Die Straße hieß Schöne Aussicht, doch an ihrem Ende wartete der Tod.
Davon ahnte Paulina Olsen nichts, als sie ihre Joggingrunde um die Außenalster bereits zu vier Fünfteln beendet hatte. Sie lief jeden Abend rund um den aufgestauten Fluss im Herzen Hamburgs, um sich fit zu halten.
Obwohl sie schon seit fünf Jahren in der Hansestadt lebte, bekam sie von dieser kontrastreichen Umgebung nicht genug.
Sie hatte sich sogar daran gewöhnt, dass sich hier die weißen Villen des Bürgertums unmittelbar neben den Billigzelten der Obdachlosen unter den zahlreichen Brücken befanden.
Wer diesen Gegensatz nicht aushielt, würde auf Dauer in Hamburg nicht glücklich werden.
Paulina glaubte vor allem an sich selbst, an ihre eigene Leistung. Sie war jetzt dreißig Jahre alt und konnte als Assistentin der Geschäftsführung von WIBERTCO mit ihrem Fachwissen und ihrer Kompetenz punkten.
Nun gut, ihr attraktives Aussehen war gewiss ebenfalls kein Nachteil.
Dank ihres knallharten Sportprogramms und ihrer disziplinierten Ernährung hatte die hochgewachsene dunkelhaarige Frau kein Gramm überflüssiges Fett am Körper.
Sie joggte auf die Stelle zu, wo die Schöne Aussicht in die Fährhausstraße überging. Hier, beim Clubhaus der Rudergesellschaft Hansa, wollte sie abbiegen und zu ihrer Wohnung zurücklaufen.
Doch dort würde sie nie mehr ankommen.
Plötzlich sprang eine Gestalt mit einer grellen Clownsmaske vor dem Gesicht auf sie zu. Der Irre musste sich in dem Grünstreifen in Ufernähe versteckt gehabt haben.
Paulina erschrak im ersten Moment, doch dann wurde sie wütend.
Sie war eine zielstrebige junge Frau und hatte absolut keinen Sinn für kranke pubertäre Scherze, von denen womöglich auch noch Videos im Internet kursieren würden.
Also blieb sie stehen und holte aus, um diesem Blödmann eine schallende Ohrfeige zu verpassen.
Erst in dem Moment sah sie das Messer.
„Auf Nimmerwiedersehen, Paulina!“
Der Horrorclown wusste, wie sie hieß. Und – was noch viel schlimmer war – sie erkannte seine Stimme. Plötzlich war Paulina vor Angst wie gelähmt. Sie hätte sich auf dem Absatz umdrehen und davonrennen sollen. Angesichts ihres Trainingszustandes hätte sie dann eine gute Überlebenschance gehabt.
Doch die lähmende Angst wurde zur Komplizin des Angreifers.
Paulina riss noch nicht einmal die Arme hoch, als die scharfe Klinge ihre Kehle zerfetzte.
Der Clown sprang zur Seite, um nicht von dem heftig aus der Wunde spritzenden Blut getroffen zu werden.
Es wurde dunkel in Paulinas Welt, als sie zusammenbrach. Ihr letzter Gedanke war, dass sie alles falsch gemacht hatte.
Ihre Erfolgsgeschichte endete an diesem schönen Herbstabend auf der Schönen Aussicht in Hamburg.
Einige Passanten eilten zu Hilfe, eine Radfahrerin schrie.
Der Mörder sprang wie ein Kamikaze-Kastenteufel mitten in den Feierabendverkehr auf der viel befahrenen Uferstraße. Es war, als wäre er mit den höllischen Mächten im Bund. Er kam unbeschadet davon, während mehrere Autofahrer in die Eisen steigen mussten und es Auffahrunfälle gab.
Es dauerte nur sechs Minuten, bis ein Streifenwagen vor Ort war. Während eine Nahbereichsfahndung eingeleitet wurde, versuchten Ersthelfer das Leben von Paulina Olsen zu retten.
Doch als der Notarzt und eine Ambulanz eintrafen, hatte sie schon ihren letzten Atemzug getan.
Die Gefängnismauern brachen, und Massinis Mörderhorden überschwemmten das Land. Es war dem manipulativen Verbrecherfürsten gelungen, die unterschiedlichsten Kriminellen unter seiner Fahne zu versammeln. Von Schlägern über Vergewaltiger bis zu Erpressern hörten sie alle auf sein Kommando.
Geballte verbrecherische Kompetenz warf sich gegen die dünne blaue Linie der Polizei, die nicht lange standhalten konnte.
Und die Gewaltherrschaft der Willkür begann …
Hauptkommissarin Heike Stein schreckte aus ihrem Albtraum auf. Es dauerte quälend lange Sekunden, bis sie begriff, dass sie sich in ihrem eigenen Bett befand. In Hamburg-Eppendorf, in der Isestraße.
In Sicherheit.
Wirklich?
Während sie ihre Beine aus dem Bett schwang und sich den Schweiß von der Stirn wischte, dachte sie über den Mann nach, der ihr diesen Albtraum verursacht hatte.
Anselmo Massini, der Begründer des Briganten-Netzwerks.
Heike hatte das italienische Superhirn noch nicht persönlich getroffen. Doch die Begegnung mit einigen seiner Gefolgsleute war für sie mehr als ausreichend gewesen.
Das Perfide an dieser Gangsterorganisation war, dass man ihre Mitglieder durch harte Gefängnisstrafen nicht abschrecken konnte.
Ganz im Gegenteil.
Die Strafanstalten waren der bevorzugte Rekrutierungsraum für den bizarren Serienkiller-Club.
Man musste nachweislich mindestens drei Menschen getötet haben, um dort aufgenommen zu werden. Dank dieser eisernen Regel war es praktisch unmöglich, dort einen Undercover-Beamten einzuschleusen.
Selbst wenn es gelang, eine Legende zu erfinden und mehrere Mordopfer vorzutäuschen – man musste immer damit rechnen, dass die Briganten misstrauisch wurden und von einem getarnten Polizisten ein paar Tötungen vor ihren Augen verlangten.
Nein, dieses Risiko würde kein Vorgesetzter eingehen.
So konnte Heike einstweilen nur hoffen, dass bei Massinis Bewachung keine korrupten Gefängniswärter zum Einsatz kamen und seine Verteidiger sich nicht schon längst auf die dunkle Seite geschlagen hatten.
Das Telefon klingelte.
Auf dem Display konnte sie erkennen, dass ihr Dienstpartner Ben Wilken anrief.
„Moin, Ben. Ich bin doch noch nicht zu spät dran, oder?“
„Nein.“
Manchmal brachte seine wortkarge Art Heike an den Rand des Wahnsinns. Warum konnte er nicht mehr aus sich herausgehen? Andererseits hatte Ben einige Schicksalsschläge wegstecken müssen. Erst war seine Frau Maja mit einem kriminellen Balten durchgebrannt, und dann hatte es noch einen Mordanschlag auf Heike gegeben.
Mit Maja Wilken als der Hauptverdächtigen.
Heike bemühte sich, nicht ungeduldig zu werden. Schließlich empfand sie mehr für ihn, als gut für sie war. So kam es ihr jedenfalls oft vor.
„Soll ich raten, weshalb du anrufst? Möchtest du vielleicht wissen, was ich gerade anhabe?“
Heike schlug einen neckenden Tonfall an, um die Situation etwas aufzulockern. Dadurch konnte sie auch Distanz zu ihrem Albtraum aufbauen.
„Die Chefin hat sich gemeldet. Wir sollen uns mit dem Kriminaldauerdienst kurzschließen, der gestern Abend ein Tötungsdelikt an der Schönen Aussicht aufgenommen hat.“
„Ein neuer Fall also“, murmelte Heike. „Hoffentlich keiner, der etwas mit Massini und seinen Briganten zu tun hat. Ich träume schon von dem Mistkerl.“
Eigentlich hatte sie Ben nicht davon erzählen wollen, aber es war ihr so herausgerutscht. Und: Wenn sie sich ihm nicht anvertraute, wem denn sonst? Sie lebte allein und behelligte ihre Freundinnen nicht gern mit ihren beruflichen Problemen.
„Das tut mir leid“, erwiderte Ben auf seine übliche trockene Art. „Ich hole dich in einer Viertelstunde ab, okay?“
„Ja, bis dann.“
Heike war es gewohnt, sich in Windeseile duschen und stylen zu können, wenn es notwendig war. Als sie aus dem Bad kam, schlüpfte sie in Jeans, Wildlederstiefel, eine lila Bluse und eine schwarze Lederjacke. Heike kam sich ein wenig wie eine Retro-Rockerbraut vor, doch dieses Outfit entsprach ihrer aktuellen Stimmung.
Ben klingelte pünktlich.
Sie eilte die Treppen des liebevoll restaurierten Altbaus hinunter und hüpfte wenig später auf den Beifahrersitz des Dienst-BMWs.
Heike warf ihrem Kollegen einen Seitenblick zu. Er sah auf den ersten Blick attraktiv und gepflegt aus, doch sie konnte seine ungeheure innere Anspannung spüren. Schließlich kannte sie ihn besser als die meisten anderen Menschen auf der Welt.
„Gibt es etwas Neues von Maja?“
Eigentlich hatte Heike diese Frage nicht stellen wollen, doch nun war es zu spät.
Ben startete den Wagen und sie fuhren Richtung Alsterdorf, wo sich das Polizeipräsidium befand.
„Ich hatte dir doch von dem Plüsch-Einhorn erzählt, das meine Tochter angeblich von Maja geschenkt bekommen hat.“
„Ja, richtig.“
„Die Kleine hat mir jetzt gebeichtet, dass sie mich angeschwindelt hat. In Wirklichkeit gewann Pia das Spielzeug als Preis beim Kindergeburtstag, und zwar für eine erstklassige Performance beim Topfschlagen.“
Heike lachte erleichtert.
„Das dürfte ja heftigen Radau gegeben haben.“
Ben seufzte.
„Einerseits fiel mir ein Stein vom Herzen, weil es Maja nicht gelungen ist, sich heimlich in mein Haus zu schleichen. Andererseits zeigt mir diese Episode, dass Pia sich nach ihrer Mama sehnt. Sonst würde sie sich wohl kaum so eine Geschichte ausdenken.“
Heike wusste nicht so recht, was sie entgegnen sollte.
Schließlich sagte sie: „Ich finde es normal, dass ein Kind bei seiner Mutter sein will. Maja hat ja Pia nie etwas angetan.“
„Ja, das stimmt natürlich. Andererseits ist meine Frau eine Schwerkriminelle. Falls sie jemals wieder in Deutschland auftaucht und wir sie verhaften, wird Pia sie nur noch im Gefängnis besuchen können.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Maja sich noch einmal hierherwagt“, meinte Heike. „Sie weiß, dass nach wie vor mit Hochdruck nach ihr gefahndet wird.“
Andererseits wünscht sie mir immer noch den Tod, fügte sie in Gedanken hinzu. Weil sie mir nicht verzeihen kann, dass du auch mich liebst.
Ben wechselte das Thema, und dafür war Heike ihm dankbar.
„Frau Dr. Brink kriegt Druck von der Polizeiführung, und den gibt sie direkt an uns weiter. Deshalb sollen wir auch schon eine Stunde vor dem offiziellen Dienstbeginn mit den Ermittlungen beginnen.“
„Ich dachte mir schon, dass die ‚Eiskönigin‘ einen Grund für diese morgendliche Mobilmachung hat. Ist das Opfer zufällig die Tochter des Bürgermeisters?“
„Keine Ahnung, ich habe bisher keine näheren Informationen. Die Chefin hat mich nur angewiesen, dich abzuholen und dann mit dem KDD Kontakt aufzunehmen.“
Heike nickte.
Sie musste sich nicht fragen, aus welchem Grund Kriminalrätin Dr. Laura Brink nicht selbst bei ihr daheim angerufen hatte. Ihre Vorgesetzte war vermutlich immer noch in Heike verliebt. Und da diese Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhten, versuchte sie den privaten Kontakt auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken.
Also hatte die Chefin Ben angerufen, von dem sie sowieso nichts hielt.
Die Ermittler erreichten das Präsidium und gingen zu den Kollegen vom Kriminaldauerdienst.
Kommissarin Ina Rüter war eine schlanke Frau im blauen Blazer mit dunkler Kurzhaarfrisur. Sie wirkte so frisch, als ob sie nicht gerade einen Nachtdienst hinter sich gebracht hätte.
„Viel konnte ich noch nicht herausfinden“, sagte sie zu Heike und Ben. „Das Opfer heißt Paulina Olsen, ledig, dreißig Jahre alt, in Hamburg gemeldet. Sie joggte an der Schönen Aussicht in Richtung Norden, als sie von einem bisher unbekannten Täter mit Clownsmaske angegriffen wurde. Er hat ihr mit einem scharfen Messer brutal die Kehle durchschnitten. Frau Olsen ist noch am Tatort verblutet.“
Heike zog die Augenbrauen zusammen.
„Gab es Tatzeugen?“
„Ich kann nur mit einer direkten Augenzeugin aufwarten. Die Frau heißt Michaela Kuhn. Sie kam zufällig mit dem Fahrrad vorbei. Die Befragung war nicht so ergiebig, da sie unter Schock steht.“
„Kein Wunder, wenn sie die Bluttat beobachtet hat“, meinte Ben.
Ina Rüter machte eine unbestimmte Handbewegung.
„Es war ja nicht nur das. Frau Kuhn wollte den flüchtenden Killerclown geistesgegenwärtig auf dem Rad verfolgen. Doch sie wurde von einem Auto angefahren. Die Zeugin kam mit ein paar Schürfwunden davon, ihr Rad ist allerdings Schrott. Der Mörder ist wohl quer über die Schöne Aussicht zu Fuß geflohen.“
„Gibt es eine brauchbare Beschreibung?“
„Nein, Heike. Der Typ hat seine Maske nicht abgenommen. Er soll groß und schlank gewesen sein und dunkle Kleidung getragen haben, außerdem Handschuhe. Es könnte sich auch um eine Frau handeln, die keine ausgeprägten weiblichen Formen hat. Wir sollten uns jedenfalls nicht auf einen männlichen Täter einschießen.“
„Die Fahndung ergab bisher nichts?“, hakte Heike nach, obwohl sie die Antwort ahnte.
„Leider nicht“, erwiderte die KDD-Kollegin. „Drei Streifenwagen haben nach der Tat die unmittelbare Umgebung abgesucht, allerdings ohne Ergebnis.“
Heike nickte.
„Vielleicht hat der Killer sein Auto in der Nähe geparkt. Er musste nur die Maske abnehmen und in aller Ruhe wegfahren. Die Frage lautet, ob die Frau ein Zufallsopfer war oder es sich um eine gezielte Attacke auf sie handelt.“
„Ich habe bereits telefonisch die Eltern des Opfers informiert“, sagte Ina Kuhn. „Sie leben in Bad Oldesloe und wurden von der Todesnachricht völlig überrumpelt. Laut ihrer Aussage hatte Paulina Olsen keine Feinde und war eine äußerst geschätzte Mitarbeiterin in der Chefetage von WIBERTCO.“
„Was für ein Unternehmen ist das?“, wollte Ben wissen.
„Das konnte ich noch nicht recherchieren“, gab die KDD-Kollegin zu.
„Macht nichts, wir sollen ja jetzt den Fall übernehmen“, sagte Heike. „Und wenn das Opfer in einer leitenden Position tätig war, hat es garantiert Neider gehabt. Insofern würde ich die Angaben der Eltern mit Vorsicht genießen. Väter und Mütter verschließen oft die Augen vor den Problemen ihrer Kinder, falls sie ihnen überhaupt bekannt sind. Außerdem hat Paulina ihnen vielleicht gar nicht erzählt, wenn sie Ärger in der Firma hatte.“
Heike musste an ihren eigenen Vater denken. Wie oft hatte sie als junges Mädchen vor ihm verheimlicht, wenn ihr ein Mitschüler auf den Wecker gegangen war. Sie wollte einfach verhindern, dass Sören Stein in Polizeiuniform in der Schule erschien, um sie in Schutz zu nehmen.
Heike wollte schon damals die Dinge lieber selbst in die Hand nehmen. Und so war sie schließlich dazu übergegangen, ihren Widersachern eins auf die Nase zu geben, wenn sie geärgert wurde. Bald darauf hatte sie mit dem Kampfsport angefangen.
Die Hauptkommissarin konzentrierte sich wieder auf das aktuelle Gespräch.
„Wann genau hat die Attacke eigentlich stattgefunden?“, fragte Ben.
„Gegen neunzehn Uhr.“
Der Hauptkommissar kratzte sich im Nacken.
„Das gefällt mir gar nicht. Ein Mordanschlag an so einer belebten Straße wie der Schönen Aussicht, und dann auch noch vor Zeugen und bei Tageslicht – da könnten noch mehrere Taten folgen.“
„Mal den Teufel nicht an die Wand“, murmelte Heike, obwohl sie selbst auch schon auf diesen Gedanken gekommen war.
Massinis Serienkiller-Klub verlangte mindestens drei Morde, bevor ein Verbrecher in diese perverse Vereinigung aufgenommen wurde.
Ob der mörderische Clown auch ein Anhänger des charismatischen Kriminellenführers war?
„Das Problem Paulina existiert nicht mehr.“
Arno Lutter atmete tief durch, als er die angenehme und kultivierte Männerstimme am Telefon hörte. Er drehte seinen mit schwarzem Leder bezogenen Chefsessel so, dass er vom sechsten Stockwerk des WIBERTCO-Gebäudes auf die nüchterne Bürohaus-Landschaft der City Nord hinunterblicken konnte.
Es machte ihn auch nicht nervös, dass der Mörder ihn im Büro anrief. Es gab eine Software, mit der man dieses Telefonat nachträglich verschleiern konnte. Falls die Polizei jemals von der Telefongesellschaft einen Einzelverbindungsnachweis verlangen sollte, würde dort ein Gespräch mit einem der Zulieferbetriebe auftauchen.
Und nicht ein Wortwechsel mit einem angeheuerten Mörder.
Lutter hatte soeben eine sensationslüsterne Reportage über den Alsterkillerclown auf der Homepage eines Lokalsenders gesehen.
Die Idee mit der Maske stammte von dem „Erfüllungsgehilfen“, wie Lutter den Auftragsmörder in Gedanken nannte. Der Vorstandsvorsitzende von WIBERTCO wusste Eigeninitiative zu schätzen.
„Sie hatten recht, man muss den Medien etwas zum Fraß vorwerfen“, sagte Lutter. „Was meine Gegenleistung angeht, so bleibt es bei unserer Abmachung.“
„Nicht ganz.“
Lutter stutzte. Bildete er es sich nur ein, oder war da jetzt ein scharfer Unterton in der Stimme des Erfüllungsgehilfen? Der Vorstandsvorsitzende war ein Mann Mitte fünfzig, der es nicht durch Menschenfreundlichkeit und Mitgefühl in seine Position geschafft hatte. Lutter hielt sich mit Krafttraining fit, er wirkte in seinem dunklen Geschäftsanzug rund zehn Jahre jünger, als er wirklich war. Und er glaubte, ein ausgezeichneter Menschenkenner zu sein.
Jedenfalls bis zu diesem Moment.
Gereizt zog er die Augenbrauen zusammen, was der Mann am anderen Ende der Telefonleitung natürlich nicht sehen konnte.
„Was soll das heißen? Wollen Sie mehr Geld?“
Der Mörder lachte.
„Geld? Nein, Geld interessiert mich nicht wirklich. Die Vorbereitung von Paulinas bedauerlichem Ende hat mir viel Spaß gemacht. Es war höchst aufschlussreich, mich in ihr Privat- und Berufsleben sowie in ihre Gewohnheiten hineinzuarbeiten. Ehrlich gesagt fehlt sie mir schon jetzt, obwohl sie erst seit gestern Abend nicht mehr unter den Lebenden weilt.“
„Dann bringen Sie doch noch jemanden um!“
Lutter stieß diesen Satz schärfer hervor, als er es beabsichtigt hatte. Der Andere sollte auf gar keinen Fall denken, dass er unbeherrscht war. Wer sein Temperament nicht zügeln konnte, hatte nach Lutters Meinung im Geschäftsleben längerfristig keine Chance.
Harte Entscheidungen wollten mit kühlem Kopf getroffen werden.
So wie der Entschluss, sich Paulina endgültig vom Hals zu schaffen.
Eine kurze Pause entstand, bevor der Killer wieder sprach.
„Ein weiterer Mord? Ja, das ist eine ausgezeichnete Idee. – Hatte ich Ihnen eigentlich schon mal ein Kompliment dafür gemacht, dass Sie eine so reizende Gattin und eine wundervolle Tochter haben?“
Lutter versuchte, seine aufsteigende Nervosität nicht übermächtig werden zu lassen. Doch immerhin hatte dieser Killer in einem Atemzug über eine Tötung und über Lutters Familie gesprochen.
Wahrscheinlich tat er das nur, um den Preis in die Höhe zu treiben.
Oder?
„Geben Sie Ruhe, wenn ich Ihr Honorar verdoppele?“
Als der Vorstandsvorsitzende diese Frage stellte, bemühte er sich um eine neutrale Stimmlage. Der Ton macht die Musik, wie eine uralte Redensart lautete. Auf keinen Fall durfte er diesen Typen so etwas wie Angst spüren lassen.
„Sie hören nicht zu, Arno. Geld spielt für mich keine Rolle.“
„Für Sie bin ich immer noch Herr Lutter.“
Diese Bemerkung schien der mörderische Clown lustig zu finden.
„Ja, Ihnen ist Ihr gesellschaftlicher Status wichtig, und bei Ihnen hat Geld zweifellos einen hohen Stellenwert.“
„Wenn Sie meinen“, entgegnete Lutter kalt. „Ich schlage vor, dass Sie sich wieder melden, wenn Sie nicht einfach nur plaudern wollen. Meine Zeit ist nämlich sehr kostbar.“
„Ja, Ihre Zeit ist wirklich kostbar – und die Ihrer Lieben ist es auch. Sie sollten jede Minute mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter genießen. Das Schicksal schlägt manchmal schneller zu, als man es für möglich hält.“
Lutter quittierte diese unverhohlene Drohung, indem er das Telefonat wortlos beendete.
Dann stand er auf und ließ seinen Blick über die Gebäude der City Nord schweifen. Unruhe machte sich in seinem Inneren breit, obwohl er dieses Gefühl nicht zulassen wollte.
Ob der Mordauftrag ein riesiger Fehler gewesen war?
Der Kriminaldauerdienst hatte bei Paulina Olsens Leiche ihr Smartphone sichergestellt. Die Daten waren von den Technikern bereits ausgelesen und die Fingerabdrücke auf dem Gerät gecheckt worden. Falls sie von anderen Personen als dem Opfer stammten, würden die Ermittler es im Lauf des Tages erfahren.
Nun beschäftigten Heike und Ben sich mit dem Smartphone.
„Die Frau hatte 311 Kontakte in ihrem Adressbuch!“, stöhnte der Hauptkommissar. „Sollen wir die alle abtelefonieren?“
„Das wird nicht nötig sein“, meinte Heike, die ihm über die Schulter schaute. „Sieh mal – die wichtigen Kontakte hat sie offenbar mit einem Sternchen gekennzeichnet. MAMA und eine Bad Oldesloer Festnetznummer – man muss nicht Sherlock Holmes sein, um diesen Kontakt ihrer Mutter zuzuordnen.“
„Gut, allzu viele Sternchen gibt es hier nicht“, meinte Ben. „Also waren die meisten Kontakte oberflächlich? Hier, gleich am Anfang der Liste steht Fashion Beast, und zwar sogar mit drei Sternen versehen. Das war für sie also eine besonders wichtige Nummer?“
„Das wird sich gleich zeigen“, entgegnete Heike. Sie benutzte das Smartphone des Opfers, als sie nun Fashion Beast anrief.
Eine junge Frauenstimme erklang.
„Hey, Süße – was geht? Bist du sicher, dass du mich während der Arbeitszeit anrufen darfst? Oder hast du gerade Pause?“
Heike antwortete, indem sie sich mit Namen und Dienstgrad vorstellte.
„Polizei?“, vergewisserte Fashion Beast sich. „Wenn das ein Scherz sein soll, finde ich ihn nicht komisch. Wie sind Sie an das Handy meiner Freundin gekommen? Vielleicht sollte besser ich die Bullen rufen!“
„Haben Sie von dem Messermord an der Schönen Aussicht gehört?“
Fashion Beast antwortete stockend auf Heikes Frage.
„Ja, das ging doch schon in der Nacht durch alle sozialen Medien. Moment mal! Wollen Sie behaupten, das Opfer …“
„Wir möchten gern persönlich mit Ihnen sprechen“, sagte Heike. „Leben Sie in Hamburg?“
„Ja, Paulina und ich waren fast Nachbarinnen – und beste Freundinnen!“ Plötzlich schluchzte Fashion Beast auf. Es dauerte, bis sie wieder halbwegs zu verstehen war.
„Wer tut denn so etwas?“
„Das wollen wir herausfinden“, entgegnete Heike. „Geben Sie uns bitte Ihre Adresse?“
Die Frau nannte eine Anschrift am Hofweg. Von dort aus war es nicht weit bis zum Tatort. Die Ermittler hatten inzwischen herausgefunden, dass Paulina Olsen in der Straße Am Feenteich gewohnt hatte. Das Opfer und ihre Freundin Fashion Beast hatten also wirklich nicht weit voneinander gelebt.
Heike und Ben fuhren zum Hofweg.
„Ich bin gespannt, ob Fashion Beast auch auf ihrem Klingelschild steht“, meinte Ben.
„Hast du eigentlich schon einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Opfers beantragt?“
„Darum wollte sich die Chefin persönlich kümmern. Ich schätze, dass wir uns dort heute im Lauf des Tages umschauen können. Falls Paulina Olsen ein Zufallsopfer war, ist das leider Zeitverschwendung.“
Heike seufzte.
„Da muss ich dir recht geben. Meiner Meinung nach stehen die Chancen fünfzig zu fünfzig. Einerseits hat es in der Vergangenheit genug Horrorclowns gegeben, die völlig willkürlich Menschen erschreckt und teilweise auch angegriffen haben. Andererseits ist gerade diese allgemein bekannte Tatsache die beste Tarnung für einen Täter, der es genau auf dieses Opfer abgesehen hat. Er will uns mit dieser dämlichen Maske in die Irre führen.“
Wie sich herausstellte, hieß Fashion Beast mit bürgerlichem Namen Julia Best. Sie wohnte in einem dreistöckigen Jugendstil-Altbau, der über einen schmalen Garten mit hohem Eisengitter verfügte. Dort lebte sie in einer Wohnung im obersten Stockwerk.
Als sie nach dem Klingeln öffnete, war ihr Gesicht verquollen und ihre Augen gerötet. Julia Best hielt ein zerknülltes Papiertaschentuch in der Hand. Ihre Garderobe passte nicht zu ihrer Trauer, denn sie trug ein altrosa Kleid im Retro-Look, außerdem dunkle Overknees und eine farbenfrohe Kette aus großen Holzperlen.
Die Todesnachricht schien wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei ihr eingeschlagen zu sein.
Die Freundin des Opfers bat die Ermittler in ihr Wohnzimmer, das trendy und cool eingerichtet war. Eine Ecke des großen Altbau-Raums erinnerte Heike an ein TV-Studio. Julia Best bemerkte ihren Blick.
„Ich habe einen Mode-Blog und einen ziemlich erfolgreichen Kanal auf YouTube“, erklärte sie. „Morgen müsste ich eigentlich wieder etwas posten. Aber wie soll ich meine Fans locker unterhalten, wenn meine beste Freundin erstochen wurde?“
Diese Frage ließen die Ermittler unbeantwortet. Julia Best lief unruhig hin und her. Sie kochte Tee und bot ihn ihren Gästen an. Heike und Ben hatten auf einem breiten Plüschsofa Platz genommen, während sich Fashion Beast in einen Clubsessel sinken ließ.
„Die Fahndung nach dem Täter oder der Täterin hat bisher noch nichts ergeben“, erklärte die Hauptkommissarin. „Kennen Sie eine oder mehrere Personen, denen Sie einen Mord an Paulina Olsen zutrauen würden?“
Julia Best runzelte die Stirn.
„Es kommt auch eine Frau infrage?“
„Die wenigen Zeugen konnten nicht hören, ob die maskierte Person etwas zu dem Opfer sagte“, gab Heike zurück. „Und die Figur ließ nicht eindeutig auf das Geschlecht des Täters schließen.
Fashion Beast nickte langsam.
„Ich verstehe. – Na ja, Paulina hatte Neiderinnen in der Firma. Manche Kolleginnen nahmen ihr den schnellen Aufstieg übel. Wenn man im Hamsterrad eines Unternehmens schuftet, dann entwickelt man so einen Tunnelblick. Ich habe früher selbst mal als Call-Center-Agentin gearbeitet. Ein echter Sklaventreiber-Job. Irgendwann machte ich mein Hobby zum Beruf und bin jetzt richtig gut im Geschäft.“
Fashion Beast machte wirklich nicht den Eindruck, am Hungertuch zu nagen. Selbst wenn sie sich keinen weiteren Luxus leistete – allein diese Wohnung in Alsternähe wäre für viele Hamburger der unteren Einkommensschichten unbezahlbar gewesen.
„Woher kennen Sie Paulina Olsen?“, wollte Ben wissen.
„Wir sind Schulfreundinnen. Ob Sie es glauben oder nicht, ich stamme auch aus Bad Oldesloe. Paulina war schon damals sehr ehrgeizig, manche Leute auf der Penne nannten sie eine Streberin. Doch das war sie nicht. Paulina hatte einfach sehr viel in der Birne, das Lernen fiel ihr leicht. Ich hingegen konnte mir in Hamburg zuerst nicht mehr an Land ziehen als diesen Call-Center-Job und ein winziges WG-Zimmer in Altona. Na ja, jetzt geht es mir kohlemäßig viel besser. Aber nun ist Paulina nicht mehr da …“
In ihren großen blauen Augen erschien jeweils eine Träne. Ihre Unterlippe zitterte.
„Wir brauchen Namen, bitte“, erinnerte Heike. „Namen von Neiderinnen.“
Fashion Beast riss sich zusammen.
„Ja, natürlich. Paulina hat mal von einer Kirsten erzählt, die ihr Salz in den Kaffee getan haben soll. Kindergartenniveau, oder? Und eine gewisse Sandra hat bei ihrem Boss eine Intrige gegen Paulina eingefädelt. Das ging aber nach hinten los, es kam heraus und sie wurde abgemahnt. Nachnamen kann ich Ihnen leider nicht liefern.“
„Die kriegen wir heraus“, versicherte Ben. „Wie war das Verhältnis Ihrer Freundin zu ihren Vorgesetzten?“
„Also, Paulinas Chef wird sich wohl kaum eine Clownsmaske aufgezogen haben und mit dem Messer auf sie losgegangen sein“, meinte Julia Best. „Herr Lutter war so eine Art Mentor für sie, hat ihre Laufbahn in dem Unternehmen sehr gefördert.“
„Meinen Sie, dass zwischen den beiden mehr gewesen ist?“, fragte Heike direkt.
Julia Bests Gesicht bekam einen abweisenden Ausdruck.
„Glauben Sie, Paulina hätte sich hochgeschlafen? Ha! Als ob das die einzige Möglichkeit wäre, heutzutage als Frau Karriere zu machen. Sie leben wohl noch im vorigen Jahrhundert, Frau Kommissarin.“
Heike erwiderte nichts. Die heftige Reaktion der Freundin zeigte, dass sie in ein Wespennest gestochen hatte.
Und Heike nahm sich vor, diesen Herrn Lutter ganz besonders gründlich zu durchleuchten.
Maja Wilken hieß jetzt Nadja Janowska.
Sie wusste nicht, ob ihr falscher tschechischer Reisepass besonders viel taugte. Der bulgarische Grenzbeamte hatte jedenfalls bei ihrer Einreise per Flugzeug keinen Anstoß daran genommen und ihr einen angenehmen Aufenthalt in seinem Land gewünscht.
Nachdem Bens Ehefrau den Schergen des baltischen Gangsterbosses Kalnins entkommen war, hatte sie in Warschau einen Zwischenstopp eingelegt. Trotz des hinter ihr liegenden Kampfs auf Leben und Tod war sie immer noch attraktiv genug, um von einem reichen russischen Geschäftsmann in einer Hotelbar angesprochen zu werden.
Der Kerl hatte viel Geld und wenig Menschenkenntnis besessen.
Daher verbrachte er die Nacht allein und mit eingeschlagenem Schädel im Bad seiner Luxussuite, während Maja sich mit dem Inhalt seiner Brieftasche davongemacht hatte.
Obwohl sie in Polen keine Menschenseele kannte, hatte sie trotzdem einen Passfälscher auftreiben können, bei dem sie den größten Teil ihrer Beute gelassen hatte.
Die Qualität der falschen Personalpapiere hatte jedenfalls ausgereicht, um ihr eine problemlose Einreise nach Bulgarien zu ermöglichen.
Maja hatte einstweilen
Verlag: Elaria
Texte: Martin Barkawitz
Cover: Marie Wölk, www.wolkenart.com
Lektorat: Christel Baumgart, www.lektorat-mauspfad.de
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2018
ISBN: 978-3-96465-071-9
Alle Rechte vorbehalten