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1

 

Als ich Brian Douglas das letzte Mal sah, lagen wir beide im Dreck der französischen Front. Und wir zogen die Köpfe ein, weil uns deutsche Granaten um die Ohren flogen.

Trotzdem erkannte ich ihn sofort wieder, als er an diesem regnerischen Herbsttag in mein winziges Büro gestolpert kam. Meine Vorzimmerqueen Lucy hatte meinen Kriegskameraden als einen neuen Klienten angekündigt. Offenbar war Brian ihr gegenüber nicht auf unsere Bekanntschaft eingegangen.

Mein Regimentskumpel trug einen teuren Maßanzug. Um das Handgelenk hatte er eine Armbanduhr geschnallt, für deren Erwerb ich mindestens ein Jahr lang Fälle hätte lösen müssen. Mit anderen Worten: Er war vom Scheitel bis zur Sohle ein Erfolgsmensch.

Doch seine Gesichtszüge waren von schierer Verzweiflung gezeichnet.

„Du musst mir helfen, Jack!“

Das waren die ersten Worte, die über seine rissigen Lippen kamen. Ich erhob mich hinter meinem zerschrammten Schreibtisch und streckte ihm lächelnd meine Rechte entgegen. Brian schaute mich so verwirrt an, als ob er aus einer tiefen Hypnose erwachen würde. Dann gab er mir die Hand.

Seine Finger fühlten sich an wie ein toter Fisch.

Ich deutete auf meinen Besucherstuhl, und er ließ sich auf das Möbelstück plumpsen.

„Natürlich greife ich dir unter die Arme, altes Haus“, versicherte ich. „Wie lange haben wir uns jetzt nicht mehr gesehen? Zehn Jahre?“

Mein Kriegskamerad nickte.

„Seit meiner Entlassung aus der Army sind zehn Jahre, drei Monate und neun Tage vergangen.“

Ich pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Du magst es gern exakt, oder? Da bin ich anders. Ich bin schon froh, wenn ich weiß, in welcher Flüsterkneipe ich am Vorabend versackt bin.“

Mit meinem Spruch wollte ich die Atmosphäre etwas auflockern, aber Brian schien keinen Sinn dafür zu haben. Logisch – er sah aus, als ob der Weltuntergang direkt hinter dem Times Square lauern würde.

Nun kam meine charmante Sekretärin herein, um uns unaufgefordert einen Kaffee zu servieren. Normalerweise hat ihr Anblick zumindest auf die männlichen Klienten eine herzerwärmende Wirkung. Doch Brian betrachtete sie so leidenschaftslos, als ob er ein achtzigjähriger Klosterbruder wäre.

Ich bedankte mich mit einem freundlichen Lächeln bei Lucy. Sie grinste siegessicher und hob hinter Brians Rücken den Daumen hoch. Natürlich war auch meiner cleveren Mitarbeiterin nicht entgangen, dass sich ein gutbetuchter Mensch in mein Büro verirrt hatte.

Und wir beide konnten einen warmen Geldregen wieder einmal dringend gebrauchen, Freunde.

Brian wartete, bis meine Sekretärin die Tür zum Vorzimmer wieder geschlossen hatte. Dann legte er los.

„Jack, ich bin inzwischen ein ziemlich erfolgreicher Börsianer. Ich gehe an der Wall Street ein und aus, arbeite lange und scheffle jede Menge Dollars. Und ich habe mir ein Haus in Brooklyn Heights zugelegt.“

„Die beste New Yorker Gegend jenseits von Manhattan“, stellte ich fest. „Aber du bist gewiss nicht gekommen, um mich vor Neid erblassen zu lassen, oder?“

Brian schüttelte den Kopf.

„Nein, Jack. Es geht um meinen jüngeren Bruder. Al ist seit einer Woche spurlos verschwunden.“

Ich runzelte die Stirn, steckte mir eine Lucky Strike zwischen die Lippen und zündete sie an.

„Seit einer Woche? Ich nehme an, du bist schon bei den Cops gewesen?“

Brian nickte.

„Ja, natürlich. Aber die Gummischuhe kannst du vergessen. Sie sehen kein Anzeichen für ein Verbrechen. Der Desk Sergeant vom zuständigen Revier hat mir den Tipp gegeben, dass ich mich doch mal in den einschlägigen Bordellen umschauen sollte.“

„Wie alt ist dein Bruder?“

„Neunzehn.“

Ich hob die Augenbrauen.

„Darf ich dich daran erinnern, was wir getan haben, als wir drüben in Frankreich ein paar Tage Fronturlaub hatten? Paris? Place Pigalle? Place Blanche? Montmartre?“

Mein Kriegskamerad riss die Augen auf und ballte die Fäuste. Einen Moment lang schien es, als ob er sich auf mich stürzen wollte. Aber er wollte ja schließlich etwas von mir.

Ich blieb cool und warf ihm einfach nur einen langen Blick zu.

Brian schüttelte den Kopf, bevor er wieder den Mund öffnete.

„Das kannst du doch gar nicht vergleichen, Jack! Wir – wir haben jeden Tag unser Leben riskiert. Nie wussten wir, ob wir den nächsten Morgen noch erleben würden. Da war es doch verzeihlich, dass wir ... wir ...“

Ob Brian früher schon so verklemmt gewesen war? Daran konnte ich mich nicht erinnern.

„Ich werde niemandem verraten, dass du damals im Puff gewesen bist“, versicherte ich treuherzig.

„Sehr komisch, Jack. Doch hier geht es gar nicht um mich. Wir waren damals nur zwei GIs, die mit dem Leben schon abgeschlossen hatten. Al ist ganz anders, er hat eine strahlende Zukunft vor sich. Er geht auf eine Privatschule, das kann ich ihm mit meinem Einkommen ermöglichen. Al könnte Arzt oder Rechtsanwalt werden ...“

„Oder Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika“, fiel ich ihm ins Wort. „Glaubst du ernsthaft, dass dein Bruder sich nicht für Mädchen interessiert, nur weil du ihn auf so eine Schnösel-Penne schickst?“

Ich versuchte, Brian mit meinen Worten auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Er wand sich wie ein Aal.

„Na ja, vielleicht ist er ja gar nicht gekidnappt worden ...“

„Wie kommst du auf eine Entführung?“, hakte ich nach. „Gab es schon eine Lösegeldforderung?“

„Das nicht, aber ...“

„Kein Aber. – Du bist reich, alter Freund. Warum sollten Ganoven deinen Bruder verschleppen, wenn sie nicht für seine Freilassung ein hübsches Sümmchen haben wollten?“

Brian fuhr sich mit den Handflächen über das Gesicht.

„Du hast recht, ich kann nicht mehr klar denken. Meine Eltern leben nicht mehr, ich fühle mich verantwortlich für Al. Es wäre ein Albtraum für mich, wenn ihm etwas zugestoßen wäre.“

Ich bemerkte seinen Ehering.

„Was sagt denn deine Gattin zu der Geschichte?“

Mein Kriegskamerad blinzelte irritiert.

„Wie meinst du das, Jack? Natürlich ist Florence genauso besorgt, wie ich es bin.“

„Womöglich ist deiner Frau etwas an Als Verhalten aufgefallen, das du nicht bemerkt hast. Du sagtest ja selbst, dass du lange arbeitest und erst spät nach Hause kommst.“

„Mir hat sie nichts gesagt“, murmelte Brian. „Aber du bist ein Privatdetektiv, Jack. Du stellst die richtigen Fragen, vielleicht fallen dir Dinge auf, die mir selbstverständlich vorkommen.“

„Schon möglich. – Hast du eine Fotografie von deinem Bruder?“

Er nickte und griff in die Innentasche seines Jacketts. Dann schob er ein Bild über die Schreibtischplatte in meine Richtung.

Die Aufnahme zeigte einen lächelnden jungen Mann, der sein Haar in der Mitte gescheitelt hatte und eine Schuluniform trug.

Ich pfiff durch die Zähne.

„Du schickst Al nach St. Andrews? Dann nagst du ja wirklich nicht am Hungertuch.“

Diese Privatschule ist wirklich nur etwas für die oberen Zehntausend, Freunde.

Brian zuckte mit den Schultern.

„Es soll meinem Bruder an nichts fehlen. Doch ich würde mein ganzes Vermögen opfern, um ihn lebend wiederzubekommen.“

Mir lag die Bemerkung auf der Zunge, dass meine Dienste nicht so teuer wären. Aber da holte Brian eine Rolle Greenbacks aus der Hosentasche und legte sie auf den Tisch.

„Ich muss jetzt zurück an die Wall Street. – Das sind tausend Dollar, Jack. Kommst du damit einstweilen aus?“

Wollte Brian mich verschaukeln? Für mich war diese Summe schon ein echter Glücksfall.

„Ja, natürlich“, murmelte ich. „Deine Adresse in Brooklyn Heights brauche ich auch noch.“

Mein Kriegskamerad gab sie mir, außerdem schrieb er seine private und berufliche Telefonnummer auf.

„Bring mir Al bitte gesund zurück“, flehte er mit brüchiger Stimme. Seine Augen schimmerten feucht. Brian wandte sich ab und stürmte grußlos hinaus.

Bei all den schlimmen Dingen, die wir im Weltkrieg erlebt hatten, waren ihm niemals die Tränen gekommen. Sein Bruder musste ihm wirklich viel bedeuten.

Lucys Stimme riss mich aus meinen Betrachtungen.

Meine Vorzimmerqueen war hereingekommen und verschränkte die Arme vor ihren Brüsten, während sie mir einen anklagenden Blick zuwarf.

„Gut gemacht, Chef! Haben Sie wieder einen wohlhabenden Klienten mit Ihren Sprüchen vergrault? Der Gentleman sah ja aus wie sieben Tage Regenwetter, als er sich verdünnisiert hat.“

„Reg dich ab, Sweetheart. Brians Trauerkloß-Miene ist nicht meinem losen Mundwerk geschuldet, sondern der Sorge um seinen Bruder. – Wir haben einen neuen Auftrag.“

Da ich nicht nur redete, sondern auch den Honorar-Vorschuss hochhielt, wurde Lucy im Handumdrehen besänftigt. Der Anblick von grünen Scheinchen möbelte ihre Laune schlagartig auf, denn ich hatte ihr schon seit Wochen keinen Lohn mehr zahlen können.

Meine Sekretärin kam zu mir herüber und platzierte ihr Hinterteil auf meinem Schreibtisch, bevor sie sich einige von den Dollarnoten griff und in ihrem Dekolleté verschwinden ließ.

„Und Sie reden unseren neuen Klienten schon mit seinem Vornamen an? Wollen Sie heute Abend mit ihm in eine Flüsterkneipe gehen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dafür hat der Ärmste wohl momentan keinen Sinn. – Wir waren gemeinsam in der Army.“

Und ich berichtete Lucy mit einigen Sätzen von der Zeit in den Schützengräben Frankreichs, wobei ich die schlimmsten Details wegließ. Ich wollte schließlich meinem blonden Engel keine Albträume bereiten. Außerdem erzählte ich ihr alles, was ich von Brian über das Verschwinden seines Bruders erfahren hatte. Viel war es ja nicht.

Lucy schob nachdenklich ihre wohlgeformte Unterlippe vor.

„Ein Kriegskamerad also! Und ich habe mich schon gefragt, weshalb ein gutbetuchter Bürger sich in unser Detektivbüro verirrt und nicht so einen schnieken Fifth-Avenue-Ermittler anheuert.“

„Weil diese Typen sich erst ihre Samthandschuhe ausziehen müssen, bevor sie sich mit einem Brooklyn-Ganoven anlegen“, knurrte ich.

„Dann glauben Sie also wirklich, dass dieser Al gekidnappt wurde?“

„Weiß der Henker. Ich fahre jetzt erst mal nach Brooklyn und versuche zu erfahren, weshalb sich der Knabe in Luft aufgelöst hat.“

„Und was soll ich tun, Chef?“

„Du könntest dir in Chubby Boys Speakeasy auf meine Kosten einen Drink genehmigen und den Dicken fragen, ob in der Unterwelt gerade mal wieder eine neue Entführer-Gang unterwegs ist.“

Meine Sekretärin nickte.

„Wird gemacht. Wie gut, dass Chubby Boy das Gras wachsen hört. Wenn in der Richtung etwas läuft, erfahre ich es von ihm.“

Ich setzte meinen Hut auf, zog meinen Trenchcoat über und ging hinaus.

„Bis später, Süße.“

Es gibt viele Leute, die Brooklyn als das eigentliche New York ansehen. Manhattan ist ihrer Meinung nach nur eine Glitzerfassade mit zahlreichen Wolkenkratzern. Wer so denkt, ist niemals in der Lower East Side gewesen.

Die Neureichen in unserem Nachbarbezirk siedeln sich in Brooklyn Heights an, wofür Brian das beste Beispiel war.

Er hatte sich ein traumhaftes Haus mit altem Baumbestand zugelegt. Bei Nacht konnte er von seinem Schlafzimmerfenster aus die unzähligen Lichter der Skyline von Manhattan sehen.

Mein schäbiges Auto wirkte in dieser ruhigen Wohnstraße wie ein Fremdkörper. Ich betätigte den bronzenen Türklopfer in Form eines Löwenkopfs.

Eine ältliche Matrone mit Dutt öffnete mir und schaute so anklagend, als ob ich ihr einen unsittlichen Antrag gemacht hätte. Sie trug eine Dienstmädchenuniform, die vor lauter Wäschestärke ganz steif war.

Ich nahm brav meinen Hut ab und deutete eine Verbeugung an.

„Guten Tag, ich bin Jack Reilly. Mister Douglas hat mich mit den Ermittlungen zum Verschwinden seines Bruders beauftragt. Könnte ich bitte mit Mrs. Douglas sprechen?“

Ich hatte nun wirklich meine sämtlichen guten Manieren aus der Mottenkiste hervorgekramt. Die Bedienstete schaute mich trotzdem an, als ob sie mir am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre.

„Warten Sie einen Moment in der Halle“, krächzte sie.

Ich folgte ihr in die Villa, wo ich mir die gerahmten Gemälde anschaute. Es handelte sich um die seit Neuestem so beliebte abstrakte Malerei. Die Bilder sagten mir nichts, erinnerten mich allenfalls an das Mündungsfeuer der deutschen Artillerie über dem französischen Niemandsland bei Nacht.

Bevor ich endgültig schlechte Laune bekam, kehrte der Hausdrachen zurück.

„Mrs. Douglas lässt bitten.“

Mit diesen Worten lotste die Angestellte mich in einen Salon, wo eine kurvige Schönheit es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie rauchte eine Zigarette, die in einer schwarzen Spitze steckte. Und sie war geschminkt, als ob sie gleich in einer Broadway-Revue als Tanzgirl auftreten wollte.

Die Hausherrin wedelte mit der Hand, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchen wollte.

„Es ist gut, Mathilda. Sie können gehen.“

Das ältliche Dienstmädchen nahm den Befehl mit unbewegter Miene entgegen und schloss die Tür von außen.

Brians Gattin klimperte mit ihren Wimpern und schwang ihre langen Beine von der Couch herunter.

„Sie sind also der Kriegskamerad meines Mannes, Mr. Reilly? Er hält große Stücke auf Sie. – Kommen Sie ruhig näher, ich beiße nicht.“

Darauf hätte ich so einiges erwidern können. Beispielsweise, warum Florence mich nur mit einem hauchdünnen Kimono sowie Seidenstrümpfen bekleidet empfing. Auf jeden Fall schien ihr im Gegensatz zu Brian das Verschwinden des Jungen nicht besonders nahezugehen.

Ich trat auf sie zu.

„Mich interessiert, wann Sie Al zum letzten Mal gesehen haben. Fiel Ihnen an dem Tag etwas auf? Wirkte er bedrückt oder verärgert?“

Florence Douglas nickte übertrieben ernsthaft.

„Ja, da gibt es etwas. Aber das kann ich Ihnen nur ins Ohr flüstern.“

Ich beugte mich zu ihr hinab.

Im nächsten Moment kam sie vom Sofa hoch und drückte einen heißen Kuss auf meine Lippen.

 

 

2


Freunde, ich bin ganz gewiss kein Kostverächter.

Aber ich lasse mich nicht mit der Frau eines Freundes ein, der außerdem auch noch krank vor Sorge um seinen Bruder ist. So ein Schwein bin ich nicht.

Also machte ich mich von dieser femme fatale los und trat sicherheitshalber ein paar Schritte zurück.

Florence rümpfte die Nase.

„Brian hat nicht erwähnt, dass Sie auf Männer stehen, Mr. Reilly.“

Ich ging auf ihren Spruch nicht ein.

„Was ist nun mit Al? Hatte er Kummer oder steckte er in Schwierigkeiten, bevor er verschwand?“

Brians Gattin griff wieder zu ihrer Zigarettenspitze, die sie während der Kuss-Attacke in einen Aschenbecher auf dem Couchtisch gelegt hatte.

„Nicht, dass ich wüsste. Der kleine Streber steckte doch seine Nase immer nur in die Bücher.“

„Was ist mit Freunden, mit Schulkameraden? Hatte er ein Mädchen? Können Sie mir Namen nennen?“

„Als bester Kumpel heißt Rick Mercer, seine Eltern wohnen in der Willow Street. Eine Freundin hat Brians Bruder nicht, soweit ich weiß.“

Ich zündete mir eine Lucky Strike an.

„Verstehe. Ich habe ein Bild von Al gesehen, er ist ein hübscher Bengel. Haben Sie sich ihn vorgeknöpft, wenn Ihr Mann zur Arbeit gefahren war?“

Florence schnitt ein Gesicht, als ob ich sie beim Naschen im Honigtopf erwischt hätte. Doch dann schüttelte sie heftig den Kopf.

„Sie sind ja wahnsinnig, Mr. Reilly! Der Milchbart ist doch mit seinen neunzehn Jahren noch ein halbes Kind!“

Mir lag die Bemerkung auf der Zunge, dass ihr Mann und ich in dem Alter schon Dinge getan hatten, auf die wir ganz gewiss nicht stolz waren. Aber es war sinnlos. Brians Frau würde weiterhin leugnen. Obwohl sie ganz gewiss wenigstens versucht hatte, Al zu verführen.

Daran gab es für mich keinen Zweifel.

„Wo haben Sie Ihren Mann eigentlich kennengelernt?“, forschte ich.

„In einer Tanzdiele, obwohl Sie das überhaupt nichts angeht. – Was sollen diese Fragen? Brian hat sie angeheuert, um seinen Bruder zu finden. Oder etwa nicht?“

Ich nickte.

„Ja, natürlich. Ich versuche nur herauszufinden, ob Al einen Grund zum Weglaufen hatte. Und ob sein Verschwinden vielleicht etwas mit Ihnen zu tun haben könnte.“

„Verschwinde endlich, du Schwuchtel!“

Mit diesen Worten ließ Florence endgültig die Maske einer feinen Dame fallen. Diese Rolle hatte ich ihr sowieso nicht abgekauft. Man kann aus einer räudigen Straßenkatze kein Schoßtier machen.

„Nichts lieber als das“, gab ich zurück und marschierte grußlos hinaus.

In der Halle lauerte Mathilda. Nach meiner kurzen Begegnung mit der Hausherrin konnte ich viel besser verstehen, weshalb die Angestellte so verbiestert war. Vermutlich wurde sie von Florence nach Strich und Faden getriezt. Diese Frau war mit Vorsicht zu genießen, das hatte ich nun erkannt.

Ich ließ mich von Mathildas abweisender Haltung nicht beirren, sondern ging auf sie zu, wobei ich einen Fünf-Dollar-Schein hochhielt.

„Was hat die Schlampe vor der Heirat gemacht?“

Wenn ich mich getäuscht hatte, dann würde das Dienstmädchen mir für diese Frage die Augen auskratzen. Aber das geschah nicht. Stattdessen schnappte die ältere Frau sich die Banknote.

„Sie war eine Nutte, was denn sonst? Hat auf der Flatbush Avenue Kerle abgeschleppt.“

„Hat Florence sich auch an Al herangemacht?“

„Keine Ahnung, würde mich aber nicht wundern.“

„Kann ich mal sein Zimmer sehen?“

Die Angestellte zuckte mit den Schultern.

„Meinetwegen.“

Sie führte mich in die erste Etage hoch, wo ich ein typisches Jugendzimmer betrat. Die Wand war mit einem Wimpel der New York Yankees geschmückt, außerdem gab es einige Fotos von Baseballspielern zu sehen. Auf dem Regal waren Schulbücher gestapelt. Ich wandte mich dem Bett zu und fand unter dem Kopfkissen eine „Kunstfotografie“ von der Art, wie sie von schmierigen kleinen Männern in U-Bahn-Stationen angeboten werden. Meist diskret hinter einem geöffneten Regenmantel verborgen.

Mathilda linste mir über die Schulter und schnaubte verächtlich, als sie das Bild einer nackten jungen Frau erblickte.

„Ich habe immer schon geahnt, dass Al ein kleiner Schmutzfink ist!“

„Auf jeden Fall wird er sich nicht nur für die Schule begeistert haben“, stellte ich fest, während ich die Schreibtischunterlage anhob. Darunter befanden sich mindestens drei Dutzend abgerissene Kinokarten.

Das Astoria, das Excelsior, das Brooklyn Theatre, das Tivoli – es gab kaum ein Kintopp in Brooklyn, das Al nicht mit seiner Anwesenheit beehrt hatte. Ich schaute mir die Tickets genauer an. Die meisten stammten aus Vormittagsvorstellungen. Mit anderen Worten: Der Chorknabe hatte die Schule geschwänzt und sich lieber ein paar Western und Abenteuerfilme zu Gemüte geführt.

Ein Streber war dieser Bengel ganz gewiss nicht, Freunde.

Entweder hatte Florence mich angelogen oder sie wusste wirklich nicht, was Al außerhalb des Hauses so trieb.

Immerhin gab es nun keinen Zweifel mehr, dass der junge Mann durchaus am schönen Geschlecht interessiert war. Das Nacktfoto bewahrte er jedenfalls gewiss nicht zur künstlerischen Erbauung unter seinem Kopfkissen auf.

Ich beschloss, als Nächstes seinem Busenfreund Rick Mercer auf den Zahn zu fühlen.

„Lassen Sie sich nicht zu sehr von Florence ärgern“, riet ich Mathilda zum Abschied.

Die Angestellte zuckte mit den Schultern.

„Ich habe ein dickes Fell. Früher oder später landen solche falschen Schlangen wie Mrs. Douglas sowieso wieder da, wo sie hingehören. Nämlich in der Gosse.“

Ich grinste und tippte mit zwei Fingern gegen meine Hutkrempe.

Dann stieg ich in meine Karre und fuhr zu dem Gebäudekomplex von St. Andrews hinüber. Obwohl die Eliteschule erst vor knapp hundert Jahren gegründet worden war, hatte man sich beim Baustil von der römischen oder griechischen Antike inspirieren lassen.

Na ja, wenigstens trugen die Schüler keine Togas, sondern Schuluniformen. Ich genehmigte mir einen Hotdog, bevor ich mich außerhalb von St. Andrews auf die Lauer legte. Wenn Rick Mercer nicht genau so ein Schulschwänzer war wie sein Busenfreund, dann hatte er jetzt noch Unterricht.

Nach zwei langweiligen Stunden ertönte endlich eine Glocke, die den Schulschluss einläutete. Amerikas zukünftige Führungsfiguren strömten aus den Gebäuden. Ich trat auf einen ungefähr zwölfjährigen Jungen zu.

„Kennst du Rick Mercer?“, fragte ich ihn.

Der Kleine schaute mich an, als ob mir ein zweiter Kopf gewachsen wäre.

„Was wollen Sie denn von ihm, Mister?“

„Er hat im Lotto gewonnen.“

„Father Alfred sagt, dass Glückspiel sündhaft ist“, informierte das Kind mich altklug. Dann deutete der Kleine auf eine Gruppe von Halbstarken, die ebenfalls ihre Klassenräume verlassen hatten.

„Rick ist der mit den abstehenden Ohren.“

Dann machte sich der Junge aus dem Staub. Ich lehnte mich gegen meine Karre, während die Jugendlichen auf mich zu kamen.

Ich sprach den Jüngling mit den

Impressum

Verlag: Elaria

Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Lektorat: Christel Baumgart, www.lektorat-mauspfad.de
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2018
ISBN: 978-3-96465-007-8

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