Das Auto war ein nachtschwarzer Aurus Senat mit getönten Scheiben und Spezialpanzerung. Er rollte langsam auf die Hamburgische Staatsoper zu. Die wartenden Fotojournalisten richteten ihre Kameras auf das Fahrzeug, um möglichst gute Aufnahmen in den Kasten zu bekommen.
Keiner von ihnen ahnte die tödliche Gefahr, in der sie alle schwebten.
Als die Luxuslimousine hielt, sprang ein kurzgeschorener Anzugträger mit Bodybuilder-Figur heraus und öffnete die hintere Tür. Die Reporter betätigten die Auslöser ihrer Hochleistungsapparate, denn nun stiegen der Star-Dirigent Daniel Liebig und der russische Oligarch Boris Michailow aus. Dessen Sohn war ebenfalls mit von der Partie.
Während die bildungsbeflissenen Leser für den renommierten Taktstockschwinger zu begeistern waren, konnten sich die Konsumenten der Boulevardpresse eher für den mächtigen Mann aus Russland und dessen Playboy-Sprössling erwärmen. Die Journalisten und Gaffer hatten nur Augen für dieses Trio.
Niemand achtete auf die junge Mutter, die sich mit ihrem Kinderwagen einen Weg durch die Menge zu bahnen versuchte.
»Lasst doch mal die Frau durch!«, rief irgendein wohlmeinender Mensch, als er ihre Lage erkannte. Und wirklich: Mit einer Rücksicht, die niemand einem Paparazzo zugetraut hätte, bildeten die Fotografen eine Gasse, damit der Kinderwagen passieren konnte. Die Ankunft des Luxusautos geschah unter größtmöglicher Lärmentwicklung. Daher hätte man meinen können, dass ein Baby dadurch unruhig wurde und zu schreien begann. Das passierte allerdings nicht.
Denn in dem Kinderwagen lag gar kein Kind.
Das wurde den Umstehenden in dem Moment klar, als die junge Frau unter der Zudecke zwei halbautomatische Pistolen hervorzog. Sie verpasste dem Wagen einen kräftigen Fußtritt, woraufhin er auf Liebig und Michailow zurollte.
Eine gewaltige Explosion riss die Umstehenden von den Füßen.
Die Bombe in dem Kinderwagen hatte mindestens ein halbes Dutzend Menschen getötet oder verletzt. So genau war das in dem Chaos nicht zu erkennen, denn eine schwarze Qualmwolke versperrte die Sicht.
Und die Attentäterin ging mit rücksichtsloser Brutalität vor.
Sie richtete ihre beiden Waffen auf die Bodyguards des Oligarchen, von denen einige noch einsatzfähig waren und sich ihrer Haut wehrten. Der Frau flogen die Kugeln um die Ohren, während die unverletzt gebliebenen Schaulustigen und Journalisten so schnell wie möglich fortliefen. Die meisten von ihnen rannten direkt auf die viel befahrene Dammtorstraße, woraufhin der Verkehr dort komplett zum Erliegen kam.
Schon nach wenigen Minuten ertönten die Sirenen von Streifenwagen, die sich aus Richtung Dammtor-Bahnhof dem Anschlagsort näherten. Für die Täterin war das offenbar das Signal dafür, sich zurückzuziehen. Der Widerstand war ohnehin erloschen. Sie hatte eine kurze Salve nach der anderen auf ihre Gegner gefeuert. Nun schoss keiner von ihnen mehr zurück. Der Bürgersteig war vom Blut der Opfer rot gefärbt.
Die Frau schob ihre Waffen in eine Umhängetasche, die sie dabeihatte. Sie warf noch einen Blick über die Schulter nach hinten und eilte dann in die Große Theaterstraße, die in Richtung Jungfernstieg führte.
Die ganze Aktion hatte keine drei Minuten gedauert.
Als die ersten Polizeibeamten am Tatort eintrafen, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens.
Hauptkommissarin Heike Stein von der Sonderkommission Mord freute sich auf ihren verdienten Ägypten-Urlaub. Sie war früh aufgestanden, um ihren Flieger Richtung Rotes Meer nicht zu verpassen. Heike ahnte nichts Böses, als um sechs Uhr morgens ihr Telefon klingelte.
Kriminalrätin Dr. Laura Brink war am Apparat.
»Ich bedaure unendlich, Ihren Urlaub vorerst streichen zu müssen«, sagte die Chefin. »Bitte finden Sie sich umgehend im Präsidium ein.«
Die blonde Kriminalistin fiel aus allen Wolken. Die metallisch klingende Stimme ihrer Vorgesetzten hörte sich nicht so an, als ob Frau Dr. Brink ihre Anweisung wirklich leidtun würde. Andererseits konnte Heike sich nicht vorstellen, dass die Chefin ihr aus purer Böswilligkeit Knüppel zwischen die Beine warf. Die beiden hatten nicht das beste Verhältnis zueinander, doch momentan gab es keine größeren Meinungsverschiedenheiten. Daher musste es einen triftigen Grund für diese Entscheidung geben.
»Was ist geschehen?«, wollte Heike wissen.
»Schauen Sie das Frühstücksfernsehen oder schalten Sie Ihren PC ein, bevor Sie sich auf den Weg machen, Frau Stein. Es herrscht eine äußerst unübersichtliche Lage. Ich benötige meine beste Mordermittlerin dringend hier in Hamburg.«
Ein Kompliment aus dem Mund meiner Chefin? Ein Flug in die Sonne wäre mir lieber gewesen!
Diesen Gedanken sprach Heike nicht aus. Stattdessen sagte sie: »Ich werde mich umgehend auf den Weg machen.«
Die Kriminalistin war schon angezogen und geduscht. Nun tauschte sie allerdings ihre Freizeitkleidung gegen einen dunklen Hosenanzug, der zu ihrer trüben Stimmung passte. Eine schwarze Bluse fand sich in ihrem Kleiderschrank auch noch.
Während Heike die Klamotten wechselte, warf sie einen Blick auf ihren eingeschalteten Fernseher. Frau Dr. Brink hatte nicht übertrieben: Auf allen Kanälen liefen Breaking News über einen Bombenanschlag vor der Hamburgischen Staatsoper. Es hatte offenbar mehrere Tote und zahlreiche Verletzte gegeben, wobei die Angaben von Sender zu Sender schwankten. Heike wusste, dass verlässliche Informationen nach so kurzer Zeit nur schwer möglich waren. Die Attacke musste sich am vorigen Abend, unmittelbar vor der Aufführung von Aida in dem Opernhaus zugetragen haben. Offenbar wurde von einer Einzeltäterin ausgegangen, ein terroristischer Hintergrund konnte nicht ausgeschlossen werden.
Die Hauptkommissarin verzichtete darauf, tiefer in die Berichterstattung einzutauchen. Sie verließ sich im Zweifelsfall ohnehin lieber auf Fakten, die sie selbst zusammengetragen hatte. Den Medien stand Heike äußerst misstrauisch gegenüber, weil die Gier nach Schlagzeilen und Einschaltquoten oftmals viel größer war als die Liebe zur Wahrheit und der Wunsch nach objektiver Berichterstattung.
Sie verließ ihre Altbauwohnung in der Isestraße, schwang sich auf ihr Mountainbike und erreichte in Rekordzeit das Polizeipräsidium in Alsterdorf. Heike war nur leicht außer Atem, als sie den Besprechungsraum der Sonderkommission Mord betrat. Die meisten ihrer Kollegen waren schon versammelt, was natürlich auch für die Abteilungsleiterin Dr. Laura Brink galt. Außer der Chefin saßen bereits Heikes Dienstpartner Ben Wilken sowie die Kommissare Melanie Russ und Rüdiger Koslowski an dem langen Holztisch. Auch Bernd Engel hatte sich auf einen Stuhl fallen gelassen und gähnte herzhaft.
»Ich weiß, dass es noch früh ist, Herr Engel«, fauchte die Kriminalrätin. »Ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie Ihr Desinteresse etwas weniger deutlich zum Ausdruck bringen könnten.«
Engel presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick Richtung Tischplatte. Heike fand es normalerweise nicht gut, wenn die Chefin ihre Untergebenen anpflaumte. Doch in diesem Fall konnte sie nachvollziehen, wie Frau Dr. Brink sich fühlte. Bei ihr lagen vermutlich die Nerven blank, denn bei einem Fall von dieser Dimension stand sie unter einem enormen Erfolgsdruck. Dass ihr aufgrund des Terrorismusverdachts auch noch der Staatsschutz ins Handwerk pfuschen würde, machte die Sache nicht einfacher.
Melanie Russ hob ihr Kinn.
»Sollen wir beginnen? Ich hatte soeben Kontakt mit dem Kriminaldauerdienst. Die Kollegen waren bereits zwanzig Minuten nach der ersten Streifenwagenbesatzung am Tatort.«
Die Chefin nickte der Kommissarin zu.
»Bringen Sie uns bitte auf den neuesten Stand, Frau Russ. Wir können nicht darauf warten, dass wir vollzählig sind. Die Ermittlungen werden von Frau Stein und Herrn Wilken geleitet, Sie und Herr Koslowski assistieren.«
Heike wusste, dass Melanie ehrgeizig war und davon träumte, eines Tages ihre Position in der Sonderkommission Mord einzunehmen. Bis dahin versuchte die junge Kollegin sich durch Fleißarbeit einen guten Namen zu machen.
Melanie schlug ihr Notizbuch auf und begann: »Um 19.32 Uhr am vorigen Abend traf der Wagen von Boris Michailow vor der Staatsoper ein. Ist der Name allgemein geläufig?«
»Mir nicht«, gab Heike zu.
»Boris Michailow ist einer der reichsten russischen Oligarchen«, warf Koslowski ein. »Er verdient sein Geld mit Schwerindustrie, Kommunikationstechnologie, Rohstoffhandel, das ganze Programm. Seine Weste dürfte nicht gerade weiß sein, aber da er Politiker sowohl in seiner Heimat als auch in Deutschland schmiert, muss er das Gesetz nicht fürchten.«
Die Chefin runzelte die Stirn.
»Sie sollten keine Tatsachenbehauptungen in die Welt setzen, die Sie nicht beweisen können, Herr Koslowski.«
»Wenn ich Beweise gegen Michailow hätte, würde ich schon längst mit einem Betongewicht an den Füßen auf dem Grund der Ostsee liegen«, behauptete der Kommissar, dessen äußere Erscheinung wie üblich sehr schäbig war. Seine Dienstpartnerin Melanie Russ hatte schon mehrere vergebliche Versuche unternommen, ihn zum Anlegen adretter Kleidung zu überreden.
»Wie auch immer, jedenfalls befand sich Michailow in Gesellschaft seines Sohnes Juri und des prominenten Dirigenten Daniel Liebig.«
»Warum fuhr der Musiker mit dem Oligarchen?«, wollte Heike wissen. »Ich hätte vermutet, dass er schon im Opernhaus war, um sich auf die Aufführung vorzubereiten.«
»Normalerweise wäre das auch so«, erwiderte Melanie. »An dem Abend stand das Opernhaus allerdings ganz im Zeichen einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Die Einnahmen sollten einer Stiftung für krebskranke Kinder zugutekommen, wobei sich allein Michailow mit einer Spende in Höhe von zwanzigtausend Euro hervorgetan hat.«
»Ein gutes Gewissen kann man sich also auch erkaufen«, murmelte Koslowski. Doch als Frau Dr. Brink ihn wütend anstarrte, verzichtete er auf weitere Kommentare.
Melanie sagte: »Zahlreiche Pressevertreter warteten auf den Dirigenten sowie die prominenten Besucher und Spender. Da näherte sich aus Richtung Gänsemarkt eine Frau mit einem Kinderwagen. Die Leute hielten sie fälschlicherweise für eine junge Mutter und machten ihr Platz. In dem Kinderwagen befand sich allerdings kein Säugling, sondern eine Bombe. Die Sprengstoffexperten haben ihre Untersuchung natürlich noch nicht abschließen können, dafür ist es zu früh. Nach Einschätzung vom Kriminaldauerdienst handelte es sich um eine Rohrbombe, für deren Konstruktion keine Fachkenntnisse nötig sind. Jeder kann so eine Höllenmaschine nach einer Anleitung aus dem Internet bauen.«
Sehr beruhigend, dachte Heike.
»Bei der Bombenexplosion wurde Michailow Senior getötet, einer seiner Bodyguards sowie zwei Journalisten fielen ebenfalls dem Sprengsatz zum Opfer. Unmittelbar nach der Detonation eröffnete die Attentäterin mit zwei Automatik- oder Halbautomatikwaffen das Feuer, wobei sie laut Augenzeugenberichten vor allem auf die Michailow-Entourage zielte. Die überlebenden Leibwächter schossen zurück, wobei zwei von ihnen verletzt wurden. Als es keinen Widerstand mehr gab, zog sich die Täterin in die Große Theaterstraße zurück. Ob sie ein Fluchtfahrzeug in der Nähe platziert hatte, ist noch unklar. Fest steht, dass die Frau sich momentan noch auf freiem Fuß befindet.«
»Gibt es Hinweise auf ihre Identität?«
Melanie quittierte Heikes Frage mit einem Nicken. Sie betätigte den Projektor.
»Da zahlreiche Fotoreporter vor Ort waren, konnte der Kriminaldauerdienst etliche qualitativ gute Bilder der Verbrecherin sichern. Die Journalisten haben instinktiv ihre Kameras auf die Frau gerichtet, während sie in Deckung gegangen sind.«
Heike musste zugeben, dass die Aufnahmen sich wirklich sehen lassen konnten. Die Fotos erinnerten an Szenen aus einem Actionfilm. Die darauf abgebildete Frau trug eine dunkle Windjacke, einen weinroten Rollkragenpullover, kniehohe Stiefel und einen Rock sowie schwarze Strümpfe. Ihre Hände, mit denen sie die Waffen hielt, steckten in schwarzen Handschuhen. Und sie hatte eine Baskenmütze auf dem Kopf.
»Die Mörderin ist ein Profi«, mutmaßte Ben, der sich mit seiner Meinung ansonsten meist zurückhielt. »Ihre ganze Körpersprache drückt aus, dass sie ihren Job versteht.«
Heike konnte dem dunkelhaarigen Hauptkommissar nicht widersprechen. Das Gesicht der Täterin war ausdruckslos, sie schien voll und ganz in ihre Aufgabe versunken zu sein. Breitbeinig stand sie da, um einen guten Stand zu haben. Auf einem Bild konnte man sogar die Sohlen ihrer Stiefel sehen. Sie verfügten natürlich über Profilsohlen, sodass sie sich mit diesem Schuhwerk schnell aus dem Staub machen konnte. Diese Frau hatte nichts dem Zufall überlassen.
»Immerhin haben wir brauchbare Aufnahmen von ihrem Gesicht«, stellte Heike fest. »Hat der Abgleich mit unseren Datenbanken schon etwas ergeben?«
»Die Kollegen sind dran, aber bislang liegt kein Ergebnis vor«, erwiderte Melanie.
Die Chefin zog ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen zusammen.
»Gibt es bereits ein Bekennerschreiben?«
Melanie schüttelte den Kopf.
»Ob ein terroristischer Hintergrund vorliegt, ist noch nicht klar. Wir sollten in alle Richtungen ermitteln.«
»Was du nicht sagst.«
Mit dieser Bemerkung brach Koslowski sein selbst auferlegtes Schweigegelübde. Heike wunderte sich ohnehin darüber, dass der Kommissar so lange seinen Mund gehalten hatte.
»Können Sie auch etwas Konstruktives beitragen, Herr Koslowski?«, grollte die Kriminalrätin.
»Ja, sicher. Michailow war ein Mann mit vielen Feinden. Sein Besuch in Hamburg wird für einige seiner Widersacher eine große Provokation gewesen sein. Wir sollten checken, wer von seinem Tod profitiert. Und dass diese Bomben-Amazone so professionell auftritt, kann für uns ein Vorteil sein. Sie wird nicht zum ersten Mal einen solchen Job erledigt haben. Womöglich stammt sie ebenfalls aus Russland. Wir sollten die dortigen Kollegen informieren und ihnen die Fotos dieser Furie zukommen lassen.«
»Ich halte diesen Vorschlag für sinnvoll«, sagte Heike. »Wie geht es dem Sohn des Opfers?«
»Juri Michailow wurde verletzt, schwebt aber nicht in Lebensgefahr«, gab Melanie zurück. »Er wurde ins Universitätskrankenhaus Eppendorf eingeliefert, genau wie die übrigen Verletzten. Sie stehen unter Polizeischutz, solange die Täterin auf freiem Fuß ist.«
»Ich möchte so bald wie möglich mit den überlebenden Opfern sprechen«, teilte Heike mit. »Womöglich weiß der Sohn, wer seinem Vater nach dem Leben getrachtet hat. Was geschah eigentlich mit dem Dirigenten?«
»Liebig hat ebenfalls eine Schusswunde erlitten«, erklärte die junge Kommissarin. »Die Vorstellung wurde unter diesen Umständen sowieso abgesagt.«
»Wir sollten einen Zeugenaufruf starten«, meinte Koslowski. »Die Frau mit dem Kinderwagen ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Sie hat sich zu Fuß dem Opernhaus genähert, dabei wird sie nicht unsichtbar geblieben sein. Ließ sie irgendwo ein Auto zurück, in dem sie den Kinderwagen transportierte? Womöglich hat jemand etwas beobachtet.«
»Dann gibt es wieder die üblichen Anrufe von Gestörten, die uns mit ihren bizarren Theorien bombardieren«, stöhnte Heike. »Trotzdem sollten wir es auf einen Versuch ankommen lassen.«
»Ich möchte über jeden neuen Schritt informiert werden«, forderte die Chefin. »Sobald Sie Hinweise finden, die auf einen politischen Zusammenhang hindeuten, müssen Sie die Ergebnisse an den Staatsschutz weiterleiten.«
Der Hauptkommissarin gefiel die Vorstellung nicht, einen halb gelösten Fall abgeben zu müssen. Aber sie selbst war Mordspezialistin und hatte normalerweise nichts mit politisch motivierter Kriminalität zu tun. Da verfügten die Kollegen vom polizeilichen Staatsschutz zweifellos über den besseren Durchblick.
»Aus welchem Anlass hielt sich Michailow überhaupt in Hamburg auf?«, wollte Heike wissen.
»Offiziell diente der Besuch lediglich dem Kunstgenuss, aber daran kann ich nicht wirklich glauben«, erwiderte Frau Dr. Brink. »Er war ein viel beschäftigter Mann, und er wird aus einem guten Grund hierhergekommen sein. Womöglich hat er durch diesen kurzen Städtetrip sein eigenes Todesurteil unterschrieben.«
Es herrschte Schweigen im Dienst-BMW, als Heike und Ben wenig später vom Polizeipräsidium aus Richtung Eppendorf fuhren. Nach einigen Minuten sagte der Hauptkommissar: »Es tut mir leid, dass die Chefin deinen Urlaub abgeblasen hat.«
»So bleibt mir wenigstens ein Sonnenbrand erspart. Man sollte immer das Positive sehen.«
»Pia fragt öfter nach dir, Heike.«
Die Kriminalistin seufzte.
»Das Thema hatten wir doch schon, Ben. Ich mag deine Tochter sehr. Aber ich kann für sie keine Ersatz-Mama sein.«
»Maja wird nicht wiederkommen, das weißt du. Früher oder später wird sie verhaftet oder ...«
Ben beendete den Satz nicht, was auch unnötig war. Er und Heike waren lange genug bei der Polizei. Sie wussten, wie viele Verbrecherkarrieren endeten. Und seit seine Ehefrau kriminell geworden war und sogar Heike zu töten versucht hatte, gab es für ihren Lebensweg nur noch eine Richtung.
Nämlich abwärts.
Heike spürte, dass sie jetzt etwas sagen musste. Und zwar möglichst, ohne Ben zu verletzen.
»Ich will deine Kleine nicht enttäuschen. Vielleicht komme ich mal wieder an einem Samstagabend vorbei, wenn wir diesen Fall gelöst haben. Der dürfte in nächster Zeit unsere ganze Konzentration fordern, schätze ich. Und ich sehe uns drei einfach nicht als eine Familie.«
»Das habe ich auch nicht erwartet«, murmelte Ben. »Solange Maja irgendwo da draußen ist, hängt sie wie ein bedrohlicher Schatten über uns.«
Dieser Einschätzung konnte Heike nicht widersprechen. Es war nur ein schwacher Trost, dass ihre größte Feindin sich vermutlich nicht mehr in Deutschland aufhielt. In Zeiten der Globalisierung hatte das gar nichts zu bedeuten. Sie konnte jederzeit zurückkehren, um ihre teuflischen Pläne in die Tat umzusetzen.
Der Hauptkommissar lenkte den Wagen auf den Besucherparkplatz des Universitätsklinikums Eppendorf. Die Ermittler verschafften sich mit ihren Dienstausweisen Zugang zu der Station, wo Juri Michailow, der Dirigent Daniel Liebig und der Bodyguard Cyril Reeves behandelt wurden. Schwer bewaffnete SEK-Elitepolizisten sicherten das gesamte Stockwerk.
Heike sprach zunächst mit dem behandelnden Arzt. Er war in den Vierzigern, hatte schütteres Haar und müde Augen.
»Alle drei Patienten haben Schussverletzungen erlitten, befinden sich aber außer Lebensgefahr«, erklärte Dr. Paul Lemke. »Außerdem hat die Explosion bei ihnen einen Schock verursacht, dessen Auswirkungen sich jeweils äußerst unterschiedlich zeigen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Herr Michailow ist wegen des Todes seines Vaters aufgewühlt, versucht es aber zu verstecken. Herr Liebig ist so nervös, dass wir ihm ein Beruhigungsmittel verabreichen mussten. Er sorgt sich um sein Gehör, weil er bei der Explosion ein Knalltrauma erlitten hat. Zum Glück haben wir einen renommierten HNO-Spezialisten, der ihn bereits behandelt. Und Herr Reeves ist ein besonders interessanter Fall. Er zeigt überhaupt keine Gefühlsreaktion, wirkt beinahe gelangweilt. Ich führe sein Verhalten auf seinen Beruf zurück. Wahrscheinlich hat er als Leibwächter ähnliche Situation schon oft erlebt.«
»Dürfen wir mit den Männern sprechen?«, wollte Ben wissen.
»Ja, aber bitte jeweils nur kurz. Sie brauchen Ruhe und stehen unter dem Einfluss von Schmerzmitteln.«
Eine Krankenschwester brachte die Ermittler zunächst zu dem Sohn des Oligarchen. Er hatte ein Einzelzimmer, genauso wie die beiden anderen Opfer. Trotz seiner bleichen Gesichtsfarbe fiel Heike sofort seine Attraktivität auf. Juri Michailow war zweifellos ein Mann, hinter dem zahlreiche Frauen her waren. Neben dem Reichtum seines Vaters konnte er auch noch ein anziehendes Äußeres vorweisen.
Die Hauptkommissarin zeigte ihren Dienstausweis, stellte Ben und sich vor. Die Befragung wurde auf Englisch geführt.
»Erlauben Sie uns zunächst, Ihnen unser Beileid auszusprechen, Mr. Michailow.«
Der Mann winkte ab.
»Sparen Sie sich die Floskeln, Miss Stein. Wenn Sie wirklich etwas für mich tun wollen, dann finden Sie diese dreckige Mörderin.«
Sein Adamsapfel hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus. Die Stimme war brüchig. Es kam Heike so vor, als ob Juri Michailow am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Doch er wollte sich vor den Kommissaren offenbar keine Blöße geben.
»Deshalb sind wir hier«, betonte sie. »Kam Ihnen die Frau bekannt vor? Haben Sie eine Ahnung, wer sie sein könnte?«
»Eine Verrückte. Wer würde meinem Vater etwas antun wollen? Er war eine Seele von Mensch, der die Kunst liebte. Deshalb wollte er unbedingt in die Oper. Stattdessen wurde er von einer Bombe zerfetzt.«
Nun schimmerten seine Augen feucht.
Heike versuchte sich diplomatisch auszudrücken. »Ihr Vater hatte gewiss geschäftliche Rivalen, von denen einer zu kriminellen Mitteln
Verlag: Elaria
Cover: Marie Wölk, www.wolkenart.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2019
ISBN: 978-3-96465-147-1
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