Alex Lubik wurde gejagt wie ein tollwütiges Tier.
Der große muskulöse Mann presste seinen Rücken gegen eine Backsteinmauer. Es fühlte sich an, als ob er flüssiges Feuer einatmen würde. Der Geldeintreiber war es nicht gewohnt, um sein Leben zu laufen.
Doch im Moment hatten seine Feinde eindeutig die besseren Karten. Sie hatten Lubik kalt erwischt. Zunächst war er entkommen. Aber wie sollte es jetzt weitergehen?
Der Geldeintreiber hatte seine Jacke eingebüßt, in der Pistole und Smartphone steckten. Das Kleidungsstück musste noch in dem Stripclub herumliegen. Lubik hatte keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war, wo er sich aktuell befand. In Jeans und T-Shirt irrte er durch die Winternacht. Eigentlich kannte er sich in Hamburg gut aus. Doch in dieser Gegend südöstlich der Köhlbrandbrücke sah alles gleich aus. Endlose gut ausgebaute Straßen für den LKW-Verkehr, Güterzüge, Containerplätze für tausende von farbigen Riesenkisten.
Ein Ort zum Sterben?
Lubiks Gehirn funktionierte noch, obwohl die Drogen ihn geschwächt hatten. Es musste Rauschgift gewesen sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Er musste seine Leute alarmieren, damit sie ihn retteten.
Und dann wollte er blutige Rache nehmen. Die Zornesader auf seiner breiten Stirn schwoll an, und die Wut überdeckte seine Todesangst. Das war ein gutes Gefühl.
Wer immer sich mit Hamburgs Inkasso-König angelegt hatte, sollte es bitter bereuen!
Lubik musste Don anrufen, seinen Mann fürs Grobe. Wenn ihm jetzt jemand helfen konnte, dann dieser irre Ex-Söldner. Don hatte seinen Verstand irgendwo in Afrika oder im Nahen Osten verloren, doch gegenüber Lubik war er so treu wie ein Pitbull.
Doch wie sollte der Geldeintreiber seinen blutrünstigen Rettungsengel erreichen?
Telefonzellen waren heutzutage so selten wie Dinosaurier in freier Wildbahn. Abgesehen davon, dass Lubik keinen Cent in der Tasche hatte. Er musste eine Tankstelle erreichen, das war die einzige Chance. Dort würde man ihn gewiss telefonieren lassen, obwohl er nicht dafür bezahlen konnte.
Lubik besaß schließlich immer noch seine beeindruckende Gestalt. Den meisten Menschen rutschte das Herz schon in die Hose, wenn sie dem Zwei-Meter-Mann mit den tätowierten Muskelbergen nur gegenübertreten mussten.
Leider schützte seine enorme Kraft ihn nicht vor einer Kugel. Und diese Bastarde hatten bereits auf ihn geschossen. Es war pures Glück gewesen, dass sie ihn bisher nicht getroffen hatten.
Lubik wusste nicht, wer ihm ans Leder wollte. Als Geldeintreiber konnte er sich über einen Mangel an Todfeinden nicht beklagen.
Er linste vorsichtig um die Ecke. Vor ihm lag die Ausschläger Allee, eine langgezogene Gewerbestraße mit Speditionen, Möbellagern und Büromaterial-Discountern. Doch weit am nördlichen Rand seines Blickfeldes sah Lubik die Neonreklame einer Tankstelle!
Das war sein Ziel, dort musste er hin.
Mittlerweile hatte sich seine Atmung wieder normalisiert. Doch die Drogen, die man ihm eingeflößt hatte, raubten seine Kraft. Es erschien ihm als eine unlösbare Aufgabe, die wenigen hundert Meter bis zu der Tankstelle zurückzulegen.
Lubik biss die Zähne zusammen. Er hasste Schwäche, vor allem bei sich selbst. Er würde diese verfluchte Benzinzapfstation erreichen. Und wenn es das Letzte war, bevor er zur Hölle fuhr.
Der Geldeintreiber rannte los.
Jetzt, um zwei Uhr früh, waren keine Passanten auf den Gehwegen zu sehen. In diesem Gewerbegebiet bewegten sich die meisten Menschen ohnehin mit einem fahrbaren Untersatz fort. Natürlich rollten zahlreiche Sattelzüge über die Ausschläger Allee. Doch vermutlich würdigte keiner der Fahrer Lubik eines Blickes. Sie alle hatten eine strammen Zeitplan im Nacken und zerbrachen sich gewiss nicht ihre Köpfe über einen muskelbepackten Glatzkopf, der um sein Leben rannte.
Lubik warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Mehrere Lastwagen zogen an ihm vorbei. Doch da war auch ein Auto, das ihm mit gedrosseltem Tempo folgte.
Der schwarze Audi TT gehörte seinen Feinden!
Er wusste nicht, ob diese Befürchtung wirklich stimmte. Oder gaukelte sein drogenvernebeltes Gehirn ihm die Gefahr nur vor? Hatten die Bastarde es aufgegeben, Lubik zu verfolgen?
Nein, sie waren immer noch da. Und sie spielten mit ihm wie eine Katze mit einer Maus. Es wäre für den Mann am Audi-Lenkrad ein Leichtes gewesen, aufs Gaspedal zu drücken. Doch er blieb im Schneckentempo auf der rechten Spur, ein Stück weit hinter Lubik.
Die LKWs überholten den Wagen, wobei manche Trucker empört hupten. Doch davon ließen die Kerle in dem Audi sich nicht von ihren finsteren Plänen abhalten. Lubik ging davon aus, dass es mehrere Gegner auf ihn abgesehen hatten.
Und wenn er nun in die Offensive ging? Zurücklaufen, die Beifahrertür aufreißen und einem der Bastarde die Seele aus dem Leib prügeln? Damit rechneten sie garantiert nicht.
Doch gegen die Übermacht würde er keine Chance haben. Lubik hätte sein letztes Hemd darauf verwettet, dass seine Verfolger bewaffnet waren. Mit einem Gegenangriff unterschrieb er sein eigenes Todesurteil.
Aber Lubik wollte leben.
Außerdem war er ein Feigling. Das wurde ihm jetzt mit erschreckender Deutlichkeit bewusst. Er hatte sein Leben lang Menschen terrorisiert, die schwächer waren als er selbst. Erst seine Mitschüler, sogar seine eigene Mutter. Später die Kameraden bei der Armee sowie die unzähligen Frauen, mit denen er im Bett gewesen war. Ganz zu schweigen von den säumigen Schuldnern, die ihn zum Inkasso-König von Hamburg gemacht hatten.
Der Schweiß lief ihm in Strömen über sein flächiges Gesicht. Die salzige Flüssigkeit brannte in seinen Augen. Oder waren es Tränen? Das durfte nicht sein. Er wollte seinen Feinden nicht die Genugtuung verschaffen, ihn heulen zu sehen. Während der Geldeintreiber sich der Tankstelle näherte, schossen ihm diese Gedankenfetzen durch den Kopf.
Soeben fuhr ein blauer Mitsubishi Colt von der Zapfsäule weg. Der Minimarkt mit der Kasse war hell beleuchtet. Lubik bemerkte eine junge Frau in der Uniform dieser Tankstellen-Kette. Sie hockte hinter dem Verkaufstresen und spielte mit ihrem Smartphone. Lubik winkte ihr zu.
„Hilfe!“
Das Wort drang aus seiner Kehle, als ob es ein Fremder ausgestoßen hätte. Lubik kannte seine eigene Stimme nicht mehr. Sie hörte sich fremd an. So, als ob er nur ein Gast in seinem eigenen Körper wäre.
Und dieses kleine Biest bemerkte ihn überhaupt nicht. Jedenfalls hob sie nicht den Blick vom Display ihres verflixten Telefons. Ob sie gerade mit einem Spiel beschäftigt war oder chattete?
Lubik würde es niemals erfahren.
Er hatte schon fast die hinterste Zapfsäule erreicht, als der Audi-Motor hinter ihm aufheulte. Nur Sekunden später erfolgte der Rammstoß.
Seine Kontrahenten hatten sich einen Spaß daraus gemacht, den Geldeintreiber die rettende Tankstelle beinahe erreichen zu lassen. Doch jetzt erwischten sie ihn. Lubiks massiger Körper wurde wie eine Puppe durch die Luft geschleudert. Er schlug hart auf den Asphalt. Der Inkasso-König schmeckte sein eigenes Blut auf der Zunge. Aber er war noch nicht tot.
Lubik konnte sich nicht mehr bewegen. Vermutlich waren mehrere Knochen gebrochen. Das Atmen wurde zur Qual. Er sah, dass der Audi zurücksetzte. Ob die Kerle jetzt verschwanden? Sie mussten doch damit rechnen, dass die Kassiererin die Bullen rufen würde. Zumindest jetzt musste das Luder doch kapiert haben, was hier draußen geschah!
Nein, Lubiks Feinde flohen nicht. Stattdessen wollten sie ihren Job beenden. Das wurde dem Geldeintreiber bewusst, als das Auto erneut auf ihn zuraste.
Der Audi überfuhr Lubik.
Die Tankstellenangestellte telefonierte bereits mit Polizei und Rettungsdienst. Die Einsatzkräfte benötigten nur neun Minuten, um herbeizueilen.
Doch die Sirene des Krankenwagens hörte der Geldeintreiber schon nicht mehr.
Hauptkommissarin Heike Stein erreichte gemeinsam mit ihrem Dienstpartner Ben Wilken um 8.16 Uhr den Tatort.
Sie waren von den Kollegen des Kriminaldauerdienstes alarmiert worden. Bei einem eindeutigen Tötungsdelikt wurde die Sonderkommission Mord des Polizeipräsidiums Hamburg umgehend tätig.
Die Tankstelle an der Ausschläger Allee war von Streifenbeamten mit rot-weißem Trassierband abgesperrt worden. Der Schwerlastverkehr aus dem Hafen rollte an dem Ort des Geschehens vorbei. Die Leiche war noch nicht fortgebracht worden. Allerdings hatte man Stellwände aus Leinenstoff aufgebaut, damit sensationslüsterne Fotoreporter das Nachsehen hatten und der Gerichtsmediziner in Ruhe arbeiten konnte.
Heike und Ben stiegen aus ihrem Dienst-BMW. Ein junger uniformierter Polizeimeister hob für sie das Absperrband an. Die Hauptkommissarin schlug ihren Mantelkragen hoch. Es war ein stürmischer grauer Wintertag, leichter Pulverschnee flog. Die blonde Kriminalistin ging auf den Pathologen zu, der aufblickte und grüßte.
„Moin, Dr. Laurenz. Können Sie uns schon etwas zur Todesursache mitteilen?“
„Moin, Frau Stein und Herr Wilken. Das Opfer wurde erst angefahren und dann überfahren. Es liegen diverse Frakturen und Quetschungen vor. Meine vorläufige Diagnose lautet Herzversagen aufgrund eines Schocks wegen des Angriffs. Offenbar ist ein Auto als Waffe benutzt worden.“
„Dürfen wir einen Blick auf die Leiche werfen?“, bat Heike.
„Selbstverständlich.“
Der Gerichtsmediziner verschob die Abdeckplane so, dass die Kriminalisten das Gesicht und den Oberkörper des Toten anschauen konnten.
„Verflixt, das ist doch Lubik!“, rutschte es Heike heraus. Sie zog ihr Smartphone und machte reflexartig einige Fotos von der Leiche.
Dr. Laurenz schaute sie fragend an.
„Müsste man den Herrn kennen?“
„Ja - vor allem, wenn man bei Kredithaien Schulden gemacht hat. Das trifft auf mich zum Glück nicht zu, doch ich hatte schon öfter beruflich das zweifelhafte Vergnügen mit Lubik. Er war in mehrere Mordfälle verwickelt, man konnte ihm aber niemals etwas nachweisen.“
„Und jetzt hat es ihn selbst erwischt“, stellte Ben fest. Der dunkelhaarige Hauptkommissar deutete auf eine Überwachungskamera, die neben dem Minimarkt-Eingang installiert war. Er ergänzte: „Ich hoffe nicht, dass das eine Attrappe ist.“
„Dazu kann Ihnen die Kassiererin garantiert etwas sagen“, meinte der Pathologe. „Der Notarzt hat ihr eine Beruhigungsspritze geben müssen, weil sie eine Zeugin der Tat gewesen ist.“
Heike konnte sich lebhaft vorstellen, dass die Frau unter Schock stand. Es musste ein alptraumhaftes Erlebnis sein, wenn vor den eigenen Augen ein Mensch überfahren wurde.
Die Ermittler bedankten sich bei dem Gerichtsmediziner und betraten den Tankstellenshop. Dort roch es nach Kaffee. Neben dem Verkaufstresen gab es eine kleine Theke mit drei Barhockern, wo man Heißgetränke, Softdrinks und Snacks verzehren konnte. Auf einer dieser Sitzgelegenheiten hatte eine junge Frau Platz genommen. Sie umklammerte einen Porzellanbecher, als ob sie sich daran festhalten wollte. Ihr schwarzes Haar war hochgesteckt, die großen Augen gerötet. Heike schätzte sie auf Anfang zwanzig.
Die Kriminalisten gingen zu ihr und zeigten ihre Dienstausweise.
„Moin, ich bin Hauptkommissarin Stein von der Sonderkommission Mord. Das ist Hauptkommissar Wilken. Könnten Sie uns ein paar Angaben zur Tat machen?“
Die Kassiererin stellte sich als Laila Özlem vor. Sie sprach mit belegter Stimme.
„Ich habe den anderen Polizisten schon alles erzählt. Aber wenn Sie die Mordspezialisten sind, ... fragen Sie einfach.“
Heike hatte bereits ihr Notizbuch aufgeklappt.
„Wann geschah das Verbrechen?“
„Das muss so kurz nach zwei Uhr morgens gewesen sein. Um die Zeit ist hier nie viel los. Ich hatte seit ungefähr einer halben Stunde keinen Kunden mehr gehabt. Also hab ich mit meinem Freund gechattet, um die Langeweile zu vertreiben. Da sah ich plötzlich diesen Glatzkopf, wie er auf die Tankstelle zulief. Und dann knallte es auch schon. Er wurde angefahren - und das war volle Absicht!“
Laila Özlems Unterlippe begann zu zittern. Sie starrte auf die Kunststoffoberfläche der Kaffeetheke. Heike vermutete, dass sie innerlich noch einmal die Bluttat durchlebte.
Die Kassiererin fuhr mit stockender Stimme fort: „Der Verletzte flog durch die Luft wie so ein Dummy bei einem Crash-Test. Nur, dass es er eben ein Mensch war. Er landete auf dem Boden. Ich war wie gelähmt, konnte mich nicht rühren. Vielleicht würde er noch leben, wenn ich hinausgerannt wäre und ihm geholfen hätte.“
„Die meisten Menschen verfallen bei so einem Anblick in eine Schockstarre, das ist völlig normal“, sagte Heike sanft und berührte Laila Özlems Unterarm. „Wie ging es dann weiter?“
„Der Mann wurde von einem Audi TT angefahren, das konnte ich ganz deutlich sehen. Der Wagen setzte zurück. Ich dachte schon, jetzt steigt der Fahrer aus und hilft dem Opfer. Doch das tat er nicht, ganz im Gegenteil. Der Dreckskerl stieg noch mal auf das Gas und überfuhr den Kahlkopf. Dieses Knirschen und Knacken werde ich niemals vergessen!“
Die junge Frau rang nach Luft. Ihre Augen glänzten feucht. Die Ermittler warteten, bis sie sich wieder einigermaßen gesammelt hatte. Dann fragte Ben: „Wo haben Sie die Aufnahmen der Überwachungskamera?“
Laila Özlem glitt von ihrem Barhocker herunter.
„Folgen Sie mir.“
Sie ging hinter die Bedienungstheke, wo sie mehrere kleine Monitore hatte. Die Kassiererin spulte die Aufnahmen der Kamera über dem Eingang bis kurz nach zwei Uhr morgens zurück.
„Schauen Sie es sich an, ich will das nicht noch einmal sehen. Ich muss jetzt erst mal meinen Chef anrufen, er weiß noch gar nichts von dem Irrsinn hier.“
Die junge Frau trat zur Seite und gab den Platz frei.
Es dauerte nicht lange, bis die Kriminalisten die Szene vor Augen hatten. Obwohl die Bildqualität mäßig war, konnte man die Ereignisse deutlich verfolgen. Sie entsprachen Laila Özlems Schilderung. Die Personen auf den Vordersitzen des Audi TT trugen Skimasken.
„Warum hatten sich die Täter unkenntlich gemacht?“, dachte Ben laut nach. „Wegen der Überwachungskamera? Oder, weil Lubik sie kannte?“
„Die Mörder werden nicht unbedingt geplant haben, ihn direkt vor einer Tankstelle zu überfahren. Lass uns das Detail mit den Masken erst einmal zurückstellen. Wichtiger ist das Autokennzeichen. Es ist nur schlecht zu erkennen, vielleicht kann einer unserer Spezialisten noch etwas herausholen.“
Heike wandte sich nun an die Kassiererin, die inzwischen ihr kurzes Telefonat beendet hatte.
„Können wir eine Kopie von den Kameraaufzeichnungen bekommen?“
„Ja, ich ziehe sie Ihnen auf einen USB-Stick. - Mein Chef ist übrigens stinksauer, weil hier schon wieder etwas passiert ist. Na ja, wenigstens hat diesmal niemand in unsere Kasse gegriffen.“
Darauf erwiderte die Hauptkommissarin nichts. Sie ließ sich den Datenträger aushändigen und überreichte der Kassiererin eine ihrer Visitenkarten.
„Bitte rufen Sie mich an, falls Ihnen noch etwas einfällt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
Der Gerichtsmediziner versprach, das Obduktionsergebnis so bald wie möglich zu liefern. Die Ermittler fuhren zunächst zum Polizeipräsidium, um den USB-Stick den Kollegen von der Kriminaltechnik zu übergeben.
Heike seufzte.
„Es wäre einfacher, wenn wir nach jemandem fahnden müssten, der Lubik nicht gehasst hat. Dieser Geldeintreiber war doch schon lange genug im Geschäft, um sich die halbe Stadt zum Feind zu machen.“
„Du sagst es. Wir müssen herausbekommen, was das Opfer in den letzten Stunden vor seinem Tod getrieben hat. Wieso war Lubik nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet, obwohl momentan Nachtfrost herrscht? Und wo ist sein Auto? Soweit ich weiß, fährt er normalerweise mit so einer bizarren Ami-Militärkarre durch die Gegend.“
Die Hauptkommissarin grinste.
„Du meinst die Zivilversion des Hummer H 1, und dann auch noch silbermetallic lackiert. Lubik stand nicht auf Unauffälligkeit.“
„Das Fahrzeug ist jedenfalls kaum zu übersehen“, bestätigte Ben. „Womöglich weiß Lubiks Ehefrau, wo er sich gestern Abend aufgehalten hat. Allerdings sollten wir uns nicht darauf verlassen, dass sie uns die Wahrheit sagt.“
„Das ist mir schon klar.“
Nach einer kurzen Stippvisite bei den Kriminaltechnikern gingen die Ermittler zu den Räumen der Sonderkommission Mord, wo die Morgenbesprechung noch in vollem Gang war.
Kriminalrätin Dr. Laura Brink hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen und nickte Heike und Ben zu.
„Ich habe schon gehört, dass Sie direkt zum Tatort gefahren sind. Wie lautet Ihre erste Einschätzung?“
Die Hauptkommissarin berichtete von den wenigen Fakten, die ihnen bisher bekannt waren.
„Gut, dann nehmen Sie Kontakt mit der Familie sowie den Untergebenen auf. Alex Lubik hat sein Inkasso-Unternehmen persönlich geleitet, wenn ich mich nicht irre. Sie müssen diesen Fall so schnell wie möglich lösen, haben wir uns verstanden? Es ist ein offenes Geheimnis, dass Lubik über erstklassige Unterweltkontakte verfügte. Falls jemand auf die Idee kommt, seinen Tod rächen zu wollen, haben wir im Handumdrehen einen Krieg im Milieu. Und das können wir momentan gar nicht gebrauchen.“
„Schließlich sind bald Bürgerschaftswahlen“, meinte Kommissar Rüdiger Koslowski. „Und die Wähler sollen nicht glauben, dass in dieser Stadt das Verbrechen regiert.“
Die Chefin warf ihm einen kalten Blick zu.
„So ist es, Herr Koslowski. Und falls Sie nicht demnächst Parksünder aufschreiben wollen, werden Sie und Frau Russ das Team Stein-Wilken nach Kräften unterstützen, falls es nötig ist. Immerhin haben Sie gerade erfolgreich eine Ermittlung abgeschlossen, die zum Glück nicht viel kriminalistischen Spürsinn erforderte.“
Die Vorgesetzte spielte auf einen Fall an, den Melanie Russ und Rüdiger Koslowski erst am Vortag bekommen hatten. Es ging um ein Beziehungsdrama. Ein Mann hatte aus Eifersucht seine Frau erschlagen. Die Nachbarn alarmierten wegen des Lärms die Polizei. Als die Streifenwagenbesatzung eintraf, war der Täter bereits geflohen. Allerdings hatte er sich nach dem Mord mit einer Flasche Wodka volllaufen lassen, war in eine U-Bahn der Linie 1 gestiegen und eingeschlafen. An der Endstation Großhansdorf hatte er einem HVV-Angestellten unter Tränen die Tat gestanden, nachdem er aufgeweckt worden war.
Kein Wunder also, dass die beiden Ermittler die Akte im Handumdrehen schließen und an die Staatsanwaltschaft weiterleiten konnten.
Die Kriminalrätin referierte noch über einige Routineangelegenheiten und beendete die Morgenbesprechung. Die Kommissare erhoben sich, aber Dr. Laura Brink sprach Heike direkt an.
„Kommen Sie bitte noch kurz mit in mein Büro, Frau Stein.“
Heike nickte, wobei sie im Geist die Punkte durchging, wegen derer sie sich einen Anpfiff eingehandelt haben könnte. Momentan fiel ihr nichts ein. Ihre Chefin hatte sie generell auf dem Kieker, in letzter Zeit war ihr Verhältnis zueinander allerdings etwas entspannter. Es herrschte eine Art Waffenstillstand.
„Schließen Sie bitte die Tür, Frau Stein.“
Die Kommissarin tat es. Sie blieb vor dem penibel aufgeräumten Schreibtisch ihrer Vorgesetzten stehen. Ihr fiel ein geöffneter brauner Pappumschlag auf, der dort lag. Dr. Laura Brink schaute ihr direkt in die Augen.
„Heute Morgen ist ein Schreiben für Sie hier eingetroffen.“
Sie deutete auf das
Verlag: Elaria
Cover: Marie-Katharina Wölk, www.wolkenart.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2018
ISBN: 978-3-96465-096-2
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