Dies ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen oder eventuelle Namensähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Inhalt:
Als ein Zimmermädchen mit durchschnittener Kehle aus dem Fenster eines Stundenhotels stürzt, beginnt für Hauptkommissarin Heike Stein der beunruhigendste Fall ihrer Laufbahn. Zwar kann sie endlich offene Fragen aus einer früheren Ermittlung klären, doch als es noch mehr Tote gibt, kommen Heike und ihre Kollegen einem internationalen Verbrecher-Netzwerk auf die Spur. Was hat der charismatische Meisterkriminelle Anselmo Massini wirklich vor?
Inzwischen schmiedet Hauptkommissar Ben Wilkens Ex-Frau Maja weiterhin dunkle Pläne, denn Heike Stein steht immer noch ganz oben auf ihrer Todesliste.
Welches Geheimnis verbirgt sich in den Zimmern des Killerhotels?
Oxana Luzenko dachte nicht an ihren Tod, als sie das Hotelzimmer betrat. Die junge Ukrainerin war gestresst, doch das war bei ihr der Normalzustand. Als miserabel bezahltes Zimmermädchen fehlten ihr die Gelegenheit und Muße, sich über den Sinn des Lebens oder den Zustand der Welt den Kopf zu zerbrechen.
Ihr Rücken schmerzte, als sie sich über das völlig zerwühlte Hotelbett beugte. Die Knochenarbeit hinterließ bei ihr bereits Spuren, obwohl Oxana erst zweiundzwanzig Jahre alt war. Ihr blieb viel zu wenig Zeit, um das Zimmer in dieser miesen Absteige auf Vordermann zu bringen. Dieser Drachen, der sich Hausdame nannte, saß ihr ständig im Nacken. Außerdem war es für sie völlig normal, ihrem Lohn hinterherlaufen zu müssen.
Doch Oxana kannte es nicht anders, denn ...
Ihr Gedankenfluss wurde plötzlich unterbrochen, als sie die Bettdecke zurückschlug. Ihre Kehle trocknete schlagartig aus, ihr liefen eiskalte Schauer über den Rücken.
Auf dem Laken befand sich ein gewaltiger Blutfleck.
Er war so riesig, dass eine unerwartet auftretende Menstruation oder eine kleine Schnittwunde unmöglich die Ursache dafür sein konnten. Diese Erkenntnis wurde Oxana schlagartig bewusst.
Sie war nicht dumm.
Ihr Medizinstudium hatte sie nur abbrechen müssen, um in Deutschland Geld zu verdienen.
RAUS!
Es kam ihr so vor, als ob dieses Wort plötzlich in riesigen Lettern auf die stockfleckige Tapete projiziert wurde. Oxana hatte gelernt, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Bisher war es immer hilfreich gewesen.
Doch diesmal nicht.
Das Zimmermädchen hatte angenommen, dass sich der Gast nicht mehr in dem Raum befand. Diese Vermutung war falsch, wie Oxana nun voller Panik feststellen musste.
Der Mann trat aus der Nasszelle.
Oxana musste an ihm vorbei, wenn sie den rettenden Korridor erreichen wollte. Ansonsten war das Fenster eine zweite Fluchtmöglichkeit.
Nur befand sich das Hotelzimmer im zweiten Stockwerk.
Sie dachte trotzdem an einen Sprung in die Tiefe. Im Studium hatte Oxana von Fällen gehört, wo Patienten Stürze aus großer Höhe mit mehreren Frakturen überlebt hatten und später wieder fast vollständig hergestellt worden waren.
Gewiss, das Fenster war die bessere Möglichkeit.
Der Mann würde ihr nämlich keine Chance lassen. Das spürte sie ganz deutlich. Sein Gesicht war grau und wie aus Granit gemeißelt. Er hielt ein großes Steakmesser mit blutiger Klinge in seiner Rechten.
Oxana zweifelte nicht daran, dass er damit umgehen konnte.
Ob sie um Hilfe rufen sollte?
Doch wer sollte sie retten? Einer von den Junkies oder Hurenböcken, die sich in den anderen Zimmern aufhielten?
Nein, dann lieber in die Tiefe springen.
Oxana drehte sich abrupt um, packte den Griff und öffnete das Fenster. Schnelle Schritte näherten sich. Kein Wunder, ein großer Mann konnte das kleine Zimmer im Handumdrehen durchqueren.
Oxana wurde von einem heftigen Schmerz durchzuckt und konnte ihr Vorhaben nur zur Hälfte in die Tat umsetzen.
Das Zimmermädchen schaffte es wirklich, aus dem Fenster nach draußen zu gelangen – allerdings mit durchschnittener Kehle..
Kriminalrätin Dr. Laura Brink eröffnete die Morgenbesprechung bei der Sonderkommission Mord im Hamburger Polizeipräsidium.
„In der vorigen Nacht hat es in St. Georg ein Tötungsdelikt gegeben“, erklärte die kühle Blonde. „Der Kriminaldauerdienst konnte bereits die Identität des Opfers feststellen. Es handelt sich um die ukrainische Staatsangehörige Oxana Luzenko, die im Hotel Jablonski arbeitete. Dort muss sich das Verbrechen auch abgespielt haben, wobei die Frau aus dem Fenster auf die Straße geworfen wurde.“
„Hotel Jablonski–das erste Haus am Platz“, witzelte Kommissar Rüdiger Koslowski düster. „Ist die Ärmste vielleicht einfach bei einem Drogendeal oder einem Zuhälterkrieg zwischen die Fronten geraten?“
„Dieser Frage werden Sie und Frau Russ tiefschürfend nachgehen können“, schnarrte die Chefin. „Daher übertrage ich Ihnen diesen neuen Fall.–Doch Sie alle werden sich gewiss schon fragen, wer der Herr an meiner Seite ist.“
Heike Stein wusste, dass ihre Vorgesetzte es gern spannend machte. Die Hauptkommissarin hatte den breitschultrigen Mann im Nadelstreifenanzug noch nie zuvor gesehen. Auf ihre Kollegen schien das Gleiche zuzutreffen, jedenfalls deuteten die neugierigen Mienen der anderen Ermittler darauf hin.
„Ich möchte Ihnen Inspektor Pieter de Groot von Europol vorstellen“, sagte Frau Dr. Brink. „Er kann uns dabei helfen, einige offene Fragen im Fall Dennis und Janina Schaper zu klären.“
Durch diese Ankündigung bekam Inspektor de Groot sofort Heikes ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie und ihr Dienstpartner Ben Wilken waren seit Tagen stark damit beschäftigt, die Machenschaften des Serienmörder-Ehepaares zu untersuchen. Da sowohl Dennis Schaper als auch seine Frau nicht mehr lebten, gestalteten sich die Ermittlungen äußerst zäh. Das Verbrecher-Duo hatte ein perfektes Doppelleben geführt, deshalb war so gut wie nichts über ihre Bluttaten nach außen gedrungen.
Die Chefin nickte dem Europol-Mann auffordernd zu.
De Groot erhob sich und klappte sein mitgebrachtes Notebook auf. Er projizierte das erkennungsdienstliche Foto eines bärtigen Mannes an die Wand.
„Hat jemand von Ihnen schon einmal den Begriff Brigant gehört?“, fragte er mit leichtem holländischen Akzent.
Kommissarin Melanie Russ meldete sich, als wäre sie in der Schule.
„So wurden im Italien des siebzehnten Jahrhunderts die Räuber genannt.“
Der Inspektor nickte und deutete auf das Bild.
„Ja, und vor einem Jahr ist dieser historische Begriff wieder entstaubt worden. Der Mann hier heißt Anselmo Massini und hat nach unseren bisherigen Erkenntnissen zwölf Menschen getötet. Er gilt als gemeingefährlicher Psychopath und verbüßt in Mailand eine lebenslange Freiheitsstrafe. Massini hat das Netzwerk der Briganten gegründet.“
Heike Stein hielt die Anspannung nicht mehr aus.
„Verzeihen Sie, aber was hat dieser Massini mit Dennis Schaper zu tun?“
Die Chefin warf Heike einen gereizten Blick zu, doch der Europol-Mann ging auf ihre Frage ein.
„Die kurze Antwort lautet, dass Dennis Schaper ebenfalls zum Briganten-Netzwerk gehört hat. Ob Schaper von einem anderen Briganten getötet wurde, kann ich Ihnen leider nicht sagen.“
„Wir kennen die Identität von Schapers Mörder“, erwiderte Heike. „Der junge Mann war der Freund eines Opfers des Serienmörders. Er hatte es sowohl auf Dennis als auch auf dessen Ehefrau abgesehen. Könnten die Briganten für den Tod von Janina Schaper verantwortlich sein?“
„Das kommt mir unwahrscheinlich vor“, sagte der Inspektor. „Das Briganten-Netzwerk spannt sich über ganz Westeuropa.–Haben Sie sich noch nicht gefragt, aus welchem Grund sich Schaper so leicht und widerstandlos verhaften ließ?“
„Über seine Motivation zerbreche ich mir seit Wochen den Kopf“, gab Heike zu.
„Es ist ebenso einfach wie schockierend“, begann de Groot. Er war nun so ernst wie ein Geistlicher, der auf seiner Kanzel stand. „Um Mitglied dieses Briganten-Netzwerks zu werden, muss man nachweislich mindestens drei Menschen getötet haben, rechtskräftig verurteilt worden und ins Gefängnis gekommen sein. Erst in dem Moment, in dem Sie hinter Gittern landen, sind Sie ein vollwertiges Mitglied dieses Killer-Netzwerks.“
„Das ist doch Wahnsinn!“, platzte der sonst so ruhige Ben Wilken heraus. „Was haben diese Kriminellen von ihrem Zusammenschluss, wenn jeder von ihnen anderswo einsitzt? Sie sagten, Massini wäre in Mailand, Schaper war in Hamburg ...“
Der Inspektor fiel ihm ins Wort.
„… Wilson wurde in Birmingham eingesperrt, Van Houten sitzt in Den Haag ein, Sörensen in Kopenhagen, Faller in Wien–und das sind nur die Briganten, von denen wir bisher wissen. Es können noch viel mehr sein.“
Heike spürte, wie sich ihr Magen umzudrehen begann. Außerdem spielte ihr Kreislauf verrückt. Das kam bei ihr nicht gerade häufig vor. In ihrem Job war eine gewisse Kaltblütigkeit überlebenswichtig.
Doch plötzlich wurde Heike von einer beängstigenden Ungewissheit geplagt.
„Welche Absichten verfolgen diese Briganten?“, fragte sie mit metallisch klingender Stimme.
„Darüber können wir nur spekulieren“, gab De Groot zurück. „Unseren IT-Spezialisten ist es gelungen, im Darknet eine Art Manifest ausfindig zu machen. Endziel ist offenbar, innerhalb der Gefängnisse eine genügend große Armee von Kriminellen zu rekrutieren, um eine Herrschaft des Verbrechens auszurufen.“
Ben Wilken schüttelte den Kopf.
„Diese Leute sind geisteskrank; so etwas funktioniert doch niemals.“
„Ich widerspreche Ihnen ungern“, sagte der Inspektor. „Mörder genießen unter ihren Mitgefangenen ein hohes Ansehen, das ist in allen Ländern so. Für Serienmörder gilt diese Tatsache doppelt und dreifach. Darum muss man auch mindestens drei Menschen getötet haben, um in diesen Killerklub aufgenommen zu werden.“
Ben blieb skeptisch.
„Wie wollen diese kriminellen Psychopathen überhaupt miteinander kommunizieren, wenn sie in verschiedenen Ländern und in unterschiedlichen Strafanstalten einsitzen?“
„Das ist schwierig, aber nicht unmöglich“, stellte De Groot fest. „Denken Sie beispielsweise an amerikanische Gangs, die in Gefängnissen gegründet wurden. Die Verbindungen werden über Anwälte und andere Besucher sowie korruptes Personal gehalten. Es soll im Darknet ein Briganten-Forum geben. Wir konnten uns noch nicht Undercover einschleusen, weil man auch dort mindestens drei Morde begangen haben muss, um dabei sein zu dürfen.“
„Also könnte Janina Schaper von den Briganten liquidiert worden sein?“, vergewisserte Heike sich.
Der Inspektor zuckte mit den Schultern.
„Ich bezweifle es, zumal sie selbst eine Mörderin war und das Motiv fehlt. Bei der Europol haben wir natürlich den Fall Schaper aufmerksam verfolgt. Tatsache ist: Dennis Schaper hatte im Darknet sozusagen einen Aufnahmeantrag gestellt. Er ist ja auch ordentliches Mitglied der Briganten geworden, soweit wir wissen. Zumindest von Massini wissen wir, dass er ein leidenschaftlicher Frauenhasser ist. Die bisher ausfindig gemachten Briganten sind ausnahmslos Männer. Daher kann ich mir nicht vorstellen, dass er eine Serienmörderin in seinen Reihen geduldet hätte. Andererseits sind Tötungsdelikte immer noch eine Männerdomäne. Vielleicht hätte Massini es ja auch reizvoll gefunden, Janina Schaper dabeizuhaben.“
Heike kniff die Augen zusammen.
„Wenn man bedenkt, dass Sie nicht in dieses Darknet-Forum kommen, wissen Sie bewundernswert viel über diese Gruppierung“, stellte sie fest.
Der Inspektor zuckte mit den Schultern.
„Es gab noch einen weiteren Briganten, nämlich Fernier in Marseille. Er bekam aus irgendwelchen Gründen kalte Füße und plauderte bei der Polizei alles aus, was er über Massini und dessen Klub wusste. Das ist ihm nicht gut bekommen.“
„Tot?“
Heike ahnte die Antwort auf ihre Frage, aber sie wollte Gewissheit.
„Es ist den französischen Behörden leider nicht gelungen, Fernier perfekt abzuschirmen“, gab der Europol-Mann zu. „Und er hat ganz gewiss keinen leichten Tod gehabt.“
Das Hotel Jablonski war einer der vielen billigen Beherbergungsbetriebe, von denen der Steindamm gesäumt wurde. Die Lebensader des Bahnhofsviertels genoss außerhalb Hamburgs nicht so einen legendären Ruf wie die berühmt-berüchtigte Reeperbahn, doch auch der Steindamm konnte mit jeder Menge Prostitution, Glücksspiel und Kleinkriminalität aufwarten. Polizeieinsätze gehörten hier und in den umliegenden Straßen zur gewohnten Tagesordnung.
Melanie Russ und Koslowski waren nach der Dienstbesprechung sofort Richtung St. Georg gefahren. Sie hatten ihren Wagen bei der Polizeistation abgestellt und gingen nun zu Fuß auf das Hotel zu.
„Du bist ja so schweigsam“, stellte der aus Dortmund stammende Kommissar fest.
Seine Kollegin hob die Augenbrauen.
„Wirst du auf deine alten Tage noch sensibel?–Scherz beiseite, ist dir heute an Heike nichts aufgefallen?“
„Du meinst, sie hätte noch umwerfender ausgesehen als sonst?“
„Blödmann!“, erwiderte Melanie grinsend und knuffte Koslowski mit dem Ellenbogen in die Flanke. „Nein, darum geht es nicht. Heike ist weiß wie die Wand geworden, als von diesen verflixten Briganten die Rede war. Sie hat es wohl immer noch nicht richtig verwunden, dass Janina Schaper sie überwältigt und ihr die Dienstwaffe abgenommen hat. Und jetzt kommt alles wieder hoch–falls nämlich dieser merkwürdige Knast-Geheimbund wirklich für den Tod der Serienmörderin verantwortlich ist.“
Koslowski machte eine unbestimmte Handbewegung.
„Bis jetzt ist die Spurenlage beim Mord an Janina Schaper ja auch mehr als dürftig. Wenn das kriminaltechnische Labor endlich mal die Untersuchung der Geschosse beenden würde, kämen Heike und Ben mit dem Fall bestimmt besser voran. Wir sollten uns besser auf den Mord an dieser Oxana Luzenko konzentrieren. Wenn es nach mir ginge, hätte Jablonskis Rattenloch von Hotel schon längst dichtmachen müssen. Doch was nützt das schon? Wenn der Laden geschlossen wird, eröffnet ein anderer Dreckskerl eine ähnlich zwielichtige Bude.“
„Hast du jetzt deine pessimistischen fünf Minuten?“
„Wundert dich das?“, fragte Koslowski zurück. Ihnen kam ein humpelnder Junkie entgegen, der gerade Geld in Drogen umgesetzt hatte. Der Dealer war noch in Sichtweite, doch sowohl Melanie als auch ihr Dienstpartner wussten, dass sie dem Kerl nichts am Zeug flicken konnten. Die Typen hatten ihre Ware niemals bei sich.
Die Kommissarin hakte sich bei Koslowski ein.
„Mach nicht so ein trauriges Gesicht, mein Lieber. Lass uns lieber den Mörder dieser jungen Frau hinter Gitter bringen.“
„Ja, wie bei den Pfadfindern: Jeden Tag eine gute Tat“, lästerte Koslowski.
Wenig später betraten die Ermittler die Hotellobby. Die Rezeption befand sich hinter schusssicherem Glas. Kalter Zigarettenrauch und der Duft von billigem Parfüm lagen in der Luft. Der Wandschmuck bestand aus einem gerahmten Foto des Hamburger Hafens. Es war so alt, dass nicht nur die Elbphilharmonie, sondern auch das Segelschiff Rickmer Rickmers fehlten.
An der Rezeption war niemand zu sehen. Koslowski schlug mehrerer Male mit der flachen Hand gegen die schmierige Glasscheibe. Daraufhin erschien ein junger Mann, der vom Aussehen her ein Inder oder Pakistaner sein konnte. Er schenkte den Kriminalisten ein geschäftsmäßiges Lächeln, während er den Knopf einer Gegensprechanlage betätigte.
„Sie wünschen ein Zimmer? Für eine Stunde oder für eine Nacht?“
Melanie schüttelte den Kopf und drückte ihren Kripo-Ausweis gegen die Scheibe.
„Wir müssen mit dem Inhaber sprechen.“
Das Lächeln gefror dem Rezeptionisten auf den Lippen.
„Selbstverständlich. Gedulden Sie sich bitte einen Moment.“
Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und zog sich in das Kabuff zurück, aus dem er gekommen war.
Koslowski ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und schob die Hände in die Hosentaschen.
„Du willst nicht mit mir aufs Zimmer? Jetzt bin ich aber schwer enttäuscht.“
„Lass den Unsinn“, fauchte Melanie. „Du bist doch immer so oberschlau. Hast du eine Ahnung, warum dieses Hotel nicht von der Pressemeute belagert wird? Den Blutfleck draußen auf dem Gehweg konnte man jedenfalls nicht übersehen. Ist so ein Mord am helllichten Tag für die Journaille nicht mehr sensationell genug?“
Der Kommissar zuckte mit den Schultern.
„Normalerweise schon. Andererseits gastiert momentan dieses Skandal-Rapper-Duo Made & Fleischgurke in der Stadt. Ihre Pressekonferenzen arten regelmäßig zu Prügelorgien aus. Jeder Sensationsreporter, der etwas auf sich hält, wird dort sein. Das bringt mehr Auflage als ein Frauenmord im Bahnhofsviertel.“
Bevor Melanie etwas erwidern konnte, wurde eine Seitentür aufgestoßen. Ein dicklicher Kerl in einem schlecht sitzenden Anzug eilte auf die Kriminalisten zu. Er trug eine altmodische Hornbrille und rieb sich seine beringten Pranken, als würde er sinnbildlich seine Hände in Unschuld waschen wollen.
„Ich bin Pavel Jablonski“, stellte er sich vor. „Ist die Polizei denn immer noch nicht fertig mit ihren Ermittlungen? Sie ruinieren mein Geschäft!“
„Viel gibt es da wohl nicht mehr zu ruinieren“, entgegnete Koslowski, nachdem er Melanie und sich selbst vorgestellt hatte. „Je enger Sie mit uns zusammenarbeiten, desto schneller sind Sie uns wieder los.“
Jablonski wand sich wie ein Aal.
„Ich habe doch Ihren Kollegen vom Kriminaldauerdienst schon alles gesagt.“
Melanie nickte.
„Für meinen Geschmack sind noch zu viele Fragen offengeblieben. Zeigen Sie uns doch zunächst einmal das Zimmer, aus dessen Fenster das Opfer in den Tod gestürzt ist.“
Der Hotelier führte die Kommissare widerwillig hoch in die zweite Etage. Sie mussten die steile Treppe nehmen.
„Der Lift ist momentan leider außer Betrieb“, erklärte Jablonski.
„Wie kommt es, dass ich mich nicht darüber wundere?“, gab Koslowski trocken zurück.
„Sie haben gut reden. Das Geschäft ist hart, und mit preiswerten Übernachtungsmöglichkeiten zieht man nicht das beste Klientel an. Die Gäste klauen wie die Raben und hinterlassen oft genug ein völliges Chaos.“
Da die Spurensicherung ihre Arbeit schon erledigt hatte, konnten die Kriminalisten sich in dem Zimmer ungezwungen bewegen. Die zerstörte Fensterscheibe war provisorisch durch Pappe ersetzt worden. Melanie öffnete ihre Ledermappe und breitete einige Fotos auf dem kleinen Schreibtisch aus.
„Diese Aufnahmen haben wir von den Kriminaltechnikern bekommen“, erklärte sie. „Das Bettlaken ist wegen des eingetrockneten Blutes ein Beweisstück und wird momentan noch analysiert. Haben Sie eine Ahnung, von wem das Blut stammen könnte, Herr Jablonski? Von Oxana Luzenko wohl nicht. Die tödliche Verletzung an ihrer Kehle wurde ihr unmittelbar vor ihrem Fenstersturz zugefügt. Das wissen wir schon.“
Und Koslowski ergänzte: „Wir nehmen an, dass das Zimmermädchen das Blut entdeckte und daraufhin in Panik geriet. Bevor Oxana fliehen konnte, lief sie dem Mörder in die Arme. Und dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um den Gast, der dieses Zimmer gebucht hat.“
Der Hotelier nickte. Er wirkte nun übertrieben zerknirscht.
„Ja, ich habe den anderen Polizisten sofort seinen Meldezettel überlassen. Mehr konnte ich doch nun wirklich nicht tun.“
„Sie hätten sich bei der Anreise seine Personalpapiere zeigen lassen können“, schlug Koslowski vor. „Alan Coswick ist nämlich ein falscher Name. Es ist heutzutage nicht mehr ganz so einfach, einen Reisepass nachzumachen. Vor allem ist es ein teurer Spaß.“
„Meine Mitarbeiter sind keine Passkontrolleure“, beteuerte Jablonski.
Melanie rollte ungeduldig mit den Augen.
„So kommen wir nicht weiter. Haben Sie selbst diesen Gast zu Gesicht bekommen?“
„Nein, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Außerdem geht es in meinem Hotel zu wie in einem Taubenschlag.“
„Kein Wunder, wo Sie doch die Zimmer auch schon für nur eine Stunde vermieten“, bemerkte Melanie süffisant.
Der Hotelier schüttelte heftig den Kopf.
„Ich bin ein seriöser Geschäftsmann; in meinem Haus geht nichts Illegales vor.“
„Von einem Mord mal abgesehen“, sagte Koslowski. Und bevor Jablonski protestieren konnte, redete er weiter: „Erzählen Sie uns lieber von dem Opfer. Seit wann arbeitete Oxana Luzenko für Sie?“
„Da müsste ich nachschauen, aber es werden ungefähr drei Monate gewesen sein.“
„Gab es Auffälligkeiten?“, bohrte Melanie nach. „Hatte sie öfter Ärger mit den Gästen?“
„Nein, Oxana war mehr vom Typ ‚graue Maus‘, wenn Sie verstehen. Das war mir eigentlich ganz recht, denn so nahmen sich die Gäste ihr gegenüber keine Frechheiten heraus.“
„Und es wäre auch schlecht fürs Geschäft der Prostituierten in Ihrem Hotel, wenn die Männer sich stattdessen mit dem Reinigungspersonal vergnügen würden“, gab Koslowski zu bedenken.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, behauptete Jablonski.
„Schon gut, wir würden jetzt gern Oxanas Zimmer sehen“, forderte Melanie. „Die Kriminaltechniker hatten noch keine Zeit, es zu durchsuchen. Wie ich höre, haben sie es nur von außen versiegelt.“
„Meinetwegen, dann müssen wir aber noch höher steigen“,
Verlag: Elaria
Texte: Martin Barkawitz
Cover: Marie Wölk, www.wolkenart.com
Lektorat: Sandra Nyklasz
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2018
ISBN: 978-3-96465-004-7
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