachte.
»Wer ... wer wurde denn getötet?«
»Das Opfer heißt – oder hieß – Julia Sander. Sie war eine Mitarbeiterin von Ihnen?«
»Julia ...« So, wie Frau Ostendorf den Namen aussprach, klang er wie ein Erleichterungsseufzer. Heike wunderte sich nicht über diese Reaktion. Sie hatte unzählige Male Ähnliches erlebt. Jeder Zeuge sorgte sich ganz besonders um einen bestimmten Menschen. Den Ehemann, den Geliebten, das Kind oder die alte Mutter. Wenn dann herauskam, dass dieser Mensch nicht hatte sterben müssen, war die Beruhigung natürlich sehr groß.
»Die kleine Julia ist also getötet worden«, stellte Frau Ostendorf nochmals fest.
»Sie klingen nicht sehr erstaunt.«
Heike hatte sich gegen den Schreibtisch gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Sie blickte Julias Ex-Arbeitgeberin direkt ins Gesicht. Ob die Ostendorf geliftet worden war? Bei manchen Menschen konnte man das sehen. Aber die Boutiquenbesitzerin hatte gewiss genügend Geld, um sich anständig verschönern zu lassen.
Frau Ostendorf ließ ein geschäftsmäßiges Lächeln sehen.
»Man sollte nichts Schlechtes über Tote sagen, Frau ... äh ... Hauptkommissarin. Mir selbst hat Julia auch niemals Anlass zur Klage gegeben. Sie war pünktlich, wurde niemals krank – und vor allem konnte sie arbeiten! Sie war sich für nichts zu schade. Die Kundinnen mochten sie. Viele wollten nur von Julia bedient werden. Sie war meine Erste Verkäuferin.«
»Könnte Neid im Kolleginnenkreis im Spiel gewesen sein?«
»Das glaube ich nicht. Vor allem kann ich mir nicht vorstellen, dass eine meiner anderen Damen Julia deshalb ermordet haben soll.«
Heike schaute auf ihre Armbanduhr.
»Es ist gleich halb zwölf. Haben Sie sich noch gar nicht gewundert, dass Ihre pünktliche Erste Verkäuferin heute zu spät kommt?«
Die Geschäftsfrau schüttelte den Kopf.
»Nein, denn Julia hat zurzeit Urlaub. Ihr Urlaubsgesuch kam etwas überraschend, aber wegen ihrer guten Leistungen wollte ich ihr natürlich keinen Stein in den Weg legen. Zumal momentan auch bei uns nicht gerade Hauptsaison ist.«
Die Kriminalistin horchte auf.
»Urlaub also ... hat sie gesagt, ob sie wegfahren will? Und wenn ja, mit wem?«
»Mit irgendeinem Kerl natürlich!«, platzte Frau Ostendorf heraus. Heike war erstaunt über die heftige Reaktion ihrer sonst so beherrscht wirkenden Gesprächspartnerin. Doch gleich darauf hatte die Boutiquenbesitzerin sich wieder in der Gewalt. »Verzeihen Sie meinen Ausbruch ... ich finde wirklich, über Tote sollte man nichts Schlechtes sagen.«
»Das kommt darauf an. Wenn diese Aussage dazu führt, dass der Mörder von Julia Sander gefasst werden kann ... Was wissen Sie, Frau Ostendorf? Muss ich Sie über die Folgen einer Falschaussage belehren?«
Frau Ostendorf machte eine unbestimmte Handbewegung.
»Falschaussage, das klingt so dramatisch. Ich will einfach keinen Ärger, das ist alles.«
»Sagen Sie mir einfach, was Sie wissen.«
Die Geschäftsfrau faltete die Hände vor dem Mund. Offenbar suchte sie nach den richtigen Worten.
»Julia war eine Bitch!«, stieß sie schließlich hervor.
»Eine Bitch?«
»Sie haben richtig gehört, Frau Hauptkommissarin. Ich nehme an, bei der Polizei sind Sie an direkte Sprache gewöhnt.«
»Ja, das bin ich. Aber könnten Sie bitte näher beschreiben, wie Sie das meinen?«
»Julia war wirklich eine gute Mitarbeiterin und auch eine beliebte Kollegin, glaube ich. Die anderen Damen haben ihr ihren beruflichen Erfolg gegönnt. Aber sie hatte keinen Stil, was Männer anbelangt.«
»Sie meinen, Sie trieb sich mit primitiven Kerlen herum?«
Die Geschäftsfrau lachte hart.
»Sie trieb sich mit jedem Wesen herum, das sich morgens das Gesicht rasieren muss.«
»Das klingt heftig.«
»Und doch war es so, Frau Hauptkommissarin! Julia sah gut aus. Sie konnte jeden Mann haben. Aber auch wirklich jeden. Alter oder Herkunft spielten dabei keine Rolle. Ich habe sie verwarnt. Ihr Privatleben muss vor den Türen von Paris Moderne bleiben, habe ich ihr gesagt. Und daran hat sie sich gehalten.«
»Ich kann kaum glauben, dass jemand in Zeiten von AIDS noch so lebt.«
»Und doch war es so. Sie hat sich ja oft genug mit ihren Eroberungen gebrüstet. Außerdem habe ich sie manchmal nach Feierabend mit den Kerlen um die Häuser ziehen sehen.«
»Gab es nicht vielleicht einen, der aus der Menge herausstach? Ein fester Freund oder so?«
»Oh doch, den gab es. Ein gewisser Erik. Ich habe ihn einmal gesehen, als er sie von der Arbeit abholen wollte. Ein hübscher Junge war das, beste Manieren, gut gekleidet, ein Gentleman. Er hat mir richtig leid getan.«
»Warum?«
»Da fragen Sie noch?«, entgegnete Frau Ostendorf. »Weil er in ein Mädchen verliebt war, das jeder andere Kerl auch haben konnte, wenn er wollte. Ich weiß nicht, ob dieser Erik nichts von Julias Männergeschichten wusste. Oder es nicht wissen wollte.«
»Hatte Julia vor, mit Erik zu verreisen?«
»Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt verreisen wollte«, entgegnete die Boutiquenbesitzerin. »Auf jeden Fall hat Julia eine große Überraschung angekündigt, wenn sie in 14 Tagen aus dem Urlaub zurückkommt. Und nun ist sie tot.«
Heike schrieb fleißig mit.
»Und worin diese Überraschung bestehen sollte, wussten sie das?«
»Davon ist mir nichts bekannt. – Darf ich auch etwas fragen, Frau Hauptkommissarin?«
»Fragen Sie.«
»W... wo ist Julia gestorben? Und ... wie?«, stotterte Frau Ostendorf.
»Nach dem momentanen Ermittlungsstand«, sagte Heike dienstlich, »wurde Frau Sander mit einer Faustfeuerwaffe erschossen. Und zwar im Stadtpark.«
»Und der Täter?«
»Der wird von uns ermittelt. Deshalb bin ich hier, Frau Ostendorf. Ich will mir ein Bild von dem Opfer machen. Dann wird es viel leichter, ihren Mörder zu finden.«
Die Boutiquenbesitzerin öffnete den Mund, um zu antworten. Doch in diesem Moment klingelte Heikes Handy. Die Kriminalistin entschuldigte sich und aktivierte das Gerät.
»Hier spricht Magnussen!« Die Stimme ihres Vorgesetzten klang beinahe begeistert. »Fahren Sie bitte sofort zum Trauns Park. Kennen Sie den?«
»Der liegt in Rothenburgsort, nicht wahr?«
»Genau. Dort hat es vor ungefähr einer Stunde einen weiteren Mordanschlag gegeben!«
Heike verabschiedete sich schnell von Frau Ostendorf. Sie gab ihr aber noch ihre Visitenkarte.
»Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein!«
Dann stürzte sie aus der exklusiven Ladenpassage, die Hanseviertel heißt. Aus Richtung Jungfernstieg kam ein Taxi herangerollt.
Heike winkte, der Fahrer fuhr an die Bordsteinkante. Sie stieg ein.
»Nach Rothenburgsort, aber schnell!«
Der Taxilenker nahm Kurs auf den Hafen. Nach weniger als acht Minuten waren sie schon am Ziel. Heike zahlte und stieg aus.
Trauns Park war ein ungepflegter Grünstreifen in dem tristen Stadtteil Rothenburgsort. Wer hier wohnte, hatte meist nicht genug Geld, um fortzuziehen. Das wichtigste Gebäude war das Hauptpump- und Grundwasserwerk der städtischen Wasserwerke. Der Park grenzte an den Ausschläger Elbdeich. Dahinter sah man das Wasser der Elbe und verschiedener Kanäle.
Als der Streifenwagen am Parkeingang hielt, bemerkte Heike Bens Auto. Auch das Fahrzeug der Spurensicherung war wieder erschienen. Doch es fehlte der Leichenwagen der Gerichtsmediziner.
»Das ging ja fix!«, sagte Heikes Dienstpartner.
»Man tut, was man kann. Gibst du mir eine Zusammenfassung im Telegrammstil?«
»Aber gerne.« Ben blätterte in seiner Kladde zurück. »Es war gegen elf Uhr, als ein Obdachloser von Schüssen geweckt wurde.« Heikes Dienstpartner zeigte mit dem Kinn in Richtung Norden. »Er hat unter dem Gebüsch da genächtigt.«
»Wieso wusste der Obdachlose, wie spät es war?«
»Eine Armbanduhr gehört zu seinen wenigen Habseligkeiten. Die braucht man als Nichtsesshafter, weil die Sozialämter den Tagessatz für Durchreisende nur zu bestimmten Zeiten auszahlen. Wenn man nicht pünktlich ist, guckt man in die Röhre.«
Heike trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen.
»Ich lobe dein umfassendes Wissen gerne bei Gelegenheit – aber komm’ doch bitte auf den Fall zurück!«
»Du hast selbst nach der Armbanduhr gefragt, Heike. – Wie auch immer, jedenfalls hat unser Zeuge sein Nachtlager verlassen. Und dann sah er auch schon das Opfer in seinem Blut liegen.«
»Wer ist es?«
Ben blätterte vor.
»Ein gewisser Wilhelm Krone. 68 Jahre alt, Altersrentner und ehemaliger Werftarbeiter. Er hat hier im Trauns Park offenbar seinen Dackel Gassi geführt. Das Tier heißt Mucki.«
»Und weiter?«, fragte Heike. Sie spürte, wie das Adrenalin durch ihren Körper jagte.
»Mucki war völlig außer sich und hat keinen an sein Herrchen rangelassen. Der Obdachlose ist rübergerannt zu einer Firma am Entenwerder Stieg. Dort hat der Pförtner eine Funkstreife gerufen. Schließlich musste noch jemand vom Tierheim anrücken und Mucki einfangen, bevor der Notarzt Wilhelm Krone behandeln konnte. Der alte Mann war trotz der Schmerzen bei Bewusstsein.«
»Dann wurde er also nicht erschossen?«
Im nächsten Moment schämte sich Heike wegen ihrer überflüssigen Frage. Aber Ben machte sich nicht über sie lustig.
»Nein, er wird wohl auch durchkommen. Ein Steckschuss in der Hüfte bringt einen nicht um, noch nicht mal in dem Alter. Außerdem ist Krone ein kräftiges Kerlchen, hat sein Arbeitsleben immerhin mit Schwerarbeit verbracht.«
»Hat er den Täter gesehen?«
»Schwer zu sagen. Er stand natürlich unter Schock. Jetzt wurde er ins AKH St. Georg gebracht. Dort können wir ihn besuchen, sobald er vernehmungsfähig ist.«
»Spuren?«
»Wie du siehst, ist die Technische Abteilung noch vollauf beschäftigt. Wir wissen in etwa, von wo aus der Täter gefeuert haben muss. Dort drüben grasen die Kollegen jetzt alles ab.«
»Und der Obdachlose hat den Mörder nicht gesehen?«
»Er verneint das. Logisch, denn er ist ja von den Schüssen erst aufgewacht. Der Täter wird wohl nach dem Schießen kaum gewartet haben, bis jemand kommt.«
Heike wandte sich der Südseite des Parks zu.
»Er kann per Auto oder Boot entkommen sein. Vielleicht hat er im Wagen gesessen, mit laufendem Motor. Und als dann ein Opfer in Schussweite kam, schlug der Serienmörder zu«, sagte Ben.
»Ich glaube absolut nicht an die Serienmörder-Theorie.«
»Wenn er kein Serienmörder ist, der beliebige Opfer abknallt, dann muss es eine Verbindung zwischen Julia Sander und Wilhelm Krone geben.«
»Richtig. Und genau da fängt unsere Arbeit an, Ben.«
Die beiden Kripo-Beamten fuhren mit Bens Wagen das kurze Stück zum Billhorner Mühlenweg, wo das Opfer wohnte.
Die Nachbarn in dem tristen Genossenschaftshaus waren erschrocken über das Attentat auf den alten Mann. Doch keiner von ihnen hatte jemals etwas von Julia Sander gehört.
»Willi war ein ziemlich einsamer Typ«, sagte seine unmittelbare Nachbarin, die drei kleine Kinder an ihrer Schürze hängen hatte. »Immerhin hatte er ja Mucki. Aber eine Frau habe ich bei ihm niemals gesehen, seit seine Hermine tot ist. Er hat noch einen Sohn. Aber der fährt zur See.«
»Ich werde in Julia Sanders Umfeld nachfragen, ob dort jemand Wilhelm Krone kennt«, sagte Heike verbissen, nachdem sie das Mietshaus verlassen hatte.
Ben seufzte.
»Glaubst du nicht, dass du dich verrennst, Heike? Warum kannst du nicht hinnehmen, dass ein Serienmörder in Hamburg umgeht? Jeder von uns macht mal einen Fehler!«
»Ich will dir sagen, warum ich nicht an einen Serienmörder glaube. Diese Kriminellen sind meistens Amateure, außerdem noch oft geisteskrank.«
»Das stimmt.«
»Okay, Ben. Aber der Mord im Stadtpark und die Körperverletzung im Trauns Park – das war Profi-Arbeit!«
»Wegen dem Schalldämpfer?«
»Mach’ dich nur über mich lustig! Aber der Schuss auf Julia Sander war ein gezielter Todesschuss! Da hat kein Irrer in der Gegend herumgeballert. Der Mörder hat ihr aufgelauert, ihr eine tödliche Kugel verpasst – nur eine! – und ist dann geflüchtet.«
»Und bei Wilhelm Krone haben ihn seine Fähigkeiten plötzlich verlassen?« Ben schüttelte den Kopf. »Die Verwundung des alten Mannes ist zum Glück nicht lebensbedrohlich. Wenn der Schütze so ein Profi ist, wieso lebt dann das zweite Opfer noch?«
»Weil er den Rentner gar nicht töten wollte!«
»Das ist mir zu hoch.«
»Eigentlich ist es ganz einfach. Sterben sollte von Anfang an nur Julia Sander. Aber damit der wahre Täter nicht in Verdacht gerät, inszeniert er eine Mordserie. Dann erscheint Julia als ein zufälliges Opfer. Genauso zufällig wie Wilhelm Krone. Und es würde mich nicht wundern, wenn es noch mindestens ein weiteres Opfer gäbe.«
»Aber warum hat der Täter den Rentner nicht auch getötet?«
»Wozu?«, fragte Heike zurück. »Auftragskiller sind nicht so blutrünstig. Sie machen alles mit einem Minimum an Gewalt. Wenn sie wirklich mal erwischt werden, zählt jede Straftat, das weißt du selbst. Und da ist es schon ein Unterschied, ob man jemanden tötet oder nur anschießt.«
»Du meinst also, Wilhelm Krone und mögliche weitere Opfer sollen nur von der ersten Tat ablenken?«
»Davon bin ich überzeugt, Ben. Der Täter will, dass wir an einen wahllosen Serienmord glauben. Daher auch die Verschiedenheit der Tatorte und der Opfer. Hier der gepflegte Stadtpark, dort der schäbige Trauns Park. Hier die elegante junge Dame, dort der arme alte Mann. Der Täter ist schlau. Aber nicht schlau genug.«
»Hast du schon jemanden im Verdacht?«
Heike ließ die Frage einstweilen unbeantwortet. Stattdessen stellte sie eine Gegenfrage.
»Du hast noch gar nicht erzählt, wie es bei Erik Evermann war.«
Ben seufzte.
»Er hat es schlecht aufgenommen. Sehr schlecht. Er wusste noch nichts von Julias Tod. Als ich ihm die Nachricht überbracht habe, ist er buchstäblich kollabiert. Ich musste den Notarzt rufen. Evermann wurde ins Universitätskrankenhaus Eppendorf geschafft. Armer Teufel. Ich schätze, er hat sie wirklich geliebt.«
»Er hat dir also nichts vorgespielt?«
»Heike, um einen Kreislaufkollaps zu simulieren, muss man schon ein verflixt guter Schauspieler sein! Der Notarzt hat ihn schließlich untersucht.«
»Schon in Ordnung«, murmelte Heike gedankenverloren. »Ich hatte auch weniger an Evermann selbst gedacht ...«
»Was?«
»Nichts. Nur so ein Gedanke. Ich werde ihn mal im Krankenhaus besuchen. Aber erst muss ich noch in Julias Wohnung.«
»Willst du nicht lieber mit mir ins Präsidium zurückkommen? Der Chef wird uns schon sehnsüchtig erwarten ...«
»Nur noch kurz in Julias Wohnung schauen, ja? Vielleicht finde ich ja dort den entscheidenden Hinweis.«
»Ich werde dann deinen Kopf aus der Schlinge ziehen, wenn Dr. Magnussen ihn hineinstecken will!«
»Du bist ein Schatz, Ben!«
Diesmal ließ sie sich von ihrem Kollegen in seinem Wagen mitnehmen. Die Ohlsdorfer Straße, wo Julia Sander gewohnt hatte, lag halbwegs in der Richtung des Präsidiums.
»Also dann – bis später!«
Heike sprang aus dem haltenden Wagen und ging zu dem Wohnhaus hinüber. Sechs Mietparteien wohnten dort. Sie zückte das Schlüsselbund des Mordopfers und sperrte zunächst die Haustür auf.
Julia Sander hatte im zweiten Stock gelebt. Den Wohnungsschlüssel hatte Heike schnell gefunden. Sie drehte ihn im Schloss, als die andere Tür auf dem Treppenabsatz sich öffnete.
»Jetzt kommst du nach Hause, du Nachteule?«, sagte eine fröhliche Frauenstimme. Doch gleich darauf änderte sich der Klang. Er wurde hart, aggressiv. »Wer sind Sie? Was wollen Sie in Julias Wohnung?«
Heike hatte sich umgedreht. Die Nachbarin hielt plötzlich eine Dose mit CS-Spray auf die Polizistin gerichtet.
»Immer mit der Ruhe!«, sagte Heike und fingerte schnell ihren Dienstausweis aus dem Tweedjackett. Sie hatte keine Lust auf eine Ladung Reizgas im Gesicht. Während ihrer Zeit bei der Schutzpolizei hatte sie unfreiwillig öfter eine Ladung abgekriegt, bei Schlägereien und schwierigen Verhaftungen. Es war eine Erfahrung, auf die sie verzichten konnte.
Mit zwei Fingern reichte sie der anderen Frau den Ausweis hinüber. Während diese das Dokument sorgfältig studierte, schaute Heike sich ihr Gegenüber an.
Die Frau mit dem CS-Gas war in Heikes Alter. Sie trug ihr dunkelbraunes Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengefügt. Ansonsten war sie in eine zitronenfarbene Caprihose und ein orangefarbenes ärmelloses T-Shirt gekleidet. Sie war schlank, mit kleinen Brüsten und schmalen Hüften. Ihr Gesicht war recht hübsch. Sie machte einen offenen und sympathischen Eindruck.
»Der Ausweis scheint okay zu sein«, sagte die Nachbarin schließlich und ließ die Dose mit dem Reizgas sinken. »Aber wie kommen Sie an Julias Schlüssel?«
»Müssen wir das denn hier im Treppenhaus besprechen?«
»Gut, dann kommen Sie eben zu mir rein.«
Heike folgte der Nachbarin. Sie las das Namensschild. »A. Renning« stand an der Tür. Annegret? Amanda? Anke? Antje konnte passen, dachte Heike.
»Ich bin übrigens Anja Renning«, sagte die Frau und stellte das CS-Gas auf ein kleines Regal neben der Tür. Antje war also gar nicht so schlecht geraten gewesen. »Julia und ich sind befreundet.«
Heike atmete tief durch. Jetzt kam etwas, was sie an ihrem Beruf zutiefst verabscheute.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Julia Sander nicht mehr lebt.«
Anja Renning riss ihre Augen weit auf. Sie erbleichte.
»Nein ...!«
»Leider doch. Wollen Sie sich nicht setzen?«
Heike führte Anja Renning in die kleine Küche. Julias Freundin ließ sich auf einen Stuhl fallen und begann zu weinen. Leise zwar, aber unaufhörlich.
»Ich koche Ihnen erst mal einen Kaffee«, sagte Heike. »Bis Sie sich halbwegs beruhigt haben.«
Anja Renning hatte ihr Gesicht in ihren Händen verborgen. Nur am Zucken ihrer Schultern konnte man erkennen, dass sie immer noch weinte.
Die Kriminalistin fand sich in der fremden Küche schnell zurecht. Alles war ordentlich und aufgeräumt. Die mit Naturholz verkleideten Küchenmöbel zeugten von Geschmack. Auf dem Fensterbrett stand eine große Vase mit Strohblumen.
Es gab keinen großen Küchentisch, nur eine kleine Frühstücksecke. Dort hockte Julias Nachbarin jetzt. Sie lebte ganz offensichtlich allein.
Als die Kaffeemaschine nicht mehr röchelte, goss Heike zwei Becher voll mit der duftenden heißen Flüssigkeit. Einen davon stellte sie vor Anja Renning. Dann nahm sie die Frau schwesterlich in den Arm.
»Wollen Sie mal versuchen, was zu trinken?«
Anja tupfte sich die Augen ab und schnäuzte sich geräuschvoll.
»Vielen Dank«, näselte sie und schnaubte erneut. »Sie sind so freundlich.«
»Ich weiß, dass es für Sie schwer ist.« Heike setzte sich nun ebenfalls in die Frühstücksecke. Sie zückte ihr Notizbuch. »Leider kann ich Ihre Freundin nicht wieder lebendig machen. Aber vielleicht gelingt es uns, mit Hilfe Ihrer Aussagen den Mörder zu verhaften.«
Anja Renning sah nun nicht mehr so verzweifelt aus. Sie schaute Heike erwartungsvoll an. Offenbar war sie froh, selbst etwas tun zu können.
»Wie lange kannten Sie Frau Sander?«
»Ungefähr zwei Jahre. Wir sind zufällig fast zeitgleich in dieses Haus gezogen. Und da wir die einzigen Mieter in unserer Altersgruppe sind, kamen wir uns fast automatisch näher. Alle anderen Leute im Haus sind über Sechzig.«
»Was machen Sie beruflich, Frau Renning?«
»Ich bin Krankengymnastin. Das ist ja nun ein ganz anderer Bereich als Julia mit ihrer Nobel-Boutique. Aber sie ist ... war niemals arrogant, obwohl sie in einem so exklusiven Schuppen arbeitete.«
»Was war sie für ein Mensch?«
Anja Renning trank einige Schlucke Kaffee, bevor sie die Frage beantwortete.
»Julia liebte das Leben. Deshalb kann ich auch kaum begreifen, dass sie ... tot sein soll. Sie war abenteuerlustig, wenn man das so nennen will.«
»Und wie war es mit Männern?«
Die junge Frau zögerte. Aber dann öffnete sie doch den Mund für eine Antwort.
»Manche Leute würden vielleicht sagen, dass Julia ... leicht zu haben war. Aber ich sehe das anders. Sie war einfach unheimlich offen für neue Eindrücke. Zugegeben, sie hat es den Männern nicht schwer gemacht. Julia hat sich eben schnell verliebt. Aber es gab einen, der ihr ganz besonders viel bedeutet hat.«
»Erik Evermann?«, fragte Heike. Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Besser wäre es gewesen, Anja Renning den Namen selbst nennen zu lassen.
»Ja, der reiche Junge. Aber glauben Sie mir, Julia hat ihn nicht wegen des Vermögens seiner Familie geliebt. Er ist einfach ein toller Typ. Haben Sie ihn schon kennen gelernt?«
»Bisher noch nicht.«
»Vor allem hat Erik Evermann Charakter und seinen eigenen Willen. Ich glaube, sein Vater war alles andere als begeistert von Eriks Beziehung zu Julia. Aber Erik hat zu Julia gestanden. Es muss schön sein, so stark geliebt zu werden.«
Anja Renning kämpfte schon wieder mit den Tränen. Schnell fragte Heike: »Hat Julia Ihnen erzählt, dass Eriks Vater gegen sie war?«
Die Krankengymnastin nickte.
»Sie hat darunter gelitten, glaube ich. Fast so sehr wie unter den anonymen Morddrohungen.«
»Morddrohungen?« Heike horchte auf.
»Ja, sie wurde einige Male von einem Verrückten angerufen. Jedenfalls glaube ich, dass der Kerl wahnsinnig sein muss. Ich habe ihr geraten, zur Polizei zu gehen.«
»Das hat sie nicht getan. Sonst wüsste ich inzwischen davon.«
»Glauben Sie, dass dieser unbekannte Telefonverbrecher sie ermordet hat?«
»Wir ermitteln in alle Richtungen«, sagte Heike unbestimmt. »Wissen Sie, was der Anrufer in etwa gesagt hat, und ob er sie zu Hause oder am Arbeitsplatz angerufen hat?«
»Ich glaube, die Anrufe kamen nur bei ihr daheim an. Der Kerl hat ihr immer mit dem Tod gedroht, wenn sie nicht die Stadt verlassen würde.«
»Die Stadt verlassen? Hat er das gesagt?«
»Beschwören kann ich es nicht. Ich habe ja keinen dieser Anrufe mitgehört.«
Heike unterstrich die Worte »die Stadt verlassen« in ihrem Notizbuch gleich drei Mal. Dann machte sie einen Pfeil zu dem Wort »Evermann« hinüber.
»Ich würde mir jetzt gerne einmal Julia Sanders Wohnung ansehen. Später wird noch ein Spurensicherungsteam kommen. Das ist leider notwendig.«
»Ich verstehe Sie«, versicherte Anja Renning. »Ich will ja auch, dass der Täter gefasst wird.«
Heike trank ihren Kaffee aus. Die Zeugin erhob sich ebenfalls.
»Ich werde zu meinem Freund fahren. Ich kann jetzt nicht allein sein.«
»Das ist eine gute Idee.«
Während Anja Renning fortging, öffnete Heike die Wohnungstür der Ermordeten. Ein angenehmer Duft kam ihr entgegen. Es roch nach Nelkenöl, frischen Blumen und einem teuren Parfum. Heike schnupperte noch einen Augenblick, dann fiel ihr der Name ein.
Ravenna Rain.
Es war seltsam, aber an der Toten hatte sie keinen Duft mehr wahrnehmen können. Das Parfum harmonierte offenbar nur mit dem lebenden Körper ...
Während Heike diese Dinge durch den Kopf gingen, machte sie ein paar Schritte in die Wohnung hinein. Diese bestand aus einem kleinen Flur, dem Bad, der Küche sowie zwei Zimmern. Beide waren in etwa gleich groß.
Julia hatte das eine als Schlafzimmer, das andere als Wohnzimmer benutzt. Genau wie Heike selbst es auch tat. Allerdings lebte die Hauptkommissarin in einem Altbau mit hohen Räumen und Stuckdecken. Die Ermordete hingegen hatte einen Neubau bewohnt.
Die Zimmer waren in Pastellfarben gehalten. Alles wirkte mädchenhaft. So, als sei Julia Sander zehn Jahre jünger gewesen. Wenigstens gab es keine Poster von Popstars an den Wänden.
Hingegen erblickte Heike eine sehr schöne vergrößerte Fotografie. Eine Ballerina wurde dargestellt. Die Tänzerin drehte gerade eine Pirouette.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte Heike, dass die Balletteuse niemand anders war als Julia Sander selbst. Das Foto war vermutlich vor drei oder vier Jahren aufgenommen worden.
Es zeigte nicht nur Julias tänzerische Fähigkeiten. Es warf außerdem noch ein bezeichnendes Bild auf das Opfer. Menschen, die stark vergrößerte Fotos von sich in ihrem Wohnzimmer aufhängten, waren meist sehr von sich selbst eingenommen. Diese Erfahrung hatte jedenfalls Heike gemacht.
Automatisch zog sie ihre Einweg-Latexhandschuhe an, während sie durch die Wohnung streifte. Der Kleiderschrank war übervoll, genau wie ihr eigener.
Julia hatte ein französisches Doppelbett besessen. Darauf lag eine Tagesdecke – bunte Webarbeit, vermutlich aus Südamerika.
Alles sehr nett, aber nichts Spektakuläres.
Und doch war Heikes Besuch in der leeren Wohnung nicht umsonst. Direkt auf dem gläsernen Couchtisch im Wohnzimmer lag etwas, das Heikes Herz höher schlagen ließ.
Zwei Flugtickets von Hamburg nach New York, mit dem Angebot eines Weiterflugs nach Las Vegas!
Außerdem lag neben den Flugscheinen ein Internet-Ausdruck. Er informierte über die Möglichkeiten einer Hochzeit in Las Vegas!
Heike nickte grimmig. Irgendjemand hatte offenbar die geplant Hochzeit des jungen Paares mit Gewalt verhindern wollen.
Sie musste unbedingt mit diesem Erik Evermann sprechen!
Bei Kriminaloberrat Dr. Magnussen biss Heike auf Granit.
»Ihre lebhafte Fantasie in allen Ehren, Frau Stein. Aber aus einigen zufälligen Indizien gleich eine Mordverschwörung gegen das erste Opfer zu konstruieren – das ist mir nun doch zu gewagt! Worin soll denn bitte schön die Verbindung zwischen Julia Sander und Wilhelm Krone bestehen?«
»Das ist ja gerade der Trick, Herr Dr. Magnussen! Der Anschlag auf den Rentner und mögliche weitere Bluttaten in Hamburger Parkanlagen sollen nur von dem eigentlichen Motiv ablenken! Der Täter will uns auf eine falsche Spur lenken!«
»Ach wirklich?« Heikes Vorgesetzter lächelte, als ob er mit einem flunkernden Kind sprechen würde. »Und worin besteht das eigentliche Motiv?«
»Das weiß ich auch noch nicht so genau«, räumte Heike ein. »Aber ich bin sicher ...«
»Ich bin sicher, dass wir keine Energie verschwenden sollten! Sie werden ab morgen nach dem Serienmörder fahnden, so wie Ihre Kollegen ebenfalls. Haben wir uns verstanden?«
»Aber ...«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend, Frau Stein!«
Dr. Magnussen klopfte mit seiner kalten Tabakspfeife auf seinen Schreibtisch, als wäre sie der Hammer eines Richters. Das Urteil der Kriminaloberrats stand fest. Heike musste sich fügen. Andernfalls riskierte sie eine Abmahnung oder Schlimmeres.
Wutentbrannt verließ Heike das Büro ihres Vorgesetzten im Präsidium. Immerhin war sie diplomatisch genug, nicht mit der Tür zu knallen.
Gut, bis jetzt sprach vordergründig alles für einen Serienmörder. Aber musste die Polizei nicht alle denkbaren Spuren verfolgen? Oh ja, sie musste. Das war jedenfalls Heikes Meinung.
Die Kriminalistin verließ das Dienstgebäude und schwang sich auf ihr Mountainbike. Während sie kräftig in die Pedale trat, wurde ihr schon wohler. Stress konnte sie immer am besten durch Bewegung abreagieren. Nun, dazu würde sie an diesem Abend noch genug Gelegenheit haben.
Es war nämlich Montag, und damit Zeit für ihr Kampfsporttraining.
Heike schlang schnell eine Schale mit Corn Flakes hinunter. Dann warf sie ihre Sportsachen in eine Reisetasche und lief hinunter zur U-Bahn-Station Eppendorfer Baum.
Sie fuhr mit dem Untergrundzug bis zur Feldstraße. Hier, im tiefsten St. Pauli, befand sich die Sportschule Yin und Yang. Heike lernte dort seit drei Jahren Kung Fu bei einem chinesischen Meister. Ihre Trainingspartner waren zum größten Teil raubeinige St. Pauli-Typen. Doch Heike war der Meinung, dass sie besser mit solchen Kerlen trainieren konnte als mit zarten Studentinnen, die schon von einer kräftigen Brise zu Boden gestreckt wurden. Im richtigen Leben musste sie sich ja auch gegen solche Brechmänner verteidigen und nicht gegen elfenhafte weibliche Geschöpfe.
Außer Heike trainierten nur drei oder vier andere Frauen in der Sportschule Yin und Yang. Die Hauptkommissarin eilte in die Frauenumkleide. In dem muffigen Raum roch es immer nach alten Autoreifen. Mit Tiefschutz, Tai-Chi-Hose, weißem T-Shirt und Stoffschuhen bekleidet ging sie in die Trainingshalle.
Die Angriffsschreie, das Keuchen der Trainierenden, Fäusteknallen gegen Sandsäcke und auf Matten niederkrachende Körper drangen an ihr Ohr.
Meister Fu stand inmitten seiner hart arbeitenden Schüler wie ein Feldmarschall auf dem Schlachtfeld. Heike kam auf ihn zu und verneigte sich tief, wobei sie die rechte Faust gegen die geöffnete linke Handfläche presste.
Meister Fu erwiderte diesen traditionellen Kämpfergruß.
»Heike, du wirst heute an deiner Tritt-Technik arbeiten«, sagte der alte Chinese. »Ich habe einen Kung-Fu-Bruder aus Stuttgart zu Gast, der für einige Wochen in Hamburg lebt. Er hat wie du den fünften Schülergrad und wird mit dir gemeinsam üben.«
Heike nickte. Es war üblich, dass Kung-Fu-Schüler in fremden Städten in befreundeten Schulen weiterlernen konnten, wenn sie längere Zeit ihren Heimatort verlassen mussten.
Meister Fu führte Heike zu einem jungen Mann, der einstweilen allein einen schweren Sandsack mit Fußtritten bearbeitete.
Unwillkürlich riss die Kriminalistin ihre Augen etwas weiter auf. Dieser fremde Schüler war als Mann genau ihr Typ!
Er mochte in ihrem Alter sein, Anfang dreißig. Doch das jungenhafte Lächeln, das er ihr nun schenkte, ließ ihn für Momente viel jünger erscheinen.
Hoch gewachsen und sehnig war er, wie man es von einem Kung-Fu-Kämpfer erwarten konnte. Andererseits hatte Heike auch schon enorm dicke Kampfsportler erlebt, die auf der Matte eine unglaubliche Wendigkeit und Schnelligkeit zeigten.
Doch dieser Stuttgarter hatte offenbar kein Gramm überflüssiges Fett am Körper ... Seine Kinnpartie war kräftig, die grauen Augen blitzten lebendig. Genau wie Heike selbst war er traditionell in eine schwarze Tai-Chi-Hose und ein weißes T-Shirt gekleidet.
»Das ist Bruder Georg«, sagte Meister Fu. »Schwester Heike wird mit dir gemeinsam üben.«
»Ich freue mich«, sagte der gut aussehende Mann. Auch seine Stimme klang sehr angenehm, dunkel und samtig.
»Zeige mir einmal deinen seitenverkehrten Halbkreisfußtritt«, forderte Meister Fu Heike auf. »Du greifst jetzt Georg an!«
Der Stuttgarter ging in Abwehrstellung. Heike atmete tief durch. Sie verlagerte ihr Gewicht auf das linke Bein, zog das rechte an den Körper.
Und dann, mit einer einzigen fließenden Bewegung, drehte sie sich rückwärts um die eigene Achse und streckte gleichzeitig das rechte Bein wieder aus. Ihre rechte Fußkante knallte gegen Georgs Schläfe. Das heißt, sie wäre geknallt, wenn Heike nicht im letzten Moment abgestoppt hätte.
»Das war nicht schlecht, aber immer noch viel zu langsam«, kritisierte der Chinese. »Im Ernstfall musst du den Feind am Boden haben, bevor er die Arme zur Abwehr heben kann.«
»Ja, Meister.«
Li gab Heike noch einige Tipps. Dann verschwand er, um andere Schüler zu unterweisen.
Heike und Georg übten miteinander. Zwischen ihnen entstand ein unsichtbares Band. Die Luft knisterte förmlich. Obwohl sie kaum ein Wort sprachen, war für beide klar, dass sie auch den Rest des Abends miteinander verbringen wollten.
Nach zwei Stunden klatschte Meister Fu in die Hände. Das Training war beendet. Heike eilte mit klopfendem Herzen unter die Dusche. Als sie das Gebäude der Kampfsportschule verließ, wurden ihre Erwartungen nicht enttäuscht.
Georg lehnte draußen an einer Hauswand und wartete auf Heike.
»Ich würde dich ja gerne zu einem Wein einladen, Heike. Aber ich kenne mich nicht aus. Obwohl ich denke, dass es in Hamburg bessere Gegenden gibt als diese hier,« sagte Georg.
»Da hast du verflixt Recht«, sagte Heike. Sie übernahm die Führung. Durch ein paar Seitenstraßen gelangten sie zur berühmt-berüchtigten Reeperbahn.
»Hier findet man Tag und Nacht ein Taxi«, sagte Heike. Sie musste nur den Arm heben, und schon fuhr ein Volvo mit Taxi-Lackierung an die Bordsteinkante.
»Das ist also die Sündige Meile Hamburgs«, sagte Georg. Er musterte die Spielhöllen, Pornokinos und Sex-Shops durch das Seitenfenster.
»Hier wollte ich jedenfalls nirgendwo einkehren«, sagte Heike. Sie beugte sich zum Fahrer vor. »Es geht nach Uhlenhorst, Chef!«
»Alles klar, Chefin«, brummte der übergewichtige Taxilenker. Er wendete und hielt auf das Millerntor zu. Der Volvo glitt durch das nächtliche Hamburg. Schließlich hielt das Taxi dort, wo Heike es hin dirigiert hatte. Sie bezahlte den Chauffeur. Georg und sie stiegen aus.
»Wie heißt diese Straße?«
»Schöne Aussicht.«
»Das ist mal ein passender Name.«
Es war bereits dunkel. Unmittelbar an der Schönen Aussicht begann die große Wasserfläche der Außenalster. Tausende von Lichtern spiegelten sich in den kleinen Wogen wieder.
Die großen Hauptkirchen von Hamburg wurden von Scheinwerfern angestrahlt. St. Nikolai, St. Petri und St. Michaelis, der legendäre Michel.
»Das Weinlokal ist gleich hier nebenan«, sagte Heike leise. »Von dort aus hat man auch eine gute Sicht.«
Georg nahm zögerlich ihre Hand. Sie strich sanft über seine Finger. Da fasste er etwas beherzter zu. Heike lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Das Weinlokal hieß Malertreff. An den Wänden hingen zahlreiche Ölschinken.
»Angeblich alles Originale«, schmunzelte Heike. »Aber ich habe hier noch niemals einen Maler gesehen, obwohl ich gelegentlich hier bin. Wahrscheinlich pinselt der Wirt die Bilder in seiner Freizeit alle selbst.«
»Die Weinkarte kann sich jedenfalls sehen lassen«, meinte Georg. »Das hätte ich nicht gedacht, so hoch im Norden.«
»Dachtest du, wir trinken hier alle nur Grog?«
Sie bestellten sich eine Flasche Riesling. Eng aneinander geschmiegt saßen Heike und Georg an einem Fensterplatz. Von ihrem Tisch aus hatten sie wirklich einen wunderbaren Blick auf die nächtliche Alster.
»Das war heute das mieseste Kung-Fu-Training meines Lebens«, seufzte Georg.
»Wie bitte?!«
Heike wusste nicht, was sie von dieser Bemerkung halten sollte. Unwillkürlich rückte sie etwas von dem Stuttgarter ab.
»Doch, wirklich, Heike. Ich habe herumgestanden wie ein Stoffel. Ist dir das nicht aufgefallen? Bei den Trittübungen hatte ich immer nur Angst, dir wehzutun.«
»Ich kann einiges einstecken, Georg. Wäre es so schlimm gewesen, mir einen Tritt zu verpassen.«
»Ja, wäre es. Weil ich mich in dich verliebt habe.«
Die Art, wie Georg das sagte, machte jede flapsige oder witzige Antwort unmöglich. Er hielt ihre Hand und sah ihr tief in die Augen.
Heike hatte eine Vorliebe für dunkle Männeraugen. Und die von Georg waren so dunkel, dass sie beinahe schon schwarz wirkten.
»Ich gebe zu, dass du mir auch gefällst. Normalerweise gehe ich nicht mit meinen Kung-Fu-Brüdern aus. Genau genommen bist du der erste.«
»Dann haben wir ja etwas zu feiern«, sagte Georg und hob sein Weinglas.
»Oh, wir haben ganz viel zu feiern.«
»Was denn noch, Heike?«
»Zum Beispiel die Tatsache, dass du nach Hamburg gekommen bist. Steckt eigentlich ein beruflicher Auftrag dahinter?«
Georg lachte. »So ist es.«
»Dann trinke ich auf deinen Beruf! Du bist doch Computer-Programmierer, oder?«
»Genau. Und ich stoße auf deinen Meister Fu an. Er hat uns zusammengebracht.«
Heike hob die Augenbrauen.
»Sind wir denn zusammen?«
»Das kommt darauf an, Heike.«
»Worauf?«
»Darauf.«
Noch während er dieses Wort aussprach, beugte sich Georg wieder zu Heike hinüber. Er zog sie an sich und gab ihr einen langen und zärtlichen Kuss.
Heike erwiderte seine Liebkosungen, fuhr ihm mit der linken Hand durch seine modische Kurzhaarfrisur. Aus nächster Nähe roch sie sein männlich-herbes Duschgel, das er nach dem Training benutzt haben musste. Heike konnte keine Leidenschaft für einen Mann entwickeln, der ungute Ausdünstungen an sich hatte.
Aber dieser Georg roch wirklich sehr gut.
»Ja«, flüsterte sie und küsste ihn auf seinen leicht bartstoppeligen Hals, »ich glaube, wir sind zusammen ...«
Am nächsten Morgen hatte die Sonderkommission Mord erneut einen Alarm.
Diesmal ließ sich Heike von ihrem Kollegen Ben abholen. Der Park, in dem der Anschlag stattgefunden hatte, war zu weit von ihrer Wohnung entfernt. Mit dem Mountainbike wäre es eine halbe Tagesreise gewesen.
Es war acht Uhr morgens. Heike fand nur mühsam in die Realität. Zu schön waren ihre Träume gewesen. Georg hatte sich in der vergangenen Nacht mit einem leidenschaftlichen Kuss vor ihrer Haustür von ihr verabschiedet.
Der Stuttgarter war offenbar ein Gentleman, der nicht gleich am ersten Abend aufs Ganze ging. Und das konnte Heike nur Recht sein. Für ein flüchtiges Abenteuer war sie sich zu schade. Jedenfalls hatte sie sich bis über beide Ohren in den gut aussehenden Süddeutschen verliebt. Sie musste sich zwingen, allmählich aus ihren romantischen Tagträumen zu erwachen. Und sich auf ihren Job zu konzentrieren ...
»Die Tat ist also in Bergedorf geschehen?«, hakte sie bei Ben nach, der den Dienstwagen Richtung Osten lenkte.
»Ja, buchstäblich am äußersten Rand von Hamburg. Du kennst den Bergedorfer Schlossgarten?«
»Ja, da gibt es doch so einen richtigen alten Burggraben.«
»Sozusagen. Jedenfalls ist es auch eine Parkanlage. Und dort wurde vor gut einer Stunde die Tat begangen. Wahrscheinlich passt sie in unsere Serie. Ob dieselbe Waffe benutzt wurde wie bei Julia Sander und Wilhelm Krone, werden die Ballistiker erst morgen sagen können.«
»Was ist mit dem Opfer, Ben?«
»Oberschenkeldurchschuss, aber keine Lebensgefahr. Ich muss dir übrigens Abbitte leisten, Heike.«
»Wieso?«
»Diesmal ist es ganz eindeutig, dass ein Schalldämpfer benutzt worden sein muss. Ich dachte immer, so ein Zubehör wäre nur etwas für das Organisierte Verbrechen. Aber offenbar kann auch ein durchgedrehter Serienmörder ...«
»Nun hör’ doch mal auf mit deinem Serienmörder!«, gab Heike leicht genervt zurück.
»Wieso ist es klar, dass der Täter einen Schalldämpfer benutzt hat?«
»Weil mehrere Zeugen in Hör- und Sichtweite waren, als der Schuss fiel«, antwortete Ben. »Keiner von ihnen hat aber auch nur das leiseste Schussgeräusch gehört. Das Opfer – er heißt Marcus Brunner – joggte durch den Schlossgarten und fiel plötzlich hin. Alle Zeugen glaubten, er sei mit dem Fuß umgeknickt oder so etwas. Als sie ihm zu Hilfe eilten, entdeckten sie die blutende Wunde. Aber da waren seit der Tat schon zwei oder drei Minuten vergangen.«
Sie kamen mit dem Passat gut durch. Schon bald erblickten sie im Zentrum des Stadtteils Bergedorf von weitem das Schloss, in dem ein Museum untergebracht war. Der Schlosspark selbst war eher klein. Er wurde von einem Wassergraben umgeben. Auf vier kleinen Brücken oder Stegen konnte man dorthin gelangen.
Die Technische Abteilung war wieder einmal bereits vor Ort.
»Gute Nachrichten am frühen Morgen!«, rief einer der Techniker, als Ben und Heike aus dem Auto stiegen. »Wir haben Fußspuren von dem mutmaßlichen Täter. Wahrscheinlich ist es der gleiche Galgenvogel wie bei dem Stadtpark-Mord.«
Die beiden Kriminalbeamten gingen auf den Schlossgarten zu.
»Ich verstehe nicht, warum du immer noch zweifelst, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben, Heike.«
»Weil er nicht in Serie mordet, Ben! Ermordet hat er nur Julia Sander, aber dafür auch mit professioneller Genauigkeit. Und mit der gleichen Präzision hat er Wilhelm Krone und Marcus Brunner nur angeschossen. Er hätte sie auch umbringen können, kein Zweifel.«
»Und warum hat er es nicht getan?«
»Weil er ein Profi ist, der nur Julia Sander erledigen sollte.«
Ben seufzte und verdrehte die Augen in Richtung des leicht bewölkten Morgenhimmels. Aber immerhin widersprach er nicht weiter, was Heike schon als einen Teilerfolg für sich verbuchte.
Es gab drei Zeugen, die aufgeregt neben einem Streifenwagen der uniformierten Kollegen warteten. Es waren eine Joggerin, ein Postbote mit Fahrrad und ein ziemlich angetrunkener Nachtschwärmer. Sie alle sagten jedenfalls das Gleiche aus. Sie waren im Schlossgarten unterwegs gewesen. Alle hatten Marcus Brunner im Blickfeld gehabt, als er plötzlich gestürzt war. Keiner von ihnen hatte einen Schuss gehört.
»Es gab also wirklich kein Geräusch?«, bohrte Heike nach.
»Na ja, so ein leiser Knall«, räumte der Postbote ein. »So, als
Verlag: Elaria
Texte: Martin Barkawitz
Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer/Christel Baumgart
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2018
ISBN: 978-3-96465-034-4
Alle Rechte vorbehalten