Historisch-fantastischer Roman aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges
Plötzlich war der Wolf da.
Pauline Kröger hatte wieder einmal mit offenen Augen geträumt. Das Mädchen liebte die Geschichten von Prinzessinnen und bösen Zauberern, die von den Alten des Winters am warmen Ofen erzählt wurden. Sie war, tief in ihre Fantasiewelt versunken, vom Weg abgekommen. Und nun stand sie im nasskalten Herbstwald, mehrere Meilen von der Schenke ihres Vaters entfernt. Pauline war vor Schreck wie erstarrt.
Das Raubtier lauerte in Sprungweite zwischen den bemoosten Baumstämmen. Pauline hatte gehört, dass Wölfe nur im Rudel jagten. Doch dieser Graukopf musste ein Einzelgänger sein. Andere Tiere waren nämlich nicht in der Nähe. Er wirkte alt, aber kraftvoll. Schlecht verheilte Wunden an seinem Körper zeugten von unzähligen Kämpfen, die er überlebt hatte. Pauline entdeckte sogar einen abgebrochenen Pfeilschaft in seiner Flanke.
Der Wolf zeigte seine scharfen Raubtierzähne.
Pauline zitterte am ganzen Leib. Sie war unbewaffnet. Doch selbst wenn sie ein Messer oder einen Prügel gehabt hätte, wäre sie viel zu furchtsam für eine sinnvolle Verteidigung gewesen. Und der graue Jäger spürte das genau.
Ein monotones Knurren drang aus seiner Kehle. Es war nur noch eine Frage von Momenten, bis der Wolf sie anspringen würde. Pauline hatte instinktiv an ihm vorbeigeschaut. Nun fing sie den Blick seiner gelben Augen ein.
Schlagartig geschah etwas mit ihr. Pauline starrte das Raubtier an. Und je länger sie das tat, desto schneller schmolz ihre Beklommenheit zusammen. Die Angst wich einer finsteren Entschlossenheit. Noch nie in ihrem fünfzehnjährigen Leben hatte Pauline sich so stark und so mächtig gefühlt.
Und das merkte auch der Wolf.
Dieses junge Menschenmädchen war kein Opfer mehr. Der graue Räuber hatte zu lange gezögert. Das Tier witterte mit seinem Instinkt die Todesgefahr, die plötzlich von seinem Gegenüber ausging.
Der Wolf wandte sich zur Flucht. Aber da hatte Pauline bereits mit ihrem Angriff begonnen. Sie stürzte auf den Graupelz zu und griff sich einen abgebrochenen Ast, der auf dem Waldboden lag. Das Holz war eine jämmerliche Waffe, und der Wolf hätte sie mit seinen Reißzähnen immer noch leicht töten können. Aber er verharrte bewegungslos, konnte ihrem Blick nicht ausweichen.
Paulines Augen besiegten das Raubtier.
Ihre Hände führten die Arbeit nur noch zu Ende. Mit einer Kraft, die sich das Mädchen niemals zugetraut hätte, rammte sie das abgebrochene Astende in die Wolfsbrust. Das graue Fell färbte sich rot und ein Zucken lief durch den Tierkörper. Der Wolf starb, ohne Gegenwehr geleistet zu haben.
Das Mädchen blieb wie betäubt neben dem toten Raubtier stehen. Pauline begriff nicht, was soeben geschehen war. Sie kannte jene inneren Kräfte nicht, die ihr vor wenigen Momenten das Leben gerettet hatten. Als Knecht Georg sie Stunden später fand, waren ihre Kleider von dem kalten Herbstregen völlig durchnässt.
Georg trug sie auf seinen starken Armen in die Schenke ihrer Eltern zurück. Mutter lief los und holte die alte Elsbeth, die für alle Beschwerden den passenden Kräutertrank hatte.
Während Pauline hustete und nieste, berichtete Georg staunend von dem toten Wolf mit dem Ast in der Brust.
„Bei allen Heiligen, unsere Pauline hat den alten Räuber zur Hölle geschickt. Er ist es gewesen, der letzte Woche die Schafe von Niklas gerissen hat. Da bin ich mir sicher.“
„Ein kleines Mädchen, das den mächtigen Meister Isegrimm besiegt?“, fragte Mutter zweifelnd. „Wo gibt es denn so etwas?“
„Ich habe den Wolf nur angesehen“, krächzte Pauline. „Dann wurde er ganz ruhig, konnte sich nicht mehr rühren. Und ich war so stark wie noch nie zuvor.“
Daraufhin wurde es sehr still in der Schlafstube, in die Georg das Mädchen gebracht hatte. Man hörte nur durch die dicken Holzwände den entfernten Lärm der Gäste, die unten im Schankraum dem westfälischen Bier und dem hellen Schnaps zusprachen.
Die alte Elsbeth äußerte schließlich, was alle dachten.
„Das Kind hat den Bösen Blick.“
„Das ist völliger Unsinn“, brummte Mutter. Doch sie klang nicht überzeugt. Es war vielmehr so, als wollte sie eine unabänderliche Tatsache nicht wahrhaben. Und Elsbeth ließ sich wirklich in ihrer Meinung nicht beirren. Sie wandte sich nun direkt an Pauline.
„Hat es in deinem Leben etwas Neues gegeben in letzter Zeit? Etwas, das du noch nicht kanntest?“
Pauline wurde puterrot und schaute Richtung Wand. Sie nagte an ihrer Unterlippe.
„Sie hat ihren Blutfluss bekommen, nicht wahr?“, fragte die Kräuterfrau Paulines Mutter. Die Wirtsfrau Ursula Kröger stimmte unwillig zu.
„Ja, aber was hat das mit dem Bösen Blick zu tun?“
Auf diese Frage hatte Elsbeth keine Antwort. Die Alte kannte viele Geheimnisse der Natur und des Lebens, aber sie konnte diese nicht unbedingt erklären. Elsbeth wusste, dass ein Mensch auf Holz klopfen musste, sobald eine schwarze Katze seinen Weg kreuzte. Ihr war auch bekannt, dass getrocknete Bucheckern unter dem Strohsack gegen Schlaflosigkeit halfen und ein blutiger Dolch, um Mitternacht in die Erde gesteckt, eine Missernte abwenden konnte.
Zu diesen Weisheiten gehörte auch die Erkenntnis, dass der Böse Blick bei Kindern nicht vorkam. Erst wenn ein Mädchen durch den Blutfluss zur Frau geworden war, konnte sie mit dieser geheimnisvollen Fähigkeit umgehen.
Doch den Grund dafür kannte auch Elsbeth nicht. Daher machte sie nur eine unbestimmte Handbewegung. Nun wandte sie sich wieder an die Fiebernde in dem Bett.
„Pauline, du wirst diese Gabe besitzen, solange du sie brauchst“, erklärte die alte Elsbeth. „Du kannst dadurch sehr mächtig werden, aber du …“
„Red dem Kind doch nichts ein!“ Mutters Tonfall war nun drängend und flehend zugleich. „Pauline wird als Hexe auf dem Scheiterhaufen landen, wenn Hochwürden von diesem Teufelswerk erfährt. Kann man es ihr nicht irgendwie austreiben?“
„Das ist mir nicht bekannt, Krögersche. Aber ein geistlicher Herr wird Rat wissen.“
„Auf gar keinen Fall!“ Mutter rang die Hände. „Dann ist ihr der Verbrennungstod gewiss. Ich hab‘ doch nur noch die Pauline, seit mir die schwarzen Pocken meine anderen Kinder genommen haben.“
Elsbeth wiegte ihren Kopf und öffnete ihren zahnlosen Mund.
„Naja, oder man fragt einen von den Evangelischen …“
Mutter schüttelte resolut den Kopf. Dann nahm sie Pauline bei den Schultern, wich aber ihrem Blick aus. Trotzdem sprach sie eindringlich zu ihrer Tochter.
„Pauline, du musst das Geheimnis mit dem … deinem Blick für dich behalten. Verstehst du mich? Dein Leben hängt davon ab.“
„Bin – bin ich böse, Mutter?“
Pauline fühlte sich sehr schwach und hilfsbedürftig, als sie diese Frage stellte. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, dass sie noch vor wenigen Stunden so unglaublich stark gewesen war. Mutter strich ihr über ihre verschwitzten Haare.
„Nein, mein Kind. Aber du hast das Böse in dir. Du darfst es nicht hochkommen lassen. Bete zum lieben Gott, dann wird alles gut.“
Pauline wurde schwindlig, und das lag ganz gewiss nicht nur am Fieber. Warum hatte der liebe Gott ihr diese Gabe verliehen? Oder kam der Böse Blick aus höllischen Gefilden? Das musste ganz gewiss so sein, denn er war ja etwas sehr Schlechtes.
Und doch hatte der Böse Blick Pauline vor dem Wolf gerettet. Das war mehr, als sie begreifen konnte. Endlich schlief sie ein.
Pauline war auf dem Rückweg vom Dorfbrunnen zur Schenke. Ihr Rücken schmerzte, denn die beiden randvoll mit Wasser gefüllten Holzeimer in ihren Händen wogen schwer. Das Mädchen war harte Arbeit gewöhnt, doch in diesem trockenen Sommer musste sie besonders oft zum Brunnen laufen, damit die Gemüsebeete ihrer Mutter nicht verdorrten.
Die Feldfrüchte auf dem Markt waren wegen des Kriegs sehr teuer. Daher war der große Gemüsegarten hinter dem Haus für die Gastwirtsfamilie immer wichtiger geworden.
Pauline gönnte sich eine kurze Pause, stellte die Eimer ab und blickte zum Horizont. Lörisfelden war von sanften bewaldeten Hügeln umgeben. Im ersten Moment glaubte die junge Frau an eine Sinnestäuschung, denn die Hitze flimmerte über dem Boden. Doch dann wurde die Befürchtung zur Gewissheit.
Eine große braune Staubwolke wallte an der Kimmung auf. Und es ertönte ein Grollen, das nicht von einem aufziehenden Gewitter stammen konnte. Der Himmel war nämlich immer noch tiefblau und wolkenlos.
Nein, der Lärm wurde durch zahlreiche Pferdehufe verursacht. Unwillkürlich bekreuzigte Pauline sich. Die Angst war ihr in die Glieder gefahren. Trotzdem schaffte sie es, ihre Eimer zu greifen und im Laufschritt zu ihrem Elternhaus zurückzukehren. Dabei verschüttete sie einiges an Wasser, aber das war ihr egal.
„Die Soldaten kommen!“, rief Pauline. Sie stürmte in die Gaststube, obwohl sie dort mit ihren Wassereimern nichts verloren hatte. Doch ihr Vater schalt sie nicht aus. Er wirkte genauso verstört wie die Stammgäste, die bei ihren Worten aufblickten. Heinrich Kröger zog seine buschigen Augenbrauen zusammen.
„Bist du sicher, Tochter?“
„Ich habe doch den Staub gesehen, den ihre Rosse aufgewirbelt haben, Vater. Es ist genauso wie im vorigen Jahr!“
Heinrich Kröger nickte verbittert. Bereits Anno Domini 1620 hatte das Dorf eine durchziehende Armee ertragen müssen. Wie Heuschrecken waren die Spanier bei ihrem Vormarsch gegen die Niederländer in Lörisfelden eingefallen. Der kleine westfälische Flecken hatte sich gerade erst von den Plünderungen erholt. Und nun sollte der ganze Teufelstanz von vorne losgehen!
„Wir müssen uns fügen“, murmelte der Wirt. „Pauline, du hältst dich im Hintergrund, soweit es geht. Aber du wirst beim Bedienen mithelfen müssen. Soldatenkehlen sind immer ausgedörrt.“
Pauline nickte verdrossen. Normalerweise ging nur die dralle Schankmagd Anna ihrer Mutter beim Servieren von Bier und Schnaps zur Hand, während ihr Vater hinter der Theke das Regiment führte. Heinrich Kröger versuchte, seine Tochter von den lüstern betatschenden Gästen fernzuhalten. Doch Soldaten warfen mit ihren Kreuzern, Silbergroschen und Gulden nur so um sich, wenn sie ihre Trinkgelage abhielten. Und die Wirtsfamilie war auf Einnahmen angewiesen, denn die Steuerlast im Bistum Münster drückte schwer.
Also würde Pauline in den sauren Apfel beißen müssen. Sie durchquerte schnell die Schankstube und stellte die Eimer im Garten ab. Viel lieber hätte sie in den Beeten gearbeitet, denn vom Spitzkohl und den Gelbrüben hatte sie keine Zoten und Gehässigkeiten zu erwarten.
Vom Garten aus konnte Pauline die Dorfstraße nicht sehen. Doch sie hörte bereits das nun sehr laute Hufdonnern und die Begeisterungsschreie des Kriegsvolks beim Anblick der Schenke.
Am liebsten würde ich sie mit einem Bösen Blick alle zur Hölle schicken!
Kaum war Pauline dieser Gedanke gekommen, als sie auch schon vor sich selbst erschrak. Seit sie vor längerer Zeit den alten Wolf getötet hatte, war ihre vermaledeite Gabe nicht mehr zum Einsatz gekommen.
Auch im letzten Herbst, als die Spanier erschienen waren, hatte Pauline nicht ihre unheimliche Macht ausgespielt. Stattdessen war sie gemeinsam mit vielen anderen Dorffrauen in die Wälder geflohen, um nicht von den Söldnern geschändet zu werden. Pauline wollte nicht in der Hölle schmoren, weil sie ihren Bösen Blick bei anderen Menschen anwendete. Der Wolf war ein Raubtier gewesen, und damals hatte sie noch nichts von ihrer Fähigkeit gewusst. Doch wenn sie nun bewusst den Bösen Blick benutzte, dann war sie gewiss eine von diesen Hexen. Hochwürden predigte fast jeden Sonntag über die Verderbnis dieser Teufelsdirnen. Pauline wollte auf gar keinen Fall eine von ihnen werden.
Und doch hatte sie sich bisher nicht getraut, dem Pfarrer in der Beichte ihre unerwünschte Fähigkeit zu gestehen.
Das infernalische Getöse im Inneren der Wirtschaft riss sie aus ihren Grübeleien. Die Soldaten waren offenbar in die Schankstube eingefallen und waren so durstig wie die Ochsen auf dem Weg zur Tränke.
Pauline richtete noch schnell ihr Kopftuch und zupfte ihr Kleid zurecht. Sie wischte ihre schweißnassen Handflächen an dem grauen Leinenstoff ab, atmete tief durch und betrat die Gastwirtschaft ihrer Eltern.
Mutter und Anna hatten bereits alle Hände voll zu tun, um die gefüllten Bierhumpen an den Mann zu bringen. Die dörflichen Stammgäste hatten das Hasenpanier ergriffen, als die Soldaten einfielen. Nun beherrschten die prahlerischen Landsknechte den kleinen Schankraum, der bis auf den letzten Platz gefüllt war.
Pauline hielt scheu den Blick gesenkt, als müsste sie sich für ihr Dasein entschuldigen. Trotzdem bemerkte sie, dass einer der unerwünschten Gäste ein ganz besonderer Patron war. Eine Gestalt, wie sie nur in Nachtmahren auftaucht.
Dabei schien dieser Mann noch nicht einmal besonders hochgewachsen zu sein. Pauline konnte es nicht genau sagen, denn er hockte ja auf einer Holzbank, so wie seine Spießgesellen. Doch die anderen Schlagetote hielten einen respektvollen Abstand zu ihm. Es musste sich um den Anführer handeln.
Wie die übrigen Soldaten trug dieser Mann einen weichen wallonischen Reiterkragen über Wams und Lederkoller, außerdem umgeschlagene Stiefelschäfte, Silbersporen und einen blutroten Mantel. Den mit einer langen Feder geschmückten Hut hatte er vor sich auf den Tisch gelegt.
Sein Kopf war schmal, die linke Augenhöhle wurde von einer schwarzen Klappe bedeckt. Die Pupille des gesunden rechten Auges wies eine sehr dunkle undefinierbare Farbe auf.
Doch es war hauptsächlich seine Stimme, die Pauline innerlich durcheinanderbrachte. Er redete mit teuflischer Sanftheit, die nur notdürftig seine brutale Unmenschlichkeit übertünchte. Pauline wandte ihm schnell den Rücken zu, um andere Landsknechte zu bedienen. Doch seine Worte entgingen ihr nicht, obwohl er für einen Soldaten recht leise sprach.
„Potz Blut, das Kriegsglück hat uns verlassen! Aber die Pfaffenarmee wird am Ende nicht siegreich bleiben, eher fahre ich zur Hölle.“
Der Sprecher gehörte offenbar zum Heer des evangelischen Herrschers Christian von Braunschweig, der auch „der tolle Halberstädter“ genannt wurde. Hochwürden predigte jeden Sonntag, dass alle Protestanten und Lutheraner Teufelsknechte seien. Pauline wusste nicht, warum überhaupt momentan Krieg geführt wurde. Die Spanier, die im Vorjahr Lörisfelden verheert hatten, waren rechtgläubige Katholiken gewesen. Diese heute angekommenen Reiter waren Protestanten. Pauline glaubte nicht, dass ihr Heimatdorf von diesen Männern etwas Besseres zu erwarten hatte. Vor allem nicht mit einem solchen Anführer.
Nun ergriff einer der anderen Landsknechte das Wort.
„He, Wirt – hat man in eurem Bauernkaff schon von dem Obristen Schwarzdolch Büttner und seinem Fähnlein gehört?“
„Nein, Herr“, antwortete Paulines Vater unterwürfig. So redete er nur, wenn er es mit dem Grafen, einem Geistlichen oder einem Steuereintreiber zu tun hatte. Oder mit einem schwer bewaffneten Soldaten.
Heinrich Krögers Antwort schien die Kerle zu amüsieren. Sie lachten, als ob der Wirt ein begnadeter Possenreißer wäre.
„So, man kennt mich hier also nicht. Das macht nichts. Wenn wir wieder fort sind, wird man noch sehr lange von Schwarzdolch Büttner sprechen.“
Diese Worte waren wieder aus dem Mund des Anführers gekommen. Und obwohl er keine richtige Drohung ausstieß, lief es Pauline bei seiner Äußerung eiskalt den Rücken herunter. Ein Bierkrug entglitt ihren Fingern. Das Gefäß zerschellte auf dem Boden.
Die Landsknechte wieherten erneut wie die Ackergäule.
Pauline stürzte zur Theke und holte schnell Nachschub. Doch ihr Vater schalt sie nicht aus. Er stand nämlich immer noch gehorsam wie ein Ministrant vor dem Tisch des Obristen. Schwarzdolch Büttner hatte längst einen Bierkrug aus den Händen von Anna empfangen. Er trank und wischte sich den Schaum von den schmalen Lippen.
„Wirt, man hört von einem schönen Mädchen in dieser öden Gegend. Die Kleine soll angeblich den Bösen Blick haben. Weißt du etwas darüber?“
Pauline hätte am liebsten aufgeschrien, als ihr Vater diese Frage gestellt bekam. Woher wusste Schwarzdolch Büttner von ihrem größten Geheimnis? Der Leibhaftige musste es ihm verraten haben, denn die Protestanten steckten doch sowieso mit dem Satan unter einer Decke.
Das hatte Hochwürden jedenfalls schon oft genug gepredigt. Aber konnte der Obrist wirklich Pauline gemeint haben? Sie selbst fand sich nicht gerade hübsch. Es war schon schlimm genug, dass ihre Eltern für sie noch keinen Bräutigam gefunden hatten, obwohl sie schon fast sechzehn Jahre alt war.
Zwar war Pauline dem Müllersohn Rudolf versprochen gewesen, doch der war am Fleckfieber zugrunde gegangen. Und in den Wirren nach dem Spanier-Überfall im vorigen Jahr herrschte an heiratsfähigen jungen Männern ein großer Mangel.
Spielte Schwarzdolch Büttner nur Katz und Maus mit Paulines Vater? Oder was bezweckte der Obrist mit dieser Frage? Pauline war schon fast irrsinnig vor Angst, als Heinrich Kröger endlich antwortete.
„Ein Mädchen mit Bösem Blick? Davon habe ich noch nichts gehört, Herr.“
„Wirklich nicht? In einem Wirtshaus erfährt man doch meist mehr als aus gelehrten Traktaten. Ich habe schon öfter Frauen mit dem Bösen Blick kennengelernt, weißt du. Aber es waren ausnahmslos hässliche alte Vetteln, die auf dem Scheiterhaufen der Heiligen Inquisition verbrannt wurden. An diese Weiber verschwende ich keinen zweiten Gedanken. – Aber eine junge Schönheit mit dem Bösen Blick, die wäre schon eine Bettgenossin für einen Mann wie mich.“
Pauline betete zur Jungfrau Maria, dass ihr Vater nicht seine Selbstbeherrschung verlieren möge. Wusste dieser fremde Offizier wirklich nicht, dass er über die Tochter seines Gegenübers sprach? Oder machte er sich einen rohen Spaß daraus, Heinrich Kröger bis aufs Blut zu reizen?
Pauline musste sich dazu zwingen, Schwarzdolch Büttner und ihrem Vater scheinbar keine Beachtung zu schenken. Sie schleppte Bierkrüge zu den Tischen. Doch dabei wurde ihr klar, dass die meisten Soldaten den Wortwechsel zwischen dem Obristen und dem Wirt gespannt verfolgten. Viele von den Kerlen hatten ein höhnisches Grinsen auf ihren Visagen. Es war, als würden sie eine widerliche Vorfreude empfinden. Plötzlich wurde Pauline ganz flau im Magen.
Für einen Moment kam ihr der Gedanke, Schwarzdolch Büttner mit ihrem Bösen Blick anzugreifen. Doch kaum hatte sie diesen Einfall, da verwarf sie ihn auch schon wieder. Stattdessen bekreuzigte sie sich unauffällig. Für Pauline war klar, dass der Satan selbst ihr diese Idee eingeblasen hatte. Sie durfte sich auf keinen Fall zu erkennen geben, denn sonst würde etwas Fürchterliches geschehen.
Doch das, was nun wirklich passierte, konnte Pauline nicht mehr verhindern.
„Ich würde Euch gern zu Diensten sein“, murmelte Vater mit belegter Stimme. „Aber ich weiß nichts über so ein Mädchen.“
Der Obrist erhob sich langsam von seiner Sitzbank.
„Weißt du was, Wirt? Ich glaube dir kein Wort. Und ich hasse es, wenn man mich anlügt!“
Büttner schrie diese Worte heraus. Das wirkte umso furchteinflößender, da er zuvor so leise geredet hatte. Sein Arm schoss vorwärts. Er packte Vaters rechte Hand – und nagelte sie blitzschnell mit seinem Dolch auf die Tischplatte!
Paulines Vater stieß einen Schmerzensschrei aus, der schlimmer war als jedes andere Geräusch, das sie in ihrem bisherigen Leben gehört hatte. Der Wirt zappelte verzweifelt, versuchte seine Hand wieder zu befreien. Doch dadurch schnitt die Klinge nur noch tiefer in sein Fleisch. Die Landsknechte johlten und lachten, sie schlugen sich voller Begeisterung auf die Schenkel.
Plötzlich war Mutter direkt vor Pauline. Die junge Frau hatte sie gar nicht herankommen sehen. Ihr Gesicht war bleich wie der Tod, die Augen weit aufgerissen.
„Du läufst jetzt weg, Pauline. Sofort!“
„Aber …“
„Ich sagte ‚sofort‘, dummes Ding.“
Pauline konnte nicht mehr klar denken. Sie weinte vor Angst und Mitleid. Ihre Mutter gab ihr noch einen Stoß, dann fiel die Wirtin vor dem Obristen auf die Knie. Offenbar wollte sie um das Leben ihres Mannes bitten.
Pauline rannte durch die Küche hinaus. Keiner der Landsknechte verhinderte ihre Flucht. Die Kerle hatten nur Augen für das, was Schwarzdolch Büttner mit dem Wirt und der Wirtin anstellen wollte.
Heinrich Kröger konnte nicht aufhören zu schreien. Paulines Knie waren weich wie Butter in der Sonne. Doch nachdem sie einige Schritte zurückgelegt hatte, wurde sie schneller. Ihre Holzpantinen klapperten auf dem Boden.
Da ertönte ein Schuss hinter ihr.
Abrupt verstummte das Geschrei ihres Vaters. Stattdessen wehklagte Paulines Mutter mit einer so schrillen Stimme, wie das Mädchen es noch nie zuvor gehört hatte. Eine zweite Pistole wurde abgefeuert. Daraufhin brach auch dieses Geräusch ab.
Pauline presste sich die Fäuste gegen ihre Ohren. Sie wollte nichts mehr hören, nie mehr. In ihrem Kopf hallten die letzten Worte ihrer Mutter wider.
Du läufst jetzt weg, Pauline. Sofort!
Es fiel ihr nicht schwer, diese Anweisung zu befolgen. Pauline konnte nicht aufhören zu rennen. Sie stürmte durch den Gemüsegarten, ließ die windschiefen Katen von Lörisfelden hinter sich und flüchtete sich in die Ausläufer des Teutoburger Waldes, von denen das Dorf umgeben war.
***
Für Schwarzdolch Büttner war das Töten so alltäglich wie das Rasieren.
Gerne hätte er den Wirt noch peinlich befragt, um ihm Informationen zu entlocken. Doch die Schmerzensschreie des Mannes strapazierten Büttners Nerven über Gebühr. Der Obrist war geräuschempfindlich, was für einen Mann in seiner Stellung ein ernsthaftes Problem darstellte. Während einer Schlacht musste er sich Watte in die Ohren stopfen, um das infernalische Getöse aushalten zu können. Ausgerechnet jetzt war ihm die Watte ausgegangen.
Daher griff Büttner zu seiner Radschlosspistole und verpasste dem Wirt eine Bleikugel mitten in die Stirn. Daraufhin begann dessen Weib mit ihrer Klagelitanei, was Büttners aufkommende Kopfschmerzen noch verstärkte. Er ließ sich von seinem Leutnant Witte eine zweite Schusswaffe geben und tötete auch die Wirtin.
Endlich Ruhe!, dachte Büttner, als auch die Frau blutüberströmt zu Boden sank. Und er sagte: „Irgendwo in diesem Rattennest von Dorf verkriecht sich das Mädchen mit dem Bösen Blick. Ich kann es spüren, sie muss in der Nähe sein. Fragt die Schankmagd. Aber wenn sie auch schreit, ist sie ebenfalls des Todes.“
Der Obrist deutete auf die schreckensbleiche Anna, die angesichts des grässlichen Endes der Wirtsleute ebenfalls gerne geflohen wäre. Doch ein Landsknecht hielt ihr den Mund zu, während zwei seiner Kameraden ihr bereits den Rock hochschoben und ihre Brüste betatschten. An den Absichten der rohen Kerle konnte es keinen Zweifel geben.
Leutnant Witte zog seinen Degen und zielte damit auf das Gesicht der jungen Frau. Sie riss voller Todesangst ihre blauen Augen auf.
„Du hast die Frage meines Herrn gehört, Miststück. Also, wie steht es? Hast du am Ende gar selbst den Bösen Blick?“
Der junge Offizier vermied es, Anna ins Gesicht zu schauen. Er war ohnehin viel mehr von ihren großen Brüsten beeindruckt. Der Landknecht löste seine Hand von ihrer Mundpartie, damit sie antworten konnte. Annas Stimme zitterte vor Angst.
„Ich weiß nichts von einer Frau mit Bösem Blick. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!“
Schwarzdolch Büttner machte eine wegwerfende Handbewegung. Die stechenden Kopfschmerzen, die ihn bei den Schreien seiner Opfer überfallen hatten, klangen allmählich etwas ab.
„Es wird sich zeigen, ob du bei dieser Aussage bleibst, wenn dich erst einige meiner Recken bestiegen haben. – Schafft mir die Strohbutz aus den Augen! Und dann setzt den Roten Hahn auf diese elende Dorfschenke!“
Die Landsknechte führten den Befehl nur zu gerne aus. Drei von ihnen hoben Anna hoch, um sie irgendwo außerhalb des Hauses zu schänden. Andere Soldaten entzündeten in der Küche am Herdfeuer Kienspäne, um damit das Dach anzubrennen.
Der Obrist verließ mit seinen übrigen Männern ohne Hast die kleine Dorfwirtschaft. Die Kavalleristen führten ihre Pferde am Zügel fort, denn die Tiere wurden aufgrund des aufsteigenden Qualms und des prasselnden Feuers unruhig.
„Wie lauten Eure Befehle, Herr?“, fragte Leutnant Witte. Schwarzdolch Büttner begann damit, in aller Ruhe seine Pistole neu zu laden.
„Lasst die Männer ausschwärmen, Leutnant. Ich will wissen, wo sich dieses Mädchen mit dem Bösen Blick verkriecht. Einer dieser Bauerntölpel wird etwas wissen, da bin ich mir sicher. Martert die Kanaillen, bis sie reden. Und setzt den Roten Hahn auf jedes einzelne Haus. Die Pfaffenarmee soll uns fürchten, bevor sie auch nur die Federn an unseren Hüten zu Gesicht bekommt.“
Der rangniedere Offizier eilte davon, um Büttners Order in die Tat umzusetzen. Der Obrist setzte sich im Schatten der Dorflinde auf eine Bank und beobachtete mit kaltem Blick, wie seine Landsknechte Not, Tod und Elend über Lörisfelden brachten.
Schwarzdolch Büttner trug seinen Spitznamen schon so lange, dass er seinen eigentlichen Vornamen Gottfried mittlerweile beinahe selbst vergessen hatte.
Dieser wollte auch nicht recht zu einem Mann passen, dessen Ruf auf rücksichtsloser Brutalität beruhte – und auf seinem Glauben an die dunklen Mächte.
Büttner musste beinahe pausenlos an das geheimnisvolle Mädchen mit dem Bösen Blick denken. Gab es sie wirklich oder war sie nur die Ausgeburt einer blühenden Bauernfantasie? Der Obrist hatte im nur zehn Meilen entfernten Tecklenburg zum ersten Mal von ihr gehört. Ein umherreisender Gaukler hatte von diesem schönen Kind berichtet, bevor Büttner ihm eigenhändig die Zunge herausschnitt. Das Mädchen mit dem Bösen Blick solle angeblich in einem der kleinen Dörfer des Tecklenburger Landes leben.
Daraufhin hatte der Obrist sofort seine Eskadron in Marsch gesetzt, um nach dem Mädchen zu suchen. Eigentlich war Schwarzdolch Büttner der Befehlsgewalt des „tollen Halberstädters“ unterworfen. Das Regiment des Obristen war Teil des evangelischen Zehntausendmannheeres, das in die Bistümer Münster und Paderborn eingefallen war. Aber Büttner tat im Zweifelsfall immer das, wozu er selbst gerade Lust hatte. Christian von Braunschweig hatte sich damit abgefunden, denn wenn es hart auf hart kam, waren Büttners Landsknechte die besten und rücksichtslosesten Kämpfer in seiner ganzen Armee.
In Aachen hatte Büttner sich von einem Wahrsager die Zukunft deuten lassen. Der alte Graubart prophezeite dem Obristen gewaltiges Kriegsglück – und eine junge Frau mit dem Bösen Blick würde sein Schicksal entscheiden.
Schwarzdolch Büttner glaubte fest an diese Vorhersage. Seit er konsequent teuflisch handelte, flossen die Reichstaler nur so in seine Schatztruhen und er führte sein Regiment von Sieg zu Sieg. Was war da naheliegender als eine Frau mit dem Bösen Blick, die als ergebenes Weib sein Bett wärmte?
Natürlich stellte eine solche Gefährtin ein Risiko dar, denn sie konnte ja ihre satanische Gabe auch gegen ihn selbst wenden. Aber gerade darin lag für Büttner der besondere Reiz, der Nervenkitzel, die sinnenbetörende Verlockung. Jeder dumme Landsknecht konnte eine hilflose Magd schänden oder eine Hure bezahlen. Aber sich eine Frau mit dem Bösen Blick zu unterwerfen – das war eine Herausforderung, der sich nur ein Mann wie Schwarzdolch Büttner stellen wollte.
Die Schreie der gequälten Dorfbewohner ließen den geräuschempfindlichen Obristen zusammenzucken. Er beschloss, außerhalb von Lörisfelden zu warten, bis seine Männer ihr Zerstörungswerk vollendet hatten. Büttner erhob sich von der Bank. Doch da fiel ihm noch etwas ein.
Die Dorflinde – sie war in diesen kleinen Käffern neben dem Wirtshaus meist der einzige Treffpunkt für harmlosen Frohsinn. Hier fanden sich Liebespaare zum Stelldichein, hier wurde zu den Klängen einer Fiedel getanzt, hier ruhten sich die Alten auf der Bank aus. Nun, diese Freude würde er den Dörflern gründlich verderben.
Schwarzdolch Büttners Gesicht verzog sich zu einem satanischen Grinsen.
„Leutnant Witte – nehmt Euch zwei Männer und lasst die Dorflinde abholzen. Und vergesst nicht, auch die Ruhebank zu zerschlagen!“
Pauline rannte wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie hörte erst damit auf, als ihre Beine ihr den Dienst versagten. Die Wirtstochter fiel auf den weichen Waldboden. Sie versuchte aufzustehen, aber die Erschöpfung war einfach zu groß. Pauline blieb auf dem Rücken liegen. Ihre Lungen flatterten, ihr Herz raste. Sie war tief in den Wald gelaufen. Wo genau sie sich befand, konnte sie unmöglich sagen. Irgendwo westlich von Lörisfelden musste sie sein. Sie war so weit vom Dorf entfernt, dass sie noch nicht einmal den Stundenschlag der Kirchturmuhr hören konnte.
Es dauerte eine Weile, bis ihr Körper sich von der Anstrengung des schnellen Laufs erholt hatte. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf wie Bienen durch den Bienenstock. Doch dann sah sie etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Eine schwarze Rauchsäule stieg am Horizont auf. Paulines Verstand weigerte sich, die schreckliche Wirklichkeit zu erfassen. Dabei gab es keinen Zweifel daran, was die beiden Schüsse in der Gaststube zu bedeuten hatten. Und auch der Qualm über der Stelle, wo Pauline Lörisfelden vermutete, ließ nur eine Möglichkeit offen.
Das Dorf brannte.
Pauline kniff die Augen zusammen. Bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass die Qualmsäule aus verschiedenen kleineren Rauchschwaden bestand. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Mehrere Häuser und Gehöfte brannten. Ob auch die Gastwirtschaft ihrer Eltern ein Raub der Flammen wurde?
Und – was war mit ihrer Mutter und ihrem Vater geschehen?
Noch weigerte Pauline sich standhaft, an den Tod ihrer Eltern zu glauben. Vielleicht war ja ein Wunder geschehen! Hochwürden hatte schließlich oft genug von der Kanzel herab gepredigt, dass der Herrgott den reinen Seelen helfe und seine Schäfchen nicht im Stich lasse.
Vielleicht waren die Soldaten ja nur gesandt worden, um die Glaubensfestigkeit der Lörisfeldener zu prüfen. Doch kaum war Pauline dieser Einfall gekommen, als ihr ein zweiter, entsetzlicher Gedanke kam.
Was wäre, wenn sie selbst das Unglück über ihr Heimatdorf gebracht hatte? Schließlich besaß Pauline die Fähigkeit des Bösen Blicks. Wurden dadurch die Höllenkräfte nicht geradezu magisch angezogen? Gewiss, ihre Mutter hatte stets versucht, Paulines Gabe vor den Nachbarn und den übrigen Dorfbewohnern geheim zu halten.
Aber war das auch gelungen?
Zumindest Anna, die Schankmagd, wusste nichts von Paulines Fähigkeit. Anna war nämlich so fürchterlich abergläubisch, dass sie gewiss niemals für eine Familie gearbeitet hätte, deren Tochter den Bösen Blick hatte.
Pauline bekreuzigte sich. Irgendwoher musste doch dieser Obrist Büttner von ihr gehört haben. Ob am Ende die alte Elsbeth geplaudert hatte? Das Kräuterweib trieb sich oft in den Nachbargemeinden herum. Es war gut möglich, dass sie den Landsknechten in die Arme gelaufen war. Wenn Elsbeth dem Branntwein zugesprochen hatte, wurde sie redselig. Oder die Soldaten hatten ihre Zunge mit Hilfe der Folter gelöst. Es spielte letztlich auch keine Rolle. Fest stand, dass dieser schreckliche Offizier es auf Pauline abgesehen hatte.
Sie hasste und fürchtete ihn gleichzeitig. Immer wieder erlebte sie innerlich den Moment, als Büttner Vaters Hand mit dem Dolch auf die Tischplatte genagelt hatte.
Ob Pauline mit ihrem Bösen Blick Vater und Mutter vor den Soldaten hätte retten können?
Sie wusste es nicht, denn gegen Menschen hatte sie ihre unheimliche Fähigkeit noch niemals eingesetzt. Außer seinerzeit der Wolf hatte noch nie ein lebendiges Wesen die Auswirkungen ihrer Gabe zu spüren bekommen.
Die Ungewissheit nagte an Pauline wie eine gefräßige Ratte. Obwohl sie sich vor der Wahrheit fürchtete, wollte sie sich Gewissheit verschaffen. Daher beschloss sie, nach Lörisfelden zurückzukehren. Sie musste einfach erfahren, was mit ihren Eltern geschehen war.
Doch das konnte sie nur im Schutz der Dunkelheit tun. Es gab kaum einen Weg oder Pfad, der durch den Wald führte – von einer befestigten Straße ganz zu schweigen. Dennoch musste sie damit rechnen, dass die berittenen Soldaten auch in dem unwegsamen Gelände nach ihr suchen würden.
Pauline schlich langsam Richtung Dorf, wobei sie stets in der Deckung von Sträuchern, Baumstämmen und Unterholz blieb. Einmal glaubte sie, eine Abteilung Reiter in großer Entfernung vorbeiziehen zu sehen. Oder war es nur ein Rudel Rotwild? Sie wollte jedenfalls kein Risiko eingehen.
Endlich senkte sich die Dämmerung über den Teutoburger Wald. Je näher Pauline ihrem Geburtsort kam, desto unerträglicher wurde der Brandgeruch. Die Glut glomm in einigen rauchenden Ruinen immer noch.
Von den Holzkaten war fast nichts übriggeblieben, nur die geschwärzten Fachwerkmauern anderer Häuser standen noch. Pauline brach der kalte Schweiß aus. Sie fühlte sich, als würden ein großer Stein in ihrer Kehle und ein zweiter in ihrem Magen stecken. Tränen rannen unablässig über ihre Wangen und der kalte Rauch brannte wie Feuer in ihren Augen.
Pauline kehrte in ein Totendorf zurück.
Offenbar hatten die Landsknechte nicht nur die Bewohner, sondern auch das Vieh sinnlos abgeschlachtet. Leichen und Kadaver lagen zwischen Häusern und Ställen herum, sofern die Körper nicht mit den Gebäuden verbrannt waren. Sogar vor der Kirche hatten die Schlagetote nicht haltgemacht. Hochwürden war mit langen Zimmermannsnägeln an die Kirchentür geschlagen worden. Der Geistliche hatte diese Tortur nicht überlebt.
Das flackernde Feuer von verlöschenden Brandherden beleuchtete diese grausigen Szenerien. Pauline bewegte sich auf das Wirtshaus zu, dabei unwillkürlich immer langsamer werdend.
Plötzlich hörte sie ein leises, langgezogenes Stöhnen.
Hoffnung keimte in ihr auf. Sollte ihre Mutter oder ihr Vater wie durch ein Wunder diesen Tag des Infernos überlebt haben?
Pauline raffte die Röcke und wurde schneller. Zum Glück fehlte von den Soldaten jede Spur. Diese Teufel in Menschengestalt mussten Lörisfelden verlassen haben, nachdem sie ihr Werk der Zerstörung vollendet hatten.
Die junge Frau schaute sich um. Sie glaubte, sich getäuscht zu haben. Das Geräusch war verstummt, man hörte nur das Knacken des verkohlten Holzes und das Knistern der allmählich verlöschenden Flammen.
„Ist hier jemand?“, fragte Pauline mit zitternder Stimme.
Das Ächzen ertönte erneut. Es kam aus der Richtung, wo noch am Morgen der Hühnerstall gestanden hatte. Auch dieser Bretterverschlag war nur noch eine rauchende Ruine. Und dahinter lag ein nackter blutiger Körper.
Anna.
Pauline erkannte die Schankmagd, obwohl sie entsetzlich zugerichtet war. Aber sie lebte noch.
„Anna …“
Pauline konnte den Namen nur flüstern, während sie sich neben die junge Frau kniete und sie sanft an der Stirn berührte. Doch die Schankmagd zuckte sofort panisch zurück.
„Ich bin es, Pauline“, sagte sie und versuchte dabei, beruhigend zu klingen. Aber wie konnte man Ruhe empfinden angesichts einer solchen Apokalypse?
„Pauline“, wiederholte Anna. „Es tut mir leid, deine Eltern …“
„Was ist mit ihnen?“
„Sie starben … durch die Kugeln von Schwarzdolch Büttner. Der Obrist … er hat sie niedergeknallt wie tollwütige Tiere.“
Nun war Paulines Befürchtung entsetzliche Gewissheit geworden. Was mit Anna selbst geschehen war, musste sie nicht fragen. Pauline war auch nicht sicher, ob sie es so genau wissen wollte. Die junge Frau musste durch die Hölle gegangen sein.
„Büttner – wo ist der Bastard?“
„Fortgeritten, mit seinen Leuten. Ich glaube, sie wollten auf Paderborn ziehen. Und – dieses Mädchen mit dem Bösen Blick. Büttner ist besessen von ihr. Er will sie haben …“
Und genau dieses Mädchen hockt nun neben dir, dachte Pauline bedrückt. Sie schämte sich, obwohl sie ja nicht die Schuld an Annas Schicksal trug. Insbesondere hatte sie es sich nicht ausgesucht, mit dem Bösen Blick behaftet zu sein.
Pauline überlegte, ob sie der verwundeten Schankmagd die Wahrheit gestehen sollte. Aber noch bevor sie sich entscheiden konnte, erlag Anna ihren schweren Verletzungen.
Wie zum Hohn war der nächste Morgen ein strahlend schöner Sommertag.
Pauline hatte die Nacht im Wald verbracht. Es war völlig undenkbar für sie gewesen, in dem Dorf zwischen all den Toten zu bleiben. Sie hatte zuerst überlegt, ihre Eltern zu begraben. Aber die Schenke war nur noch eine rauchende Ruine, ein Chaos aus eingestürzten Wänden und verbrannten Balken. Die junge Frau war überfordert mit der Aufgabe, die sterblichen Überreste von Mutter und Vater daraus hervorzuzerren. In Paulines Augen war die zerstörte Schenke selbst das Mausoleum ihrer Eltern. Sie konnte nicht mehr dort sein, wollte nur noch fort.
Pauline hatte kein Ziel.
Sie setzte einen Fuß vor den anderen, ging mit der gleichmäßigen Routine eines Mädchens, das lange Märsche gewohnt war. Je weiter sie sich von Lörisfelden entfernte, desto besser klappte es mit dem Denken.
Am Vortag war ihr gesamtes bisheriges Leben auf einen Schlag zerstört worden. Es kam ihr beinahe sündhaft vor, dass sie selbst noch atmete und sich bewegen konnte. Warum nur legte der liebe Gott ihr so schwere Prüfungen auf? Pauline wusste es nicht, und sie hatte auch niemanden, den sie fragen konnte. Denn auch Hochwürden war ja von Schwarzdolch Büttner und dessen Mannen ermordet worden.
Schwarzdolch Büttner.
Noch nie zuvor in ihrem jungen Leben hatte Pauline einen Menschen so gehasst. Er hatte ihre Eltern grundlos getötet. Vielleicht war das ja im Krieg so üblich, aber in Paulines Augen war das keine Rechtfertigung.
Sie wusste gar nicht, warum überhaupt gekämpft wurde. Gewiss, die Gäste in der Schankstube hatten oft über diese Dinge geredet. Das eine oder andere Bruchstück hatte Pauline beim Bedienen auch schon einmal aufgeschnappt.
Da war von einem Fenstersturz zu Prag die Rede, auch von der Schlacht am Weißen Berg hatte Pauline schon einmal gehört. Die hohen Herren in Böhmen rebellierten gegen den Kaiser, wobei Pauline gar nicht genau wusste, wo dieses Böhmen überhaupt lag. Es musste weit weg sein, noch weiter als Münster. Doch auch bis in die gleichnamige Hauptstadt des Fürstbistums Münster war die junge Frau noch niemals gelangt.
Die ihr bekannte Welt endete in Tecklenburg.
Ob jetzt das Ende aller Tage bevorstand?
Pauline erinnerte sich plötzlich an einen barfüßigen Kometendeuter, der einst ins Dorf gekommen war. Zwar lag dessen Besuch schon fast drei Jahre zurück, aber Pauline konnte sich noch lebhaft an ihn erinnern.
Der in einen löcherigen Kittel gekleidete Asket hatte viele Erklärungen für die Erscheinung eines großen Kometen im November des Jahres 1618 parat gehabt. Sie alle waren darauf hinausgelaufen, dass die ganze Welt in einer Flut von Gewalt und Blut versinken würde, bevor das Jüngste Gericht dem Spuk ein Ende machte.
Waren dieser Krieg und die Zerstörung von Lörisfelden nicht die besten Beweise für die Richtigkeit der Prophezeiung?
Hochwürden hatte damals den Kometendeuter mit einer Mistforke aus dem Dorf gejagt, aber Pauline hatte seine Worte niemals vergessen.
Sie war die Tochter eines Gastwirts, konnte weder lesen noch schreiben. Dennoch dachte Pauline oft über den Lauf der Welt nach. Sie erinnerte sich an die Predigten, die sie in der Dorfkirche gehört hatte.
Mutter und Vater waren jetzt im Paradies, daran gab es für Pauline keinen Zweifel. Ihre Eltern hatten das anständige Leben von Christenmenschen geführt, auch wenn das in einer Schankwirtschaft voll mit wüsten Zechern nicht immer einfach war.
Wenn das Jüngste Gericht wirklich bevorstand, musste Pauline sich darauf vorbereiten. Auf gar keinen Fall durfte sie ihrem Leben selbst ein Ende bereiten, denn auch daran hatte sie kurzzeitig gedacht. Aber die Selbstentleibung war eine Todsünde, die unweigerlich die ewige Verdammnis nach sich ziehen würde. Das hatte Hochwürden seiner Gemeinde oft genug erklärt.
Trotz ihrer unermesslichen Trauer war Pauline entschlossen, ihr Schicksal als eine Prüfung anzusehen. Lange musste sie gewiss nicht mehr ausharren, bis das Ende der Welt nahte. Daher kniete sie nieder und verrichtete ganz fromm ihr Morgengebet.
Doch wie sollte es weitergehen, bis sie vor ihren Schöpfer trat?
Zum ersten Mal stand Pauline ohne Aufgaben da. In der Schenke ihrer Eltern hatte es immer Arbeit gegeben. Auch im Haus und im Garten konnte sie sich über Mangel an Beschäftigung nicht beklagen. Nur der Sonntag war der Muße vorbehalten, wenn Gottesdienst und Bedienung der Frühschoppengäste hinter ihr lagen.
Pauline brauchte ein Ziel. Sie beschloss, nach Münster zu wandern. Gewiss, es gab auch noch andere Städte im Reich. Sie hatte von Prag und Wien gehört, von Aachen, Hamburg, Worms und Bremen. Doch alle diese Orte mussten unendlich weit entfernt sein, und den Weg dorthin kannte sie nicht. Doch von Münster wusste sie zumindest ungefähr, wo es lag. Sie musste sich in nordwestlicher Richtung halten. Dann würde sie nach zwei oder drei Tagen den Bischofssitz erreichen.
Die Himmelsrichtungen konnte sie durch den Stand der Sonne erkennen, auch die Bemoosung der Baumstämme half ihr bei der Orientierung.
Pauline sprach noch ein letztes Gebet für das Seelenheil ihrer Eltern. Dann wischte sie sich die Tränen fort und machte sich mit knurrendem Magen auf den Weg.
„Pereat tristitia
Pereant osores
Pereat diabolus
Quivis antiburschius
Atque irrisores.”
Die letzten Strophen der traditionellen Studentenhymne „Gaudeamus igitur“ kamen Sebastian Neuhaus und seinen Freunden nur noch verwaschen über die Lippen.
Das war auch kein Wunder, denn die jungen Herren hatten ausgiebig und feuchtfröhlich Abschied gefeiert. Nun hockte die Akademikerhorde wie ein Schwarm von bunten Vögeln auf einem Zaun und blickte auf die Türme von Heidelberg im Tal unter ihnen.
Bernd Siepe spuckte im hohen Bogen aus.
„Verflucht seien Generalissimus Tilly und seine Bande von Schlagetoten! Gevatter Tod regiert, die pöbelnden Landsknechtshaufen machen sich breit – und ein jeder Studiosus steht vor dem Nichts.“
Siepe sprach mit schwerer Zunge das aus, was sie alle dachten. Nach dem Einmarsch der kaiserlichen Truppen in Heidelberg war die Universität geschlossen worden. Die meisten Professoren hatten sich schnell aus dem Staub gemacht. Sebastian Neuhaus, Bernd Siepe und die übrigen Studenten waren zunächst noch in der Stadt geblieben. Doch das Geld wurde immer knapper, nachdem der Freitisch für die hungrigen Studentenmägen nicht mehr zur Verfügung stand. Und es war nicht absehbar, wann sich die Lage besserte.
Also hatte Siepe für sich und seine Freunde am Vorabend ein paar Krüge Branntwein beschafft. Rund ein Dutzend Kommilitonen hatten auf einem bewaldeten Hügel fernab der Heereslagerfeuer einen wehmütigen Abschied gefeiert. Und nun war es Morgen, jeder von ihnen hatte einen gewaltigen Brummschädel – und ihre Wege würden sich trennen.
Sebastian rieb sich die Augen. Manchmal wünschte er sich, aus einem üblen Traum aufzuwachen. Er war in den vergangenen zwei Jahren so glücklich gewesen wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Noch besser als das Lernen in den Hörsälen hatte ihm das Studentenleben gefallen. Trinken, fechten und mit den Mädchen im Heu landen – einem Heidelberger Studenten gehörte die Welt. So hatte man es ihm vom ersten Tag an eingebläut, und Sebastian lernte diese Lektion nur allzu gern. Er war ein junger Fuchs gewesen, doch schon bald ging ihm die großspurige Grandezza der Studenten in Fleisch und Blut über.
Stolz wie Spanier traten die jungen Akademiker in ihren weiten bunten Gewändern auf, den Degen als Symbol ihrer studentischen Freiheit umgeschnallt. Sie gingen keiner Rauferei aus dem Weg. So mancher von den Nichtstudierten, die an der Universität nur verächtlich „Philister“ genannt wurden, hatte schon Bekanntschaft mit studentischen Degen und Fäusten machen müssen.
Außerdem waren die jungen Herren aus gutem Haus bei den Bürgertöchtern wegen ihrer Verführungskünste berühmt-berüchtigt. Doch nun waren die Tore der Alma Mater von Heidelberg geschlossen und nur Gott selbst wusste, wann sie wieder geöffnet wurden.
Allmählich klang die Wirkung des Branntweins ab. Sebastian ging zu einer Viehtränke, die sich unweit des Zauns befand. Er steckte seinen Kopf in das kalte Wasser, fuhr mit beiden Händen durch sein langes gelocktes Haar. „Goldengel“ hatte ihn eines der zahlreichen Mädchen genannt, mit denen er sich seit Studienbeginn vergnügt hatte, denn sein Haupthaar besaß einen kräftigen Blondton.
Durch das morgendliche Waschen wurde Sebastians aufkommende Nüchternheit noch verstärkt. Eine Frage, die er am branntweinseligen Vorabend verdrängt hatte, lastete nun wieder stark auf seine Seele.
Was sollte er mit seinem Leben anfangen?
„He, Bastian, altes Haus! Was für Grillen spuken dir durch den Kopf?“
Sebastian musste grinsen. Seinem Freund Bernd konnte er nichts vormachen. Es war, als würde der Medizinstudent in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Und bevor Sebastian antworten konnte, schob sein Kommilitone eine Vermutung nach.
„Immer noch keine Nachricht aus Graubünden?“
Der blonde Student schüttelte den Kopf. Sein Vater besaß eine Tuchhandlung. Normalerweise bekam Sebastian jeden Monat einen Brief und eine Zahlungsanweisung aus der Heimat. So konnte er seinen Lebensunterhalt in Heidelberg bestreiten. Doch nun hatte er schon seit einem Vierteljahr nichts mehr von seiner Familie gehört. Bis auf wenige Münzen war Sebastian inzwischen mittellos.
„Willst du in deine Heimat zurückkehren?“, hakte Bernd nach.
„Das darf ich nicht. Ich musste meinem Vater schwören, erst mit einem abgeschlossenen Studium wieder nach Graubünden zu kommen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass er mir meine Auslagen bezahlt.“
„Aber wie willst du dein Studium beenden, wenn unsere Universität geschlossen wurde? Und wovon willst du leben, wenn du keine Zahlungsanweisungen von daheim bekommst?“
„Du hast mein Problem auf den Punkt gebracht, teurer Freund.“
Bernd atmete tief durch.
„Ich kann dir ein paar Gulden leihen, aber das hilft dir nicht lange weiter. Mich wird mein Weg ins Holländische führen, wie du weißt. Die Alma Mater von Leiden soll ein beliebter Zufluchtsort für so manchen Studiosus geworden sein, der dem kriegsgeschüttelten Reich den Rücken kehrt. Unsere holländischen Freunde haben das spanische Joch bereits abgeworfen. – Willst du mich nicht begleiten?“
„Nein, Bernd. Ich muss zunächst in Erfahrung bringen, was aus meiner Familie geworden ist. Auch ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, meine Studien an einem anderen Ort fortzusetzen.“
„Komm doch mit mir nach Leiden! Dort ist der Krieg so fern wie der Mond, und mit Bierhumpen und Degenklinge wird man im Holländischen ebenso trefflich umgehen können wie in Heidelberg.“
„Es geht wirklich nicht. Vielleicht komme ich später nach. Aber solange ich nicht weiß, was in der Heimat geschehen ist, kann ich deinem Vorschlag nicht folgen.“
„Und wie willst du etwas erfahren, wenn du selbst nicht zurückkehren darfst? Nimmst du die Dienste eines Hellsehers in Anspruch?“
„Nein, Bernd, das nicht. Aber mein Vetter Alfons lebt in Nördlingen. Ich hoffe, dass er etwas von meiner Familie gehört hat. Immerhin befindet er sich viel näher an meiner Heimat als ich selbst.“
Bernd klopfte ihm auf die Schulter.
„Ich kann dich verstehen, alter Freund. – Dann nimm wenigstens das hier von mir an. Es ist nicht viel, aber mit etwas Glück kommst du damit bis nach Nördlingen.“
Mit diesen Worten drückte Bernd seinem Freund ein leise klirrendes Säckchen in die Hand. Sebastian öffnete es. Darin befanden sich zehn Gulden. Eigentlich war er zu stolz, um Geld anzunehmen. Doch Sebastian hatte schon seit einigen Tagen ziemlich gedarbt, daher war ihm der Branntwein am Vorabend auch besonders zu Kopf gestiegen. Er musste sich eingestehen, dass er ohne Bernds Unterstützung wohl kaum bis zu seinem Vetter gelangen würde.
„Danke, Bernd. Ich zahle es dir auf Heller und Pfennig zurück.“
„Ja, wenn du erst in Leiden bist. Ich vermisse dich jetzt schon. Lass uns den Abschied nicht zu lang werden.“
Die Freunde umarmten sich. Sie nahmen auch Abschied von den übrigen Kommilitonen. Matthias aus Augsburg, Gottlieb aus Tuttlingen, Volker aus Brandenburg, Ansgar aus Dinkelsbühl – sie und alle die anderen Studenten gingen einer ungewissen Zukunft entgegen.
Wie es hieß, führten außer der Universität von Leiden noch die berühmten Bildungsstätten in Italien ihren Lehrbetrieb weiter. Aber alle diese Orte waren weit entfernt – zumal für einen mittellosen Studenten wie Sebastian, der zu Fuß reisen musste.
Immerhin hatte er sein Bündel schon am Vortag geschnürt. Es enthielt neben etwas Leibwäsche die wenigen schmalen Bücher, die der Student sich hatte anschaffen können. Ansonsten bestand sein irdischer Besitz nur aus den Kleidern auf dem Leib und aus dem Degen an seiner Seite.
Doch Sebastian wäre kein Heidelberger Student gewesen, wenn er verzagt in die Zukunft geblickt hätte. Dass er so lange keine Nachricht von seiner Familie erhalten hatte, konnte an den Schwierigkeiten des Postwesens in Kriegszeiten liegen.
Er stellte sich vor, wie er schon in wenigen Monaten wieder Seite an Seite mit Bernd und seinen anderen Freunden tagsüber im Hörsaal sitzen und nachts die Bierhumpen stemmen würde. Diese Zukunftsaussicht ließ ihn lächeln und den Schmerz des Abschiedes weniger bohrend und nachhaltig erscheinen.
Sebastian winkte den Kommilitonen noch einmal zu. Dann wanderte er mit dem Bündel unter dem Arm in die Richtung, wo er Nördlingen vermutete.
Pauline war genügsam.
Mutter hatte sich oft darüber beklagt, dass das Mädchen überhaupt kein Fett ansetzte. Selbst nach einem üppigen Braten oder süßen Klößen wurden ihre Formen nicht so weiblich, wie es zu wünschen gewesen wäre. Aber Pauline wusste nicht, was sie dagegen tun sollte. Manches gleichaltrige Mädchen wies bereits das breite Becken einer Frau auf, die mehrere Kinder zur Welt gebracht hatte – von den Brüsten ganz zu schweigen.
Alles in allem hatte sich Pauline mit ihrer Magerkeit abgefunden, obwohl so mancher mögliche Bräutigam dadurch abgeschreckt wurde. Doch je länger sie durch die Wälder streifte, desto mehr sehnte sie sich nach etwas Speck auf den Hüften.
Als Gastwirtstochter hatte Pauline im Gegensatz zu einigen armen Tagelöhnern oder Bettlern niemals wirklichen Hunger erleiden müssen. Was es hieß, nichts zum Essen zu haben, wurde ihr erst auf ihrer einsamen Reise so richtig bewusst.
Pauline musste an den Wolf denken, den sie vor einigen Jahren getötet hatte. Es war, als wäre er von den Toten auferstanden und würde nun von innen her ihren Magen und ihre Gedärme zerfetzen.
Eine solche Vorstellung war natürlich Unfug, und das wusste Pauline genau. Doch je länger sie hungerte, desto mehr Illusionen wurden ihr von ihrer überbordenden Fantasie vorgegaukelt.
Blaubeeren und Wasser, das war momentan ihre einzige Nahrung. Es reichte aus, um nicht völlig zu verhungern. Doch ihre Gedanken kreisten ununterbrochen um Essen. Sie erinnerte sich an die gebratene Gans, die Mutter beim Weihnachtsfest auf den Tisch gebracht hatte, an Mandelkuchen bei der Kirmes in Tecklenburg, an die Tafelfreuden der Bauernhochzeiten – sogar die Vorstellung von einfachem Haferbrei mit einer Prise Salz ließ Pauline das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Ob auch dieser Bärenhunger zu den Prüfungen gehörte, die der liebe Gott ihr auferlegt hatte? Das erschien Pauline einleuchtend, obwohl sie Schwierigkeiten hatte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie verlor jedes Zeitgefühl. Manchmal brach sie erschöpft zusammen und schlief ein paar Stunden. Es machte für sie keinen Unterschied mehr, ob es Tag oder Nacht war. Oft schritt sie nach Einbruch der Dunkelheit sogar schneller aus als bei Sonnenschein, denn sie besaß keine Decke und konnte sich nachts nur durch Bewegung einigermaßen warm halten.
Dann orientierte sie sich an den Sternen im Firmament, um weiter in die richtige Himmelsrichtung zu laufen. Aber der Hunger blieb ihr ständiger Begleiter. Allmählich konnte sie verstehen, wie sich die zahlreichen Bettler und Vagabunden fühlen mussten, die sommers wie winters durch Lörisfelden zogen.
Nun wurde das Hirngespinst so übermächtig, dass sogar schon Paulines Nase von Bratenduft gequält wurde. Die junge Frau blieb stehen und lehnte sich an einen Fichtenstamm. Es war finstere Nacht, ihre Füße schmerzten von der endlosen Wanderung.
Plötzlich begriff Pauline, dass ihr ihre Wunschvorstellungen keineswegs einen Streich spielten – jedenfalls nicht jetzt. Weit vor ihr flackerte zwischen den Bäumen der irrlichternde Schein eines Lagerfeuers, ein glutroter Flecken in der schwarzen Nacht.
Pauline musste an das brennende Dorf denken und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Doch die Erinnerung an die vor Kurzem überstandenen Schrecken war nur flüchtig. Offenbar wurde ein Stück Fleisch über dem offenen Feuer gebraten. Das war es, worum nun Paulines Gedanken kreisten.
Doch trotz ihres beinahe übermächtigen Hungers blieb sie vorsichtig. Die schrecklichen Erfahrungen mit den Landsknechten in Lörisfelden hatten ihr schließlich vor Augen geführt, was Menschen ihren Mitmenschen antun konnten. Keinesfalls durfte sie blindwütig zu dem Lagerfeuer laufen und darum bitten, ein kleines Stück Fleisch abbekommen zu dürfen.
Zunächst musste sie sich vergewissern, mit was für Leuten sie es zu tun hatte. Pauline sank auf die Knie. Das fiel ihr nicht schwer, denn bei dem appetitlichen Bratengeruch konnte sie sich ohnehin kaum noch auf den Beinen halten. Ihr Magen knurrte so laut, dass es in ihren eigenen Ohren wie ein Donnerrollen klang.
Auf Händen und Knien schlich sie auf das Lagerfeuer zu. Dabei achtete Pauline sorgfältig darauf, stets hinter Sträuchern und Buschwerk verborgen zu bleiben. Glücklicherweise war die Vegetation hier besonders dicht.
Schon bald erkannte sie, dass ihre Zurückhaltung mehr als berechtigt gewesen war. An dem Lagerfeuer hockten nämlich zwei Männer, deren bunte Tracht und Waffen sie als Landsknechte auswiesen. Im Gegensatz zu Schwarzdolch Büttner und dessen Männern waren sie zu Fuß unterwegs. Jedenfalls konnte Pauline nirgendwo in der Nähe Reittiere entdecken.
Die Soldaten hatten einem Hasen das Fell abgezogen und brieten den Mümmelmann nun an einem Eisenspieß über dem Lagerfeuer. Während sie auf das Essen warteten, vertrieben sie sich die Zeit mit dem Leeren einer Schnapsflasche und mit Reden. Pauline duckte sich unter einen Holunderbusch. Von dort aus hatte sie die Kerle nicht nur im Blickfeld, sondern konnte auch jedes Wort verstehen.
„Verdammt will ich sein, wenn dieses Vieh nicht endlich bald durch ist. Mir hängt schon der Magen in den Kniekehlen vor lauter Hunger.“
„Halts Maul und trink noch einen Schluck, Karl. Du meckerst wie eine alte Ziege. Sei doch froh, dass wir uns so schnell aus dem Staub machen konnten. Oder willst du dich wieder vom Profoß durchprügeln lassen?“
Pauline horchte auf. Diese Männer waren offenbar von ihrer Armee fortgelaufen. Unter einem Profoß verstand man jedenfalls eine Art Ordnungshüter bei den Truppen. Das Wort hatte Pauline einmal aufgeschnappt, als Gäste im Wirtshaus über den Militärdienst geredet hatten. Doch nun lauschte sie zunächst der Antwort von diesem Karl.
„Der Profoß Josef? Ha, ich lasse mir von niemandem mehr das Fell gerben. Der ‚tolle Halberstädter‘ soll seine Schlachten ohne mich schlagen.“
Diese Landsknechte hatten zu derselben Armee gehört wie jener Obrist, der ihre Eltern getötet hatte. Die Erinnerung daran ließ die junge Frau erstarren. Aber sie lauschte weiterhin dem Zwiegespräch.
„Schön, wir haben das elende Exerzieren in Formation hinter uns gelassen, und auch den Bremer, bei dem ich noch Spielschulden habe. – Aber wie soll es nun weitergehen, Karl? Hast du eine Vorstellung?“
„Selbstverständlich. Saufen, Raufen, Schänden, Stehlen, Quälen – lustig ist das Soldatenleben, oder nicht? Nur dass wir jetzt keine Soldaten mehr sind, sondern freie Herren und auf eigene Rechnung arbeiten.“
„Freie Herren, sagst du? Wenn wir erwischt werden, landen unsere Schädel auf dem Richtblock. Hast du daran mal gedacht?“
„Sicher habe ich das. Wir müssen auch damit rechnen, dass ein paar Bäuerlein zur Sense oder zum Dreschflegel greifen, nachdem wir es ihren Weibern besorgt haben. Aber was soll diese Verzagtheit? Weißt du nicht mehr, wie du mit deinem Katzbalger umgehen musst?“
„Natürlich weiß ich das, gelernt ist gelernt. Ich habe mich nur gerade gefragt, warum wir überhaupt vom Kalbsfell fortgelaufen sind.“
„Bist du so dumm oder hast du schon zu viel gesoffen? Wir befolgen keine Befehle mehr, die uns ein scheinheiliger Offizier gibt. Wir tun nur noch das, was uns gefällt.“
„Nicht alle Offiziere sind scheinheilig. Hast du noch nie von dem Obristen Büttner gehört?“
„Du meinst diesen einäugigen Satansbraten, den alle nur ‚Schwarzdolch‘ nennen? Ich kannte mal einen Kerl, dessen Bruder in seinem Reiterregiment gedient hat. Du hast recht, Schwarzdolch Büttner schont weder das Bauernpack noch die Weiber. Er gibt seinen Mannen sogar ein Beispiel, damit sie nicht zu gnädig mit den Dörflern umspringen. Er stachelt sie auf, da bleibt keine Kehle undurchtrennt und kein Dach ohne den Roten Hahn.“
„Ja, wenn Schwarzdolch Büttner ein Dorf erobert hat, bekreuzigen sich die Leute noch fünfzig Jahre später, heißt es.“
„Vorausgesetzt, es ist noch jemand da, der sich bekreuzigen kann.“
Die beiden Landsknechte fielen in ein rohes Gelächter ein. Paulines Furcht wich immer mehr einer kalten Wut, die sie kaum noch unterdrücken konnte. Diese beiden Soldaten waren offenbar von der gleichen Sorte, die so unendliches Elend über ihre eigene Familie und über ihr Heimatdorf gebracht hatte. Doch das war noch lange nicht das Schlimmste.
Unverzeihlich war nach Paulines Meinung, mit welch unverhohlener Bewunderung Karl und Josef von Schwarzdolch Büttner sprachen. Sie waren schlechte Menschen, die große Freude am Quälen von unschuldigen Opfern hatten. Je länger Pauline darüber nachdachte, desto wütender wurde sie.
Was geschah eigentlich, wenn der Böse Blick gegen Bösewichte zum Einsatz kam?
Pauline wusste es nicht. Aber sie spürte, dass ihre Empörung und ihr Abscheu gegen die beiden Landsknechte den Kampf gegen ihre Furcht gewonnen hatten.
Die Erinnerung an die Begegnung mit dem Wolf wurde wach. Damals hatte sie geglaubt, keine Chance gegen das Raubtier zu haben. Doch die Kräfte, die tief in ihrem Inneren schlummerten, waren sehr mächtig. Sie musste nur darauf vertrauen.
„Ja, Schwarzdolch Büttner ist ein richtiger Teufelskerl“, schwärmte Karl gerade. „Ich habe gehört, dass die Weiber um Gnade winseln, wenn er sie sich vornimmt.“
„Was für ein Glückspilz! Potz Kanonendonner, ich gäbe etwas darum, wenn ich jetzt ein leckeres Frauenzimmer in die Finger bekommen könnte …“
„Dein Wunsch sei dir gewährt.“
Pauline wusste selbst nicht, warum sie diesen Satz laut und deutlich mit ihrer hellen Stimme ausgesprochen hatte. Noch bevor sie einen Rückzieher machen konnte, richtete sie sich aus dem Gebüsch auf und trat in das flackernde Licht des Lagerfeuers.
Die Hände der beiden Soldaten zuckten zu ihren Degen und Pistolen. Doch sie erkannten schnell, dass sie Besuch von einem unbewaffneten Mädchen bekamen. Auch deutete nichts auf irgendwelche Begleiter der jungen Schönheit hin.
Karl und Josef starrten Pauline mit offenen Mündern an. Die Verblüffung stand ihnen deutlich in ihre bärtigen Gesichter geschrieben. Doch das Erstaunen wurde sehr schnell von nackter Gier verdrängt.
Sie sahen ein schmales und zierliches, aber zweifelsohne weibliches Wesen vor sich. Das Haar des Mädchens war unter einem schmuddligen Kopftuch verborgen, das einfache Kleid war schmutzig und an mehreren Stellen eingerissen. Offensichtlich trieb sich die Kleine schon etwas länger im Wald herum.
Paulines Haut war rein wie frisch gefallener Schnee, wenn auch nicht so hell. Gleichwohl hatten ihr Antlitz und ihre bloßen Unterarme nicht den tief gebräunten Farbton von Mägden, die den ganzen Tag unter freiem Himmel schuften mussten. Oft hatte sie in der Schenke oder der Küche gearbeitet, daher war ihre Haut nicht so oft der Sonne ausgesetzt gewesen.
Paulines haselnussbraune Augen deuteten momentan noch nicht darauf hin, dass sie den Bösen Blick hatte. Und da ihr Gesicht so blass war, wurde die Röte ihrer Lippen ganz besonders auffällig.
Alles in allem war sie ein ansehnliches, wenn auch etwas schmales junges Mädchen. Doch selbst wenn sie eine hässliche alte Vettel gewesen wäre, hätte ihr das nichts genutzt. Sie war eine Frau und damit Freiwild für diese beiden brutalen Kerle. Das konnte sie am lüsternen Glitzern in den Pupillen der Landsknechte deutlich erkennen.
Karl fand als Erster die Sprache wieder. Während er zu reden begann, griff er sich durch den Hosenstoff hindurch ungeniert an sein Gemächt.
„Woher kommst du, dumme Gans? Schleichst du dich nachts durch den Wald und suchst einen Recken, der dir die Flötentöne beibringt?“
„Und wenn das so wäre? Willst du der Hengst sein, wenn ich die Stute bin?“
So lautete Paulines Antwort, und sie stemmte herausfordernd die Fäuste in ihre schmalen Hüften. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Normalerweise schlug Pauline in Gegenwart von fremden Männern verschämt die Augen nieder. Sie war nicht wie Anna, die derbe Zoten und Zudringlichkeiten mit einem kessen Spruch quittierte. Oder quittiert hatte, besser gesagt. Pauline erinnerte sich an das blutige Ende, das die wehrlose Schankmagd gefunden hatte.
Dieser grimmige Gedanke befeuerte die unheimliche Kraft in ihrem Inneren noch zusätzlich. Es war dieselbe Macht, die seinerzeit für den Tod des Wolfs verantwortlich war. Doch weder Karl noch Josef ahnten, in was für einer Gefahr sie schwebten. Ihre Lust hatte ihnen den Verstand vernebelt. Außerdem – was hatten diese beiden rohen Burschen schon von einem unbewaffneten Mädchen zu befürchten?
„Potz Donner, du lässt wohl nichts anbrennen, wie?“
„Finde es heraus.“
In Wirklichkeit war Pauline noch nie mit einem Burschen ins Heu gegangen. Außer ein paar harmlosen Küssen unter der Dorflinde verfügte sie über keine Erfahrungen mit Männern. Sie war ja Rudolf versprochen gewesen und hatte ihre Jungfernschaft bisher stets gehütet wie den Heiligen Gral.
Und auch in dieser Nacht wollte Pauline sich ganz gewiss nicht diesen rohen Schlagetoten hingeben. Aber sie reizte die Kerle weiterhin. Das gehörte zu dem finsteren Spiel, das der unheimliche Teil ihrer Seele nun begonnen hatte.
Karl trat mit einem breiten Grinsen der Vorfreude im Gesicht auf Pauline zu. Die junge Frau blickte ihn herausfordernd an. Sie taxierte seine bärtige Visage, die breiten Schultern und auch seine enge Hose, die sich vorne bereits erwartungsvoll ausbeulte.
Doch bevor Karl Pauline auch nur mit dem kleinen Finger berühren konnte, wurde er von seinem Kumpan grob am Arm gepackt.
„Was soll das, du Narr?“
„Da fragst du noch?“, knurrte Josef. „Wer hat dir befohlen, als Erster auf diese holde Jungfer zu rutschen?“
„Niemand!“ Karl lachte wild auf. „Ich nehme mir, was ich will. Hast du etwas dagegen?“
„Erst bin ich an der Reihe. Ich habe genauso lange den Mönch gespielt wie du, und mein Bocksbeutel ist mindestens ebenso angefüllt.“
„Bocksbeutel? Du meinst wohl Beutelchen.“
Josef antwortete auf diese Anzüglichkeit, indem er seinen stählernen Katzbalger zog. Karl sprang schnell rückwärts, ohne seinen Kumpan dabei aus den Augen zu lassen. Auch er griff zu seiner Blankwaffe und bedrohte damit Josefs Brust.
„Das nimmst du zurück!“
„Zurücknehmen? Eher schneide ich dir dein Beutelchen ab.“
Josef machte einen Ausfall, den Karl sofort parierte. Im Handumdrehen begann eine wüste Fechterei zwischen den beiden Streithähnen. Ihre Freundschaft schien nicht besonders viel wert zu sein, denn sonst würden sie sich so schnell ohne Weiteres an die Gurgel gehen.
Ob alle Soldaten solche Halunken waren? Pauline wusste es nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt momentan hauptsächlich dem Hasen, der immer noch am Spieß über dem offenen Feuer auf seinen Verzehr wartete. Das Fleisch war bereits leicht angebrannt, denn während des vorangegangenen Wortgeplänkels hatten die beiden Landsknechte den Bratspieß nicht weitergedreht.
Pauline ging in aller Seelenruhe an den fluchenden und kämpfenden Männern vorbei, nahm den Spieß vom Feuer und schlug ihre Zähne in das Hasenfleisch. Sie verbrannte sich im ersten Moment die Lippen, aber Pauline hatte noch niemals etwas so Köstliches gegessen. Jedenfalls kam es ihr nach den Hungertagen so vor. Schon während der ersten Bissen spürte sie die Kraft in ihren geschwächten Körper zurückkehren.
Es war richtig gewesen, die Landsknechte an ihrem nächtlichen Lagerfeuer aufzusuchen. Oder hätte sie verhungern sollen? Es waren Männer wie diese klingenschwingenden Dummköpfe gewesen, die ihre Familie und ihr Dorf in Tod und Elend gestürzt hatten. Es wurde Zeit für Paulines Gegenangriff. Und der hatte in diesem Moment bereits begonnen.
Karl und Josef bemerkten überhaupt nicht, dass Pauline sich ihren Hasenbraten schmecken ließ. Die beiden Landsknechte stachen und hieben rücksichtslos aufeinander ein. Karl blutete bereits aus einer Wunde an der rechten Wange, während Josef sich einen Stich in den linken Oberschenkel eingefangen hatte. Aber diese Verletzungen konnten die beiden kampferprobten Männer nicht bremsen.
Im Licht des Lagerfeuers umkreisten sie einander. Jeder von ihnen lotete aus, wo sein Widersacher sich eine Blöße gab. Pauline verstand nichts vom Kämpfen. Natürlich hatte sie schon die eine oder andere Wirtshausschlägerei beobachtet, aber dieser mit Fäusten ausgetragene Zwist war doch meist glimpflich ausgegangen. In dieser Nacht hingegen wurde ein Duell auf Leben und Tod ausgetragen.
Das war jedenfalls Paulines Hoffnung.
Sie verabscheute Karl ebenso wie Josef, denn in ihrer Skrupellosigkeit waren die beiden Soldaten wie Brüder. Daher gab es auch keinen, dem Pauline bei diesem Degenkampf die Daumen drückte. Nur eine Sache stand für sie bereits jetzt fest: Auch den Sieger würde sein Schicksal ereilen.
Karl gewann allmählich die Oberhand. Die Finten seines Widersachers waren durchschaubar für ihn. Josef konnte seine Vorstöße kaum noch parieren. Karl bestimmte das Gefecht, er trieb seinen Rivalen vor sich her. Gnade war ein Fremdwort – nicht nur für ihn, sondern auch für seinen Widersacher. Beide hatten gelernt, dass sie stets mit dem sicheren Tod rechnen mussten. Selbst wer eine Schlacht mit einigen Blessuren überlebte, wurde oft vom Wundbrand hinweggerafft.
Das Leben war kurz und man musste sich nehmen, was man wollte. Das war sowohl Karls als auch Josefs Philosophie. Wenn das Schicksal einem Mann einen Vorteil bot, dann musste er diesen rücksichtslos ausnutzen.
Aus diesem Grund hatte Karl keine Hemmungen, seine Degenspitze in Josefs Brust zu bohren. Er stieß so hart zu, dass der Katzbalger am Rücken des Getroffenen wieder austrat.
Ein gurgelnder Schrei entrang sich Josefs Kehle. Er ließ seinen eigenen Degen fallen, umklammerte mit beiden Händen die tödliche Klinge. Doch sehr schnell erschlafften seine Finger wieder. Er brach in die Knie. Karl trat einen Schritt zurück und zog seinen Degen wieder aus dem Oberkörper des Getroffenen.
Josef brach eine Mannslänge neben dem Lagerfeuer zusammen. Karl wartete mit stoßbereiter Waffe. Das frische Blut glitzerte auf dem Degenstahl. Der trockene Waldboden nahm den Lebenssaft auf. Das Opfer rührte sich nicht mehr.
Karl zog ein Tuch aus der Tasche und wischte damit sorgfältig die Klinge ab. Er grinste selbstgefällig. Dann wandte er sich Beifall heischend zu Pauline um – und erstarrte. Das Mädchen hatte den größten Teil des Hasenbratens verspeist, während er mit Josef um sie gekämpft hatte.
„Was fällt dir ein, du Hurenstück? Wer hat dich eingeladen, an unserem Feuer zu essen?“
„Du selbst. Ich dachte mir, wenn du mich schon nehmen willst wie dein Eheweib, dann musst du mich auch ernähren wie deine Frau.“
Karl hätte ihr am liebsten das Gesicht blutig geschlagen für diese Unverschämtheit. Aber das konnte er später immer noch tun, wenn er mit ihr seinen Spaß gehabt hatte. Dann war es nicht mehr so wichtig, dass sie hübsch aussah. Der Landsknecht fand, dass er nun lange genug gewartet hatte. Außerdem hatte die Fechterei mit diesem Narren Josef sein Blut zusätzlich in Wallung gebracht.
Karl wollte die Kleine packen und ihr die Kleider vom Leib reißen. Aber nun geschah etwas Seltsames. Er konnte sich nicht bewegen, jedenfalls nicht in ihre Richtung. Sobald er es versuchte, wurde er von einer Lähmung befallen. Es war, als wäre er plötzlich einer von diesen Lahmen, die an den Stadtmauern um Almosen bettelten.
Zauberei!
Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Wie die meisten Landsknechte war Karl zutiefst abergläubisch. Die Existenz von Geistern und Dämonen war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Auch Werwölfe und Hexen lauerten überall, wenn man nicht Acht gab. Ob dieses so unschuldig wirkende Mädchen eine Zauberfrau war? Oder gar eine böse Fee?
An diese Möglichkeit hatte er nicht gedacht, obwohl sich dadurch ihr plötzliches Erscheinen mitten in der Nacht im tiefsten Wald erklärte. Während des Gefechts mit Josef war Karl nicht ängstlich gewesen. Da hatte ihn jene Draufgängerstimmung ergriffen, die er stets in einem Kampf an den Tag legte. Aber nun fühlte er, dass die Furcht wie Winterkälte unaufhaltsam an ihm hochkroch. Karl wusste, dass man weder mit Pistolen noch mit Degen einem Zauber beikommen konnte. Noch nicht einmal eine große Feldschlange hätte ihm etwas genutzt!
Karl wusste nicht, was er zu der Zauberfrau sagen sollte. Aber da hatte sie bereits das Wort ergriffen.
„Warum wird der Obrist Büttner eigentlich ‚Schwarzdolch‘ genannt?“
„Wieso willst du das wissen?“
„Ich bin einfach neugierig. Außerdem hasse ich ihn, und Hass ist ein sehr starkes Gefühl.“
„Es heißt, dass er seinen Dolch niemals säubert. Daher ist die Klinge schwarz vom Blut seiner zahlreichen Opfer. Aber sie bleibt trotzdem scharf, als wäre sie ein Rasiermesser.“
„Hat Schwarzdolch Büttner Zauberkräfte?“
„Das weiß ich nicht. Ich kenne ihn nicht, habe ihn nur wenige Male von Weitem gesehen, in der Armee des ‚tollen Halberstädters‘ – Aber was ist mit dir, Mädchen? Beherrscht du die Magie?“
„Ich habe den Bösen Blick.“
Karls Atem stockte. Eigentlich hätte er es sich denken können. Als das Mädchen aus dem Buschwerk herausgetreten war, hatten ihre Augen noch sehr unauffällig gewirkt. Aber nun war plötzlich alles anders.
Karl war wieder hilflos wie ein Kind. Er erinnerte sich an die unschuldige Zeit, als er noch kein Schlagetot und Frauenschänder gewesen war. Zitternd hatte der kleine Karl auf seinem Strohsack gelegen und den Erzählungen seiner Großmutter gelauscht. Wer einmal dem Bösen Blick ausgesetzt war, für den gab es keine Rettung – der Blick würde nämlich wie ein teuflischer Lichtstrahl mitten in die Seele scheinen.
Und genau das passierte dem Landsknecht in diesem Moment. Die Pupillen des Mädchens hatten sich in Abgründe verwandelt. Es waren Klippen, unter denen die Schwärze der untersten Hölle lauerte.
Selbst ein abgebrühter Totschläger wie Karl hätte sich am liebsten abgewendet. Aber das ging nicht, denn er war nicht mehr der Herr seines Willens.
Er musste das tun, was dieses Mädchen wollte.
„So, Büttners Dolch ist also schwarz vom Blut seiner Opfer. Nun, auch du wirst ein weiteres Opfer finden, Landsknecht. Allerdings wird es dein Letztes sein.“
Pauline sprach diese Worte voller Überzeugung aus. Sie hatte das, was sie jetzt tun würde, noch niemals getan. Und doch war sie fest von der Wirksamkeit ihrer Gabe überzeugt.
Der Rachegedanke umnebelte ihre Seele wie eine schwarze Gewitterwolke. Karl und Josef hatten Lörisfelden nicht überfallen. Aber sie waren keinen Deut besser als die anderen Landsknechte, die es getan hatten.
Paulines Mutter, Paulines Vater, Anna und viele andere unschuldige Menschen hatten ihr Leben verloren. Es war an der Zeit, abzurechnen.
Entgeistert starrte Karl auf seine eigenen Hände, die langsam seinen Dolch aus dem Gürtel zogen. Er wollte es nicht tun, aber Pauline brachte ihn dazu. Sie wusste nicht, warum sie diese Fähigkeit hatte. Aber der starke Landsknecht war ihr gegenüber so hilflos wie die Puppe aus Stoffresten, mit der sie als Kind gespielt hatte.
„Nein, bitte nicht!“
Karl hätte niemals geglaubt, dass er einmal um sein Leben betteln würde. Schon gar nicht gegenüber einem unbewaffneten Mädchen. Aber in diesem Moment war er wieder der kleine Junge, der mit offenen Augen in der Dunkelheit lag und sich vor den Unholden fürchtete, die in den Ecken lauerten. Ein feiger kleiner Kerl, der von den älteren Brüdern ‚Milchsemmel‘ genannt und regelmäßig verprügelt wurde. Später hatte Karl lernen müssen, sich seiner Haut zu wehren. Schließlich war dann sogar ein halbwegs tapferer Kriegsmann aus ihm geworden.
Doch die Frau hatte den Bösen Blick, und sie kannte keine Gnade. Karl musste die Dolchspitze auf seinen Bauch richten. Und dann brachte sie ihn dazu, sich in seine eigene Waffe zu stürzen.
Der Landsknecht hatte keinen leichten Tod. Er verblutete stöhnend, während Pauline ihr Nachtmahl beendete. Allmählich ebbte die unheimliche Energie in ihrem Inneren ab und wurde von einer bleiernen Müdigkeit ersetzt. Zum ersten Mal seit der Vernichtung von Lörisfelden fand die junge Frau so etwas wie Ruhe. Ihr fielen die Augen zu. Dabei störte es sie auch nicht, dass in ihrer unmittelbaren Umgebung zwei Leichen lagen.
Als Pauline die Augen wieder aufschlug, glaubte sie zunächst, geträumt zu haben. Doch das Lagerfeuer war heruntergebrannt, die Strahlen der Morgensonne kitzelten ihre Nase und zahlreiche Schmeißfliegen machten sich über die toten Männer her.
Was habe ich getan?
Dieser Gedanke spukte wieder und wieder durch ihre Seele. An diesem Morgen war sie wieder ganz die sanftmütige und scheue Pauline, als die sie bisher stets durch die Welt gegangen war. Es gab nur zwei Situationen, in denen sie sich verwandelt hatte: Damals bei dem Wolf – und in der vorigen Nacht.
Zum ersten Mal hatte sie ihre besondere Gabe gegen Menschen eingesetzt. Pauline war besonders erschüttert darüber, wie leicht es gewesen war. Und – sie hatte so gut wie keine Skrupel gehabt.
Pauline wollte sich gerne bekreuzigen und ein Morgengebet sprechen. Aber irgendwie fühlte sie sich innerlich blockiert. Dafür gab es nur eine Erklärung, und die gefiel ihr gar nicht.
Ich bin böse, dachte Pauline betrübt.
Sebastians Studentenherrlichkeit schwand mit jedem Schritt, den er zu Fuß zurücklegen musste. Selbstverständlich beherrschte er die Kunst des Reitens. Aber da er sich von seinen wenigen Münzen kein Pferd leisten konnte, musste Sebastian wohl oder übel auf Schusters Rappen Richtung Süden laufen.
Nun war er bereits seit zwei Wochen unterwegs. Seine Barschaft bestand nur noch aus wenigen Kupfermünzen und die letzte Mahlzeit in einem Wirtshaus lag auch schon drei Tage zurück. Sehnsuchtsvoll erinnerte sich Sebastian an das zähe knorpelige Fleisch und das harte Brot, das ihm dort vorgesetzt worden war.
Wenigstens verdursten musste der Student nicht, denn er wanderte am Ufer des Neckars entlang. Außer Flusswasser hatte Sebastian an diesem Tag noch nichts in den Magen bekommen, als er gegen Abend plötzlich eine Leiche entdeckte.
Sebastian hatte schon öfter tote Menschen gesehen, obwohl er im Gegensatz zu seinem Freund Bernd nicht Medizin studierte und daher der Seziersaal der Universität für ihn unbekanntes Territorium war. Doch da er sich der Juristerei verschrieben hatte, war Sebastian öfter bei Hinrichtungen als Zuschauer dabei gewesen. Wenn er einst als Richter oder Staatsanwalt arbeitete, dann würden durch seine Entscheidungen Straftäter in den Händen des Henkers landen. Sebastian fand, dass er diese Verantwortung ernst nehmen musste.
Doch selbst die Delinquenten auf dem Henkerskarren von Heidelberg hatten nicht so elend gewirkt wie dieser Kerl, der halb unter einem Stachelbeerstrauch verborgen lag. Er hatte ganz sicher keinen leichten Tod gehabt.
Sebastian ging in die Knie. Trotz seines Widerwillens schaute er sich die Leiche genauer an. Das Gesicht des Mannes war zu einer Maske des Schreckens erstarrt. Seine nackten Füße waren blutig. Offenbar war er barfuß vor seinen Peinigern davongelaufen. Das mussten die Kanaillen gewesen sein, die ihm mit Stockschlägen den Rücken zerschlagen hatten. Das Fleisch hing buchstäblich in Fetzen von den Knochen. Wahrscheinlich war kaum noch Blut in dem ausgemergelten Körper gewesen, als der Mann seinen letzten Schnaufer getan hatte.
„Du wirst Gevatter Tod begrüßt haben wie einen Freund“, murmelte Sebastian und drückte dem Ärmsten die Augen zu. Das war das Einzige, was er momentan tun konnte. Der Student besaß kein Grabwerkzeug, um die Leiche ins Erdreich zu betten. Aber er wollte Bescheid geben, sobald er auf eine menschliche Ansiedlung stieß. Es war seiner Meinung nach Christenpflicht, die Toten nicht einfach unter freiem Himmel liegen zu lassen. In Heidelberg sorgte der Abdecker dafür, dass sogar Tierkadaver umgehend von den Straßen entfernt wurden.
Der Anblick des entsetzlich zugerichteten Toten hatte Sebastian nicht nur an seine eigene Vergänglichkeit erinnert, sondern auch seine Neugier geweckt. Wer den armen Teufel wohl zu Tode geprügelt hatte? Ob er ein Landsknecht gewesen war, der von seinem Profoß zu hart geschlagen worden war? Doch das erschien Sebastian unwahrscheinlich. Der Student wusste nicht allzu viel über das Soldatenleben. Doch Landsknechte traten üblicherweise in bunten und prunkvollen Gewändern auf, ähnlich wie Studenten. Selbst der ärmlichste Kriegsmann war noch hundertmal besser gekleidet als der totgeschlagene Kerl in seinen Bettellumpen.
Als der Tag sich bereits dem Ende zuneigte, sah Sebastian eine schmale Rauchfahne am Horizont. Außerdem hörte er das unverkennbare Geräusch, das von Mühlrädern verursacht wurde.
Der Student beschleunigte seine Schritte. Er bezweifelte, dass seine wenigen Münzen für eine anständige Mahlzeit reichen würden. Aber vielleicht hatte der Müller ja ein weiches Herz.
Es dauerte nicht mehr lange, bis Sebastian die Mühle erblickte. Das schiefergedeckte Gebäude mit seinen Nebengelassen duckte sich wie ein verängstigtes Tier gegen einen bewaldeten Hügelrücken.
Die Tür öffnete sich und ein riesiger Kerl in Müllertracht trat ins Freie. Er war über und über mit Mehl bestäubt, was angesichts seines Handwerks nicht verwunderlich war. Der Mann musste über beachtliche Körperkräfte verfügen. Obwohl Sebastian weder klein noch schwächlich war, wurde er von dem Müller noch um Haupteslänge überragt. Wahrscheinlich war es ein Leichtes für ihn, auf seinem breiten Kreuz die schweren Mehlsäcke zu tragen.
Als er Sebastian erblickte, kniff er misstrauisch die Augen zusammen. Doch das dauerte nur einen Lidschlag lang. Dann verzog sich sein rundes Gesicht zu einem jovialen Grinsen.
„Ein unbekannter Besucher zu später Stunde? Was führt Euch zu mir, Fremder?“
Sebastian nahm seinen federgeschmückten Hut ab und kam noch näher.
„Mein Name ist Sebastian Neuhaus und ich bin ein Studiosus der Gesetze. Mein Weg führt mich Richtung Nördlingen.“
„Ich bin der Müller von Jungtal und ich heiße Lucius Treppner. Seid mein Gast, Herr Studiosus. Es kommt nicht oft vor, dass ich einen gelehrten Herrn an meiner bescheidenen Tafel begrüßen darf.“
Sebastian war angenehm überrascht, denn mit so viel Gastfreundschaft hatte er nicht gerechnet. Der Müller klopfte ihm auf die Schulter, als ob sie die ältesten Freunde wären.
Er führte Sebastian höchstpersönlich in die Küche, wo im fahlen Licht einer Talglampe bereits der Tisch gedeckt wurde.
„Weib, wir haben einen hohen Gast“, rief Treppner mit volltönender Stimme. Es war warm im Haus und Sebastians Magen begann vernehmlich zu knurren.
Von der Frau, die am Herd werkelte, bekam der Student nicht viel zu sehen. Sie war offenbar schüchtern und kümmerte sich um die Zubereitung der Mahlzeit. Es gab auch einige kleine Kinder, aber sie wichen Sebastian aus. Sie kamen ihm vor wie Mäuse in Leinenkitteln, denn sie versteckten sich in den Ecken des halbdunklen Raums. Sebastian dachte sich nichts dabei. Vermutlich kam es nicht allzu oft vor, dass außer den Bauern der Gegend jemand die einsam gelegene Mühle besuchte.
Ohnehin fiel es dem Studenten schwer, momentan an etwas Anderes als an Essen und Trinken zu denken. Sein Gastgeber schien zu spüren, wie geschwächt er war.
„Weib, bring uns Brot und Bier – bevor der Herr Studiosus genießen kann, muss zunächst der schlimmste Hunger gestillt sein.“
Kaum hatte der Müller diese Sätze ausgesprochen, als seine Frau auch schon einen Korb mit frischem aufgeschnittenem Brot und eine Kanne Bier sowie zwei Humpen auf den Tisch stellte. Sebastian bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Sie schaute ihn nicht an und er konnte unter ihrer züchtigen Haube ohnehin nicht viel von ihrem Gesicht sehen.
Trotz seines Hungers zögerte der Student. Er wusste nicht, wie es um das Tischgebet bestellt war. In diesen Zeiten konnte man sich leicht Todfeinde schaffen, indem man die falschen Andachtsworte sprach. Sebastian wusste nicht, ob der Müller den Lehren Luthers anhing, so wie er selbst es tat. Oder war er vielleicht ein Anhänger des alten Irrglaubens, wie er von dem Sünder auf dem römischen Petrusthron gepredigt wurde? Sebastian hoffte sehr, es nicht mit einem der verhassten Katholiken zu tun zu haben.
Der Müller schien zu spüren, was in ihm vorging. Er lachte nur gemütlich und schob den Brotkorb in Sebastians Richtung.
„Esst nur, mein studierter Freund! Der Herrgott kann warten.“
Das ließ sich Sebastian nicht zweimal sagen. Er musste seinen Bärenhunger beherrschen und zwang sich dazu, die ersten Bissen des Brotes langsam zu kauen und zu schlucken. Als er einen Kanten vertilgt hatte, kehrte allmählich die Kraft in seinen geschwächten Körper zurück. Treppner prostete ihm zu.
„Auf meinen unerwarteten, aber hochwillkommenen Gast!“
Der Student lächelte und hob ebenfalls seinen Bierhumpen.
„Auf einen Müller, der die Nächstenliebe in seinem Herzen trägt!“
Treppner lachte und leerte das große Steingutgefäß mit einem einzigen Zug. Sebastian tat es ihm gleich, darin hatte er schließlich Übung. Der Bücherstaub des Jurastudiums musste bekanntlich regelmäßig mit Gerstensaft heruntergespült werden.
Kaum hatte Sebastian seinen Humpen geleert, als der Müller diesen auch schon wieder nachfüllte. Sebastian wäre kein echter Heidelberger Student gewesen, wenn er etwas dagegen gehabt hätte. Doch nun hielt er sich einstweilen lieber an das köstliche Roggenbrot, denn das Bier stieg ihm doch arg schnell zu Kopf. Sebastian war nichts Gutes mehr gewöhnt, denn in den vergangenen Tagen hatte er kaum etwas in den Magen bekommen.
Nun brachte die Müllerin das eigentliche Hauptgericht auf den Tisch. Es gab eine dicke Rübensuppe mit großen Stücken von fetter Schweineschwarte darin. Der Duft ließ den soeben halbwegs besänftigten Hungerdrachen in Sebastians Magen erneut Feuer spucken.
Die Frau verschüttete etwas Eintopf auf dem Tisch, als sie den großen dampfenden Kessel abstellte.
„Tollpatschiger Trampel!“, schimpfte Treppner und verpasste seiner Frau eine klatschende Maulschelle. Sebastian hatte gerade nicht hingesehen, weil er vollauf damit beschäftigt war, sich Eintopf in seine Schüssel zu füllen.
Sebastians Vater galt als lammfromm, weil er seine Gattin nur äußerst selten schlug. Auch die Knechte und Mägde wurden im Elternhaus des Studenten eher mit klaren Worten als mit dem Stock zur Räson gebracht. Sebastian hatte darüber noch niemals tiefschürfend nachgedacht; er führte die Gewaltlosigkeit darauf zurück, dass sein Vater ein glühender Calvinist war. In Sebastians Augen war sinnlose Brutalität eine Ausgeburt des katholischen Irrglaubens, so wie überhaupt alles Böse auf der Welt.
Ob der freundliche Müller am Ende doch ein Papist war?
Es war, als ob Treppner die unausgesprochene Frage ahnen würde.
„Greift nur beherzt zu, Herr Studiosus. Der Mensch muss essen. Darin sind sich sogar die schwarzen Vögel einig – egal, ob sie nun Luthers Lied oder die römische Melodie pfeifen.“
Sebastian wusste immer noch nicht, ob der Müller nun ein Gleichgesinnter oder ein Todfeind war. Er beschloss, das heikle Thema Religion zu vermeiden, obwohl das in diesen Tagen alles andere als einfach war. Immerhin wurde ein blutiger Krieg ausgefochten, „weil der Bastard aus dem Vatikan die Klarheit und Wahrheit von Luthers und Calvins Lehre nicht begreifen wollte.“ Mit diesen Worten hatte jedenfalls Sebastians Vater den Grund für den Waffengang umrissen – und sein Sohn teilte diese Ansichten mit ihm.
Der Student schlürfte einige Löffel Eintopf, bevor er seinem Gastgeber antwortete.
„Wollt Ihr Neuigkeiten aus der Welt erfahren, Meister Treppner?“
„Freilich, so viel wie möglich! Wir versauern ja hier in unserer Mühle. Auch im Dorf hört man kaum einmal, was dort draußen geschieht. Und wann hat man schon einmal die Gelegenheit, einem gelehrten Herrn Studiosus zu lauschen?“
Sebastian war geschmeichelt. Er errötete sogar, aber das mochte auch an dem süffigen Bier und dem heißen Eintopf liegen. Während er weiter seinen Napf auslöffelte, begann er mit seinen Erzählungen.
„Feldmarschall Tilly hat mit seinen Truppen die gesamte Pfalz besetzt. In Weimar gibt es neuerdings eine Schulpflicht, alle Eltern müssen ihre Knaben zum Unterricht schicken.“
Der Müller schüttelte ungläubig den Kopf.
„Diese neuen Moden werden hoffentlich nie bis zu uns vordringen. Wenn meine Söhne nicht mitarbeiten würden, dann könnte ich meine Mühle schließen. Es ist so gut wie unmöglich, Knechte zu finden. Die jungen Kerle laufen doch den Soldatenwerbern nach, weil sie von einem Heldenleben als Kriegsmann träumen.“
Sebastian nickte verständnisvoll.
„Ja, der Krieg stellt die Welt auf den Kopf. - Sind denn auch schon die Kipper und Wipper bis in Eure Mühle gekommen, Meister Treppner?“
„Nein, von solchen Leuten habe ich noch nie gehört.“
„Ihr Glückspilz! Wenn Ihr jemals einem Kipper und Wipper begegnet, dann jagt ihn mit der Peitsche davon. Diese Spitzbuben sind Scharlatane. Sie leben davon, Eure sauer verdienten guten Joachimstaler in wertlose Heckenmünzen umzutauschen. Gewiss, die Kipper und Wipper versprechen Euch das Blaue vom Himmel und sind scheinbar großzügig. Doch ihr Geld ist nicht mehr wert als Dreck. Schon nach wenigen Tagen kommt unter der dünnen Silberschicht das rötliche Kupfer zum Vorschein. Ihr werdet von diesen Kanaillen schändlich belogen und betrogen. Ich glaube gar, sie stehen mit dem Leibhaftigen im Bunde.“
Sebastian hatte sich in Rage geredet. Ungerechtigkeit hatte er noch niemals ausstehen können, deshalb studierte er auch die Gesetze. Außerdem war er wirklich empört über die Abgefeimtheit der Kipper und Wipper, die inzwischen überall in den deutschen Fürstentümern und Ländereien ihr Unwesen trieben. Hinzu kam, dass der edle Gerstensaft inzwischen seine Wirkung tat. Sebastian konnte einen Stiefel vertragen, aber das Bier des braven Müllers war besonders stark und süffig.
Dennoch entging dem Studenten nicht, dass sein Gastgeber mit einem breiten Grinsen auf Sebastians Anklage gegen die Kipper und Wipper reagierte. Sebastian fand eigentlich nicht, dass er sich mit seiner gutgemeinten Warnung zum Hanswurst gemacht hatte. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, klopfte der Müller ihm freundschaftlich auf die Schulter und rief nach seinem Weib.
„Elise, bring uns den Branntwein! Der gelehrte Herr Studiosus hat mich vor großem Schaden bewahrt, das muss begossen werden!“
Das Grienen war nun wie weggewischt. Sebastian ließ sich gern zum Schnaps einladen. Er mochte diesen redlichen Müller, der so uneigennützig Speise und Trank mit ihm teilte.
„Euer Weib isst nicht mit uns?“, fragte Sebastian, nachdem er ein gutes Quantum des Wacholderschnapses in seine Kehle geschüttet hatte. Treppner schüttelte den Kopf.
„Nein, das faule Stück hat noch zu tun. – Erzählt mir bitte mehr von der Welt da draußen, Herr Studiosus.“
„Man sagt, dass englische Kriegsmänner, die auf Prag marschierten, Rauch zu trinken pflegen.“
„Rauch trinken?“ Der Müller grinste abermals, doch diese Vorstellung war auch wirklich komisch. „Ihr nehmt mich auf den Arm, Herr Studiosus!“
„Ich selbst habe sie auch nicht gesehen. Aber ein Kommilitone, also ein Mitstudent, schwört Stein und Bein, dass es wirklich so war. Sie brennen ein Kraut aus der Neuen Welt ab, das sich Tobak nennt. Man stopft es in sogenannte Pfeifen, und den Rauch kann man durch ein langes Rohr ansaugen.“
„Und wozu soll das gut sein?“, fragte Treppner.
Sebastian zuckte mit den Schultern.
„Vermutlich streichelt es die Seele. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Mittel zuträglicher ist als unser guter Gerstensaft.“
„Ja, auf seine Seele sollte man gut achtgeben“, pflichtete der Müller bei und griente abermals. Doch diesmal nahm Sebastian keinen Anstoß daran. Sein Gastgeber war einfach ein freundlicher Mensch.
Sie zechten noch einige Zeit miteinander, bis Sebastian immer wieder für Momente die Augen zufielen. Die Strapazen der langen Wanderung machten sich bemerkbar.
„Wenn es recht ist, zeige ich Euch jetzt Euer Nachtquartier, Herr Studiosus.“
Dieses Angebot nahm Sebastian gerne an. Der Müller ging mit einer Kerze in der Hand voraus, sein Gast folgte ihm auf schwankenden Beinen. Treppner führte Sebastian über eine Art Hühnerleiter in eine schmale Kammer, in der sich ein Strohsack, Bettzeug und ein Holzkasten befanden.
„Hier schläft normalerweise der Mühlenknecht, aber ich habe momentan keinen.“
Und wieder erschien dieses Grinsen auf des Müllers Antlitz, als er diesen Satz aussprach. Aber das bekam Sebastian kaum noch mit, denn er war jetzt unglaublich bettschwer.
Die beiden Männer wünschten einander eine gute Nacht. Treppner ließ die Kerze bei seinem Gast und tastete sich in der Dunkelheit hinaus. Die Tür ließ sich nicht verriegeln, aber das störte Sebastian nicht. Seine Bücher und sein Degen waren seine größten Schätze, beide legte er direkt neben seine Bettstatt. Außerdem hatte er völliges Vertrauen zu dem Müller und dessen Familie. Was sollte ihm hier schon geschehen? Der Krieg war weit weg. Während des ganzen zurückliegenden Tages hatte Sebastian keine Landsknechte gesehen, noch nicht einmal aus sicherer Entfernung. Er riss sich die Kleider vom Leib und schlüpfte nackt unter die Decke. Dann blies er die Kerze aus und fiel sofort in tiefen Schlaf.
Sebastian wurde von seiner eigenen Furcht geweckt. Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Es war stockfinster in dem kleinen Gemach. Im ersten Moment war er verwirrt. Hatte sich am Ende nur seine Blase gemeldet, die nach den Bier- und Branntweinfluten nach Erleichterung verlangte?
Nein, das war es nicht. Sebastian spürte, dass er nicht mehr allein in der Kammer war. Seine Hände tasteten nach der Kerze. Aber die nützte ihm natürlich nichts, denn sie brannte nicht. Der Docht war kalt, also musste Sebastian schon einige Zeit geschlummert haben. Natürlich besaß er Feuerstein, Eisen und Zunder, um damit Feuer machen zu können. Doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er dafür keine Zeit haben würde.
Und dann vernahm er das Geräusch. Es war ein Röcheln, ein Keuchen, ein Schnarren, ein Knarzen – Sebastian fehlten die passenden Worte, um die Töne treffend zu beschreiben. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie aus einer menschlichen Kehle stammten.
Der Student war kein Feigling. Er hatte schon oft im Duell mit harten Gegnern die Klinge gekreuzt, und auch bei Wirtshausraufereien drückte er sich nicht in die Ecke wie ein Hasenfuß. Doch nun spürte Sebastian, wie das Grauen von ihm Besitz ergriff. Schwefelgeruch stieg ihm in die Nase.
„Lieber Herr Jesus, steh mir bei“, flüsterte er. Sebastian hatte die Worte ausgesprochen, um sich selbst zu schützen. Außerdem griff er instinktiv nach seinem Degen. Es war gut, den Waffenstahl in der Hand zu spüren. Sebastian zog die Fechtwaffe blank. Dabei ahnte er, dass sie ihm gegen einen Dämon überhaupt nichts nützen würde. Aber er musste es einfach tun. Die Vorstellung, wehrlos zu sein, war für Sebastian unerträglich.
„Dein Herr Jesus wird dir hier nicht helfen.“
Diese Worte drangen durch die Finsternis an Sebastians Ohr. Die Stimme klang rau und verzerrt, aber sie gehörte eindeutig dem Müller.
„Meister Treppner, seid Ihr das? Ihr habt mich ganz schön erschreckt.“
Der Student fühlte sich erleichtert, aber nur für einen Moment. Denn nun ertönte ein wildes und brutales Lachen. Und dann stürzte sich der Müller auf Sebastian, der immer noch auf seinem Strohsack lag.
Der schwere kräftige Körper seines Widersachers krachte mit ungebremster Wucht auf den Studenten. Doch es war, als ob die Bedrohung Sebastian schlagartig ernüchtert hätte. Eine Messerklinge ritzte die Haut links an seinem Hals. Hätte der Müller seine Klinge zwei Daumenbreit weiter seitlich gestoßen, Sebastians Kehlkopf wäre zerstochen worden. Er wusste nun, dass er um sein Leben kämpfte.
Der Müller holte erneut aus. Es gelang Sebastian, trotz der Finsternis das Handgelenk seines Gegners zu packen. Treppner führte sich auf wie ein Wahnsinniger. Er biss Sebastian in den Oberarm, aber der Student ließ seinen Degen trotzdem nicht los. Er stach nun seinerseits aufs Geratewohl in die Richtung, wo er seinen Widersacher vermutete.
War der Müller toll geworden? Er musste den Verstand verloren haben, anders konnte sich Sebastian diese Mordattacke nicht erklären. Und wirklich – Treppner stieß während des verbissenen Kampfes Laute aus, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatten.
Sebastian hielt das rechte Handgelenk seines unerbittlichen Gegners noch immer fest. Doch die Finger von Treppners linker Hand schlossen sich um seine Kehle. Und der Müller verfügte über riesige Pranken, die schwere Mehlsäcke schleppen konnten. In seinen Händen hatte er viel mehr Kraft als der Student, obwohl Sebastian kein Pimpelhans war. Schon fiel ihm das Atmen schwer. Wenn der Angreifer so weitermachte, konnte er im Handumdrehen Sebastians Kehlkopf zerquetschen.
Da schaffte es der Student, sein linkes Bein an den Körper zu ziehen. Er stemmte es gegen den riesigen Leib seines Widersachers. Das unmöglich Scheinende geschah: Der Müller wurde rückwärts geschleudert und ließ Sebastian los.
Das war die einzige Chance, die dem Angegriffenen blieb. Er brachte seinen rechten Arm in Stellung, wie er es Tausende Male auf dem Fechtboden geübt hatte.
Als Treppner abermals attackieren wollte, durchbohrte er sich in der Dunkelheit selbst mit Sebastians Degenklinge. Ein schauriger Schrei klang durch die nächtlich stille Mühle.
Als der Student seine Blankwaffe zurückziehen wollte, spürte er, dass sie fast bis zur Glocke in einem Körper steckte. Und dann ertastete er überall eine warme Flüssigkeit.
Das musste das Blut des Irren sein. Es rann über den Strohsack und über Sebastians nackte Haut. Seine Kehle schmerzte, aber er bekam Luft. Es dauerte einige Augenblicke, bis Sebastians Atem wieder regelmäßig ging. Er hielt den Griff seines Degens immer noch umklammert. Der Müller gab keinen Laut mehr von sich. Die Stille in der kleinen Kammer war für den Studenten unerträglich.
Da sprach er laut ein Vaterunser.
Das Gebet sollte die unheimliche und bedrückende Atmosphäre vertreiben. Doch plötzlich hörte Sebastian ein lautes Schluchzen. Und dann sah er flackernden Kerzenschein, der durch die Ritzen der Holztür nach drinnen fiel.
Wer lauerte draußen vor der Tür?
Bevor Sebastian diese Frage stellen konnte, wurde die Tür langsam und zögerlich geöffnet. Die Müllerin kam widerstrebend herein, einen bronzenen Kerzenhalter in der zitternden Hand.
Das Licht fiel auf ihren Gatten. Treppner war splitternackt und blutüberströmt. Auf seine Haut waren schwarzmagische Symbole gemalt. Sein zuvor so gemütlich wirkendes Gesicht war jetzt im Tod zur schaurigen Fratze eines Irren verzerrt. Sogar ohne einen Funken Leben in ihm wirkte er noch bedrohlich.
Sebastian rechnete damit, dass die Frau weinen oder wehklagen würde. Stattdessen trat sie schweigend näher. Sie vergewisserte sich, dass ihr Mann wirklich nicht mehr lebte.
Die Müllerin fiel vor Sebastian auf die Knie.
„Ihr habt uns gerettet, Herr Studiosus. Endlich ist die Bestie tot!“
Zuvor in der Küche war Elise Treppner stets im Halbdunkel geblieben. Nun konnte Sebastian zum ersten Mal ihr Gesicht sehen. Es war eigentlich sehr schön, wurde aber durch schwarzblaue Flecken und blutigen Schorf entstellt. Der Müller musste sie regelmäßig geschlagen haben, und zwar nicht nur mit den Fäusten, sondern auch mit Knüppeln.
Sebastian wusste nicht, was er sagen sollte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er ohne einen Faden auf dem Leib vor einer Frau stand. Schnell griff er die Bettdecke und hielt sie vor seine Hüften. Er war kein Kind von Traurigkeit, aber dies war gewiss nicht die Situation für eine temperamentvolle Verführung. Immerhin hatte er soeben den Gatten der Müllerin mit dem Degen durchbohrt. Sebastian war verwirrt. Dennoch fand er zögernd die Sprache wieder.
„Plötzlich war Euer Mann in der Kammer. Was wird hier gespielt, Frau Müllerin? Warum trachtete er mir nach dem Leben? Was haben diese Zeichen auf seinem Körper zu bedeuten?“
Die Antwort von Elise Treppner kam nur flüsternd, wie ein Windhauch in den Zweigen.
„Der Müller hat seine Seele verkauft. Er diente dem Leibhaftigen.“
Sebastian konnte nicht sofort begreifen, was sie gesagt hatte. Natürlich hatte er schon oft genug von Besessenen und Teufelsknechten gehört. Es gab unzählige Geschichten über solche Verlorenen. Aber es war ein himmelweiter Unterschied zwischen einem Schauermärchen, das man am Biertisch hörte, und einem Kampf auf Leben und Tod mit einem Höllendiener.
Der Student stand hilflos und unschlüssig da. Elise ergriff erneut das Wort.
„Wir müssen die Leiche verbrennen, erst dann ist der Spuk endgültig vorbei. – Kommt, helft mir bitte.“
Die frisch verwitwete Müllerin war wie ausgewechselt. Sebastian hatte sie zuvor als völlig eingeschüchtert erlebt, was angesichts ihrer Blessuren auch kein Wunder war. Doch nun nahm sie das Heft in die Hand. Die Müllerin und Sebastian schafften die schwere Leiche mit vereinten Kräften hinter die Mühle, nachdem Sebastian sich hastig angekleidet hatte.
„Was ist mit Euren Kindern?“, fragte der Student keuchend, während Elise den Toten mit Spiritus übergoss.
„Die bleiben in ihrer Kammer. Ihr Vater hat gedroht, sie totzuschlagen, wenn sie nachts herauskommen. Ich werde ihnen morgen früh sagen, was geschehen ist. Das wird einen Freudentanz geben, glaubt mir!“
Elise schlug mit Feuerstein und Eisen Funken, bis der Zunder brannte. Gleich darauf stand der nackte Körper von Treppner in hellen Flammen. Es war ein unheimlicher Anblick und der Gestank des verbrannten Fleisches war kaum zu ertragen. Doch noch viel erstaunlicher war, dass die Flammen eine giftgrüne Farbe hatten.
Die Müllerin bemerkte Sebastians Erstaunen.
„Das Feuer ist grün, wenn ein Dämonendiener brennt. Das hat mir eine weise Frau gesagt. Ich hatte bloß nie zu hoffen gewagt, dass meine Kinder und ich so schnell von der Geißel erlöst werden würden.“
Sebastian nickte nur. Er war müde, aber er wollte nicht zu dem blutverschmierten Strohsack zurückkehren. Es war, als ob Elise seine Gedanken gelesen hätte.
„Ihr könnt zu mir in die Schlafstube kommen. Es ist im Bett genug Platz und ich will heute Nacht auch nicht allein sein.“
Sebastian war unschlüssig. Er sollte sich zu der Frau ins Bett legen, die er vor kurzer Zeit zur Witwe gemacht hatte? Aber wenn sie es ihm anbot, würde er sich gewiss nicht dagegen sträuben. Also folgte er Elise.
„Woher wusstest Ihr, dass der Tote verbrannt werden muss?“
„Oh, ich habe einige Dinge in Erfahrung gebracht. Die Bestie konnte mich ja nicht ständig überwachen. Wenigstens am Waschplatz im Dorf hatte ich Gelegenheit, mich mit anderen Frauen auszutauschen. Es wurde immer schlimmer mit dem Unhold. Es ist noch nicht lange her, da hat er unseren Knecht totgeprügelt. Ich dachte, ich würde die Nächste sein.“
Sebastian stutzte.
„Euer Knecht – ich habe am Fluss einen Mann gefunden, der durch Stockschläge entsetzlich zugerichtet war. Er lag gar nicht weit von der Mühle entfernt.“
Elise schauderte.
„Ja, das muss der arme Robert gewesen sein. Die Bestie hat seinen Körper zerschlagen, aus purem Mutwillen. Robert ist dann mit letzter Kraft fortgelaufen. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich überhaupt noch bewegen konnte.“
Elise hatte in der Schlafkammer den Kerzenhalter auf eine Truhe gestellt. Sebastian erwiderte jetzt nichts, denn während sie sprach, zog sie sich vor seinen Augen aus. Die frischgebackene Witwe hatte ohnehin nur ein wollenes Umlegetuch und ein langes Nachthemd am Körper gehabt. Nun stand sie splitternackt vor dem jungen Studenten.
Sebastian hielt den Atem an und jeder Gedanke an Blut und Tod und den Leibhaftigen war schlagartig vergessen.
Elise war schätzungsweise dreißig Jahre alt. Man sah ihrem Körper an, dass sie mehreren Kindern das Leben geschenkt hatte. Ihre Hüften waren breit, der Bauch rund und die Brüste mehr als üppig. Blutergüsse zeugten davon, dass der Müller auch ihren Leib mit seiner besinnungslosen Gewalt traktiert hatte.
Aber Sebastian wollte ihr zeigen, dass ein Mann sich auch ganz anders aufführen konnte. Er zog Elise sanft in seine Arme und sie begann zu zittern wie ein furchtsames Jungtier. Doch als sie merkte, dass von seinen Händen keine Gefahr ausging, wurde ihr Atem schneller und sie wurde ruhiger.
„Ich will dir danken“, flüsterte sie. „Du sollst nicht bereuen, was du getan hast. – Deine Hände sind schön und sanft. Haben alle studierten Herren solche Hände?“
„Es sind die Finger eines Mannes, der hauptsächlich Bücher, Bierkrüge und Degen hält. Und ich greife gerne nach Frauen.“
Elise kicherte kokett und senkte den Blick.
„Das merkt man. Du weißt, wie du eine Frau berühren musst.“
Sebastian antwortete nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Aber er drückte seine Lippen auf die samtene Haut von Elises Wange. Dann arbeitete er sich langsam zu ihrem Mund vor. Die Lippen der jungen Witwe waren so süß und rot wie Kirschen im Hochsommer.
Der Student und die Müllerin küssten sich. Elise rannen Schauer der Wonne über den Rücken, als sie die harte Ausbeulung unter Sebastians Hose ertastete. Der aufgerichtete Pfahl war eine Verheißung unmittelbar bevorstehender Sinnesfreuden.
Elise war ungeduldig. Ihr Mann war niemals gut zu ihr gewesen. Stets hatte sie es als Qual empfunden, von ihm bestiegen zu werden. Doch sie ahnte, dass es in dieser Nacht ganz anders sein würde. Sie löste die Bänder, mit denen Sebastians Strümpfe an den Beinen gehalten wurden. Elise zog ihm die Stiefel aus, dann glitten ihre zitternden Hände an seinen weiten Hosen hinauf. Unter dem locker fallenden Stoff verbargen sich harte Oberschenkel, und auch der Mannesstolz fühlte sich an, als ob er aus Eisen wäre.
Der jungen Frau stockte der Atem, als sie das prächtige Liebeswerkzeug erblickte. Sie kam sich vor wie eine verworfene Sünderin, weil sie einfach nicht wegsehen konnte. Es war, als ob Sebastian sie verhext hätte.
Und der Student? Er spürte genau, wie sehr Elise ihn begehrte. Dadurch wurde seine eigene Erregung noch weiter gesteigert. Sebastian bewies, dass er es auf dem Gebiet der Sinnesfreuden zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte. Wams, Hemd und Unterzeug landeten neben dem Bett auf dem Boden. Nun war er ebenso nackt wie seine Gastgeberin.
Sebastian küsste Elise erneut, dann glitten seine heißen Lippen immer weiter an ihrem Körper hinab. Der Frau wurde schwindlig vor Wonne. Sie wäre umgefallen, wenn sie nicht bereits auf der Matratze gelegen hätte.
Mit geschlossenen Augen gab sie sich ganz den Gefühlen hin, die der fremde Mann in ihrer Körpermitte hervorrief. Konnte das wirklich Sünde sein, wie der Herr Pfarrer immer predigte? Aber der Gottesmann hatte auch gelehrt, dass das Weib dem Manne Untertan zu sein habe. War es also richtig gewesen, dass Treppner sie immer und immer wieder verprügelt hatte?
Zum Glück wurden solche trüben Gedanken durch Sebastians Liebkosungen in Luft aufgelöst. Sie spürte seine streichelnden Berührungen an ihrem Hals, ihren Brüsten, ihrem Bauch – und dann tat er etwas, das sie niemals für möglich gehalten hätte.
Sebastian erkundete mit seiner Zunge und seinen Lippen ihre Honiggrotte. Elises erster Gedanke war, dass dies doch eine schreckliche Sünde sein musste – allein schon, weil es so herrlich war. Doch das leidenschaftliche Tun ihres studierten Gastes ließ sie jede Erinnerung an die Predigten des Pfarrers vergessen.
Als Elise es beinahe nicht mehr aushielt vor Wonne, hörte der Student abrupt auf. Doch bevor sich ein Gefühl der Leere in ihrem Körper ausbreiten konnte, drang Sebastian erneut in sie ein.
Aber diesmal mit seiner Liebeslanze.
Die junge Frau spreizte sehnsuchtsvoll ihre Schenkel. Die Empfindung war vertraut und fremd zugleich. Vertraut, weil auch der Höllenknecht sie oft genug begattet hatte. Doch Treppner hatte es nicht annähernd so gut gemacht wie Sebastian. Erst im Rückblick begriff Elise, was sie in ihrer Ehe alles versäumt hatte. Doch diese Nacht in den Armen des Heidelberger Studenten entschädigte sie wenigstens zu einem winzigen Teil dafür.
***
Der Wald erscheint unendlich, wenn man kein Ziel hat.
Pauline war von einer verzehrenden Ruhelosigkeit befallen. Zerlumpt und hungrig schleppte sie sich vorwärts. Gewiss, dann und wann erblickte sie eine Ansiedlung oder ein Gehöft. Doch die Bauernhöfe waren meist niedergebrannt, und der Anblick von zerstörten Dörfern erinnerte sie nur allzu stark an das Schicksal ihrer eigenen Heimatgemeinde.
Einmal war Pauline in ein Gehölz geraten, wo man an jedem Baum mindestens einen oder zwei Bauern aufgehängt hatte. Die Leichen stanken entsetzlich und die Krähen hatten sich schon an den Kadavern gütlich getan. Pauline war mit zu Boden gerichtetem Blick durch diesen Todeswald gestürmt. Danach verfestigte sich bei ihr endgültig die Überzeugung, dass Schwarzdolch Büttner nicht der einzige grausame Kriegsherr war.
Pauline musste oft an den Obristen denken, denn schließlich hatte er ihre Eltern auf dem Gewissen. Ihm hatte sie es auch zu verdanken, dass sie nun wie eine Vogelfreie durch die Welt streifen musste. Sie hasste Büttner, fürchtete ihn aber gleichzeitig.
Doch momentan war der Hunger ihr größtes Problem. Seit Tagen ernährte die junge Frau sich nur von Blaubeeren, wodurch sie ein ständiges Bauchgrimmen hatte. Sorgenvoll bemerkte sie, dass der Herbst allmählich ins Land Einzug hielt. Schon bald würde sie nicht mehr draußen schlafen können, ohne sich den Tod zu holen. Ihr Leben bestand nur noch aus Wandern und der ständigen Suche nach Nahrung. Wäre es nicht sogar eine Erlösung für sie, nie mehr aufzuwachen?
Doch so einfach war das nicht. Seit Pauline ihren Bösen Blick gegen Menschen gerichtet hatte, war sie fest überzeugt davon, nach ihrem Ende unweigerlich in die Hölle zu kommen. Und dann würde sie ihre Eltern gewiss nie wiedersehen. Ihr Vater und ihre Mutter waren gute Menschen gewesen. Sie waren sicherlich von Engeln in das Himmelreich emporgehoben worden. Dieser Gedanke spendete Pauline Trost, als sie sich wieder einmal erschöpft am Fuß einer mächtigen Eiche zusammenrollte und mit ihrem Umlegetuch umwickelte.
Ein volltönendes Lachen weckte sie aus ihrem Schlaf.
Zuerst glaubte Pauline, dass sich nur jemand in ihren Träumen amüsiert hätte. Sie hatte schon seit Tagen mit niemandem gesprochen – oder waren es Wochen gewesen? Ihre Begegnung mit den beiden lüsternen Landsknechten war die letzte mit zwei lebendigen Menschen gewesen. Und wie die ausgegangen war, daran erinnerte sich Pauline nur noch allzu lebhaft.
Sie schlug die Augen auf und zwinkerte. Es war bereits Morgen, die Sonne war soeben über den Wipfeln der Bäume aufgegangen. Und eine Mannslänge von ihr entfernt stand eine gedrungene Gestalt, die glucksend lachte. Pauline hatte nicht geträumt.
Erschrocken zuckte sie zusammen, doch von dem Kerl ging zunächst keine Bedrohung aus. Er hatte noch nicht einmal eine Waffe, was in diesen Zeiten ziemlich selten war.
Pauline musterte ihn genauer.
Der Fremde war ungefähr so alt, wie es ihr Vater zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war, nämlich zwischen 50 und 60 Jahren. Der plumpe Körper und der breite Mund des Mannes erinnerten sie an einen Frosch, doch seine Arme und Beine waren nicht lang und dünn, sondern kurz und kräftig. Die hellen Augen über den schweren Tränensäcken blickten das Mädchen neugierig an. Der Unbekannte war besser als ein Bauer, aber schlechter als ein Edelmann oder Offizier gekleidet. Er trug Kniehosen, Stulpenstiefel und ein Lederwams über einem Leinenhemd. Über seiner Schulter baumelte ein schlaffer Ledersack an einem Riemen.
Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf, während er seinen Mund öffnete.
„Da habe ich doch wirklich gedacht, dass ich einer leibhaftigen Rauen Else gegenüberstünde. Doch du siehst mir nicht aus wie ein Gewaltweib, sondern eher wie ein räudiges Zicklein!“
Pauline war verwirrt über die Worte des Alten. Im ersten Moment fragte sie sich, ob er sie beleidigen wollte oder sogar ein Irrer wäre. Natürlich kannte auch sie die Geschichte von der Rauen Else, die im Wald lebte und den Helden Wolfdietrich liebte. Sie wurde an jedem Herdfeuer erzählt und von den Spielleuten bis in die entlegensten Winkel des Reiches getragen.
Das Mädchen musste sich eingestehen, dass sie momentan in der Tat wie eine verwahrloste kleine Ziege aussah. Pauline hatte vor wenigen Tagen ihr Spiegelbild in einem stillen Weiher erblickt und war erschrocken. Aber Hunger und Elend machten einen Menschen eben nicht schöner.
„Habt Ihr mich deshalb geweckt, Herr? Um Euch über mich lustig zu machen?“
Pauline hätte selbst nicht sagen können, warum sie diese Fragen stellte. Einerseits fürchtete sie sich immer noch vor Menschen, vor allem vor Männern. Doch andererseits hatte sie bereits bewiesen, dass sie sogar gegen zwei bewaffnete Landsknechte bestehen konnte – wenn sie ihre höllische Begabung richtig einsetzte. Sie war einfach neugierig auf den Kerl mit dem Ledersack, der auch in dieser düsteren Kriegszeit immer noch einen Grund zum Lachen fand.
Außerdem hatte sie schon viel zu lange mit keiner Menschenseele mehr gesprochen.
Der Fremde machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ich wollte mich nicht über dich lustig machen, Kleine. Jakob Kuhbier ist ein übler Geselle, aber er kann manchmal auch nett sein. – Heute ist dein Glückstag, du darfst nämlich mit mir essen.“
„Jakob Kuhbier? Ist das Euer Name?“
„Gewiss. Unter diesem Namen wurde ich irgendwo im Reich vor vielen, vielen Jahren christlich getauft. Und du? Hast du auch einen Namen oder bist du wirklich eine wilde Frau, die von Wildsäuen gesäugt wurde?“
Von Wildsäuen gesäugt? Dieser Jakob Kuhbier hatte wirklich den Schalk im Nacken, doch irgendwie mochte Pauline ihn auf Anhieb. Sie spürte, dass von ihm keine Gefahr ausging. Sie beschloss, sich auf ihren Instinkt zu verlassen. Das war ihr bei den beiden lüsternen Kriegsmännern gut bekommen und sie wollte auch jetzt wieder ganz auf ihr Gefühl hören. Außerdem hatte die Aussicht auf etwas Essbares ihren Verstand vernebelt.
„Mein Name ist Pauline Kröger, Meister Kuhbier.“
Mit diesen Worten rappelte sie sich vom Waldboden hoch und machte wahrhaftig einen Knicks, wie man sie es lehrte, bevor einmal die Frau Gräfin die Schenke ihrer Eltern beehrt hatte.
Kuhbier lachte abermals und schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel.
„Pauline, du bist ja eine richtige Dornenprinzessin! Wahrhaftig, du hast dir eine ordentliche Mahlzeit verdient. – Ich bin ohnehin nur in den Wald gegangen, weil ich auf ein paar Himbeeren als Nachtisch hoffte. Doch stattdessen habe ich eine wohlerzogene Hungerschönheit gefunden!“
Pauline war an Kuhbiers seltsame Redensarten schon fast gewöhnt, obwohl sie ihn doch gerade erst kennengelernt hatte. Sie folgte ihm zwischen einigen Weißdornsträuchern hindurch. Ob sie vielleicht zu gutgläubig war? Wieso hatte Jakob Kuhbier von sich selbst behauptet, er sei ein übler Geselle? Auf Pauline wirkte er so harmlos wie ein soeben geborenes Kaninchen. Aber vielleicht wollte er sie ja auch nur beeindrucken – sie war immerhin ein Mädchen, wenn auch ein besonders mageres und struppiges.
In der Schenke ihrer Eltern hatte Pauline oft erlebt, dass Männer mit ihrer eigenen Härte prahlten, um den Frauen zu gefallen. Ob Kuhbier letztlich auch nur unter ihren Rock wollte, so wie alle anderen Kerle?
Pauline hörte mit dem Grübeln auf, denn nun erblickte sie einen zweirädrigen Karren, der offenbar dem seltsamen Alten gehörte. Zwei Gespannpferde waren abgeschirrt worden und grasten friedlich einen Steinwurf weit entfernt.
Der Wagen war mit einer Plane überspannt. Doch momentan hatte Pauline nur Augen für den Kupferkessel, der über einem kleinen Feuer neben dem Gefährt hing. Köstliche Düfte stiegen in die Nase der ausgehungerten jungen Frau. In dem Topf kochte eine Bohnensuppe mit Pökelfleisch vor sich hin.
Kuhbier drehte sich zu Pauline um und grinste.
„Ich wette, dass dir die Suppe auch ohne Nachtisch munden wird, he?!“
Plötzlich erinnerte Pauline sich daran, wie sie den beiden Landsknechten ihren Hasenbraten gestohlen und die Männer mit ihrem Bösen Blick getötet hatte. Was sprach eigentlich dagegen, mit Kuhbier genauso zu verfahren?
Der Alte war offenbar allein. Und wenn sie ihn ins Gras beißen ließ, dann würden ihr nicht nur der herrliche Eintopf sondern auch Pferd und Wagen gehören. In dieser Zeit nahm sich doch sowieso jeder, was er wollte!
Doch kaum war Pauline dieser Einfall gekommen, als sie ihn auch schon wieder verwarf. Die zwei Kriegsmänner hatten sie schänden wollen, sie waren selbst an ihrem elenden Ende mitschuldig. Kuhbier hingegen war allenfalls ein harmloser Narr. Er hatte es nicht verdient zu sterben.
Pauline hoffte nur, dass man ihr ihre düsteren Gedanken nicht im Gesicht ablesen konnte. Aber Kuhbier drehte ihr nun ohnehin den Rücken zu, um eine Portion Essen in eine Steingutschale zu schöpfen. Er überreichte Pauline feierlich das Gefäß.
„Hast du einen Löffel, Kleine?“
Pauline konnte nicht sprechen, weil ihr so sehr das Wasser im Mund zusammenlief. Daher schüttelte sie nur heftig den Kopf. Kuhbier griff in einen Holzkasten und zauberte einen Messinglöffel für sie hervor. Pauline kauerte sich auf den Boden und machte sich hungrig über die Suppe her. Sie verbrannte sich vor lauter Gier die Unterlippe, aber nach einiger Zeit ging es besser. Die junge Frau schaute kaum auf und widmete sich ganz ihrer Mahlzeit. Währenddessen grübelte sie darüber nach, was für eine Gegenleistung Kuhbier wohl für die Suppe wollte. Männer taten nie etwas ohne Hintergedanken, das hatte sie in der Schenke ihrer Eltern gelernt.
Ob der Alte sie besteigen wollte?
Kuhbier war hässlich, sah aber nicht so richtig abstoßend aus. Pauline fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, bei ihm zu liegen. Sie wusste natürlich, was Männer und Frauen miteinander taten. Aber warum sollte sie es mit Kuhbier tun? Nur weil er ihr eine Mahlzeit spendiert hatte? Pauline wusste nicht, ob sie das wollte.
Ihr Gastgeber starrte sie keineswegs frivol an, sondern aß nun ebenfalls seinen Eintopf. Kuhbier hatte sich mit dem Rücken gegen eines der Wagenräder gelehnt und seine Beine in den Stulpenstiefeln ausgestreckt. Er schmatzte und leckte sich genießerisch die Lippen, damit auch nicht ein Tropfen von der heißen Flüssigkeit verlorenginge. Zwischendurch nahm er dann und wann einen langen Zug aus einer Flasche, die wahrscheinlich Wein enthielt.
Kuhbier hielt die Flasche in Paulines Richtung, aber sie schüttelte nur den Kopf. Sie hatte noch nie in ihrem jungen Leben Wein getrunken und fürchtete sich etwas davor.
Der alte Mann und die junge Frau aßen so lange, bis keine einzige Bohne mehr in dem Kessel war. Kuhbier stocherte sich in den Zähnen und rülpste so laut, dass eines der Pferde sich erschrak, wieherte und nervös zu tänzeln begann. Das fand der Alte lustig und lachte erneut. Offenbar hatte er viel Freude am Leben.
Er schaute Pauline direkt ins Gesicht.
„Erzähl mir von dir, Kleine. Wo kommst du her, wo willst du hin? Was hast du vor?“
Paulines Gesicht verdüsterte sich.
„Ich wurde in Lörisfelden geboren. Meine Eltern sind tot, feige ermordet von einem einäugigen Obristen des Christian von Braunschweig, des ‚tollen Halberstädters‘. Die Protestanten sollen alle zur Hölle fahren!“
Kuhbier schob nachdenklich die Unterlippe vor. Einen Moment lang glaubte Pauline, sie hätte etwas Falsches gesagt. Ob er am Ende selbst ein verfluchter Lutherknecht war? Doch Kuhbier schien nicht beleidigt, sondern nur neugierig zu sein.
„Ein einäugiger Obrist? Trug er einen roten Mantel und wurde er von seinen Mannen ‚Schwarzdolch‘ genannt?“
„Ja, genau! Kennt ihr ihn etwa, Meister Kuhbier?“
„Nein, nicht von Angesicht zu Angesicht. Es sind viele Geschichten über ihn im Umlauf, schlimme Geschichten. Er soll mit dem Leibhaftigen selbst im Bunde sein und eine Vorliebe für Frauen haben, die sich auf die schwarzen Künste verstehen. Wenn auch nur die Hälfte aller Gerüchte über ihn wahr ist, dann kannst du von Glück sagen, dass du selbst überlebt hast.“
„Ich würde es nicht gerade Glück nennen“, stieß Pauline hervor, während ihr die Tränen in die Augen traten. „Ich bin jetzt ganz allein auf der Welt!“
Und sie begann zu weinen, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Während ihrer einsamen Wanderungen hatte sie ihre Trauer stets bei sich behalten. Hätte sie vielleicht den Ebereschen, Kastanienbäumen und Buchsbaumhecken etwas vorheulen sollen, oder den Amseln und Igeln und Dachsen?
Doch Kuhbier war ein Mitmensch, der sie voller Wärme anschaute. Dadurch flossen ihre bitteren Tränen nur umso leichter. Als sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte, sagte der Alte: „Ich könnte eine Helferin gebrauchen, Kleine.“
Pauline wischte sich den Rotz mit dem Ärmel ab und blinzelte Kuhbier mit ihren rotgeweinten Augen an.
„Wobei soll ich Euch denn helfen, Meister Kuhbier?“
Pauline hatte keine Ahnung, womit sich dieser Mann seinen Lebensunterhalt verdiente. Er war offenbar ein Reisender, und auf fahrendes Volk war ihr Vater nie gut zu sprechen gewesen. In den Augen des bodenständigen Wirtes waren diese Leute ausnahmslos Schurken, Halsabschneider und Gauner, die nur auf ihren Vorteil bedacht waren. Und Kuhbier schien diesem Bild zu entsprechen, denn er gab ihr keine klare Antwort.
„Ich bin ein Mann, der den Menschen ihre eigenen Sünden verkauft.“
Kuhbier lächelte, während er diesen Satz aussprach. Ob er wieder einen Scherz machen wollte? Pauline hatte ihn während ihrer kurzen Bekanntschaft ja schon als einen Possenreißer kennengelernt. Sie kam sich jedenfalls dumm vor, weil sie den Sinn seiner Worte nicht begriff.
„Ich verstehe Euch nicht.“
„Das macht nichts, du wirst schon noch kapieren. Ich muss dich sowieso erst anlernen, damit du mir nützlich sein kannst. Wie sieht es mit Lesen und Schreiben bei dir aus?“
Nun war Pauline endgültig sicher, dass er sie nur auf den Arm nehmen wollte. Sie lachte sogar, obwohl sie noch vor wenigen Augenblicken bitterlich geweint hatte. Aber Kuhbier schaffte es, sie aufzuheitern.
„Lesen und Schreiben? Ich bin doch keine Klosterschwester. Für ein Gastwirtskind wie mich gab es keine Möglichkeit, diese hohen Künste zu erlernen. Ich musste immer meinen Eltern in der Schenke helfen, Gänse hüten und im Garten arbeiten, Wäsche waschen und die Ziegen melken.“
„Ich werde dich Lesen und Schreiben lehren“, murmelte Kuhbier wie im Selbstgespräch. „Und vor allem Rechnen, das ist sogar noch wichtiger.“
Pauline fragte sich, wozu sie alle diese Fähigkeiten brauchen würde. Ihre Neugierde war jedenfalls geweckt. Je mehr sie von diesem Mann erfuhr, desto wissbegieriger wurde sie.
„Dann seid Ihr ein gelehrter Mann, Meister Kuhbier?“
„Ich war einst ein Scholar, aber das ist lange her. Heutzutage ist mein einziges Bestreben, diese bösen Zeiten zu überleben. Und damit habe ich alle Hände voll zu tun.“
Das war ein Grund, der Pauline ganz und gar einleuchtete. Was sprach schon dagegen, mit dem Alten zu ziehen? Gar nichts. Und wenn er nun versuchte, über sie herzufallen? Dann konnte Pauline immer noch ihren Bösen Blick einsetzen, um ihm jeden einzelnen Knochen im Leib zu zerschmettern. Aber was sollte sie tun, wenn Kuhbier ebenfalls dunkle Fähigkeiten besaß? Das konnte sich Pauline nicht vorstellen, denn sie spürte ganz genau, ob ein Mensch die Bosheit in sich trug.
Plötzlich musste sie wieder an den Mörder ihrer Eltern denken. Schwarzdolch Büttner war so ein Mann, der sich dem Leibhaftigen verschrieben hatte. Das war Pauline sofort klar gewesen, obwohl sie nur aus der Entfernung einen flüchtigen Blick auf ihn geworfen hatte. Trotzdem würde sie ihn niemals vergessen können. Nicht umsonst träumte sie fast jede Nacht von ihm.
Pauline schüttelte sich. Sie wollte jetzt nicht an diese Bestie in Menschengestalt denken. Stattdessen würde sie Kuhbier vertrauen – schließlich hatte sie nichts mehr zu verlieren.
„Ich würde gerne Eure Helferin werden, Meister Kuhbier.“
Hoffnungsvoll, beinahe flehend schaute die junge Waise den Alten an. Kuhbier nickte und schmunzelte.
„Sehr gut, Pauline. Dann bekommst du jetzt gleich deine erste Lektion.“
Mit diesen Worten griff er in die Hosentasche und zog einen Joachimstaler hervor. Paulines Augen leuchteten, als sie die wertvolle Münze erblickte. Sie hatte in der elterlichen Schenke Geldstücke aus verschiedenen deutschen Landen kennengelernt: Von Osnabrücker Pfennigen über Kölnische Gulden, Sechsbätzner, Dreibätzner und wie sie alle hießen. Doch der schwere silberne Joachimstaler war der Kaiser unter den Münzen, daher bekam man ihn auch nur selten zu sehen.
Ein Sonnenstrahl fiel auf das blanke Metall, das Kuhbier zwischen seinem breiten Daumen und Zeigefinger hielt.
„Was habe ich hier, Kleine? Was ist das?“
Pauline kniff die Augen zusammen. Hielt Kuhbier sie für eine hoffnungslose Närrin? Gewiss, sie kam vom Dorf und konnte weder lesen noch schreiben oder rechnen. Aber deshalb war sie noch lange nicht dumm.
„Was soll die Frage, Meister Kuhbier? Das ist ein Joachimstaler, das ist gutes Geld.“
Das Grinsen des Alten wurde noch breiter. Und er schüttelte mit wohlwollendem Tadel den Kopf. So, als ob er einem kleinen Kind erklären müsste, dass der Mond nicht aus Käse ist.
„Falsch, Pauline. Das hier ist nichts anderes als Dreck.“
„Ich werde dich nie vergessen.“
Mit diesem Satz und einem heißen Kuss verabschiedete die frischgebackene Witwe Elise Treppner Sebastian. Es war der Morgen nach der Liebesnacht, die der Student und die Müllerin miteinander verbracht hatten. Für beide war klar, dass sie nicht beieinanderbleiben konnten, obwohl sie sich sehr mochten.
Sebastian wollte weiter nach Nördlingen, denn das Schicksal seiner Familie war nach wie vor ein Geheimnis für ihn. Und Elise? Sie war als verwitwete Müllerin eine gute Partie. Nach einer angemessenen Trauerzeit würde sie ganz gewiss einen neuen Ehemann finden. Sie blinzelte dem Fremden aus Heidelberg verliebt zu. Warum konnte er nicht einfach bei ihr bleiben? Doch wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass er zur Arbeit in einer Mühle nicht berufen war.
Sebastians Tasche war prall gefüllt mit frischem Brot und einer Speckseite. Die Wegzehrung hatte er von Elise gerne angenommen, doch Geld wollte er nicht von ihr haben. Das wäre dann so gewesen, als ob sie ihn für den Tod ihres Ehemannes bezahlt hätte.
Während der Student am Waldrand entlangwanderte, dachte er über den sündigen Müller nach. Wie konnte ein Mann nur so tief sinken, dass er seine Seele an den Gottseibeiuns verkaufte? Treppner war ein starker Kerl gewesen, er hatte eine schöne Frau, wohlgeratene Kinder und ein ehrbares Handwerk gehabt. Reichte ihm das nicht aus? Was war so verlockend an dem Schwefelgestank der Höllenklüfte?
Macht.
Diese Erklärung erschien Sebastian einleuchtend. Der Dämonenknecht hatte sich mit Haut und Haaren dem Satan unterworfen, um seine Mitmenschen beherrschen zu können. Bei seiner eigenen Familie hatte er damit begonnen. Was wohl geschehen wäre, wenn er, Sebastian, Treppner nicht gestoppt hätte?
Der Student lächelte stolz. Er fürchtete den Kampf nicht, hatte sich schon in unzähligen Duellen auf dem Paukboden bewährt. Den Müller hatte er in Notwehr getötet, deswegen ließ er sich keine grauen Haare wachsen. Und eine gute protestantische Degenklinge war offenbar immer noch das beste Mittel gegen Dämonengewalt. Sebastian klopfte auf den Griff seiner Blankwaffe, die er wie immer an seiner linken Seite trug.
Doch plötzlich drängte sich ihm eine Überlegung auf, die ihm gar nicht gefallen wollte. Würde die Hölle Rache an ihm nehmen? Konnte Sebastian ernsthaft annehmen, dass der Fürst der Finsternis den Tod seines Dämonenknechts ungesühnt ließ?
Sebastian wurde es unbehaglich zumute und er kam sich plötzlich sehr allein vor. Allerdings hatte er gar nicht anders handeln können, selbst wenn er es gewollt hätte. Der Müller hatte ihm nach dem Leben getrachtet – Sebastian wäre nun selber eine Leiche, wenn er nicht entschlossen zum Degen gegriffen hätte. Dennoch breitete sich eine lähmende Angst in seiner Magengrube aus.
Der Student begann ein Kirchenlied zu schmettern. Er hatte gewiss nicht die schönste Gesangsstimme Heidelbergs, doch seine Verzagtheit wich zurück. Während der folgenden Tage und Nächte blieb Sebastian stets angespannt und voller Erwartung eines heimtückischen Überfalls durch dämonische Horden. Doch als eine Woche später immer noch nichts geschehen war, wurde er allmählich ruhiger.
***
Als Sebastian endlich Nördlingen erreichte, waren seine Vorräte aufgebraucht. Unterwegs hatte der Student einmal einen Umweg machen müssen, weil er andernfalls in ein Feuergefecht geraten wäre. Wer dort gegen wen kämpfte, konnte Sebastian nicht herausfinden. Zwar entdeckte er später die Leichen von Landsknechten, doch sie waren bereits von Plünderern ausgezogen worden. An den Leichen konnte man nicht erkennen, ob diese Männer nun unter der Fahne der Liga oder der Union gestanden hatten.
In Nördlingen fragte er sich zum Haus seines Vetters durch, der seines Zeichens Böttchermeister war. Sebastian hatte Alfons seit vielen Jahren nicht gesehen. Er war noch ein Knabe gewesen, als er Alfons zum letzten Mal getroffen hatte. Umso schockierter war Sebastian, als eine Magd ihn einließ und dann zu seinem Verwandten führte.
Alfons hockte in seiner Werkstatt und war am hellen Mittag sturzbetrunken. Er war nur drei Jahre älter als Sebastian, wirkte aber bereits wie ein Greis. Alfons war vorzeitig ergraut und er starrte den Studenten aus blutunterlaufenen Augen feindselig an. Der Saufteufel hatte Alfons offenbar in seinem eisernen Griff.
„Was willst du?“, fragte Alfons mit schwerer Zunge. „Wollt ihr mir auch noch das letzte Hemd vom Leib reißen?“
Sebastian zog irritiert die Augenbrauen zusammen.
„Was redest du, Alfons? Erkennst du mich nicht? Ich bin es, dein Vetter Sebastian.“
„Sebastian?“, lallte der Böttchermeister. „Potz Donner, ich habe dich gar nicht erkannt. Willst du einen Schluck?“
Alfons hob die Branntweinkanne und versuchte vergeblich, etwas daraus in einen leeren Becher zu gießen. Das Behältnis war ohne Inhalt. Sebastians Verwandter stieß einen obszönen Fluch aus und sank in seine Lethargie zurück. Er schien bereits wieder vergessen zu haben, dass Besuch da war.
Der Student seufzte und setzte sich zu ihm. Man konnte auf drei Meilen gegen den Wind erkennen, dass es Alfons nicht gut ging. Die Werkstatt war eigentlich ein Ort der Arbeit und nicht der Trinkgelage. Wo waren die Gesellen und Lehrlinge? Hatte der Böttchermeister nichts mehr zu tun?
„Wie kommt es, dass du an einem ganz normalen Dienstag hier beim Branntwein sitzt, Alfons?“
„Wie – hicks – das kommt? Du stellst merkwürdige Fragen, Sebastian. Lernt man auf der Universität, solche Fragen zu stellen?“
Der Vetter konnte sich also wenigstens noch daran erinnern, dass sein Besucher Student war. Sebastian hielt das für ein gutes Zeichen.
„Ich habe mich einfach nur gewundert, Alfons. Das ist alles.“
„Gewundert?“ Der Böttchermeister lachte rau auf. „Ja, ich habe mich auch gewundert. Und weißt du auch, worüber? Darüber!“
Während Alfons sprach, griff er in seine Wamstasche und zog eine Handvoll Münzen hervor. Er warf sie auf den Tisch. Das Geld klirrte, einige von den Gulden und Schillingen rollten auf Sebastian zu.
Der Student presste die Lippen aufeinander. Alle Geldstücke waren feuerrot – die Farbe von wertlosem Kupfer.
„Du bist auf einen Kipper und Wipper hereingefallen, Alfons?“
„Gut erkannt, Herr Studiosus!“, höhnte der Betrunkene voller bitterer Selbstironie. „Wie gefällt dir mein Kupferflitter? Als ich dieses Zeug in die Finger bekam, hatten die roten Füchse noch weiße Mäntelchen um. Da glaubte ich Narr noch, gutes Silbergeld in den Händen zu haben. Na ja, drei oder vier Tage hat die Pracht ja auch gehalten. Dann haben meine Ersparnisse ihr wahres Gesicht gezeigt.“
Sebastian hatte selbst noch niemals Kippergeld in den Händen gehabt. Er wusste nur, dass die Münzverschlechterer mit allerlei miesen Tricks und Täuschereien vorgingen, um den Menschen echtes Silbergeld abzuluchsen und durch wertlosen Kupferflitter zu ersetzen. Nun verstand Sebastian, warum sein Verwandter dem Branntwein so heftig zusprach.
„Hast du … viel verloren?“
„Mein ganzes Vermögen“, flüsterte Alfons. „Mein Gesinde ist fortgelaufen, weil ich es nicht mehr bezahlen kann. Nur die alte Magd, die dir geöffnet hat, ist mir noch geblieben. Es ist kein Essen mehr im Haus. Und Arbeit ist mir auch nicht möglich. Ich kann kein Material mehr kaufen, denn ich habe kein richtiges Geld mehr. Nur noch das hier.“
Und er griff mit beiden Händen in den Haufen mit Kupfermünzen und ließ sie klimpernd durch seine Finger gleiten. Es tat Sebastian für seinen Verwandten sehr leid, obwohl der ihm nicht besonders nahe stand. Alfons befand sich in einer verzweifelten und ausweglosen Lage. Der Student überlegte noch, wie er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kommen sollte.
Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Im wässerigen Blick seines Vetters lag plötzlich so etwas wie Mitleid.
„Ja, ich bin arm wie eine Kirchenmaus, Sebastian. Doch im Vergleich mit dir komme ich mir immer noch vor wie ein König.“
Der Student fühlte sich, als würde eine eiskalte Klaue nach seinen Eingeweiden greifen. Alfons wusste offenbar etwas, das er noch nicht erfahren hatte.
„Wie meinst du das?“
„Hast du noch nicht gehört, dass deine Eltern und deine Geschwister alle tot sind?“
Sebastian konnte es nicht glauben. Sein Verstand hielt sofort eine Erklärung bereit: Alfons, dieser erbärmliche Tor, war schließlich sturzbetrunken. Außerdem hatte ihn gewiss der Verlust seines gesamten Vermögens aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Doch Sebastian ahnte tief in seinem Inneren, dass er sich etwas vormachte. Ja, Alfons war vom Branntwein berauscht. Aber er wusste immer noch, was er sagte.
Oder?
Nach einer Weile, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, fragte Sebastian: „Wie – wie ist das geschehen? Woher weißt du das?“
„Kennst du noch den Michael Hadler aus unserem Dorf?“
Sebastian nickte.
„Michael Hadler konnte als einziger Calvinist entkommen“, knurrte Alfons. „Die anderen wurden alle von einer aufgebrachten Papistenhorde totgeschlagen. Männer, Frauen und Kinder. Auch deine Familie, Sebastian.“
Die Augen des Studenten brannten, doch er konnte nicht weinen. Eigentlich wunderte er sich nicht, dass so etwas Entsetzliches passiert war. Sein Vater hatte schließlich oft genug gesagt, dass der Erzschuft aus dem Vatikan und dessen Speichellecker zu allem fähig seien.
Da kam Sebastian plötzlich ein anderer, noch viel schlimmerer Gedanke: Was, wenn er selbst nun Schuld am Tod seiner Eltern und Geschwister hatte? War das Massaker in Graubünden nichts anderes als die Rache des Leibhaftigen, weil der Student den Satansmüller erstochen hatte?
Doch kaum war ihm dieser Einfall gekommen, als er ihn auch schon wieder verwarf. Es war schon mehrere Monate her, seit er von seinen Eltern nichts mehr gehört hatte. Dennoch, er musste sich Gewissheit verschaffen.
„Und wann – ist diese Bluttat geschehen, Alfons?“
„Im Februar, an dem Tag, wo die papistischen Götzendiener ihren heiligen Valentin anheulen.“
Sebastian nickte grimmig. Das war lange vor der Nacht gewesen, in der Müller Treppner durch die Klinge des Studenten sein gerechtes Ende gefunden hatte. Kraftlos wie ein Greis hockte Sebastian bei seinem betrunkenen Verwandten. Von einem Moment zum nächsten war sein Leben sinnlos geworden. Was konnte er jetzt noch tun? Ohne Geld gab es kein weiteres Studium. Allenfalls auf ein Stipendium konnte Sebastian noch hoffen. Doch dafür musste er zunächst wieder nach Norden reisen, in die holländische Universitätsstadt Leiden. Bernd und seine anderen Freunde würden dort für ihn das Terrain schon bereitet haben. Auf sie hatte er sich immer verlassen können.
Die Kommilitonen waren die letzten Strohhalme, an die Sebastian sich noch klammern konnte. Aber zwischen ihm und seinen Freunden lag ein riesiges und vom Krieg verwüstetes Land voller Gefahren. Unwillkürlich griff Sebastian nach seinem Degen. Er stand auf.
Die plötzliche Bewegung riss Alfons aus seiner Lethargie.
„Willst du mich schon wieder verlassen, Vetter?“
„Ja, es muss sein. Und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass du noch einen hungrigen Esser an deiner Tafel gebrauchen kannst.“
„Da hast du verflucht recht. Aber wenn du noch Geld für die Reise brauchst – hier, nimm!“
Alfons raffte mit beiden Händen Münzen zusammen und warf verzweifelt lachend die wertlosen Kippergulden in Sebastians Richtung.
***
Pauline wurde aus Kuhbier nicht so richtig schlau. In der ersten Nacht war sie noch fest davon überzeugt gewesen, dass er früher oder später über sie herfallen würde. Doch der Alte hatte ihr nur einige warme Wolldecken gegeben und sie im Inneren seines Karrens schlafen lassen, während er selbst sich draußen zur Ruhe begab.
Und Kuhbier hatte sie wirklich nicht belästigt, abgesehen von seinen sägenden Schnarchgeräuschen und seinen donnernden Fürzen. Und für beides konnte er schließlich nichts. Die junge Frau war irgendwann vom Schlaf übermannt worden. Sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal so bequem genächtigt hatte.
Am nächsten Morgen gab es süßen Gerstenbrei zum Frühstück. Kuhbier musterte seine junge Helferin.
„Du siehst aus wie ein Lumpenmariechen, sei mir nicht böse. Wenn du mir bei der Arbeit helfen willst, musst du ordentlich daherkommen.“
Pauline blickte an sich hinab. Sie konnte dem Alten nicht widersprechen. Die junge Frau erinnerte wirklich mehr an eine Vogelscheuche als an irgendein anderes Wesen. Kuhbier begann in einer der Kisten zu wühlen, die sich in seinem Karren befanden. Er förderte ein langes Frauenhemd, ein Kleid aus dunklem Leinen, Brusttuch, Kurzmantel, Strümpfe und sogar ein Paar Lederschuhe zutage.
Der Gastwirtstochter gingen die Augen über. Sie hatte noch niemals in ihrem Leben Fußbekleidung aus Leder getragen. Meistens war sie barfuß oder in Holzpantinen unterwegs gewesen, im Winter zusätzlich mit Fußlappen oder dicken Socken.
„Zieh das mal an“, brummte Kuhbier. „Du kannst in den Karren kriechen, ich werde schon nicht hinschauen.“
Pauline war nicht misstrauisch, denn bisher hatte der Alte ja noch keine Annährungsversuche unternommen. Hinzu kam, dass sie nach wie vor auf ihren Bösen Blick vertraute. Und außerdem war sie begierig, die schöne Kleidung anzulegen.
Wenig später sprang Pauline frisch ausstaffiert vom Karren zurück auf den Waldboden. Die Lederschuhe waren ungewohnt, kamen ihr aber wunderbar vor. Überhaupt fühlte sie sich momentan wie eine Prinzessin, obwohl ihr Aufzug eher dem einer Magd bei einer bessergestellten Städterfamilie entsprach.
Auch Kuhbier nickte beifällig.
„Sehr gut. Du bist natürlich noch etwas mager, aber bei mir wirst du bald Speck ansetzen. Und als Krönung bekommst du noch das hier.“
Er griff in seine Tasche und holte ein seidenes Haarband hervor.
„Das stammt aus Brügge“, sagte der Alte lässig. Pauline legte begierig auch das Haarband an. Kuhbier ließ sie in einen Handspiegel schauen, der ebenfalls zu seinen irdischen Besitztümern zählte.
„Es – ist einfach wunderbar“, hauchte Pauline. Sie fühlte sich in der neuen Montur sofort besser. Dennoch wurde sie innerlich von einer Frage umgetrieben, die sie nicht zu stellen wagte. Aber Kuhbier hatte sie schon durchschaut.
„Du willst natürlich wissen, warum ich so viel Frauenkleidung in meinem Karren habe – wo es doch eindeutig ist, dass ich allein durch die Welt reise.“
„Ja, das habe ich mich wirklich gefragt, Meister Kuhbier.“
Der Alte zuckte mit seinen runden Schultern und schob die Unterlippe vor.
„Nun, manchmal bekomme ich bei meinen Geschäften Waren statt Geld angeboten. Ich lasse mich selten darauf ein, aber manchmal ist es doch von Vorteil.“
„Was für Geschäfte macht Ihr eigentlich, Meister Kuhbier?“
„Du bist neugierig, nicht wahr? Nun, das ist eine sehr lobenswerte Eigenschaft, nicht nur für junge Menschen. Aber ich werde jetzt nicht antworten, sondern dir etwas zeigen. Dann wirst du mich viel besser verstehen. Noch vor dem heutigen Abend wird deine Wissbegierde gestillt sein. – Lass uns fahren, wir müssen noch einige Meilen hinter uns bringen.“
Pauline half Kuhbier, die Gerätschaften und Überreste vom Frühstück zu verladen. Dann kletterte sie zu ihm auf den Karren und ließ die Beine baumeln.
Einerseits fand sie es blöd, dass Kuhbier sich so geheimnisvoll gab. Pauline erinnerte sich an seinen Satz: Ich bin ein Mann, der den Menschen ihre eigenen Sünden verkauft.
Was sollte sie davon halten? Ob Kuhbier irgendetwas mit Hübschlerinnen zu tun hatte? In Lörisfelden gab es keine käufliche Liebe. Doch aus den Gesprächen der Gäste im Schankraum ihrer Eltern wusste Pauline, dass es in jeder größeren Stadt ein Hurenhaus gab. Ob Kuhbier sie, Pauline, an Männer verkaufen wollte? Das würde auch erklären, warum er Frauenkleidung in seinem Karren hatte. Aber andererseits ergab es keinen Sinn, denn warum sollte ein solcher Mann ganz ohne Hurenbegleitung durch das Land ziehen? Und warum war ihre neue Montur nicht gelb? Soweit die junge Frau wusste, war Gelb die Farbe der Hübschlerinnen.
Pauline war auf dem Holzweg, das spürte sie ganz deutlich. Wenn sie das Gespräch auf Kuhbiers Gewerbe bringen wollte, wurde er stets einsilbig. Sie musste wohl oder übel warten.
Gegen Mittag lenkte der Alte sein Gespann auf einen schmalen Weg zwischen Tannen, den man kaum erkennen konnte. Die Äste und Zweige streiften links und rechts die Flanken der Pferde und die Seitenwände des Karrens. Der Wald wurde immer düsterer und unheimlicher.
Ob Kuhbier ein Hexenmeister und mit dem Teufel im Bunde war? Pauline konnte es sich nicht vorstellen, denn im Gegensatz zu ihrem Erzfeind Schwarzdolch Büttner strahlte der Alte überhaupt keine Bosheit aus. Aber – vielleicht konnte er sich ja auch nur besonders gut tarnen?
Pauline sah schließlich auch niemand an der Nasenspitze an, dass sie den Bösen Blick hatte. Kuhbier riss seine Helferin aus ihren Grübeleien, indem er eine seltsame Melodie zu pfeifen begann. Der Karren rumpelte nun an einer hohen Dornenhecke entlang.
„Ich habe gerade unser Kommen angekündigt“, erklärte Kuhbier. Bevor Pauline fragen konnte, wen sie denn besuchen wollten, stieg ihr ein starker Brandgeruch in die Nase. Ihr Magen schmerzte, denn sie musste sich plötzlich daran erinnern, wie die Schenke ihrer Eltern gequalmt hatte. Pauline wollte nichts mehr davon wissen. Sie starrte lieber angestrengt nach vorn, denn dort tauchte nun eine seltsame Gestalt auf.
Der Kerl sah aus wie ein Strauchdieb, doch er hatte keine Waffen in seinem Gürtel und auch nicht in seinen rußgeschwärzten Händen. Die Augenbrauen waren verbrannt – offenbar war er mehr als einmal einer offenen Feuerstelle zu nahe gekommen.
„Gott zum Gruß, Meister Blome. Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen.“
Der hagere Mann, der nach kaltem Rauch roch, nickte Kuhbier zu und musterte dann neugierig Pauline.
„Seid mir ebenfalls gegrüßt, verehrter Kuhbier. Was für ein mageres Kaninchen habt Ihr Euch denn da eingefangen?“
„Das ist Pauline, meine neue Helferin“, entgegnete der Alte mit ruhiger Selbstverständlichkeit. Pauline mochte diesen Blome nicht, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Vielleicht spürte der halbverbrannte Bastard ja, dass sie das Höllenfeuer in ihren Augen verborgen hatte. Pauline glaubte nun, einen Köhler vor sich zu haben. Es gab genügend arme Teufel, die tief im Wald Kohle brannten und sich damit ein kärgliches Auskommen sicherten. Aber warum machte Kuhbier so ein großes Geheimnis daraus?
Der Alte zügelte die Pferde. Er half Pauline beim Absteigen. Die beiden folgten Blome zu einer Esse mit kegelförmigem Dach, wo schwitzende halbnackte Knechte mit Zangen, Hämmern und Metallformen arbeiteten. Die junge Frau erkannte nun ihren Irrtum. Hier wurde keine Holzkohle gebrannt – sondern Münzen geprägt.
Ein Jüngling, der nicht viel älter als sie selbst sein konnte, schlug auf einem Amboss die unregelmäßigen Ränder von den Geldstücken ab. Kuhbier bemerkte, dass Pauline seine Tätigkeit beobachtete.
„Das nennt man ‚Kippen‘, Pauline. Beim Kippen werden die Münzen so rund und ebenmäßig gemacht wie der Vollmond.“
„Und dann sehen sie beinahe aus wie echtes Geld“, fügte Blome grinsend hinzu. Aber Kuhbier, der sonst für jeden Spaß zu haben war, lachte nicht mit. Vielmehr zog er grollend die Augenbrauen zusammen.
„Du machst doch echtes Geld, Meister Blome. Du sollst doch dein Licht nicht immer unter den Scheffel stellen.“
„Mein Geld ist so echt wie die Jungfernschaft einer Landsknechtshure“, entgegnete der Strolch grob. „Aber deswegen werden wir wohl immer Streit bekommen, Kuhbier. Willst du nun mit mir debattieren oder neue Gulden kaufen?“
„Letzteres natürlich“, gab Kuhbier zurück. „Aber nicht, bevor das Geld sein Lotwasserbad genommen hat.“
Pauline verstand überhaupt nichts mehr. Sie kam sich unendlich dumm vor. Bisher hatte sie sich noch niemals Gedanken darüber gemacht, woher das Geld eigentlich kam. Der Landesherr, beispielsweise der Fürstbischof von Münster, erteilte die Erlaubnis zum Münzenprägen. Aber dieser sogenannte Meister Blome machte keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck. Pauline konnte sich nicht vorstellen, dass seine gut versteckte Münze gesetzlich erlaubt war.
Kuhbier lachte gemütlich und schlug ihr leicht mit der Hand auf die Schulter.
„Du schaust drein wie ein Kälbchen beim Gewitter, Kleine. Frag ruhig, wenn du etwas wissen willst. Wir sind hier unter uns. Meister Blome und ich werden uns von dir löchern lassen. Nicht wahr, Meister Blome?“
„Mal sehen“, knurrte der Kerl unfreundlich.
Pauline nickte und deutete auf einen Knecht, der eine Ladung silbern glänzender Gulden in ein Wasserbad schüttete.
„Warum macht er das?“
„Die Münzen kommen in Lotwasser oder in Weinstein, damit sie benutzt aussehen. Sie werden beim Prägen von Meister Blome rückdatiert, wären also schon zwei oder drei Jahre alt. Es würde verdächtig wirken, wenn sie neu aussähen“, erklärte Kuhbier.
Pauline staunte. Und weil sie so verblüfft war, stellte sie die nächste Frage völlig unbefangen.
„Dann sind die Geldstücke also falsch?“
„Ja“, entgegnete Blome.
„Nein“, lautete Kuhbiers Antwort.
Pauline schaute verwirrt von dem Alten zu dem Strolch und wieder zurück. Kuhbier hatte seinen Humor wiedergefunden. Er lachte laut und schlug sich mit der flachen Hand auf die Schenkel.
„Sei nicht böse, Pauline, aber jetzt siehst du wirklich aus wie eine dumme Gans! Blome und ich können uns in dieser Frage einfach nicht einigen. Wir sind diesbezüglich so unversöhnlich zerstritten wie der Heilige Vater und Magister Martin Luther, was das christliche Seelenheil angeht.“
„Nur, dass Kuhbier und ich wegen unseres Disputs nicht in den Krieg ziehen“, bemerkte Blome trocken. „Vielmehr ist der Krieg die Grundlage für unser Geschäft.“
Je mehr Pauline fragte, desto weniger verstand sie. Jedenfalls kam es ihr so vor. Was hatte der Krieg mit dem Geld zu tun?
„Landsknechte kosten Geld“, begann Kuhbier, „und die hohen Herren brauchen viele Landsknechte, um sich gegenseitig zu meucheln. Also werden mehr Münzen geprägt. Selbst in den hochoffiziellen Hofmünzen wird beim Silbergehalt der Gulden, Taler und Schillinge gemogelt. Was kümmert es den Landesherrn, solange er etwas für sein Geld bekommt? Er drückt beide Augen zu, wenn sein Münzmeister etwas Silber abzweigt. Und dann geht die Mauschelei weiter: Gut geprägtes Geld wird in schlechtes umgetauscht, das schon nach wenigen Tagen sein feuerrotes Kupferantlitz zeigt. Oder man betrügt beim Wiegen des Geldes.“
„Wippen nennt sich das“, fügte Blome hinzu, „und es ist Kuhbiers Spezialität. Er ist ein Kipper und Wipper, wie er im Buche steht.“
Kuhbier schüttelte den Kopf.
„Und ich bleibe dabei – unser Geld ist nicht weniger echt als das der hohen Herren an den Fürstenhöfen. Wer bestimmt denn, wie viel Bier und Brot du für deine Kreuzer bekommst, he?“
Blome machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Du bist ein alter Schwätzer. – Lass uns lieber verhandeln, Kuhbier. Ich hoffe, du hast richtiges Geld dabei.“
„Was immer du darunter verstehst“, seufzte der Alte. Dann wandte er sich an seine Helferin. „Pass gut auf, Pauline. Hier kannst du etwas für das Leben lernen.“
Die beiden Männer begannen nun wild um Preise zu feilschen. Das kannte Pauline von ihrem Vater, wenn er mit dem Brauer und dem Branntweinhändler zusammengesessen hatte. Sie verstand nach wie vor nicht viel von dieser Münzengeschichte. Aber sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, so gut es ging.
Kuhbier war also ein Gauner und Betrüger, das stand nun fest. Noch vor wenigen Monaten wäre es für sie undenkbar gewesen, mit einem solchen Menschen gemeinsame Sache zu machen. Aber andererseits – war sie selbst denn nicht viel schlimmer als Kuhbier? Pauline hatte den Bösen Blick, sie trug einen satanischen Keim in sich. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sie die beiden Landsknechte ins Jenseits befördert, denen sie auf ihren Wanderungen begegnet war. Im Vergleich dazu kam es ihr fast harmlos vor, den Leuten minderwertiges Geld anzudrehen.
Es war Krieg, und jeder musste überleben, so gut es ging. Pauline konnte kein Soldat sein, denn sie war ein Mädchen. Sollte sie vielleicht als Marketenderin oder Landsknechtshure mit einem der Heere ziehen, wie es so viele Andere taten? Davon hatte sie jedenfalls in der Schenke gehört, und ein solches Dasein erschien ihr ebenfalls nicht erstrebenswert. Und eine Heirat?
Welcher Mann würde sie denn haben wollen, ein Waisenkind ohne Aussteuer? Allenfalls ein Abdecker, Totengräber oder Henkersknecht konnte sie freien. Pauline schauderte bei dem bloßen Gedanken, mit einem solchen Mann ihr Lager teilen zu müssen. Nein, alles in allem war sie mit dem alten Kipper und Wipper Kuhbier bestens bedient. Er war gut zu ihr, hatte sie bisher noch nie geschlagen und auch nicht versucht, unter ihre Röcke zu kommen.
Pauline musste sich eingestehen, dass sie es sogar spannend fand, was Kuhbier mit den Münzen anstellte. Sie freute sich darauf, ihm bei seiner fragwürdigen Kunst zu helfen.
Ob sie dafür wirklich lesen und schreiben und rechnen lernen musste?
Sebastian haderte mit seinem Schicksal. Nach dem Abschied von seinem schmählich betrogenen Vetter Alfons hatte der junge Student eine Zeitlang auf dem Wagen eines jüdischen Trödlers mitfahren dürfen. Isaac Cohen wusste es zu schätzen, in diesen unsicheren Zeiten einen bewaffneten Begleiter bei sich zu haben. So war es Sebastian gelungen, sich beinahe hundert Meilen ohne größere Anstrengung in Richtung Holland zu bewegen.
Doch da Isaac Cohen nach Prag reisen wollte, mussten sich ihre Wege irgendwann trennen.
„Du bist ein tapferer Mann, mein Sohn“, sagte der alte Händler zum Abschied. „Nimm das hier als Zeichen meines Dankes für den Schutz, den du mir gewährt hast. Ein blonder Recke mit einer scharfen Degenklinge – ich wette, dass so manchem Räuber im Gebüsch allein schon von deinem Anblick die Plündergelüste vergangen sind. Dieses Zauberamulett wird dich vor dem Bösen beschützen.“
Sebastian nahm die seltsame Messingmedaille, die an einem Lederband hing, aus Isaac Cohens Händen entgegen. Eigentlich traute der Student dem Händler nicht, weil er offensichtlich nicht den Lehren Calvins und Luthers anhing. Aber wenigstens war Cohen Jude und kein Katholik. Das wäre aus Sebastians Sicht noch viel schlimmer gewesen. Seit er vom gewaltsamen Tod seiner Eltern erfahren hatte, hasste er die Helfershelfer des römischen Petrus-Tyrannen noch mehr als je zuvor.
Aber sollte er wirklich diesen heidnischen Hokuspokus tragen? Sebastian wollte Cohens Gefühle nicht verletzen und nahm daher das Amulett an. Doch er wollte es fortwerfen, sobald der Alte außer Sichtweite war.
Sebastian schulterte sein Bündel und wanderte nach Norden. Der Pfad, auf dem er sich befand, war schmal und schien nicht von vielen Menschen benutzt zu werden. Doch in diesen unruhigen Zeiten musste das kein Nachteil sein. Die wenigen breiten Fernstraßen dienten den Heeren und ihrem Tross als Marschlinien.
In seiner trüben Stimmung vergaß der Student bald das Amulett, das er sich um den Hals gehängt hatte. Er kam sich vor wie Hiob in der Heiligen Schrift. Welche Prüfungen wollte Gott ihm noch auferlegen? Erst wurde die Universität geschlossen, dann zog Sebastian durch den Tod des Müllers den Zorn der Dämonen auf sich – und schließlich starb auch noch seine ganze Familie!
Während Sebastian über die Sinnlosigkeit des Lebens nachgrübelte, geriet er immer tiefer in den Wald. Gegen Mittag traf er einige Holzfäller, die Fichten schlugen. Die Männer hielten ihre Äxte drohend in den Fäusten und starrten ihn feindselig an, als er sich ihnen näherte. Sie waren zu dritt, und Sebastian war allein. Er zog voller Grandezza seinen Hut, als ob er ein spanischer Graf wäre. Doch innerlich blieb er angespannt und kampfbereit.
„Guten Tag, ihr guten Leute. Führt mich dieser Weg zum Fürstbistum Münster?“
Die Holzfäller lachten, als ob Sebastian einen Scherz gemacht hätte. Der größte von ihnen kratzte sich ungeniert im Schritt, bevor er antwortete: „Freilich, hoher Herr, freilich. Folgt immer nur dem Weg, er wird Euch geradewegs ins Paradies führen.“
Sebastian kniff die Augen zusammen. Er bemerkte natürlich den Hohn dieses tumben Kerls. Und er fragte sich nach dem Grund dafür.
„Ich will nicht ins Paradies, sondern nur ins Fürstbistum Münster und von dort aus weiter ins Holländische. Was gefällt dir daran nicht, he?“
Der Holzknecht machte eine ironische Verbeugung.
„Oh, was sollte ich denn dagegen haben? Ihr seid ein studierter Herr, das sehe ich an Eurem schönen Degen und Euren prachtvollen Kleidern. Ihr könnt sicher sein, dass dieser Pfad in die von Euch gewünschte Richtung führt.“
Einer der anderen Arbeiter schien auch etwas sagen zu wollen. Doch dann klappte sein Mund wieder zu. Er wandte seinen Blick ab und bekreuzigte sich.
Sebastian lag eine scharfe Bemerkung auf der Zunge, aber er beherrschte sich. Eine Balgerei mit diesen drei Rohlingen würde ihn ganz gewiss seinem Ziel nicht näher bringen. Die Männer amüsierten sich auf seine Kosten, so viel stand fest. Nun gut – wenn diese dummen Knechte ihn auf den Arm nehmen wollten, so würde er daran nicht zugrunde gehen. Also setzte Sebastian seinen Hut wieder auf.
„Habt Dank für die freundliche Auskunft. Möge der Herrgott euch einen guten Tag bescheren.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und stapfte zügig weiter den Weg entlang. Sebastian musste ihnen nun den Rücken zukehren. Daher horchte er konzentriert, ob die Holzfäller ihn vielleicht nicht von hinten attackierten. Doch er hörte keine schnellen Schritte auf dem Waldboden. Nur einer der Männer gab eine geraunte Bemerkung von sich. Es klang wie: „Wir hätten ihn warnen sollen.“
Über der ärgerlichen Begegnung mit den groben Kerlen hatte Sebastian sein Amulett endgültig vergessen. Sein Zorn war momentan sogar größer als sein Selbstmitleid. Er fragte sich, warum die Männer so unfreundlich zu ihm gewesen waren. Natürlich wusste er, dass die meisten Dorfbewohner jedem Fremden misstrauten und in ihm einen Feind sahen. In diesen kriegerischen Zeiten war das sogar verständlich, denn ein Landsknecht oder gar ein marodierender Deserteur führte so gut wie immer Böses im Schilde. Aber er, Sebastian, war doch deutlich erkennbar ein Mann des Wissens, ein stolzer Heidelberger Student!
Sebastian musste allerdings zugeben, dass seine Kleidung unter seiner bisherigen Reise schon gelitten hatte. Doch im Vergleich zu den groben Zwilchkitteln der Waldarbeiter war er immer noch angezogen wie ein Reichsfürst.
Ein Donnern riss den Studenten aus seinen Gedanken. Im ersten Moment glaubte er, dass jenseits des Waldes eine Schlacht stattfinden würde und er das Brüllen der Feldschlangen vernähme. Doch dann bemerkte er seinen Irrtum. Es war stattdessen ein Unwetter, das in Windeseile über den Baumwipfeln heraufgezogen war. Sebastian blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. Witternd wie ein Tier sog er die dumpfige drückende Luft ein.
Der Himmel verdunkelte sich, als ob die Welt untergehen wollte. Es rauschte und knackte, krachte und brauste in den Wipfeln über ihm. Die Bäume standen so dicht an dicht, dass sie beinahe wie eine Überdachung wirkten. Allerdings drang auch kaum noch ein Lichtstrahl bis auf den Pfad hinunter. Es war im Wald schon finster genug gewesen, als noch die Sonne am wolkenlosen Himmel gestanden hatte. Jetzt, mit den zusammengeballten grauschwarzen Gewitterwolken hoch über dem Land, war es plötzlich finster wie in der Nacht.
Ein Blitz zuckte. Sebastian konnte nicht sehen, wo er einschlug – dafür war der Student zu weit von der Stelle entfernt. Aber wenig später glaubte er, Brandgeruch wahrnehmen zu können. Die ersten dicken Regentropfen fielen.
Und es ertönte ein schauriges Geheul.
Sebastian beschloss, seinen Weg fortzusetzen. Vielleicht fand er irgendwo einen Platz, wo er sich unterstellen konnte. Aber einstweilen war es gewiss besser, in Bewegung zu bleiben. Der Student erinnerte sich an eine Volksweisheit, die er einmal irgendwo aufgeschnappt hatte. Sie empfahl als Verhalten bei Gewittern: Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen.
Sebastian musste unwillkürlich grinsen. Wenn es danach ging, dann machte er momentan alles richtig. Er befand sich mitten in einem Mischwald mit sehr vielen Buchen. Es gab auch viel Gestrüpp und Unterholz, aber weit und breit keine Eiche. Jedenfalls, soweit er das bei dieser Finsternis beurteilen konnte. Es gab für ihn also keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Doch da ertönte das schaurige Geräusch von Neuem. Und diesmal hörte es sich nicht so weit entfernt an. Ob es ein Wolf war, der soeben Laut gegeben hatte? Sebastian hatte noch niemals ein solches Raubtier gesehen, wenn man den Wolfskopf ausklammerte, der als Wandschmuck in der Heidelberger Studentenschenke „Zum Sauspieß“ hing.
Der Reisende wusste nur, dass ihm dieses Geheul Angst einjagte. Sebastian verachtete sich selbst dafür. Er hatte sich stets etwas darauf eingebildet, kein Hasenfuß zu sein. Ob es der schmerzliche Verlust seiner Familie war, der ihn weich gemacht hatte? Sebastian wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich noch niemals zuvor so gefürchtet hatte wie in diesem Moment.
Sebastian zitterte und war froh, dass ihn niemand sehen konnte. Er versuchte, sich zu beruhigen. Schließlich war er ein Mann der Wissenschaft. Dieses Tier heulte gewiss so abscheulich, weil es sich vor dem Unwetter fürchtete. Es war eben nur eine dumme Kreatur und konnte nicht begreifen, dass man vor Donner und Blitz und Starkregen gar keine Angst haben musste.
Und wenn es nun gar kein Tier war?
Der Student hatte sich geweigert, diesen Gedanken zuzulassen. Und doch wurde er innerlich von der schrecklichen Vorstellung gepackt, dass die Dämonen es auf ihn abgesehen hatten. Wieso nahm er nur an, dass die Höllenkräfte den Tod des Müllers ungesühnt lassen würden?
Der Regen wurde stärker. Windböen klatschten die Nässe in Sebastians Gesicht und brachten ihn wieder zur Vernunft. Er schämte sich, weil er so eine Memme war. Wie gut, dass ihn keiner seiner Kommilitonen sehen konnte. Was war er nur für ein Heidelberger Student, dass er sich von den Geräuschen eines verängstigten Tieres ins Bockshorn jagen ließ?
Das Geräusch war ein drittes Mal zu hören. Und diesmal ertönte es unmittelbar vor Sebastian. Wie das Goldene Kalb aus der Heiligen Schrift tauchte plötzlich eine Gestalt im Unterholz auf, nur eine Armeslänge von Sebastian entfernt. Und dieser Unhold ließ mit seinem Schrei die Luft zittern.
Trotz des Halbdunkels konnte der Student nur allzu deutlich erkennen, was für eine Kreatur er vor sich hatte. Ein Tier war es nicht, aber auch kein Mensch, jedenfalls kein zivilisierter.
Der brüllende Moloch überragte den hochgewachsenen Sebastian noch um Haupteslänge. Der massige Körper war über und über mit Haar bewachsen. Zwischen den Schenkeln baumelten ein gewaltiges Glied und ein ebenfalls stark behaarter Doppelbeutel. Als Waffe hielt der Unhold eine Birke in der Faust, die er offenbar mitsamt der Wurzel aus dem Boden gerissen hatte.
Plötzlich begriff Sebastian das seltsame Verhalten der Holzfäller. Sie hatten gewusst, dass sich tief im Gehölz ein wilder Mann verborgen hielt. Doch anstatt den Studenten zu warnen, hatten sie ihn aus purer Bosheit ins offene Messer laufen lassen.
Wilde Männer. Mit wohligem Schauern hatte Sebastian als Knabe den alten Weibern gelauscht, wenn sie am Ofen von vertierten und aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßenen Kerlen erzählten, die mit den Gemsen und Hirschen reden konnten und sich wehrlose Hirtenmädchen zum Weib nahmen. Die Fantasie des kleinen Jungen war dadurch angeregt worden. Sebastian hatte derartige Schauermärchen immer geliebt. Aber niemals hätte er sich träumen lassen, einem solchen Wesen Auge in Auge gegenüberzustehen.
Sebastian reagierte mit anerzogenen Reflexen, die zum Glück stärker waren als seine Furcht. Er ließ sein Bündel fallen und zog seinen Degen. Gleichzeitig machte er einen großen Schritt rückwärts. Damit wollte er die Mensur, beim Fechten den räumlichen Abstand zum Gegner, vergrößern.
Aber der wilde Mann hatte ganz offensichtlich keinen ritterlichen Kampf im Sinn. Er sprang vorwärts und schwang dabei heftig und unberechenbar seinen Baum. Falls er sich durch die auf seinen Brustkorb gerichtete Degenspitze bedroht fühlte, ließ er es sich nicht anmerken.
Sebastian machte einen Ausfallschritt vorwärts und stach zu. Doch mit einer Behändigkeit, die der Student diesem plumpen Riesenkörper niemals zugetraut hätte, wich der wilde Mann aus. Bevor Sebastian seinen Waffenarm wieder zurückziehen konnte, folgte der Gegenangriff.
Der Unhold schlug dem Studenten mit brachialer Gewalt den Degen aus der Hand. Es schmerzte heftig. Sebastian fühlte sich, als wären alle Finger seiner rechten Hand gebrochen worden. Aber noch war der Ansturm nicht vorüber. Sebastian wollte zur Seite springen. Doch der wilde Mann packte ihn grob am Wams. Der Stoff riss. Bei dem zweiten Schlag mit dem Birkenstamm wurde der Student seitlich am Kopf getroffen.
Sebastian hatte Glück. Wenn der wuchtige Hieb direkt auf seinem Schädel gelandet wäre, hätte er sich in diesem Moment von seinem Leben verabschieden können. Er sackte bewusstlos zusammen und bekam nicht mehr mit, wie der wilde Mann ihn zufrieden grunzend über seine Schulter warf.
***
Sebastian erwachte, weil ihm ein bestialischer Gestank in die Nase stieg. Er schlug die Augen auf und benötigte einige Momente, um sich in dem Halbdunkel zu orientieren. Fest stand, dass er sich in einer großen Felsspalte befand. Offenbar diente dieser schaurige Ort dem wilden Mann als eine Art Lager oder Wohnstatt.
Und der Student musste sich nicht lange fragen, woher der widerwärtige Odem stammte. Nicht weit von ihm entfernt lagen ein Totenschädel sowie ein größtenteils abgenagtes menschliches Skelett und einige Reste von Kleidungsstücken. Sebastians Magen rebellierte. Offenbar hatte der wilde Mann keine Hemmungen, Menschenfleisch zu vertilgen. Von diesem Feind durfte Sebastian keine Gnade erwarten.
Aber wieso hatte der Unhold den Studenten nicht sofort auf dem Waldweg getötet? Warum hatte er ihn lebendig in seine Höhle geschleppt? Und – wo war der wilde Mann überhaupt?
Sebastian schaute sich suchend um, aber sein Degen und sein Bündel waren natürlich fort. Wahrscheinlich hatte der wilde Mann die wenigen irdischen Besitztümer seines Opfers einfach zurückgelassen. Der Student wusste nicht, wie viel Zeit seit dem Überfall durch den wilden Mann vergangen war. Er wusste nur, dass er das nächste Duell mit der Bestie unbedingt gewinnen musste. Aber wie sollte er das bewerkstelligen? Er hatte ja keine Waffe mehr. Außerdem tat seine rechte Hand immer noch schauderhaft weh. Vorsichtig versuchte Sebastian, die Finger zu bewegen. Es ging einigermaßen, also schienen sie wenigstens nicht gebrochen zu sein.
Das war aber auch das einzig Gute, was er seiner Lage abgewinnen konnte. Am Eingang der Grotte rumorte es. Der wilde Mann kehrte zurück. Sebastians Kopf und seine Waffenhand schmerzten, trotzdem würde er jetzt kämpfen müssen. Aber wie?
Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte der Student sehen, wie steif und prall das Geschlechtsteil seines Widersachers war. Lag darin die Erklärung, warum der wilde Mann Sebastian nicht sofort totgeschlagen hatte? Wollte dieser Unhold sich in sodomitischer Manier über ihn hermachen? Oder glaubte dieses Halbtier, dass der blondgelockte und glattrasierte Student ein Mädchen wäre?
Sebastian wusste es nicht. Aber sein Verstand entwickelte einen verzweifelten Plan. Er stellte sich bewusstlos, so gut es ging. Der Student schloss seine Augen bis auf einen winzigen Spalt. Seine linke Hand befand sich in der Nähe eines faustgroßen Steins.
Der Unhold gab grunzende Laute von sich und näherte sich Sebastian. Er packte sein vermeintliches Opfer am Wams, um ihm den Stoff endgültig vom Leib zu reißen.
Das war der Moment, in dem Sebastian zuschlug. Er hämmerte den Stein mit ganzer Kraft gegen die Schläfe seines Widersachers. Nach dem ersten Treffer schlug er noch zwei weitere Male zu.
Mit dieser überraschenden Attacke hatte der wilde Mann nicht gerechnet. Vielleicht hatte auch seine eigene Lüsternheit seine Wahrnehmung vernebelt. Jedenfalls fiel er um und rührte sich nicht mehr. Blut floss über sein haariges Gesicht, über den Hals, den mächtigen Rücken.
Sebastian merkte erst jetzt, dass er am ganzen Leib zitterte. War der Unhold tot? Es schien kein Leben mehr in ihm zu sein. Doch falls er nur bewusstlos war, wollte der Student besser nicht bis zu seinem Aufwachen warten. Sebastian machte Anstalten, auf allen Vieren die Höhle zu verlassen. Dazu musste er an den Überresten der schaurigen Mahlzeit des wilden Mannes vorbei.
Zwischen den Kleiderfetzen glänzten einige silberne Gulden. Der Student musste nicht lange überlegen. Er nahm das Geld an sich, obwohl er kein Dieb war. Aber der arme Kerl, den der Menschenfresser vertilgt hatte, brauchte keine irdischen Reichtümer mehr. Und es ließ sich gewiss nicht herausfinden, wer er gewesen war.
Doch für Sebastian waren diese wenigen Gulden ein kleines Vermögen. Er konnte damit bis ins Fürstbistum Münster und vielleicht sogar bis nach Holland gelangen.
Als er die Grotte verließ, fiel ihm plötzlich sein Amulett ein. Ob Sebastian seine wundersame Rettung vor dem wilden Mann dieser Gabe des jüdischen Trödlers zu verdanken hatte? Der Student erinnerte sich an Gespräche mit Kommilitonen, in denen es um die jüdische Geheimlehre Kabbala gegangen war.
Nach seinen Erlebnissen in dem finsteren Wald beschloss Sebastian, den Schutzzauber doch nicht fortzuwerfen. Vielleicht konnte dieses Ding ihm ja in Zukunft weiterhin nützlich sein. Der Student irrte eine Zeitlang durch das Unterholz, bis er endlich den Weg wiedergefunden hatte. Und dort lagen auch noch sein Degen und sein Bündel. Offenbar war inzwischen niemand gekommen, der sich an seinem Eigentum bereichern wollte.
Sebastian schickte ein Dankesstoßgebet zum Himmel. Sein Selbstmitleid war verflogen wie die Gewitterwolken. Er empfand nun wieder den grenzenlosen Optimismus eines Mannes, der soeben dem sicheren Tod entkommen war. Voller Tatendrang setzte Sebastian seinen Weg fort. Irgendwann musste doch dieser düstere Wald einmal zu Ende sein.
Sein nächstes Etappenziel war der Bischofssitz Münster in Westfalen.
***
Pauline lernte schnell.
Sie hatte sich früher immer für dumm gehalten und diesen Zustand als gottgegeben hingenommen. Hochwürden hatte schließlich oft genug gepredigt, dass den geistig Armen das Himmelreich sicher sei. Und der Pfarrer war ein kluger Mann, denn er konnte die Heilige Schrift und überhaupt jedes Buch lesen.
Und nun tat Pauline es ihm plötzlich gleich.
Gewiss, ihre ersten Leseversuche waren noch mehr als mühsam. Ihr brach der Schweiß aus und sie war so erschöpft, als ob sie stundenlang Butter gestampft hätte. Doch die Buchstaben, die Kuhbier ihr beibrachte, unterschieden sich ganz allmählich voneinander. Plötzlich erkannte Pauline ihren Sinn, und das war wie eine Erleuchtung.
Sie reihte gequält die Lettern P-F-E-R-D aneinander – und plötzlich sah sie in ihrer Fantasie ein edles Ross vor sich! Vorher war es noch nicht vorhanden gewesen, doch indem Pauline den Sinn des Wortes erkannte, erweckte sie das Tier zum Leben. Jedenfalls kam es ihr so vor.
Kuhbier klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.
„Du bist eine gelehrige Schülerin, Kleine. Glaub mir, ich habe schon viele Menschen das Alphabet pauken sehen. Aber Viele wollen es gar nicht wirklich beherrschen, besonders die verweichlichten Söhne der Adligen nicht. Viele Grafen oder Herzöge schicken einen ihrer Nachkommen ins Kloster, damit er Mönch wird. Und als Klosterbruder muss man nun einmal lesen und schreiben können. Doch das interessiert diese Kanaillen überhaupt nicht.“
„Aber warum nicht, Meister Kuhbier? Es kommt mir vor, als ob Ihr mich in ein Geheimnis einweihen würdet. In den Büchern ist eine neue Welt versteckt, die mir bisher verschlossen war.“
Der Alte nickte, furzte und nahm einen Schluck aus seiner Branntweinflasche.
„Du sagst es, Kleine. Besser hätte ich das auch nicht ausdrücken können. Ich denke genauso. Und warum? Weil wir arm sind, du und ich. Wir müssen lernen und klug sein, sonst gehen wir in dieser elenden Welt zugrunde. Das ist bei den Reichen und Mächtigen anders. Warum soll so ein verwöhntes Grafensöhnchen sich anstrengen, die Heilige Schrift lesen oder gar selbst ein gelehrtes Traktat schreiben? Dieses reiche Pack ist faul, weil es ihm an nichts fehlt. Sie müssen sich nicht anstrengen, die gebratenen Tauben fliegen ihnen sowieso in den Mund. Das ist bei uns anders. Wenn wir uns nichts einfallen lassen, dann verhungern wir.“
„Und wie war das bei Euch? Habt Ihr lange in einer Abtei gelebt?“
„Zu lange“, knurrte Kuhbier. „Ich war überall und nirgends, und bevor ich an einem Ort Moos ansetze, ziehe ich lieber weiter. Dennoch freue ich mich jetzt auf die alte Bischofsstadt, in der die Wiedertäufer einst ihren Traum vom Paradies auf Erden blutig beendeten. Diese Schwärmer haben leider übersehen, dass es letztlich immer um das liebe Geld geht. – Doch bevor wir nach Münster kommen, musst du noch viel üben, Kleine. Dieses Wort da, was steht dort geschrieben?“
Pauline konzentrierte sich wieder auf das aufgeschlagene Buch, das Kuhbier auf seinen Knien balancierte. Sie hockte neben ihm im Karren und ließ die Beine baumeln. Der Alte brachte ihr das Lesen bei, während er gleichzeitig die Zügel der Gespannpferde in den Händen hielt. Das Fahrzeug rumpelte langsam über die staubige Landstraße.
Es kam Pauline so vor, als ob sie Kuhbier schon seit ewigen Zeiten kennen würde. Sie verstand nicht alles, was er ihr erklärte. Doch sie spürte, dass sich das schon sehr bald ändern würde. Mit jedem Tag, den sie in seiner Gegenwart verbrachte, wurde sie etwas klüger.
Trotzdem war ihr immer noch nicht klar, wozu der Alte sie eigentlich benötigte. Sie sollte ihm bei seinen seltsamen Münzgeschäften helfen, aber wie? Kuhbier hatte ihr bereits erklärt, dass er den Menschen gute Silbertaler abluchsen und ihnen dafür seine versilberten Kupfermünzen unterjubeln wollte. Aber bisher waren es nur großspurige Ankündigungen gewesen. Pauline wusste aus der Schenke ihrer Eltern, dass Männer oft das Blaue vom Himmel versprachen und es mit der Umsetzung ihrer Pläne nicht so genau nahmen.
Gewiss, Kuhbier war ein Gauner. Aber konnte sie über ihn den Stab brechen? Schließlich war sie selber ein schlechter Mensch, denn sie hatte den Bösen Blick. Pauline musste einfach eine verworfene Sünderin sein – andernfalls wäre alles, was sie von Kindesbeinen an gelernt hatte, falsch gewesen.
Jedenfalls hatte Pauline seit Wochen nicht mehr gebetet. Sie traute es sich nicht, weil sie glaubte, dazu kein Recht mehr zu haben. Doch wenn sie dieser Zustand auch betrübte, so ging es ihr doch alles in allem besser als je zuvor in ihrem jungen Leben.
Durch das Lesen, Schreiben und Rechnen lernte Pauline ganz neue Dinge kennen, von denen sie nie zuvor gehört hatte. Die Welt war riesig, es gab weit entfernte Länder wie Afrika oder China, nie gesehene Tiere – Löwen oder Elefanten beispielsweise. Ihr Geist wurde also mit spannenden Neuigkeiten gefüttert. Und die Zahlen kamen ihr vor wie ein Reigen von Zauberwesen, die sich auf unendliche Arten miteinander paaren konnten.
Auch körperlich ging es ihr gut. Sie schlief jede Nacht wie ein Engel und dank der regelmäßigen Mahlzeiten war sie nicht mehr ganz so mager wie während der Zeit ihrer einsamen Wanderungen. Paulines Wangen waren rot wie Äpfel, ihr Haar war nicht mehr stumpf und störrisch, sondern weich und glänzend wie Seide.
Kuhbier deutete auf den Horizont.
„Siehst du die Kirchturmspitzen dort? Sie gehören zu St. Ludgeri und St. Aegidii, das sind zwei der bekannten Münsteraner Stadtkirchen. – Wir sind bald angekommen, also zieh schon mal deinen Rock hoch.“
Pauline riss die Augen auf. Sie glaubte zunächst, sich verhört zu haben. Kuhbier hatte bisher noch keine Annäherungsversuche gemacht, und nun plötzlich – aber bevor sie den Gedanken weiterspinnen konnte, lachte der Alte gemütlich und fügte hinzu: „Schau nicht so entsetzt, Kleine. Ich will dir nichts Böses. Du sollst nur den Sack mit den ‚Königen‘ zwischen deine Knie klemmen und unter deinem Rock verstecken. Denn wenn die Stadtsoldaten die ‚Plantschen‘ bei uns finden, dann geht es uns schlecht.“
„Könige“ oder „Plantschen“ wurden von den Münzern die flachen Kuchen aus eingeschmolzenem Silber genannt, deren Einfuhr in den meisten Städten streng verboten war. Kuhbier bewahrte diesen Rohstoff in seinem Ledersack auf, den er nun von der Schulter zog und Pauline gab.
Sie errötete, hob aber gehorsam ihren Rock und presste das Behältnis zwischen ihre Oberschenkel. Dann zog sie den Stoff wieder herunter. Kuhbier hatte noch nicht einmal versucht, einen Blick auf ihre nackte Haut zu erhaschen. Offenbar sah er in ihr wirklich nur eine Helferin und keine Bettgespielin.
Die heimlich geprägten Münzen, die Kuhbier von Meister Blome bekommen hatte, befanden sich unten in einem Pfefferfass, denn Kuhbier wollte sich offiziell als reisender Gewürzhändler ausgeben.
„Du sagst am Tor am besten gar nichts, wie es sich für eine züchtige Jungfrau geziemt“, schärfte der Alte Pauline ein. „Doch falls dich die Soldaten fragen, dann bist du selbstverständlich katholisch. Münster hat nämlich seine Protestanten aus der Stadt geworfen, wie ich in Erfahrung gebracht habe.“
Verlag: Elaria
Texte: Martin Barkawitz
Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer/Andrea Reichardt
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2018
ISBN: 978-3-96465-064-1
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