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Raubhure

 

Dies ist ein Roman. Alle Ereignisse und Personen in „Raubhure“ sind frei erfunden und beruhen nicht auf Tatsachen. Eventuelle Namensähnlichkeiten wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

 

Inhalt:

 

Sex und Geld waren gestern.

Heute zählt das Überleben.

 

Kea verdient auf St. Pauli Geld mit ihrem Körper, als ein lukrativer Auftrag sie an ihre Grenzen bringt - und darüber hinaus. Im Handumdrehen muss sie um ihr Leben kämpfen und diejenigen beschützen, die sie liebt. Ihr sadistischer Gegner scheint ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Er scheut auch vor brutalen Morden nicht zurück, um skrupellos seine Ziele zu verfolgen.

Doch Kea ist nicht nur clever und hübsch, sondern kann auch mit einer Pistole umgehen. Und sie hütet ein großes Geheimnis, das niemals aufgedeckt werden darf. Aber am Ende steht sie allein gegen einen unbarmherzigen Feind.

Wird sie diese St.-Pauli-Nacht überleben?

 

 

 

 

1


Der Jute-Strick wurde immer fester um Keas Hals gezogen.

Das Atmen fiel ihr jetzt schon qualvoll schwer, und sie war gerade erst vor zwanzig Minuten in dem Hotelzimmer des Freiers eingetroffen. Als Edel-Callgirl hatte Kea schon viele brenzlige Situationen erlebt. Das Wichtigste war, die Nerven zu behalten. Und auf ihren Überlebensinstinkt hatte sie sich bisher immer noch verlassen können.

Kea lag auf dem Kingsize-Bett. Ihr Blick war auf die unzähligen Lichter des nächtlichen Hamburg gerichtet, das sich unter ihr ausbreitete. Irgendwo in dieser Stadt befand sich René. Nur wegen ihm hatte sie sich auf diese Würgespiele im zwölften Stockwerk des Nordic Flair Hotels eingelassen.

„Gefällt dir das, du Miststück?“

Diese Worte wurden von dem Freier hervorgestoßen, der sich Manfred Müller nannte. Wahrscheinlich ein erfundener Name, aber das war Kea egal. Erwartete er etwa eine Antwort von ihr?

Sie bekam ja kaum noch Luft. Ihre Lungen fühlten sich an, als ob sie mit flüssigem Feuer gefüllt wären. Es kribbelte in ihren Fingern und Zehen, die Blutzirkulation funktionierte nicht mehr richtig. Kea hatte nicht vor, bewusstlos zu werden. Sie konnte sie lebhaft vorstellen, was dieser Feigling dann mit ihr tun würde.

Frauen wie Kea waren für ihn nur ein Stück Fleisch. Er kaufte eine Ware, um über sie verfügen zu können. Nur war er diesmal an die Falsche geraten. Das konnte er natürlich nicht ahnen.

Manfred Müller kniete neben der auf dem Bett liegenden Kea und ergötzte sich an der jämmerlichen Macht, die ihm der Strick verlieh. Kea war noch mit ihren halterlosen Strümpfen, schwarzen Dessous und Lackpumps bekleidet. Der Freier würde sie vermutlich erst ausziehen, wenn sie bewusstlos war. Wenn überhaupt. Es machte ihn offenbar mehr an, eine Frau zu quälen als sie zu berühren.

Darüber konnte Kea auch später noch philosophieren. Jetzt kam es darauf an, die nächste Minute zu überstehen. Denn mehr Zeit würde ihr kaum bleiben, bis sie die Kontrolle über die Situation verlor.

Kea versuchte verzweifelt, durch die Nase Luft zu holen. Der saure Schweißgestank des Freiers überdeckte bereits den Duft ihres Chanel No. 5. Zum Glück hatte der Kerl sich nicht komplett entkleidet. Der Freier trug noch seine Feinripp-Unterhose.

Kea verfügte über einen sehr gelenkigen Körper. Obwohl sie bereits durch den Sauerstoffmangel geschwächt war, zog sie blitzschnell ihr linkes Bein an den Körper. Und sie bekam ihren Schuh zu fassen.

In Keas Hand wurde er zur gefährlichen Waffe.

Das bekam Manfred Müller im nächsten Moment zu spüren.

Er war so auf seine Sadistennummer konzentriert, dass er Keas Attacke nichts entgegensetzen konnte. Vielleicht hielt er es auch für unfassbar, dass eine Hure sich wehrte.

Der Freier kreischte im hohen Falsett, als der Schuhabsatz seine Schläfe traf.

Nun war er es, der in den schwarzen Abgrund der Bewusstlosigkeit stürzte.

Kea ließ ihren Schuh fallen und packte mit beiden Händen die Schlinge, lockerte den Strick um ihren Hals. Ihre Augen wurden feucht.

Es waren Tränen der Wut.

Sie beförderte Manfred Müller mit einem Stoß vom Bett hinunter. Sein feister Körper rollte auf den Teppichboden. Kea fuhr sich mit beiden Händen über ihr schweißnasses Gesicht und strich ihr schulterlanges Haar nach hinten.

Sie gönnte sich eine kleine Pause, bis ihre Atemzüge wieder gleichmäßig kamen und das Luftholen nicht mehr mit Schmerzen verbunden war. Dann zog sie ihren Hackenschuh wieder an, taumelte auf ihren ohnmächtigen Widersacher zu und trat ihm schwungvoll in die Rippen.

„Wie fühlt sich das an, du Jammerlappen?“

Natürlich erwartete Kea keine Antwort. Sie konnte nicht einschätzen, wie lange der Freier außer Gefecht sein würde. Sie schlüpfte in ihr dunkles Kleid und begann damit, das Hotelzimmer zu durchsuchen. Nubik hatte ihr eingeschärft, wonach sie Ausschau halten sollte. Der Henker mochte wissen, was dieser Psychopath mit René anstellen würde, falls sie nicht lieferte.

Versagen war für Kea keine Option.

Zum Glück benötigte sie keine fünf Minuten, um das Blackberry zu finden. Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung. Aber vielleicht hatte der Freier ja zwei Geräte dieser Art? Kea schaute in seine Reisetasche, seinen Aktenkoffer, sogar in den Hotelsafe. Sie kannte einen Trick, um die Kombinationen dieser standardisierten Tresore im Handumdrehen zu knacken.

Vielleicht hätte ich Hoteldiebin werden sollen, anstatt für solche Idioten die Beine breitzumachen, dachte Kea.

Immerhin war es ihr erspart geblieben, von Manfred Müller bestiegen zu werden. Außerdem hatte sie das Blackberry klauen können. Im Gesamtergebnis also eine erfolgreiche Nacht. Natürlich nahm Kea dem Bewusstlosen auch noch sein Bargeld, seine Kreditkarten und seiner Protzer-Armbanduhr ab.

Erstens wäre es Verschwendung gewesen, so viel Beute einfach zurückzulassen. Und zweitens sollte der Eindruck vermieden werden, dass es ihr nur auf das Blackberry angekommen wäre.

Kea nahm ihren Lippenstift zur Hand und schrieb damit die Worte ICH BIN EIN VERSAGER auf Manfred Müllers Hühnerbrust.

Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Im Lift warf sie einen Blick in den Spiegel. Abgesehen von leichten Abschürfungen an ihrem Hals deutete nichts darauf hin, dass sie noch vor wenigen Minuten verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatte.

Und sie wirkte nicht nuttig, jedenfalls nicht auf Außenstehende. Nachtportiers hingegen schienen einen sechsten Sinn für Frauen ihres Gewerbes zu haben. Aber da Kea sich zu benehmen wusste und unauffällig blieb, hatte sie nie Ärger mit dem Rezeptionspersonal. Nach einigen Jahren im Job kannte sie die meisten Hamburger Portiers zumindest vom Sehen.

Kea verließ das Hotel. Es war inzwischen drei Uhr morgens. Schon kam ein Taxi herangerauscht. Sie wollte einsteigen, als plötzlich ein Kerl neben ihr auftauchte. Er musste ihr aufgelauert haben, jedenfalls erschien er wie aus dem Nichts.

„Setz dich hinten ins Auto“, kommandierte er. Und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er seine Revolvermündung gegen Keas Flanke presste.



2


René wollte gewinnend grinsen, aber es blieb bei dem Versuch. Wahrscheinlich hatte sich sein Gesicht soeben in eine verzweifelt wirkende Grimasse verwandelt. Checken konnte er es nicht, denn in dem fensterlosen Lagerraum gab es keinen Spiegel.

Und er war hier allein mit einem der gefürchtesten Männer St. Paulis.

„Echt, Nubik, auf Kea ist Verlass. Die Kleine ist gut wie Gold und außerdem eine treue Seele. Wenn du sie angeheuert hast, dann ist die Sache so gut wie geritzt“, sagte er mit zitternder Stimme. René konnte deutlich seinen eigenen Angstschweiß riechen. Ansonsten hing in dem zum Gefängnisraum umfunktionierten Lager Whisky- und Biergeruch in der Luft. Nubik hatte hier offenbar Vorräte für seinen Nachtklub gebunkert gehabt, bevor seine Leute eine Luftmatratze und eine Decke sowie einen Eimer für René in das Kellerverließ geschafft hatten.

René war kein Schwächling. Dennoch wäre es für ihn unvorstellbar gewesen, es mit Nubik aufzunehmen. Momentan fühlten sich seine Knie so weich an, dass er sich noch nicht einmal von seiner Luftmatratze erheben konnte. Also blieb er dort sitzen und blickte zu dem Nachtklubbesitzer auf, der sich gegen die Betonwand gelehnt hatte.

„Kea ist spät dran“, stellte Nubik fest. „Es wäre besser für dich, wenn sie vor dem Morgengrauen mit dem Blackberry hier aufkreuzt. Ich habe einen Ruf zu verlieren, René. Diese Tatsache müsste sogar ein Hohlkopf wie du verstehen. Wenn ich dich kidnappen lasse und meine Forderung nicht erfüllt wird, dann wird jeder auf St. Pauli den Respekt vor mir verlieren. Und Respekt ist alles.“

„Kein Grund zur Aufregung.“ René lachte nervös. „Echt, Kea hat es drauf.“

Nubik würdigte seinen Gefangenen keines Blickes. Als er den Mund öffnete, war es, als ob er zu sich selbst spräche.

„Ich weiß, dass ich nicht so dämlich bin wie du. Mein Intelligenzquotient beträgt 128, falls dir das etwas sagt. Und dennoch gibt es Dinge, die ich nie begreifen werde. Kea ist nicht wie diese anderen Nutten, sie ist etwas Besonderes. Kea hat ein Geheimnis, das sagt mir mein Instinkt. Und ich verstehe nicht, was sie an einem Loser wie dir findet.“

René zuckte mit den Schultern. Seine Kiefernmuskeln schmerzten aufgrund seines Dauergrinsens.

„Tja, muss wohl an meinen schönen blauen Augen liegen ...“

Kaum hatte René diese Worte ausgesprochen, als auch schon Nubiks Arm nach vorn schoss. Der Nachtclubbesitzer packte seinen Gefangenen an der Kehle. Mit der anderen Hand holte er sein Springmesser aus der Tasche und ließ es aufschnappen.

„Du kommst dir wohl unglaublich cool vor, du Komiker? Soll ich dir deine schönen blauen Augen rausschneiden und sie Kea per Expresslieferung zukommen lassen? Ich hätte nicht übel Lust, genau das zu tun.“

René erstarrte, fühlte sich innerlich wie gelähmt. Was sollte er nur tun? War er nicht unterwürfig genug gewesen? Hatte er es an Respekt mangeln lassen? Obwohl René schon seit Jahren auf St. Pauli wohnte, gehörten Kiezgrößen wie Claude Nubik nicht zu seinem Bekanntenkreis.

René wusste selbst, dass er für den Nachtclubbesitzer nur eine Made war. Und was für einen Auftrag Kea für Nubik ausführen sollte, hatte er auch nicht mitgekriegt. René wusste nur, dass er sein Augenlicht behalten wollte. Doch momentan gab es niemanden, der ihm beistehen konnte.

Nubik ließ René genauso abrupt los wie er ihn sich gekrallt hatte. Er versenkte die Messerklinge wieder im Griff.

„Vielleicht fehlt es mir einfach an Verständnis für Gefühle, obwohl sie meine Geschäftsgrundlage sind, René. Tatsache ist, dass sich Kea in diesem Moment auf einen perversen Freier einlässt, nur um mir einen Gefallen zu tun. Wer weiß, was dieser Dreckskerl mit ihr anstellt. Und warum macht sie das? Weil ich ihr ein Foto von dir geschickt habe, wie du auf deiner blöden Luftmatratze hockst und flennst.“

René war nicht sicher, ob er früher am Abend wirklich geheult hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch ziemlich stark unter Drogen gestanden. Inzwischen war er dank seiner Todesangst wieder stocknüchtern. Immerhin konnte er sich noch dunkel daran erinnern, dass einer von Nubiks Handlangern mit dem Smartphone ein Bild von ihm gemacht hatte.

René sagte jetzt lieber nichts, die Furcht hatte ihn fest im Griff. Nubik schien ohnehin laut nachzudenken, als er fortfuhr: „Ich kriege ziemlich viel von dem mit, was auf St. Pauli läuft. Wissen ist Macht, diesen Ausspruch wird vielleicht sogar ein Halbaffe wie du schon gehört haben. Du verdankst deinen unfreiwilligen Aufenthalt in meinen Gemächern der Tatsache, dass Kea dich mag. Vielleicht lässt sie dich sogar gratis auf sie drauf rutschen, das will ich gar nicht so genau wissen. Also bist du aus meiner Sicht ein hervorragendes Druckmittel. Ich hätte natürlich auch einfach Theo einschalten können. Aber je weniger Leute von der Sache wissen, desto besser ist es.“

René kannte Keas Zuhälter und verabscheute ihn, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und es stimmte, dass Kea René gelegentlich ranließ, ohne ihr übliches Honorar zu berechnen. Als René von Nubiks Männern verschleppt worden war, hatte er zunächst befürchtet, Theo in die Hände gefallen zu sein.

Doch nun wäre er lieber in der Gewalt des Zuhälters gewesen als dem Unterweltkönig Nubik ausgeliefert zu sein. Er hätte über seinen Sinneswandel lachen können, wenn seine Todesangst nicht so groß gewesen wäre.

René zuckte zusammen, als Nubiks Handy klingelte. Das Geräusch kam ihm in dem engen Lagerraum so laut vor, dass seine Trommelfelle schmerzten. Der Nachtclubbesitzer nahm das Gespräch entgegen. Seine Augenbrauen zogen sich währenddessen stärker zusammen. Nubiks Blick schien René zu durchbohren.

„Okay, dann meldest du dich wieder, wenn es Neuigkeiten gibt.“

Mit diesen Worten beendete Nubik das Telefonat und steckte sein Smartphone wieder ein. Dann wandte er sich an seinen Gefangenen.

„Es sieht jetzt nicht so aus, als ob du diese Nacht überleben würdest.“



3


Kea presste die Lippen aufeinander. Krampfhaft versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen.

Wer waren die Kerle, von denen sie soeben verschleppt wurde? Zu Nubiks Leuten gehörten sie nicht, obwohl man nie ganz sicher sein konnte, wer alles auf der Lohnliste des Nachtklubbesitzers stand.

Und zu Theos Freunden konnte man sie auch nicht zählen. Kea kannte die meisten Zuhälter auf St. Pauli zumindest vom Sehen. Natürlich gab es auch noch in anderen Ecken Hamburgs Prostitution, aber die Reviere waren abgesteckt und wurden von allen Beteiligten penibel respektiert.

Der Taxifahrer machte jedenfalls gemeinsame Sache mit dem Revolvermann. Falls Kea es überhaupt mit einem echten Taxler zu tun hatte. Vermutlich war die Karre geklaut, aber das fand sie jetzt nebensächlich.

„Wohin bringt ihr mich?“

„Dorthin, wo niemand deine Schreie hören kann.“

Diese Antwort auf Keas Frage bewies ihr, dass es ernst war. Aber sie hatte das Kidnapping ohnehin nicht für einen schlechten Scherz gehalten. Aus den Augenwinkeln musterte sie die pockennarbige Visage des Mannes neben ihr. Das Angenehmste an ihm war der Duft eines teuren After Shaves, den er verströmte. Ansonsten hielt sie ihn für einen Widerling. Und das nicht nur, weil er immer noch seinen Revolver auf sie gerichtet hatte.

Keas Kehle fühlte sich staubtrocken an. Der Freier war kein ernstzunehmender Gegner gewesen. Bei diesem Duo lagen die Dinge anders. Die beiden Männer wussten genau, was sie taten. Der Taxifahrer hielt sich genau an die Straßenverkehrsordnung. Auf der Rothenbaumchaussee fuhr eine Zeitlang ein Streifenwagen hinter dem Taxi.

Ob Kea an einer roten Ampel aus dem Wagen springen und um Hilfe rufen sollte?

Sie entschied sich dagegen. Erstens benötigte der Kerl neben ihr nur einen winzigen Moment, um ihr eine Kugel zu verpassen. Und zweitens kamen Kea die Männer wie ausgekochte Profis vor. Sie würden keine Hemmungen haben, auf Polizisten zu schießen.

Es war, als ob der Revolvertyp ihre Gedanken gelesen hätte.

„Braves Mädchen“, sagte er grinsend, als die Ampel auf Grün umsprang und das Taxi wieder anfuhr. Er tätschelte ihr Knie.

„Wer schickt euch?“, brachte Kea hervor.

„Das willst du nicht wissen“, lautete die Antwort.

Kea versuchte, ihre Chancen einzuschätzen. Wenn sie nichts unternahm, würde sie diese Nacht nicht überleben. Für sie war es sonnenklar, dass es den Männern ebenfalls um das Blackberry ging. Aber nicht nur darum.

Die Dreckskerle hätten ihr schon längst ihre Handtasche abnehmen können, in der sich das Smartphone befand. Dafür wäre es noch nicht einmal nötig gewesen, sie in dem Taxi zu verschleppen. Doch das reichte ihnen nicht.

Das Duo würde vermutlich über Kea herfallen und sie anschließend als lästige Augenzeugin umbringen.

Kea wusste, dass sie mit dieser Vermutung richtig lag. Nun musste sie nur noch den Spieß umdrehen. Sie wandte sich dem Revolvertyp zu und quälte sich ein Lächeln ab.

„Hör mal, ich mag es auf die harte Tour. Du musst nicht ständig deine Bleispritze auf mich gerichtet halten.“

Der Widerling stieß ein heiseres Lachen aus.

„Ach, ist das so? Du wirst noch um Gnade winseln, bevor wir mit dir fertig sind“, antwortete er. Und drückte weiterhin seine Revolvermündung gegen Keas Leib.

Maulhelden gibt es im Dutzend billiger, dachte sie.

Der Taxifahrer lenkte seine Mietkutsche Richtung Nordwesten. Von diesem Mann hatte Kea bisher nur den Hinterkopf sowie die mit Schuppen bedeckten Schultern zu sehen bekommen. Außerdem erblickte sie dann und wann seine Mörderaugen im Rückspiegel. Instinktiv spürte sie, dass er gefährlicher war als der Revolverschwinger, mit dem sie Körperkontakt hatte. Die Schweigsamen erwiesen sich meist als die wirklich üblen Gegner. Sie verschwendeten keine Energie mit sinnlosem Gefasel, sondern hoben sich ihre Kraft für die absolute Vernichtung auf. Solche Männer musste man wirklich fürchten.

Der Taxifunk war abgeschaltet.

Als der Mercedes-Benz die Stadtgrenze erreichte, verlor Kea endgültig die Orientierung. Sie kannte sich in Hamburg gut aus, als Callgirl hatte sie praktisch alle Stadtteile der Metropole schon aufgesucht.

Natürlich, das Duo würde sich Kea irgendwo in der ländlichen Einsamkeit vorknöpfen. Da das Licht im Auto ausgeschaltet war und die Finsternis draußen nicht mehr durch Straßenlaternen erhellt wurde, schien das Taxi mitten in einen finsteren Schlund zu fahren. Nur dann und wann kam ihnen ein anderes Fahrzeug entgegen, dessen Scheinwerfer für Momente das Wageninnere erhellten. Ansonsten bestand die einzige Beleuchtung aus den Leuchten am Armaturenbrett.

Und dann blieb das Taxi plötzlich stehen.

Der Fahrer stellte den Motor aus. Nun war das Zirpen von Grillen als das einzige Geräusch zu hören. Es war, als ob die Natur Kea verhöhnen wollte. Sie selbst vernahm ansonsten nur noch den rasend schnellen Rhythmus von Hammerschlägen. Aber sie erkannte, dass dies ihre eigenen Herztöne waren.

„Jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil.“

Mit diesen Worten rückte der Revolvermann etwas von Kea ab, während er gleichzeitig seine Hand ausstreckte.

„Du gibst mir jetzt das Blackberry!“

Kea öffnete ihre Handtasche und überreichte dem Kerl ohne Zögern ihre Beute.

„So, und jetzt zieh dich aus!“

„Sorry, aber ich bin schüchtern“, erwiderte Kea. Dann zog sie ihre Glock hervor und verpasste dem Ekel ein Stück heißes Blei.

Das Schussgeräusch im Taxi war ohrenbetäubend. Kea konnte nicht genau sehen, wo sie ihren Widersacher getroffen hatte. Auf jeden Fall lebte er noch, denn er schrie wie am Spieß. Kea feuerte noch einmal in seine Richtung. Angesichts der geringen Distanz war es fast unmöglich, ihn zu verfehlen. Sie hoffte nur, dass sie nicht versehentlich das Blackberry getroffen hatte. Stillschweigend war sie davon ausgegangen, dass sie Nubik das Smartphone unbeschädigt übergeben musste, damit René kein Haar gekrümmt wurde.

Ihre beiden Gegner hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass eine Hure außer Kondomen und Papiertaschentüchern auch noch eine Pistole in ihrer Handtasche hatte.


Der Revolvermann schoss nun zurück. Die Kugel sirrte knapp an Kea vorbei und zerstörte das Seitenfenster hinter ihr. Keas Ohren klingelten. Sie schwenkte ihre Pistolenmündung in Richtung des Taxifahrers. Aber der reagierte mit beachtlicher Kaltblütigkeit. Ob er keine Schusswaffe hatte? Auf jeden Fall drehte er sich um. Und bevor Kea noch einmal abdrücken konnte, sprühte er ihr eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht.

Kea fühlte sich, als ob ihre Augäpfel in Fritierfett geworfen würden.

Sie bekam keine Luft mehr.

Und das fühlte sich diesmal noch gemeiner als bei den Würgespielen im Hotel. Wütend schoss sie in die Richtung, wo sie den Taxler vermutete. Gleichzeitig tastete sie mit der anderen Hand nach dem Türgriff hinter ihr. Eigentlich hatte sie sich das Blackberry zurückholen wollen, aber das konnte sie nun vergessen. Wie sollte das funktionieren, wenn sie nichts mehr sah und keine Luft kriegte?

Kea fiel aus dem Auto, landete mit dem Gesicht im Dreck. Sie schmeckte feuchte Erde auf ihrer Zunge.

Der Motor wurde gestartet. Gleich darauf entfernte sich das Geräusch ziemlich schnell. Bei der Schießerei war den beiden Widerlingen offenbar die Lust auf eine Vergewaltigung vergangen. Immerhin hatten sie es geschafft, das Blackberry in ihre Finger zu kriegen.


Kea blieb auf dem Bauch liegen und wartete, bis sich ihre Atemzüge beruhigt hatten und der Schmerz in ihren Augen allmählich nachließ. Sie musste sehr oft blinzeln, aber nach einer Weile konnte sie wieder einigermaßen sehen.

Sie lag neben einem Feldweg. Irgendwo weit entfernt erblickte Kea die Lichter eines Dorfes. Sie checkte den Inhalt ihrer Tasche und stellte beruhigt fest, dass sie ihre Glock und ihr Handy nicht verloren hatte.

Alles andere war nebensächlich.

Kea musste jetzt dringend etwas unternehmen, sonst hatte sie René auf dem Gewissen.

Also rief sie Nubik an.



4


„Kea hat versagt.“

Diese Worte warf Nubik René an den Kopf. Die Todesangst in den Augen seines Gefangenen verbesserte seine Laune nur ein wenig. Wen kümmerte es, ob eine Wanze wie René Kemper lebte oder starb? Nubik verschwendete daran keinen weiteren Gedanken. Ihn beschäftigte jetzt nur die Frage, wie er an das Blackberry kommen sollte. Solange das Gerät sich im Besitz des Freiers befand, hatte Nubik wenigstens noch gewusst, wo er es zu suchen hatte. Und nun war das Blackberry mitsamt der Nutte verschwunden.

Kea war Nubik egal.

Wahrscheinlich hatten diese Bastarde ihr längst die Kehle durchgeschnitten.

„Weißt du, wer mich gerade angerufen hat?“, fragte Nubik René. Der Versager schüttelte den Kopf.

„Nein, das weißt du natürlich nicht, du weißt ja sowieso kaum etwas“, fuhr Nubik fort. „Das war Ed, einer meiner Männer. Er sollte Kea im Auge behalten, ihm hätte sie das Blackberry übergeben sollen.“

„Und sie hat es nicht getan?“, fragte René dümmlich. Nubik verpasste ihm eine Ohrfeige.

„Natürlich nicht, du Flachzange! Ich hätte eindeutig bessere Laune, wenn das Blackberry schon auf dem Weg hierher wäre. Aber Kea ist von zwei Typen gekidnappt worden, bevor Ed dazwischengehen konnte.“

Nubik fragte sich, ob er selbst einen Fehler gemacht hatte. Ed war allein. Wenn Nubik zwei Männer zu dem Hotel geschickt hätte, dann wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Andererseits wollte Nubik Aufsehen um jeden Preis vermeiden. Das war schlecht fürs Geschäft.

„Ed hat das Taxi verfolgt, in dem deine Nuttenfreundin verschleppt wurde“, sagte der Nachtklubbesitzer. „Irgendwann gelang es den Typen, Ed abzuschütteln. Er ist noch eine halbe Stunde durch die Gegend gekurvt, um sie wiederzufinden. Allerdings ohne Ergebnis. Erst dann hat er sich getraut, bei mir anzurufen. Er weiß, dass ich Versager hasse.“

Renés Unterlippe zitterte, seine Augen waren feucht. Ob er sich schon auf sein unausweichliches Ende vorbereitete? Zum Glück hielt er momentan die Klappe. Nubik konnte auf die wenig geistreichen Bemerkungen seines Gefangenen getrost verzichten.

Da klingelte sein Smartphone erneut.

Nubik glaubte schon, dass es Ed mit einer weiteren Hiobsbotschaft wäre. Stattdessen hörte er Keas helle Stimme.

„Hallo, Nubik.“

„Du wagst es, hier anzurufen? Wo ist mein Blackberry?“

„Momentan habe ich es nicht, aber ...“

„Momentan? Was soll das heißen? Ich weiß, dass du in einem Taxi gekidnappt wurdest. Willst du behaupten, du hättest das Gerät dem Fahrer geliehen und er würde es dir gleich wiedergeben?“

„Ich habe es mir abnehmen lassen, aber ...“

„Das ist schlecht, vor allem für deinen Busenfreund René. Ich werde mir eine möglichst qualvolle Todesart für ihn ausdenken.“

„Das lässt du schön bleiben!“, rief Kea mit gellender Stimme.

Nubik war verblüfft. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass eine Hure es jemals gewagt hatte, ihn anzuschreien. Das machte ihn für einen Moment sprachlos, und Kea redete weiter: „Renés Tod nützt dir überhaupt nichts. Du willst das Blackberry, und du sollst es bekommen. Ich kümmere mich persönlich darum.“

„Und wie willst du das anstellen?“, höhnte Nubik. „Du kannst doch nur die Beine breitmachen, damit verdienst du schließlich dein Geld.“

„Glaubst du das wirklich? Und wie habe ich es deiner Meinung nach geschafft, dem Taxifahrer und seinem Freund zu entkommen?“

Darauf fiel Nubik keine Antwort ein. Er begriff, dass er Kea unterschätzt hatte. Oder machte sie gemeinsame Sache mit ihren Kidnappern? Aber wenn das so war, wieso sollte sie ihm dann versprechen, das Blackberry zurückzuholen?

Um Zeit zu gewinnen.

Das hätte zumindest Nubik an ihrer Stelle getan.

„Du willst mich doch verladen, du Miststück“, knurrte er. „Glaubst du vielleicht, du kannst mir ein anderes Blackberry unterschieben? Ich will genau das Gerät, das du dem Schwabbel geklaut hast. Und glaube bloß nicht, dass ich es nicht erkennen würde.“

„Ich will dich nicht verschaukeln, ich brauche nur etwas Zeit.“

„Wieviel?“

„Keine Ahnung, ich rufe dich wieder an. Und bis dahin lässt du René in Ruhe.“

„Glaubst du, ich lasse mir von einer Nutte Vorschriften machen?“

„Ja, das glaube ich. Du würdest alles tun, um dieses Gerät in die Finger zu bekommen. Sonst hätte du nicht schon so lange mit mir telefoniert.“

„Fahr zur Hölle!“

„Tschüs, Nubik. Und schöne Grüße an René.“

Das Gespräch war beendet.

René blickte unterwürfig zu dem Nachtklubbesitzer auf.

„Ich soll dich von deiner Freundin Kea grüßen.“

Mit diesen Worten schlug Nubik seinen Gefangenen mit dem Handrücken ins Gesicht. René jaulte, Blut floss aus seiner Nase. Trotzdem begann er im nächsten Augenblick zu reden.

„Bitte töte mich nicht, Nubik. Ich verrate dir auch Keas Geheimnis, das kann dir bestimmt nützlich sein.“

Nubik schnaubte ironisch.

„Was für ein Geheimnis meinst du? Dass Kea eine Drogenfresserin ist? Diese Tatsache dürfte halb St. Pauli bekannt sein.“

René schüttelte den Kopf.

„Das war früher. Kea ist clean, und das schon seit einem halben Jahr.“

Nubik zuckte mit den Schultern.

„Na und? Schön für sie.“

„Wenn ich dir sage, was ich über Kea weiß, lässt du mich dann am Leben?“

„Spuck es aus, dann sehen wir weiter“, sagte Nubik. René sprach nun zögernd und stockend. Der Nachtklubbesitzer spürte, dass sein Gefangener die Wahrheit sagte.

Vielleicht konnte dieser Trottel René ihm doch noch nützlich sein.




5


Kea hätte jetzt gut eine Line Koks vertragen können.

Aber hier mitten in in der Natur gab es das weiße Pulver nicht, und außerdem war sie sehr stolz auf die Klarheit in ihrem Kopf. Das wollte sie nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen, obwohl die Verlockung ständig vorhanden war.

Ihre Augen brannten immer noch ein wenig, aber der Schmerz war auf Keas persönlicher Skala von unerträglich auf leicht unangenehm abgerutscht. Mit leicht unangenehm konnte sie leben. Vieles in ihrem Alltag war leicht ungenehm: Die ekligen Freier, das versiffte St. Pauli, die öden Tage und die Schlafmangel-Nächte. Daran hatte sie sich gewöhnt.

Kea stand neben dem Feldweg und dachte über das Telefonat mit Nubik nach.

Er war ein Mistkerl, aber im Gegensatz zu einigen anderen Unterweltgrößen war er intelligent. Ihm konnte sie so leicht nichts vormachen, und unterschätzen durfte sie ihn auf gar keinen Fall.

Kea seufzte. Dann rief sie einen Mann an, der die Weisheit garantiert nicht mit Löffeln gefressen hatte: Ihren Zuhälter.

Sie musste es dreimal klingeln lassen, bevor er sich meldete.

„Ja?“

„Warum klingst du so schlecht gelaunt, Theo? Verlierst du schon wieder beim Pokern?“

„Was willst du, Kea?“

„Also verlierst du, alles klar. Du musst mich sofort abholen. Wozu habe ich einen Beschützer, wenn er im entscheidenden Moment nicht für mich da ist?“

„Du machst doch sowieso nur das, was dir gefällt.“

„Richtig, aber diesmal ist es wirklich ernst. Also, schwing deinen Hintern ins Auto und sammle mich ein.“

„Hat dich ein Freier rausgeschmissen? Der Kanaille breche ich jeden Knochen einzeln. Wo bist du denn?“

„Woher soll ich das wissen? Ehrlich, ich habe keinen Plan. Aber du hast doch mal so ein Ortungs-Dingsbums in meinem Handy installiert, oder? Damit wirst du mich wohl finden können. Und bring mir Klamotten zum Wechseln mit, ich bin total dreckig.“

„Dreckig auch noch?“, regte Theo sich auf. „Der Freier kann sein Testament machen.“

„Es war kein Freier, aber das erzähle ich dir später. Und nun beeile dich, mir ist kalt.“

Mit diesen Worten beendete Kea das Telefonat.

Sie war das einzige Pferdchen in Theos Stall, das so mit ihm reden durfte. Der Zuhälter war ganz gewiss kein Chorknabe, und die anderen Frauen hätten sich für solche Unverschämtheiten schon längst einen Satz heiße Ohren eingefangen. Aber Theo war wie Wachs in Keas Händen.

Sie konnte sich vorstellen, dass er sie auf eine verquere und merkwürdige Art sogar liebte. Normalerweise lief es auf dem Kiez umgekehrt. Die meisten Frauen gerieten ins Prostitutionsgeschäft, indem sie sich in ihren Luden verknallten und dann buchstäblich alles für ihn taten.

Bei Kea und Theo war das anders.

Es machte ihr nichts aus, mit ihm zu schlafen, aber es war für sie auch keine grandiose Offenbarung. Kea hatte das Gefühl, dass er viel mehr für sie empfand als sie für ihn. Sie musste grinsen, als sie sich den bulligen glatzköpfigen Theo als einen Romeo vorstellte, der unter dem Balkon seiner Julia Kea ein paar Liebeslieder zum besten gab. Theo sang höchstens, wenn er besoffen war. Und dann auch nur Stücke von Meat Loaf oder Metallica.


Kea zündetes sich eine Zigarette an. Wenn sie schon auf Kokain verzichtete, dann wollte sie wenigstens eine Fluppe durchziehen. Theo war schwer in Ordnung, wenn sie es sich richtig überlegte. Es gab auf dem Kiez Zuhälter, die ihre Mädchen richtig übel zurichteten. Theo hingegen hatte noch niemals seine Hand gegen Kea erhoben. Das war mehr, als so mancher nach außen hin treusorgende Ehemann von sich behaupten konnte.

Sie verzog das Gesicht, als sie an diese Typen dachte.

Das waren dann die selbsternannten Frauenhelden, die bei einer Hure Dampf ablassen wollten. Wenn solche Kerle auf eine schüchterne achtzehnjährige Bulgarin trafen, dann konnte das sogar funktionieren.

Aber nicht bei Kea, die sich nichts gefallen ließ.

Manchmal hatte sie sich selbst schon gefragt, ob sie nicht lieber etwas devoter sein sollte. Wäre das nicht besser fürs Geschäft?

Wohl kaum, denn Kea machte mehr Umsatz als Theos andere Ladys. Irgend etwas an ihrer Art musste den Männern also zusagen.

Kea sog an ihrer Zigarette und schaute nachdenklich auf die Glut, die wie ein Glühwürmchen die Dunkelheit um sie herum durchbrach. Es gab weit und breit keine weitere Lichtquelle. Einen Steinwurf weit entfernt verlief eine Landstraße, auf der dann und wann ein Auto vorbeifuhr.

Kea fragte sich, wann Theo sie endlich abholen würde. Ihre Füße waren kalt und ihre Augen brannten immer noch ein wenig. Ganz zu schweigen von ihrer Sorge um René. Kea hoffte wirklich, dass sich Nubik einstweilen zurückhalten würde. Aber sicher sein konnte sie natürlich nicht. Er war ein Typ, der seine eigenen Regeln machte.

Nach einer gefühlten halben Ewigkeit vernahm Kea das satte Motorengeräusch von Theos SUV, der den Feldweg hoch gerumpelt kam. Kea hielt sich die Hand vor die Augen, als sie in das Scheinwerferlicht des schweren Wagens geriet. Dann trat sie zur Seite, öffnete die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz neben Theo fallen.

„Endlich! Ich dachte schon, dass mir gleich die Füße abfallen würden.“

Danke gehört wohl nicht zu deinem Wortschatz?“

„Danke dafür, dass ich am Leben bleiben und dir weiterhin einen Haufen Kohle einbringen darf.“

Theo verzog sein feistes Gesicht zu einem Grinsen.

„Nun sag schon, was geschehen ist, Kea.“

Sie erzählte ihrem Zuhälter von dem Hotelauftrag und davon, dass Nubik sie auf den Freier angesetzt hatte. Theo pfiff durch die Zähne.

„Als Nubik zu mir kam, um dich zu buchen, sprach er nur von einem leichten Job für dich. Und weil die Kohle gestimmt hat, habe ich nicht nachgebohrt.“

„Zumindest theoretisch war die Aufgabe wirklich leicht. Ich musste den Kerl noch nicht mal ranlassen. Aber den Job konnte ich trotzdem nicht erledigen, weil diese elenden Maden mir das Blackberry wieder abgenommen haben.“

Kea schaltete das Licht im Auto ein.

„Wo sind denn meine Klamotten zum Wechseln? Oder hast du sie vergessen?“

„Nee, die liegen in einer Tüte auf dem Rücksitz.“

Kea griff hinter sich und schaute in die Tragetasche.

„Ein Abendkleid? Echt jetzt?“

Theo zuckte mit den Schultern.

„Ich habe das Nächstbeste eingepackt. - Deine Augen sehen ja echt übel aus. So rot wie bei einem Albino.“

„Das kann ich mir vorstellen. Aber diesem Revolvertypen konnte ich ein Loch in seinen Wanst pusten. Der wird es sich das nächste Mal überlegen, ob er einfach eine Frau verschleppt.“

Mit diesen Worten schälte Kea sich aus ihrem schmutzigen und teilweise eingerissenen Fummel und schlüpfte in das Abendkleid. Ihre Strümpfe wiesen Laufmaschen auf, aber das war zu verschmerzen. Kea schaute in ihren Schminkspiegel und brachte notdürftig ihr Make-up in Ordnung.

„Du hast nicht zufällig etwas dabei, Theo?“

Der Zuhälter schaute sie von der Seite an.

„Hattest du dir nicht geschworen, die Finger von den Drogen lassen zu wollen?“

„Ja, stimmt schon. Vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe, okay?“

Theo grinste. Dann griff er in die Innentasche seiner Lederjacke. Kea befürchtete (oder hoffte?), dass er ein Kokain-Briefchen hervorziehen würde.

Stattdessen drückte er ihr eine Schachtel Munition in die Hand.

„Hier, du solltest deine Glock nachladen. Es gibt nicht Blöderes, als mit einer leer geschossenen Waffe herumzurennen.“

Kea gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Theo war kein Geistesakrobat, aber manchmal dachte er eben doch mit.

„Wie geht es jetzt weiter?“, wollte Theo wissen, während Kea die verschossenen Patronen ersetzte.

„Ich muss das Blackberry zurückholen, sonst macht Nubik René einen Kopf kürzer.“

„Wäre nicht schade um den Penner.“

Für diese Bemerkung bekam Theo von Kea eine Kopfnuss verpasst.

„Ich weiß, dass du kein Mitglied im René-Fanclub bist. Aber trotzdem sollte es dir nicht egal sein, dass das Blackberry futsch ist.“

„Wieso?“

„Weil Nubik dich fürstlich bezahlt hat, damit ich das Teil klaue! Willst du wirklich bei ihm in Ungnade fallen?“

Theo öffnete und schloss seine mächtigen Pranken, die auf dem Lenkrad ruhten.

„Stimmt schon, Nubik könnte unsere Existenz mit einem Fingerschnipsen beenden. - Und du hast echt keine Ahnung, wer diese beiden Typen sein könnten?“

„Nein, aber das macht nichts. Wir wissen, dass sie in einem Taxi unterwegs waren. Außerdem habe ich mindestens einen von ihnen angeschossen. Mit so einer Wunde kann er nicht in einem Krankenhaus aufkreuzen, weil solche Verletzungen gleich den Bullen gemeldet werden. Also wird er zu einem der Quacksalber gehen, die auf St. Pauli Leute zusammenflicken und keine Fragen stellen.“

„Und das Taxi? Meinst du, sie haben es geklaut?“, fragte Theo.

„Vielleicht, glaube ich aber nicht. Die Wagen haben doch heutzutage alle GPS. Das wäre zu riskant. Der Typ wird ein echter Taxifahrer sein.“

„Dann könnte Lars ihn vielleicht finden.“

„Dieser Hackerfreak? Ja, das ist möglich. Lars könnte irgendwie in die Datenbank der Taxizentrale eindringen. Fragt sich nur, ob er uns diesen Gefallen tut. Ich könnte ja meine weiblichen Reize einsetzen.“

Kea schlug die Beine übereinander.

„Oder ich verpasse ihm eine gewaltige Abreibung“, schlug Theo vor. Dann schaltete er das Licht aus und lenkte seinen SUV wieder Richtung Hamburg.

Und er steuerte auf St. Pauli zu.



6


„Wie geht es dir, Joe?“

Pete stellte diese Frage, während er das Taxi so schnell wie möglich vorwärts knüppelte. Zwischendurch warf er immer wieder einen Blick in den Rückspiegel. Aber viel war im Inneren des Wagens nicht zu erkennen. Pete wusste nur, dass sein Bruder auf dem Rücksitz lag und vor sich hin blutete.

„Das wolltest du das letzte Mal vor drei Minuten wissen“, stieß Joe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich fühle mich blendend. Stelle mir gerade vor, was wir mit dem Miststück machen, wenn wir es wieder in die Finger bekommen.“

„Die Kleine wird noch um ihren Tod betteln, das schwöre ich dir“, sagte Pete.

„Wir müssen dringend das Blackberry loswerden.“

Der Taxifahrer schüttelte den Kopf.

„Das hat Zeit. Erst bringe ich dich zu Dr. Skull. Ich werde jedenfalls nicht dieses dämliche Smartphone übergeben, während mein kleiner Bruder verblutet.“

Joe rang röchelnd nach Atem. Dieses Geräusch schnitt wie eine Rasierklinge in Petes Seele. Sein Bruder durfte einfach nicht sterben!

„Ich frage mich, was an diesem Blackberry so wertvoll sein soll. Vielleicht ... könnten wir es besser behalten“, sagte Joe. Seine Stimme war so leise, dass Pete ihn kaum verstehen konnte. Ob es bereits mit ihm zu Ende ging?

„Also übergeben wir es gar nicht an die Typen, die uns beauftragt haben?“, vergewisserte sich der Taxifahrer.

„Ja, das habe ich mir gerade vorgestellt. Okay, die 10.000 Euro Honorar sind nicht übel. Aber vielleicht ist das nur ein Trinkgeld im Vergleich zum echten Wert dieses Blackberrys.“

„Den kennen wir aber nicht“, gab Pete zu bedenken. Er wollte sich eigentlich nicht mit seinem schwerverletzten Bruder streiten. Andererseits war es in seinen Augen ein gutes Zeichen, dass Joe überhaupt noch redete. Daher versuchte er, das Gespräch in Gang zu halten. Sein Bruder durfte nicht das Bewusstsein verlieren. Instinktiv spürte Pete, dass es dann mit ihm zu Ende gehen würde.

„Okay, aber das muss doch rauszukriegen sein. Vielleicht ist das Gerät eine Million oder mehr wert, wer weiß? Dann können wir uns in die Karibik absetzen und dieses elende St. Pauli für immer hinter uns lassen.“

„Ja, das wäre schön“, murmelte Pete. Mit 10.000 Euro kam man in dem Hamburger Amüsierviertel nicht weit - vor allem dann nicht, wenn man Spielschulden hatte. Pete stellte sich vor, in die Sonne zu jetten und niemals zurückkehren zu müssen. Diese Vision überlagerte kurzzeitig die Sorge um das Leben seines Bruders.

Doch dann begann Joe zu fluchen.

„Ich halte es kaum noch aus ... hätte nie gedacht, dass ich so eine Memme bin.“

Pete hatte einen dicken Kloß in der Kehle, als er diese Worte vernahm. Joes Stimme hörte sich so schwach an.

„Wir sind bald da, Bruderherz. Und du bist kein Jammerlappen, sondern ein harter Knochen. Wir machen sie alle fertig, okay?“

Joe antwortete nicht mehr. Pete wäre am liebsten an den Straßenrand gefahren, aber er konnte allein nichts für seinen Bruder tun. Nachdem sie die Hure losgeworden waren, hatte Pete ein paar Kilometer weiter angehalten und die Wunden des Verletzten notdürftig versorgt. Aber nun war alles Verbandsmaterial aus dem Erste-Hilfe-Kasten aufgebraucht.

Der Taxifahrer hatte Dr. Skull in seinem Smartphone auf Kurzwahl. Er setzte die Freisprecheinrichtung in Gang.

Petes Herz raste, während das Freizeichen ertönte. Endlich meldete sich der Quacksalber mit seiner tiefen Reibeisenstimme.

„Ja, was gibt es denn?“

„Hier ist Pete. Du musst dich gleich um meinen Bruder kümmern, es hat ihn erwischt.“

„Was fehlt Joe?“

„Nicht am Telefon. Wir sind in ungefähr zehn Minuten bei dir.“

„Okay, ich mache alles bereit.“

Dr. Skull beendete die Verbindung. Pete schöpfte neue Hoffnung. Das Blut jagte heiß durch seine Adern, er spürte das Pochen in seinen Schläfen. Immer wieder musste er sich zurückhalten, als das Taxi endlich auf Hamburger Stadtgebiet rollte. Am liebsten hätte er das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgetreten, aber davor scheute er zurück. Das Letzte, was Pete jetzt gebrauchen konnte, war eine Geschwindigkeitskontrolle durch die Polizei. Die Cops würden sich gewiss brennend für einen blutüberströmten Mann auf der Taxi-Rückbank interessieren, der außerdem auch noch einen nicht registrierten Revolver in der Hand hielt.


Pete wollte auf keinen Fall in den Knast, um nichts in der Welt. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder war es ihm bisher stets gelungen, bei seinen krummen Dingern nicht erwischt zu werden. Und dabei sollte es auch bleiben.

An jeder roten Ampel schien die Zeit so zäh wie Ahornsirup zu vergehen. Pete bildete sich ein, dass in jeder Seitenstraße ein Streifenwagen auf ihn lauerte.

„Ich drehe gleich ab“, sagte er laut zu sich selbst. Von Joe kam kein Laut mehr. Pete wurde es plötzlich eiskalt, obwohl es im Taxi warm und stickig war. Die Klimaanlage funktionierte wieder einmal nicht.

Nach einer gefühlten halben Ewigkeit bog der Mercedes-Benz endlich in die Silbersackstraße ein. Dr. Skull wartete bereits in seiner Toreinfahrt. Er betrieb eigentlich ein Tattoo-Studio, in dessen Schaufenster Fotos seiner besten Arbeiten ausgestellt waren.

Reeperbahn-Nachtschwärmer torkelten grölend und singend an dem Laden vorbei. Pete hätte ihnen allen den Hals umdrehen können. Sie amüsierten sich hier, während sein Bruder im Sterben lag! Andererseits war es gut, dass die Typen so hackedicht waren. Von ihnen würde sich später garantiert keiner mehr an das Taxi erinnern, von dessen Zulassungsnummer ganz zu schweigen.

Pete setzte rückwärts in die Einfahrt. Dr. Skull nickte ihm zu. Dann zogen sie gemeinsam den Verletzten aus dem Taxi.

„Vorsichtig!“

„Ich mache das nicht zum ersten Mal“, brummte der dicke Tätowierer. Pete schätzte, dass er zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt war. Er trug einen grauen Bart, der bis auf seine Brust hinunter wallte. Seinen unförmigen Körper hatte Dr. Skull in ein schwarzes Iron-Maiden-T-Shirt und eine Blue Jeans gezwängt. Die farbigen Motive auf seinen Armen bewiesen, dass er selbst ein Fan von coolen Tattoos war.

Sie schafften es, den Schwerverletzten in das Tätowierstudio zu schaffen. Die bierselige Partymeute war inzwischen weitergezogen. Joe wurde auf eine Liege gehievt. Dr. Skull beugte sich über seinen Patienten und tastete nach der Halsschlagader.

„Dein Bruder lebt, aber er hat viel Blut verloren. Normalerweise müsste er in ein Krankenhaus.“

„Glaubst du, das wüsste ich nicht?“, fauchte Pete. „Schau ihn dir doch mal an, dieses Weibsstück hat ihn mit Blei vollgepumpt!“

„Genau genommen ist es nur eine Kugel, die in seiner Flanke steckt, das andere ist ein Streifschuss“, meinte der Tätowierer und zog sich Latex-Handschuhe über. Dann sagte er: „Die Kugel kann ich rausholen, aber ich garantiere für nichts.“

Als sie Joe aus dem Taxi zogen, hatte Pete sich dessen Revolver geschnappt und eingesteckt. Nun drückte er die Mündung gegen Dr. Skulls mächtigen Schädel.

„Du sorgst besser dafür, dass mein Bruder am Leben bleibt. Sonst blase ich dir dein Hirn aus dem Kopf!“



7


Kea dachte laut nach, während sie neben ihrem Zuhälter im Auto saß.

„Wem würdest du dich auf dem Kiez anvertrauen, wenn du dir eine Kugel eingefangen hättest, Theo?“

Er legte nachdenklich die Stirn in Falten.

„Meine erste Wahl ist immer noch Mirko, der Kroate. Im Jugoslawienkrieg war er angeblich Militärarzt. Aber dann muss er wohl Mist gebaut haben. Mirko ist auch nicht sein richtiger Name.“

Kea grinste.

„Habe ich einen Witz verpasst?“, fragte Theo.

„Wie man es nimmt. Wer benutzt denn auf St. Pauli seinen echten Namen?“

Ich jedenfalls nicht, ergänzte sie in Gedanken.

Theo zuckte mit den Schultern.

„Also, mein Alter wollte, dass ich Theodor heißen sollte. Schlimm genug, oder? Aber die Abkürzung Theo finde ich gut. Klingt irgendwie männlich und gefährlich.“

Kea lag eine ironische Bemerkung auf der Zunge, aber sie hielt sich zurück. Sie wollte Theo nicht gegen sich aufbringen. Schließlich konnte Kea seine Hilfe gut gebrauchen.


„Und wer kommt noch in Frage?“, hakte sie nach. „Ich habe mir in meinem Job zwar schon Einiges an Gesundheitsschäden eingefangen, aber eine Schussverletzung gehörte nicht dazu.“

Der Zuhälter kratzte sich nachdenklich im Genick.

„Da wären noch Flatau und Piontek, die fallen mir auf Anhieb ein. Aber Piontek ist momentan in der Klapsmühle, soweit ich weiß. Der scheidet also aus. Dann gibt es noch einen Tätowierer, der sich Dr. Skull nennt. Er hat sein Studio in der Silbersackstraße.“


„Das kenne ich, die Tattoos im Schaufenster sehen nicht schlecht aus“, meinte Kea. „Wenn Dr. Skull genauso gut Wunden nähen wie Tätowierungen stechen kann, dürfte er gut im Geschäft sein. Lass uns zuerst diesem Kroaten auf die Bude rücken, okay? Ich versuche inzwischen, Lars zu erreichen.“

Kea griff sich ihr Handy und holte die Nummer des Hackers aus dem Kurzwahlspeicher. Aber es sprang nur seine Mailbox an.

„Verflixt“, murmelte sie.

„Ich wette, dass Lars bei irgendeiner LAN-Party ist“, meinte Theo grinsend. „Oder er daddelt allein vor sich hin. Wir schauen nachher bei ihm vorbei, dann wird er schon aufmachen. Oder ich trete die Tür ein.“

„Das wirkt immer“, stimmte Kea zu.

Mirko war noch wach, als sie an seine Tür klopften. Der Kroate war ein Glatzkopf mit Bodybuilder-Schultern. Nach Keas Meinung hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem Türsteher als mit einem Ex-Militärarzt. Wenn er im Jugoslawienkrieg gedient hatte, konnte er nicht mehr ganz jung sein. Aber sein vernarbtes Gesicht wirkte alterslos.

„Express-Abtreibung?“, fragte er und maß Kea mit einem Blick vom Scheitel bis zur Sohle.

„Sehe ich aus wie ein Amateurin?“, erwiderte sie. „Wir suchen einen Typen mit Schussverletzung.“

Sie beschrieb den Revolvermann so gut wie möglich. Mirko zuckte mit den Achseln.

„Heute hatte ich noch keinen akuten Notfall. Aber ihr könnt euch umsehen, wenn ihr wollt.“

Er machte eine einladende Bewegung. Mirkos Patienten wurden in einem Hinterzimmer behandelt, in dem Kea sich noch nicht einmal die Fingernägel gefeilt hätte, von einem Schwangerschaftsabbruch ganz zu schweigen. Aber so eine Prozedur hatte sie noch nie über sich ergehen lassen müssen. Und dabei konnte es auch gern bleiben, wenn es nach ihr ging. Sie kritzelte ihre Mobilnummer auf einen Zettel.

„Rufst du mich an, falls der Typ, den ich beschrieben habe, noch bei dir aufkreuzt?“

Mirko grinste.

„Und was habe ich davon?“

„Ich dachte an eine Gratis-Nummer.“

„Da habe ich aber auch noch ein Wörtchen mitzureden“, protestierte Theo.

„Hauptsache, du vergisst den Anruf nicht“, sagte Kea, hakte ihren Zuhälter unter und verließ die Wohnung des Kroaten.

„Du kannst doch nicht einfach auf meine Kosten Werbegeschenke verteilen“, schimpfte Theo.

Kea verdrehte genervt die Augen.

„Eine Hand wäscht die andere, hast du diesen Spruch schon mal gehört? Ich möchte nicht wissen, was Nubik mit uns anstellt, wenn wir das Blackberry nicht abliefern.“

„Ich höre immer wir. Du hast dir doch das Teil abnehmen lassen“, stellte Theo richtig.

Es wäre wirklich gut, wenn Theo öfter mal lichte Momente hätte.

„Ganz toll“, höhnte Kea. „Nubik lässt seine Wut an mir aus, ich sterbe, er verschont dich - und was dann? Glaubst du, dass du so leicht einen Ersatz für mich findest? Diese anderen Hühner, die du auf den Strich schickst, kannst du doch komplett vergessen.“

„Das stimmt nicht“, murmelte der Zuhälter. Aber er war nun schon bedeutend kleinlauter geworden. Eigentlich wusste er, was er an Kea hatte.

Man muss ihn nur gelegentlich mal mit der Nase draufstoßen, dachte sie.

Die nächtliche Quacksalber-Suche ging weiter, ein Erfolg blieb allerdings aus. Schließlich hatten sie nur noch das Studio von Dr. Skull auf ihrer Liste. Keas Puls beschleunigte sich, als Theos SUV sich dem Ladengeschäft näherte.

Ein Stück weit die Straße herunter parkte ein Taxi!

Sie deutete auf den Mercedes.

„Da, wir sind auf der richtigen Spur.“

Theo war skeptisch.

„Es gibt noch ein paar mehr von diesen Kutschen in Hamburg.“

„Was du nicht sagst! Aber ich wette, dass die Blutflecken noch nicht beseitigt sind. Und kommt es dir nicht komisch vor, dass die Karre zur besten nächtlichen Taxi-Geschäftszeit dort parkt?“

„Nachschauen kostet ja nichts“, erwiderte Theo.

Sie stiegen aus und gingen zu dem Mercedes hinüber. Die Straßenlaternen spendeten genügend Licht. Die großen roten Flecken auf dem Rücksitz waren nicht zu übersehen. Eine betrunkene Partymeute zog vorbei. Einige Kerle stießen Pfiffe aus, als sie Keas Figur musterten. Doch als Theo ihnen einen wütenden Blick zuwarf, hatten sie es plötzlich sehr eilig.

„Dr. Skulls Bude hat einen Hintereingang“, sagte der Zuhälter zu Kea. „Du bleibst hier, ich gehe rein und hole das Blackberry.“

„Vergiss es, ich komme mit! Ist ja schön, dass du für mich den Helden spielen willst. Aber die Drecksäcke sind zu zweit, und du bist allein.“

„Einer ist doch verletzt“, murmelte Theo. Aber es war klar, dass Kea wieder einmal ihren Willen durchsetzen würde.

Sie gingen über den schlecht beleuchteten Hof auf die Hinterfront des Tattoo-Studios zu. Dort brannte Licht, Stimmen waren zu hören. Theo und Kea wechselten einen Blick. Manchmal verstanden sie sich, ohne Worte verlieren zu müssen. Sie konnten sich das Klopfen sparen, dann wäre bloß der Überraschungseffekt dahin.

Der Zuhälter maß die Tür mit einem prüfenden Blick.

Dann trat er sie ein.

Sowohl Theo als auch Kea hatten ihre Pistolen schussbereit in den Händen, als sie in das Gebäude stürmten. Der Tätowierer stand über einen Mann mit nacktem Oberkörper gebeugt, der auf einer Art Pritsche lag. Dr. Skulls blutige Hände steckten in Latexhandschuhen. Er war offensichtlich gerade dabei, eine Wunde zu nähen.

Von ihm ging keine Gefahr aus. Und von seinem Patienten ganz gewiss auch nicht. Der Revolvermann schien ohnmächtig zu sein.

Doch dessen Kumpan, der Taxifahrer, reagierte kaltblütig auf den Überfall. Er riss seine Waffe hervor und feuerte, während er hinter einem Sessel in Deckung hechtete. Die Kugeln flogen Kea und Theo um die Ohren. Der Taxler befand sich offenbar nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation.

Dr. Skull hob die Hände und presste sich gegen die Wand hinter ihm.

Kea tauchte unter den Projektilen ihres Widersachers weg. warf sich zu Boden, rollte ab und richtete ihre Glock erneut auf den Taxifahrer. Eines ihrer Geschosse durchschlug die Polsterung des Sessels, wobei das Füllmaterial herausquoll.

Hinter dem Sitzmöbel blitzte noch einmal Mündungsfeuer auf. Das heiße Blei sirrte in Keas Richtung, verfehlte sie aber. Kea schnellte vom Boden hoch, nahm ihre Glock in den Beidhandanschlag und schnellte auf ihren Gegner zu. Sie sah die Panik auf seinem Gesicht, aber für Gnade war es jetzt zu spät.

Keas Kugel hämmerte in die Brust des Kerls. Er riss den Mund auf, ein röchelndes Geräusch drang aus seiner Kehle. Durch die Aufprallwucht wurde er gegen die Wand hinter ihm geschleudert. Langsam glitt er daran hinab, wobei er Blutschlieren auf der Mauer hinterließ.

Das Adrenalin jagte durch Keas Körper.

Dieser Rausch ist besser als Koks.

Sie hielt die Pistole weiterhin im Anschlag, während sie langsam auf den Taxifahrer zu ging. Seine Augen waren gebrochen, das Blut sickerte immer noch aus seinem Körper. Von diesem Gegner ging keine Gefahr mehr aus.

Kea kniete sich neben ihn und durchwühlte seine Taschen. Sie musste sich beeilen, denn die wilde Schießerei hatte garantiert auf Aufsehen gesorgt. Nicht, dass die Polizei auf St. Pauli besonders viel zu melden gehabt hätte. Trotzdem würden die Beamten ziemlich bald hier auftauchen.

Sie suchte das Blackberry vergeblich, aber dann schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Natürlich, der andere Kerl hatte ihr das Gerät abgenommen. Sie wandte sich der Pritsche zu, auf der sich das halbnackte Patient befand. Dessen Oberbekleidung war achtlos zu Boden geworfen worden. In der Jacke des Bewusstlosen fang sie endlich das Blackberry.

Der Tätowierer hatte sich während des Schusswechsels durch eine schmale Seitentür aus dem Staub gemacht, aber das war Kea egal.

Erst jetzt dachte sie wieder an Theo, drehte sich zu ihm um.

„Wir müssen den Abflug machen, wir ...“

Kea verstummte, als sie Theo in seinem Blut liegen sah. Er war genauso mausetot wie der Taxifahrer. Eine der Kugeln, die für Kea bestimmt gewesen waren, hatte ihn in den Kopf getroffen. Unter seinem rasierten Schädel hatte sich bereits eine gewaltige Blutlache gebildet, die immer weiter anwuchs.

Kea presste die Lippen aufeinander. Ihr fehlte die Zeit für Sentimentalitäten. Sie griff in Theos Tasche und schnappte sich seine Zündschlüssel. Dann eilte sie hinaus, warf sich auf den Fahrersitz des SUV und fuhr Richtung Reeperbahn davon.

Da klingelte ihr Handy.



8


St. Pauli war Nubiks Königreich.

Er hatte sich mit einigen anderen Unterweltfürsten die Claims aufgeteilt. Auf seinem Gebiet wurden keine Drogen verkauft und keine Huren abkassiert, ohne dass er seinen Anteil bekam. Doch wer stillsteht, bewegt sich rückwärts. Diesen Leitsatz hatte Nubik verinnerlicht, und danach handelte er.

Und Geduld gehörte nicht zu seinen stärksten Charaktereigenschaften.

Deshalb beschloss er, Kea ein wenig Druck zu machen. Es waren schließlich schon zwei Stunden vergangen, seit er zum letzten Mal mit ihr telefoniert hatte. Wenn Nubik jetzt bei ihr anrief, sollte sie sich zu Tode ängstigen. Und dafür brauchte er die nicht ganz freiwillige Hilfe ihrer Freundin Valeska.

Nubik lachte höhnisch, als er seinen Nachtclub verließ und seine Blicke über die Menge der betrunkenen Vergnügungssüchtigen schweifte. In seinen Augen glichen sie einer Schafherde - nur allzu gern bereit, ihre Wolle zu spenden und keinen Widerstand zu leisten. Von diesen Jammergestalten lebte Nubik sehr gut, aber das reichte ihm nicht mehr. Für seine Lungen war das feucht-kalte Klima hier am Hafenrand pures Gift, und er träumte von einem Luxusleben unter Palmen.

Und seine Eintrittskarte ins Tropenparadies war das Blackberry.

Nubik erblickte vor sich den Abschnitt der Talstraße, wo Valeska anschaffen ging. Er hatte Glück, sie war gerade nicht bei einem Freier.

Die junge Blonde mit den Highheels und dem superkurzen Lederminirock war noch völlig arglos. Sie stolzierte hin und her, als ob sie sich auf einem Laufsteg befände. Und nicht auf einem dreckigen Bürgersteig, wo sie von im Schritttempo vorbeifahrenden potentiellen Freiern lüstern angeglotzt wurde.

Aber für Nubik war Valeska keine Prostituierte.

Sie war eine Schachfigur, so wie alle anderen Menschen.

Und er wollte sie zum Bauernopfer machen.

Die Blonde hatte ihn noch nicht bemerkt, als er um die Ecke bog und langsam näher kam. Sie stand unmittelbar vor einem Sexshop, links und rechts von ihr warteten andere Pferdchen aus Theos Stall auf Kunden.

Nubik fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Kea auf den Dickwanst anzusetzen. Doch er musste sich eingestehen, dass eine andere Hure womöglich die Nerven verloren hätte. Selbst abgebrühte Bordsteinschwalben kamen nicht damit klar, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt zu werden. Und Kea war nicht nur belastbar, sie sah auch noch verflixt gut aus. Nein, mit ihr lag Nubik schon richtig.

Sie brauchte jetzt nur einen Motivationsschub, um wieder in die Spur zu kommen.

Während Nubik diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, war er bis auf dreißig Meter an Valeska herangekommen. Da drehte sie sich in seine Richtung. Die Hure blinzelte, öffnete die Lippen. Normalerweise setzten diese Mädels immer ein professionelles Dauergrinsen auf. Valeska hingegen zeigte in diesem Moment ihre wahren Gefühle gegenüber Nubik.

Furcht und Abscheu.

Nubik hatte mit Valeska noch niemals direkt zu tun gehabt, aber sein Ruf eilte ihm voraus. Hinzu kam der starre tote Blick seines linken Auges, das aus Glas war. Und Valeska schien zu spüren, dass Nubik es auf sie abgesehen hatte.

Sie wandte sich ab, machte einige schnelle Schritte von ihm weg.

„Bleib stehen!“, rief Nubik.

Valeska zuckte zusammen, als ob sie einen Schlag bekommen hätte. Sie verharrte zögernd. Die anderen Huren mischten sich nicht ein, was auf St. Pauli eine gängige Überlebenstechnik war.

Nubik konnte Valeskas Furcht beinahe mit Händen greifen. Er beschleunigte seine Schritte nicht, das wäre unter seiner Würde gewesen. Für einen Unterweltkönig waren Respekt und Ruf alles. Deshalb würde er gewiss nicht wie ein lüsterner Freier hinter der Hure herrennen. Auch dann nicht, wenn sie selbst zu laufen begann.

Valeska nahm jetzt nämlich ihren ganzen Mut zusammen und eilte davon, was angesichts ihrer High Heels ziemlich grotesk aussah. Sie bog um die Ecke, in die Simon-von-Utrecht-Straße. Nubik folgte der fliehenden Nutte, wobei er nach wie vor langsam und locker vor sich hin schlenderte. So, als ob ihm die ganze Welt gehören würde.

Es gab keinen Ort, an dem Valeska vor Nubik sicher sein würde. Jedenfalls nicht in diesem Stadtteil, den er bestens kannte. Nubik griff zum Smartphone, überlegte kurz und holte eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher.

„Ruby, bist du an deinem Lieblingsplatz?“

„So wie jede Nacht. Was kann ich für dich tun, Nubik?“

„Gleich müsste eine blonde Hure bei dir vorbei gerannt kommen. Sie ist eines von Theos Mädchen. - Könntest du sie eben festhalten, bis ich da bin?“

„Ich sehe sie schon. - Wird erledigt, Nubik.“

Der Nachtklubbesitzer beendete das Telefonat. Ruby fraß ihm aus der Hand, so wie jeder Andere in seinem Herrschaftsbereich. Schon von weitem hörte Nubik Valeskas verzweifeltes Kreischen. Als er um die Ecke bog, erblickte er ein Stück weit vor sich die Blonde. Sie versuchte, sich von Ruby loszureißen. Aber der bullige Zuhälter hatte ihr die Arme auf den Rücken gedreht. Ruby pflegte seine Nächte im Lorenzo-Café zu verbringen. Von dort aus hatte er die Straße im Visier, was Nubik natürlich klar gewesen war.

Er grinste selbstzufrieden. Es freute ihn immer, wenn er Entwicklungen vorhersehen konnte. Schon als Kind hatte Nubik Puzzles geliebt. Allerdings nur dann, wenn jedes Teilchen am Ende an seinem Platz war.

Als erwachsener krimineller Nachtklubbesitzer handelte er immer noch so. Allerdings waren es jetzt Menschen und Ereignisse, die er in seinem Sinn miteinander verknüpfte.

Und was nicht passend war, wurde passend gemacht.

Niemand kam Valeska zu Hilfe, obwohl es genügend Zeugen gab. Die Touristen waren ohnehin alle Feiglinge, jedenfalls nach Nubiks Meinung. Und kein St. Paulianer wäre so lebensmüde gewesen, sich mit Nubik oder einem seiner Handlanger anzulegen.

Ruby grinste stolz, weil er Valeska eingefangen hatte.

„Das Vögelchen wollte die Flatter machen, Nubik.“

Der Nachtklubbesitzer nickte und verpasste der Hure eine schallende Ohrfeige.

„Das ist fürs Weglaufen. - Wir bringen sie ins Hinterzimmer vom Lorenzo-Café. Da können wir uns in Ruhe weiter unterhalten.“

Nubik betrat das bis zum Boden verglaste stylishe Nachtcafé. Auch wenn hier eine coole und moderne Atmosphäre herrschte, galten doch dieselben Regeln wie im klassischen alten St. Pauli. Das Gesetz, dem sich alle unterwarfen, hieß Faustrecht.

Die Gäste senkten ihre Blicke auf ihre bunten Cocktails, als die beiden Männer mit ihrer Gefangenen hereinkamen und nach hinten durchgingen. Der Barman dienerte und schloss für Nubik einen fensterlosen Raum auf, der als Flaschenlager diente.

Nubik wandte sich an Ruby.

„Gut gemacht, du kannst jetzt gehen.“

„Das ist eines von Theos Mädchen, oder?“

„Um Theo kümmere ich mich.“

„Natürlich, Nubik. Stets zu Diensten.“

Mit diesen Worten verließ der Zuhälter den Lagerraum. Nubik grinste und weidete sich an Valeskas Todesangst.

„Endlich allein.“

„W-was willst du, Nubik? Ich habe nichts gemacht!“

Ihre Stimme zitterte. Ob es doch besser wäre, sie am Leben zu lassen? Kaum war Nubik dieser Einfall gekommen, als er ihn auch schon wieder verwarf. Nein, das brachte nichts. Es ging ihm um Kea, nur um sie. Und bei dieser Frau musste er schwere Geschütze auffahren. Valeska war ihm im Grunde gleichgültig.

„Du bist doch mit Kea befreundet, oder?“

Die Prostituierte zögerte für Nubiks Geschmack etwas zu lange mit der Antwort. Seine Rechte schoss vor und umklammerte ihre Kehle. Sein Gesicht näherte sich dem ihren so stark, als ob er sie hätte küssen wollen. Valeska konnte ihren Blick nicht von seinem Glasauge abwenden. Sie röchelte leise, dann nickte sie.

Nubik lockerte seinen Griff. Valeska rang nach Luft. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie verstand nicht, was mit ihr geschah.

„Ich habe Sehnsucht nach Kea“, sagte Nubik im Plauderton. „Und deshalb rufen wir sie jetzt an, einverstanden?“

Der Nachtklubbesitzer erwartete nicht wirklich eine Antwort von der Hure. Außerdem war Valeska viel zu eingeschüchtert, um auch nur einen Mucks von sich zu geben. Nubik griff zum Handy. Das Freizeichen ertönte. Wenig später meldete sich Kea.

„Was gibt es, Nubik?“

Sie klang gehetzt. Es hörte sich so an, als ob sie in einem Auto unterwegs wäre. Nubik zog die Augenbrauen zusammen. Die Dinge entwickelten sich nicht so, wie er es wollte. Es wurde dringend Zeit für ihn, die Kontrolle zurückzugewinnen.

„Was es gibt? Das frage ich dich, Kea. Ich bekomme noch etwas von dir, erinnerst du dich?“

„Natürlich, ich bin ja nicht dämlich. Ich habe das Blackberry, es ist alles in Butter. Aber ich kann nicht direkt in deinen Nachtklub kommen.“

„Warum nicht?“

„Es hat eine Schießerei gegeben, hier wird gleich alles voller Bullen sein. Ich muss erst checken, ob ich nicht verfolgt werde. Dann schlage ich bei dir auf und gebe dir das verflixte Gerät.“

„Weißt du was, Kea? Ich glaube, du willst mich verschaukeln. Ich habe immer noch René, falls du das vergessen haben solltest. Und momentan befinde ich mich auch in charmanter Gesellschaft. Deine Freundin Valeska ist bei mir.“

Mit diesen Worten reichte Nubik sein Smartphone an die Prostituierte weiter. Valeskas Stimme war hell vor Panik, sie konnte kaum sprechen.

„Kea? Was läuft hier ab? Ich habe keine Ahnung, ich ...“

Sie konnte den Satz nicht beenden, weil Nubik ihr die Kehle durchschnitt. Sie gab nur noch ein gurgelndes Geräusch von sich, dann stürzte sie zu Boden. Ihr Mörder konnte ihr noch rechtzeitig das Telefon wieder abnehmen und hielt es wieder an sein Ohr.

„Was hast du getan, du Psychopath?“, wütete Kea. Nubik musste Kea unwillkürlich Respekt dafür zollen, dass sie in diesem Ton mit ihm zu reden wagte. Nein, sie war wirklich keine gewöhnliche Nutte. Immerhin schien der Mord seine Wirkung auf Kea nicht verfehlt zu haben.

„Das war nur eine kleine Warnung, Kea. Deine Freundin musste sterben, weil du mich hast warten lassen.“

„Willst du lieber, dass das Polizei auf meinen Fersen in deinen Nachtklub marschiert? Hier ist die Luft bleihaltig geworden, als ich mir dein Blackberry zurückgeholt habe. Ich muss erst ein paar Runden drehen. Wenn ich merke, dass niemand hinter mir her ist, dann komme ich zu dir.“

„Meinetwegen können die Bullen ruhig in meinem Laden auftauchen. Ich bin ein gesetzestreuer Bürger und habe nichts zu verbergen“, höhnte Nubik. „Trotzdem wäre es clever, Aufsehen zu vermeiden. Ich sage dir etwas: Du hast Zeit bis zum Morgengrauen, um mir das Blackberry zu bringen. Wenn du das nicht tust, dann hast du auch René auf dem Gewissen.“

„Okay, Nubik. Lass René in Ruhe, sonst werde ich das Telefon schrotten.“

„Das würde ich dir nicht raten“, entgegnete der Nachtklubbesitzer. „Über Renés Tod würdest du wohl noch hinwegkommen, der ist schließlich nur einer deiner Stecher. Aber was ist mit deiner süßen kleinen Tochter?“

Und bevor Kea etwas entgegnen konnte, hatte Nubik das Telefonat beendet.




9


Kea musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht mitten auf der Reeperbahn einen Unfall zu bauen. Ihr Herz hämmerte so laut, dass das Geräusch das Sirenengeheul der Streifenwagen übertönte, die Richtung Tattoostudio unterwegs waren. Sie zwang sich selbst dazu, ruhig durch die Nase ein- und auszuatmen. Kea warf einen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass ihre Stirn totenbleich und schweißbedeckt war.

Sie verachtete sich selbst dafür, dass sie sich von Nubik ins Bockshorn jagen ließ. Kea konnte viel ertragen. Aber nicht, wenn es um Suvi ging.

Kea hatte ihre Tochter immer vom Dreck des Amüsierviertels ferngehalten.

Ob Nubik schon wusste, wo das kleine Mädchen aufgezogen wurde?

Kea presste die Lippen aufeinander. Sie durfte sich von ihrem Gegner nicht die Spielregeln aufzwingen lassen. Er wollte, dass sie jetzt in Panik geriet und alles tat, was er wollte. Valeska hatte nur sterben müssen, um Kea in die Knie zu zwingen. Es tat ihr leid, dass ihre Freundin einen sinnlosen Tod erlitten hatte.

Und Kea schwor sich, diesen Dreckskerl dafür zahlen zu lassen.

Je weiter sie sich von St. Pauli entfernte, desto ruhiger wurden ihre Atemzüge. Noch hatte sie Zeit, die Nacht war nicht vorbei. Unwillkürlich lenkte Kea den SUV in Richtung Ottensen. Der ursprüngliche Grund für den Besuch bei Lars hatte sich erledigt. Es war nicht mehr nötig, sich in die Datenbank der Taxizentrale zu hacken. Aber dieser Computernerd konnte ihr trotzdem nützlich sein.

Lars wohnte in einem Altbau an der Ottenser Hauptstraße. Kea parkte um die Ecke, dann klingelte sie bei ihm Sturm. Es war drei Uhr morgens. Keine Zeit, zu der normale Menschen ihre Tür öffnen würden.

Aber Lars war nicht normal.

Erleichtert stellte Kea fest, dass er nach kurzer Zeit den Türsummer betätigte. Sie eilte in den zweiten Stock hoch. Der Hacker erwartete sie in Boxershorts.

„Ich habe kein Callgirl bestellt.“

„Sehr witzig, Lars. Kann ich reinkommen?“

Er nickte. Kea folgte dem durchtrainierten jungen Mann in seine weitläufige Altbauwohnung. Im Gegensatz zu den üblichen Klischeevorstellungen über Computerfreaks war Lars weder chaotisch noch übergewichtig. Er legte offenbar großen Wert auf Fitness, denn der einzige Einrichtungsgegenstand in seinem Arbeitszimmer war neben dem PC-Tisch eine Hantelbank. Lars musterte Kea von Kopf bis Fuß.

„Du machst einen gestressten Eindruck. Wahrscheinlich ist dein Eisenanteil im Blut zu niedrig, du solltest mehr Spinat essen.“

„Ich habe gerade eine Schießerei überlebt, Süßer. Wenn ich mir da eine Kugel eingefangen hätte, dann wäre mein Eisenanteil schon bedeutend höher. Theo hatte nicht so viel Glück.“

Sie erzählte Lars mit einigen knappen Sätzen, was geschehen war. Währenddessen lud Kea ihre Glock nach. Der Hacker hakte nach.

„Und was ist so wertvoll an dem Blackberry, dass deswegen Leute sterben?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Deshalb hatte ich gehofft, du könntest mit mir gemeinsam diese Frage beantworten.“

Kea überreichte Lars das Blackberry. Stirnrunzelnd checkte er das Gerät durch.

„Da sind einige verschlüsselte Dateien drauf.“

„Traust du dir zu, sie zu knacken?“

Lars antwortete nicht sofort.

„Ich kann verstehen, wenn du dich ängstigst. Leider habe ich kein Geld, um dich dafür zu bezahlen. Aber eine Gratis-Nummer könnte ich dir anbieten.“

Kea legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Der Hacker schüttelte den Kopf.

„Nichts gegen Sex, aber alles zu seiner Zeit. Ich habe gezögert, weil dieser Code vermutlich nicht leicht zu entschlüsseln ist. Das reizt mich als intellektuelle Herausforderung.“

„Okay, und wie lange brauchst du in etwa?“

„Einen Tag, wenn ich sofort anfange.“

„So viel Zeit habe ich nicht, ich muss das Blackberry bis zum Morgengrauen abliefern.“

„Kein Problem, ich kann mir die Dateien ja auf meinen Rechner rüber kopieren.“

Diese Aufgabe erledigte der Hacker im Handumdrehen.

„Ich habe noch eine Bitte, Lars. Ist es möglich, so eine Ortungs-App auf dem Blackberry zu installieren? Ich wüsste gern, wo sich das Teil befindet, wenn ich es nicht mehr bei mir habe.“

„Sicher, das kann ich machen. - Wie wäre es mit einem Tee, während du darauf wartest?“

Kea nickte und warf dem Hacker einen dankbaren Blick zu. Er ging in seine penibel aufgeräumte Küche und begann mit der Teezubereitung.

Kea schaute sich in der Wohnung um. Sie ertappte sich dabei, dass ihre Gedanken um Kokain zu kreisen begannen. Lars brauchte sie nicht nach Stoff zu fragen, der würde ihr nur einen Vortrag über die Zerstörungskraft von Rauschgift halten. Als ob sie das nicht selbst wüsste.

Aber sie durfte sich jetzt sowieso nicht ins Drogen-Nirvana katapultieren.

Sie musste einen klaren Kopf behalten, für Suvi.

Also beschränkte Kea sich darauf, den heißen schwarzen Tee zu schlürfen. Die Wärme tat ihrem Körper gut.

Lars werkelte vor sich hin, dann blickte er auf.

„So, die App ist installiert. Gibst du mir dein Handy? Du musst das Programm dann nur noch starten, wenn du den Standort des Blackberrys erfahren willst. Bei wem sollst du das Teil überhaupt abliefern?“

„Das geht dich einen Dreck an!“, blaffte Kea. Dann fuhr sie etwas ruhiger fort: „Ich bin dir dankbar, okay? Aber es ist in deinem eigenen Interesse, wenn du so wenig wie möglich erfährst. Theo ist tot, das soll dir nicht auch noch passieren.“

„Okay, ich wollte nicht zu neugierig sein. Soll ich dich anrufen, wenn ich die Dateien geknackt habe?“

„Ja, das wäre super. Ich muss jetzt abhauen, Danke für den Tee.“

Kea gab Lars einen Kuss auf die Wange. Er saß bereits vor seinem PC und schien tief in die Datenwelten versunken zu sein. Sie zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss.

Lars legte den Kopf in den Nacken und starrte nachdenklich vor sich hin.

Kea bekam nicht mehr mit, dass der Hacker zum Telefon griff und die Nummer von Nubik eintippte.


10


Kea fuhr wieder Richtung St. Pauli. Ob es ein Fehler war, das Blackberry an Nubik zu übergeben? Womöglich hatte dieser Psychopath René schon längst getötet. Was war das Ehrenwort eines solchen Gewaltmenschen wert?

Dabei ging es gar nicht darum, dass Kea in René verknallt gewesen wäre. Letztlich ging ihr kein Mann wirklich nahe, weder Theo noch René oder einer ihrer zahlreichen Freier. Aber Kea hatte eine Zusage getroffen, und die würde sie auch einhalten. Außerdem waren das Wertvollste an dem verflixten Blackberry zweifellos die verschlüsselten Dateien. Und darauf würde sie gewiss schon bald zugreifen können. Lars war sehr gut in dem, was er tat. Obwohl er sich seit Jahren im Internet kriminell betätigte, hatte die Polizei ihn noch niemals erwischt oder auch nur als Verdächtigen verhört.

Inzwischen neigte sich die Nacht dem Ende zu. Sirenen von Streifenwagen waren immer noch zu hören, aber das gehörte in dem Amüsierviertel dazu. Wahrscheinlich gab es wieder jede Menge Schlägereien von Betrunkenen. Das kümmerte Kea nicht. Ihre Gedanken waren ganz bei der geplanten Blackberry-Übergabe. Sie hielt an einer roten Ampel an der Ecke Reeperbahn/Detlev-Bremer-Straße.

Da wurde plötzlich die Beifahrertür aufgerissen!

Kea verfluchte sich selbst dafür, dass sie ihre Glock nicht griffbereit neben sich liegen hatte. Die Pistole befand sich in ihrer Handtasche. Und ihr Widersacher war sehr flink. Trotz seiner Leibesfülle wuchtete sich Dr. Skull behände auf den Beifahrersitz und drückte sein Messer gegen ihre Flanke.

„Du lässt schön die Hände auf dem Lenkrad, mein Schatz. Sonst muss ich leider deinen schönen Körper aufschlitzen!“

Kea drehte ihren Kopf in seine Richtung und rang sich ein Lächeln ab. Eigentlich hielt sie den Tätowierer für harmlos. Doch sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Die Unterlippe zitterte, die Augen waren blutunterlaufen. Der Schweiß rann im in Strömen über sein bärtiges Gesicht. Dr. Skull mochte normalerweise ein freundlicher Mensch sein. Aber jetzt kam er Kea so vor wie ein in die Enge getriebenes Tier.

Und das machte ihn brandgefährlich.

„Manchmal meint es das Schicksal eben doch gut mit mir“, sagte er mit zitternder Stimme. „Ich habe Theos Karre gleich erkannt. Schön, dass ich dich überraschen konnte. Wir fahren jetzt direkt zu den Bullen, kapiert?“

Bevor Kea etwas erwidern konnte, wurde hinter ihr heftig gehupt. Die Ampel war bereits auf Grün umgesprungen.

„Ist ja gut!“, sagte Kea laut, obwohl die anderen Autofahrer sie nicht hören konnten. Kea fuhr los, setzte den Blinker und bog in die Hein-Hoyer-Straße ab. Auf Dr. Skulls Stirn erschien eine tiefe Zornesfalte.

„Willst du mich verschaukeln, du Biest? Zur Davidwache geht es in die andere Richtung.“

„Glaubst du, das wüsste ich nicht? Ich will dich davon abhalten, einen schweren Fehler zu begehen.“

Der Tätowierer lachte rau.

„Wie rücksichtsvoll von dir! Du und dein Zuhälter Theo, ihr habt heute Nacht meine gesamte Existenz zerstört.“

„Theo ist tot.“

„Soll ich jetzt vielleicht in Tränen ausbrechen?“, knurrte Dr. Skull. „Niemand hat euch darum gebeten, in meinen Laden zu stürmen und auf Pete und Joe zu ballern.“

„So heißen also die beiden Kerle“, stellte Kea fest.

„„Eigentlich lauten ihre Namen Peter und Josef Kappler. Die Brüder treiben sich seit Jahren in der Unterwelt herum.“

„Ich hab sie noch nie gesehen“, widersprach Kea.

„Ihr Revier ist normalerweise Barmbek, hier auf St. Pauli sind sie fremd. - Fährst du jetzt endlich weiter oder willst du wirklich mit meiner Klinge Bekanntschaft machen?“

Dr. Skull fragte, weil Kea den SUV in der Seitenstraße zum Stehen gebracht hatte. Sie schüttelte den Kopf.

„Du weißt doch, wie es hier auf dem Kiez läuft, Süßer. Es geht immer ums Geld, und alles ist frei verhandelbar.“

„Die Bullen sind nicht dämlich“, stellte der Tätowierer fest. „Dass ich illegal Leute zusammenflicke, sieht doch ein Blinder ohne Krückstock. Ich war ja noch gar nicht fertig mit der Operation, als die Ballerei losging. Meinen Laden kann ich vergessen, den macht die Polizei mir dicht. Und ich wandere in den Knast, weil ich ohne ärztliche Approbation Menschen behandelt habe.“

„Ein cleverer Anwalt könnte dich rauspauken. Man könnte es ja so darstellen, dass du dazu gezwungen worden bist.“

Kea redete mit Engelszungen, um die Situation zu ihren Gunsten zu drehen. Noch sah es nicht so aus, als ob ihre Worte Wirkung zeigen würden. Hinzu kam, dass die Nacht bald vorbei war.

Und dann würde René sterben, falls sie nichts unternahm.

„Ein cleverer Anwalt?“, echote Dr. Skull. „Du meinst wohl: Ein teurer Anwalt. Zugegeben, so ein Paragraphenhengst könnte mich retten. Leider kann ich mir so einen Vogel nicht leisten.“

„Ich würde dir das Geld dafür geben. Aber ich habe jetzt keine Zeit, um zu den Bullen zu gehen. Ich muss etwas Anderes erledigen.“

Der Tätowierer lachte, aber er klang nicht amüsiert.

„Du? Woher willst du denn so viel Kohle nehmen? Ich weiß, dass du für Theo anschaffen gehst. Du sollst sein bestes Pferd im Stall sein. Von dem Geld wird trotzdem nicht viel bei dir hängengeblieben sein.“

„Ich bin nicht die, für die du mich hältst“, sagte Kea und schaute Dr. Skull direkt in die Augen. Er nagte an seiner Unterlippe und schien noch unentschlossen zu sein.

„Eine normale Nutte hat keinen Ballermann bei sich, daher könntest du Recht haben. Aber wer bist du?“

Kea antwortete nicht.

„Du spielst gern die Geheimnisvolle, was? Okay, fürs Erste will ich deine Pistole haben. Die wirst du jetzt schön langsam aus deiner Tasche holen, kapiert?“

„Wenn es sein muss ...“

Mit diesen Worten gab Kea sich scheinbar geschlagen. Sie öffnete ihre Handtasche und griff hinein. Dr. Skull wurde unvorsichtig. Er machte einen langen Hals, um in die Tasche zu sehen. Seine Hand mit dem Messer entfernte sich ein kleines Stück von Keas Körper.

Das war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte.

Kea rammte ihm blitzschnell ihren Ellenbogen ins Gesicht. Dr. Skull kippte nach hinten. Sie packte das Gelenk seiner Messerhand und verdrehte es mit ganzer Kraft. Er schrie auf, ließ die Stichwaffe fallen. Sie fiel in den Fußraum des Beifahrersitzes.

Nun holte Kea ihre Glock heraus. Sie ließ ihren Widersacher in die Waffenmündung schauen.

„Hör mir gut zu, du altes Ekel! Es tut mir leid, dass du wegen der Schießerei Ärger kriegst und dein Studio geschlossen wird. So etwas ist eben Pech. Ich hatte im Leben auch schon öfter Pech, glaube mir.“

Dr. Skull drehte die Handflächen nach außen und riss die Augen weit auf. Seine Wut war der Todesangst gewichen. Er hatte schließlich mitbekommen, dass Kea tötete, ohne zu zögern.

„Hey, bleib cool!“, krächzte er.

„Oh, ich bin supercool“, erwiderte sie mit honigsüßer Stimme. „Du bist ein Schlaukopf, Dr. Skull. Ich wette, dass du weißt, für wen Pete und Joe gearbeitet haben.“

Der Tätowierer rang nach Atem. Kea konnte deutlich seinen Angstschweiß riechen.

„Naja, Wissen ist zu viel gesagt ... angeblich stehen sie bei Dragow auf der Lohnliste.“

Dragow? Der Name sagte Kea etwas. Aber sie hatte jetzt keine Möglichkeit, die Angaben zu checken. Stattdessen stieß sie den Pistolenlauf zwischen die Rippen des Tätowierers. Er gab einen unterdrückten Schmerzensschrei von sich.

„Du steigst jetzt aus, kapiert? Meinetwegen kannst du zur Davidwache rennen und dich bei den Bullen ausheulen. Aber du solltest so clever sein, dass du mich nicht erwähnst.“

Dr. Skull nickte und fummelte hektisch an der Tür herum. Gleich darauf ließ er sich auf den Gehweg fallen.

Kea fuhr los.

Er rief ihr etwas nach, das garantiert kein freundlicher Abschiedsgruß war. Kea dachte nach. Die Polizei würde Theo längst identifiziert haben. Jeder Beamte auf St. Pauli kannte die Visage des Zuhälters. Und das Auto, in dem Kea gerade durch die Gegend fuhr, war offiziell auf Theo zugelassen. Die Polizei hatte es wahrscheinlich schon zur Fahndung ausgeschrieben.

Es war, als ob Kea durch diese Überlegung das Unglück heraufbeschworen hätte.

Plötzlich erschien ein Streifenwagen hinter ihr. Er schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Unwillkürlich gab Kea mehr Gas, aber dadurch wurden die Uniformierten hinter ihr nur noch aufmerksamer.

Schon schalteten sie Blinklicht und Sirene ein.

Kea verfluchte ihr Schicksal, während sie Vollgas gab. Sie war nur noch einen Häuserblock weit von Nubiks Nachtklub entfernt, die Erledigung ihrer Aufgabe war zum Greifen nahe. Stattdessen musste sie nun türmen, denn Kea wollte auf keinen Fall im Gefängnis landen.

Es war jetzt schon schlimm genug, dass sie ihre Tochter so selten sehen konnte.

Aber die Vorstellung, Suvi nur noch während der seltenen Knast-Besuchszeiten in den Armen halten zu können, war für sie unerträglich.

Die Erschöpfung war verflogen. Das Adrenalin pumpte durch Keas Körper. Mit radierenden Reifen raste der SUV um die nächste Ecke. Kea musste die Karre dringend loswerden. Es war gar nicht nötig, dass der Streifenwagen sie einholte. Die Polizisten konnten Verstärkung anfordern und sie einkreisen. Womöglich kam auch ein Hubschrauber zum Einsatz. Nein, der SUV war für sie verbrannt.

Kea raste mit Höchstgeschwindigkeit durch die Clemens-Schultz-Straße. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, damit ihr nicht ausgerechnet jetzt ein bierseliger Nachtschwärmer vor das Auto lief. Der Streifenwagen war immer noch hinter ihr, allerdings hatte sie durch ihre Kamikaze-Fahrweise den Abstand vergrößern können.

Ob ihre Verfolger schon wussten, mit wem sie es zu tun hatten?

Würde Dr. Skull auspacken, wenn er im Verhörraum saß?

Darüber konnte sie sich später den Kopf zerbrechen.

Kea überfuhr eine rote Ampel. Ein Taxifahrer musste eine Vollbremsung hinlegen, um nicht mit ihrem Wagen zu kollidieren. Kea schlug das Lenkrad ein und gelangte in die Rendsburger Straße. Zum Glück kannte sie sich in dem Amüsierviertel bestens aus. Sie stieg in die Eisen, öffnete die Tür und ließ den SUV stehen. Er hatte seinen Zweck erfüllt. Schnell zog Kea ihre Pumps aus, denn auf den hohen Absätzen konnte sie nun wirklich nicht sprinten.

Dann setzte sie ihre Flucht fort, mit den Schuhen in der einen und der Handtasche in der anderen Hand. Sie musste einen seltsamen Anblick bieten, wie sie Abendkleid durch die dreckigen Straßen rannte. Aber auf St. Pauli wunderten sich die Menschen allmählich über nichts mehr, das wusste sie aus Erfahrung.

Und dann fand sie das, was sie gesucht hatte: Einen Pulk von Feierwütigen, die allesamt schon reichlich Schlagseite hatten. Keiner von den Leuten nahm Anstoß daran, dass Kea sich unter sie mischte. Ein besseres Versteck gab es momentan für sie nicht.

Die sind so hackedicht, dass sie sowieso nichts mehr mitkriegen.

Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als auch schon der Streifenwagen um die Ecke bog.

Kea konnte nicht einschätzen, ob die Beamten sie gesehen hatten. Sie war nicht besonders groß, ohne Pumps maß sie nur 1,63 m. Die Jungs und Mädels der Partymeute überragten sie zum Teil erheblich.

Kea machte sich so klein wie möglich. Sie hörte, wie einer der Polizisten zu sprechen begann.

„Guten Abend, allgemeine Personenkontrolle. Haben Sie eine brünette Frau in einem dunklen Kleid gesehen?“

Diese Beschreibung passte zweifellos auf Kea - aber auf auf gefühlt tausend Nachtschwärmerinnen, die zwischen Millerntor und Hafenrand unterwegs waren. Wenn die Polizei keine genaueren Angaben machen konnte, sah ihr Pokerblatt gar nicht mal so schlecht aus. Denn nun geschah das, worauf Kea gehofft hatte: Die Saufköpfe begannen eine sinnlose Endlos-Diskussion mit den Uniformierten, wobei sich immer mehr Personen einmischten und schließlich alle wild durcheinander palaverten.

Die beiden Streifenbeamten hatten alle Hände voll damit zu tun, sich die Nervensägen vom Hals zu halten. Sie bemerkten nicht, dass sich Kea in eine Bar schlich und diese wenig später durch den Hinterausgang wieder verließ.

Sie gönnte sich einen Moment Ruhe, indem sie sich gegen eine Hauswand lehnte. Doch dann bemerkte sie voller Panik, dass über den Kränen am anderen Elbufer der Horizont bereits heller wurde. Schon bald würde die Sonne aufgehen.

Kea zog ihre Schuhe wieder an.

Sie griff in ihre Handtasche und benötigte nicht mehr als drei Minuten, um einen am Straßenrand parkenden BMW kurzzuschließen. Dann schwang sie sich auf den Fahrersitz und raste Richtung Nachtklub.

Sie hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war.

Da klingelte plötzlich das Blackberry.



11


„Ich war bisher zu nachsichtig.“

Nubik sagte diesen Satz zu sich selbst, während er sich in seinem Ankleidezimmer im Spiegel betrachtete. Sein durchtrainierter Körper wies kein Gramm überflüssiges Fett auf. Er investierte viel Zeit in seine Fitness, was seiner Meinung nach die einzig wirklich lohnende Ausgabe war.

Wenn sein Leib nicht mehr funktionierte, dann würde er in das schwarze Nichts stürzen. Ein Leben nach dem Tod war nach Nubiks Ansicht nur eine Vorstellung für Schwächlinge, die sich den Herausforderungen ihrer jetzigen Existenz nicht stellen wollten. Sie verkrochen sich wie Insekten in Bodenritzen und Ecken, um jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen.

Nubik hatte schon ein Auge verloren, das war schlimm genug. Er hasste es, dass sein Körper nicht mehr perfekt war. Immerhin verbreitete sein Glasauge Angst, und in dieser Funktion wusste er es zu schätzen.

Nubik ging hinüber in den Wohnsalon, wo Ed auf ihn wartete.

„Du fährst jetzt nach Bargteheide, dort gibt es einen Reiterhof. Da wohnt Suvi, das ist die kleine Tochter dieser Nutte Kea. Schnapp dir das Mädchen und warte auf weitere Anweisungen. Aber du sollst der Kleinen kein Haar krümmen, kapiert? Jedenfalls vorerst nicht. Lebend ist sie für uns wertvoller. Außerdem reagieren die Bullen allergisch auf Kindermord.“

Ed nickte.

„Das dürfte kein Problem sein, Boss.“

„Nimm dir trotzdem Alex mit“, befahl Nubik. „Du weißt nicht, mit wie vielen Erwachsenen du es dort zu tun haben willst. Das Mädchen wird ja nicht allein da leben.“

„Völlig logisch“, stimmte Ed zu. „Und was sollen wir mit den anderen Leuten machen?“

Nubik rollte ungeduldig mit seinem einen gesunden Auge.

„Wir können keine lebenden Zeugen gebrauchen. Am besten bringt ihr Suvi ins Versteck, da habe ich sie unter Kontrolle.“

„Wird gemacht, Boss. Suvi - was ist das überhaupt für ein Name?“

„Das muss dich nicht kratzen. Mach einfach, was ich dir gesagt habe. Ruf an, sobald ihr das Kind einkassiert habt.“

Ed senkte gehorsam den Kopf und ging hinaus. Nubik seufzte. Dieser Schläger war ein Idiot, aber als Mann fürs Grobe gut geeignet. Außerdem hatte er Nubik noch niemals Anlass dazu gegeben, an seiner Loyalität zu zweifeln. Und das war auf dem Kiez am Wichtigsten.


Nubik schaute aus dem Fenster. In spätestens einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen. Kea würde nun kapieren müssen, dass sie sich mit dem Falschen angelegt hatte. Der Nachtklubbesitzer stieg hinab in das Kellergeschoss des Gebäudes. Er holte einen Hanfstrick aus einer Werkzeugkammer und ging in den Raum, wo er René gefangen hielt.


Der Versager war eingedöst. Er schreckte auf, als Nubik die Neonröhre an der Decke einschaltete. Und der Anblick des Seils ließ René totenbleich werden.

„Du solltest nichts Unüberlegtes tun, Nubik“, stammelte er. Für diese Bemerkung fing René sich sofort eine schallende Ohrfeige ein.

„Das ist nicht meine Art“, gab Nubik ruhig zurück. „Und von einem Tagedieb wie dir muss ich mir sowieso nicht sagen lassen, was ich zu tun habe. Nun wirst du bald die Klappe halten, und zwar für immer.“

Nubik drehte René den Rücken zu. Der Raum verfügte über Stützbalken, die nicht vollständig mit der Zimmerdecke abschlossen. Nubik stieg auf einen Hocker und zog den Strick über eine der massiven Querstreben.

„Ich habe dir verraten, dass Kea eine Tochter hat!“, jammerte René.

„Das weiß ich, und Ed wird sich die Kleine jetzt krallen. Du kannst dich übrigens bei Kea dafür bedanken, dass ich dich hängen werde. Sie trödelt herum und gibt mir nicht das, was ich haben will. Wahrscheinlich hat sie momentan einen Kerl zwischen den Schenkeln und denkt schon gar nicht mehr an dich.“

„Das stimmt nicht, Kea liebt mich!“

Nubik ließ ein eiskaltes Lachen hören.

„Na, da ist aber jemand sehr von sich überzeugt. ‚Ich liebe dich‘ - das sind doch nur drei sinnlose Worte. Wenn Kea wirklich etwas für dich empfinden würde, dann wäre sie jetzt hier, um dich aus meiner Gefangenschaft zu befreien.“

Während Nubik sprach, knüpfte er aus dem einen Ende des Seils eine Schlinge. Er hasste Zeitverschwendung.

„Was kann ich tun, damit du mich am Leben lässt?“, fragte René mit zitternder Stimme.

„Nichts“, erwiderte Nubik schlicht. „Es ist von Vorteil gewesen, dass du mir von Suvi erzählt hast. Ich bin gespannt, ob Kea auch ihre Tochter so einfach sterben lässt. Bei diesen Huren weiß man nie, was ihnen wirklich wichtig ist.“

„Kea ist keine gewöhnliche Nutte!“, stieß René hervor.

Genau denselben Gedanken hatte Nubik auch schon gehabt. Aber das würde er diesem Loser gewiss nicht auf die Nase binden. Er zog an dem einen Ende des Seils und überprüfte die Festigkeit der Schlinge. Nein, sie würde sich nicht öffnen, wenn sie sich gleich um Renés Hals zusammenzog und sein sinnloses Leben beendete. Das war in Nubiks Augen eine gute Aussicht. Er mochte es, wenn die Dinge in seinem Sinn funktionierten.

„Gibt es vielleicht noch etwas, das du mir über Kea sagen möchtest, bevor du unsere Welt verlässt?“, fragte Nubik.

Renés Augen waren feucht. Seine Stimme war ganz hell geworden, wie die eines kleinen Jungen. Und er sprach so undeutlich, dass Nubik ihn kaum verstehen konnte.

„Nein, aber da ist noch etwas. Ein weiteres Geheimnis, vielleicht hat es mit der Tochter zu tun. Kea hat mir nicht verraten, wer Suvis Erzeuger ist.“

„Wahrscheinlich weiß sie es selbst nicht“, vermutete Nubik. „Weißt du, wie viele Nutten auf St. Pauli Kinder haben? Mehr, als du Idiot dir ausmalen kannst. Und jetzt habe ich wirklich genug von deinem Geseier. Hoch mit dir.“

Nubik trat auf René zu und wollte ihn zum Aufstehen bewegen. Aber der Gefangene machte sich schwer und begann zu zappeln.

„Neeeiiiin!“, kreischte er. „Hilfe! Man will mich ermorden!“

Nubik verpasste ihm einen Schwinger in die Magengrube, der René einstweilen den Atem raubte. Nubik warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

„Du warst dein ganzes Leben lang eine Memme. Willst du nicht wenigstens wie ein Mann sterben?“

René beantwortete Nubiks Frage nicht. Normalerweise wäre der Nachtklubbesitzer jetzt sauer geworden. Aber in diesem Moment machte er eine Ausnahme. René war ihm lange genug auf die Nerven gegangen. Nubik konnte nicht einschätzen, ob sein Tod Kea wirklich beeindrucken würde. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, aus denen er nicht schlau wurde. Eine Zeitlang war Nubik wirklich davon ausgegangen, dass sie ihm das Blackberry pünktlich bringen würde. Aber diese Einschätzung war ein Fehler gewesen. Er hatte ihren leeren Versprechungen geglaubt, und nun verachtete er sich selbst dafür.

Letztlich ist sie doch nur eine Nutte, die das Blaue vom Himmel herunter verspricht.


Tränen rannen über Renés Wangen. Er schluchzte hemmungslos vor sich hin, während Nubik ihn mit vorgehaltener Waffe dazu zwang, auf den Hocker zu steigen. Offenbar hatte er sich nun doch dafür entschieden, seine letzten Momente als Schwächling zu erleben. Dafür hatte Nubik nur Verachtung übrig. Und er schwor sich, dass ihm selbst Ähnliches niemals passieren würde.

Er legte die Schlinge um den Hals seines Gefangenen.

„Ich werde deine Leiche an einen hübschen öffentlichen Platz schaffen lassen, wo man sie sehr schnell findet“, kündigte Nubik an. „Dann können die Medientrottel vom Lokal-TV schön ihre Kameras draufhalten. Und selbst wenn Kea die Sendung verpassen sollte, wird sie es im Handumdrehen erfahren. Auf St. Pauli verbreiten sich Neuigkeiten sehr schnell, wie du wissen solltest.“

„Ich will nicht sterben“, wehklagte René.

Nubik machte sich dazu bereit, den Hocker wegzutreten.



12


Kea zögerte.

Die Zeit lief ihr davon. Konnte sie es sich wirklich leisten, jetzt einen Anruf entgegenzunehmen? Das Blackberry klingelte weiter, während sie in der Nähe von Nubiks Nachtklub einen Parkplatz suchte. Schließlich siegte ihre Neugier. Während sie den BMW zum Stehen brachte, drückte sie das Telefon gegen ihr Ohr.

„Ja?“

Einen Moment lang hörte sie nur schweres Atmen. Der Anrufer war offenbar überrascht davon, sie am Apparat zu haben. Kea wäre an seiner Stelle auch verblüfft gewesen. Das Blackberry gehörte schließlich dem Freier, der sich Manfred Müller nannte.

„Mit wem spreche ich?“, fragte der Anrufer. Die Männerstimme klang dunkel und rau, mit einem leichten osteuropäischen Akzent. Polen, Ukraine, Russland? Das konnte Kea nur schwer einschätzen, obwohl sie sich mit so etwas gut auskannte. Ihre Freier konnten sie belügen, was ihre Namen anging. Aber fast keiner schaffte es, seine Sprache zu tarnen. Dafür hatte sie ein sehr feines Ohr.

„Mit mir.“

„Eine Diebin mit Humor“, grollte der Kerl. „Wenn ich dir die Zunge abschneide, kannst du keinen dummen Sprüche mehr klopfen.“

„Dazu müsstest du mir Auge und Auge gegenübertreten, aber dafür hast du nicht die Eier. Du rufst Frauen lieber nachts an, oder?“

„Ich wusste nicht, dass mein Blackberry in den Händen eines weiblichen Langfingers ist.“

Mein Blackberry? Die Stimme gehörte keinesfalls zu dem Freier, der sich Manfred Müller genannt hatte. Aber dieser Typ war ohnehin nur ein Befehlsempfänger gewesen, für so etwas hatte Kea einen sechsten Sinn.

„Also willst du das Telefon wiederhaben?“

„Wenn du deine Zunge und dein Leben behalten willst, dann rückst du es wieder heraus.“

„Bedaure, aber ich habe schon einen anderen Abnehmer gefunden.“

Mit diesen Worten drückte Kea das Gespräch weg. Der Kerl rief gleich darauf erneut an, aber sie schaltete auf lautlos.

Was konnte der Typ schon machen? Solange er nicht unmittelbar vor ihr stand, musste sie sich nicht über ihn den Kopf zerbrechen. Nubik war es, auf den es ihr jetzt ankam. Er bedrohte Suvi, und das konnte Kea ihm unmöglich durchgehen lassen.

Vor dem Eingang zum Nachtklub lungerten einige Maulhelden herum, die vergeblich an den Türstehern vorbeizukommen versuchten. Mit Nubiks Männern legte man sich besser nicht an, wie Kea wusste. Aber diese Partyhelden hatten zu viel Schlagseite, um das zu kapieren.


Sie drängte sich zwischen ihnen hindurch und wandte sich direkt an Jamal. Der bullige Kerl mit dem rasierten Schädel hatte an der Tür das Sagen.

„Ich muss zu Nubik, er erwartet mich“, rief Kea, um die aus dem Klub dringende Musik zu übertönen. Jamal nickte und ließ sie vorbei. Er war kein Mann der großen Worte.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Martin Barkawitz
Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7414-5

Alle Rechte vorbehalten

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