Ich traute Harry Bishop trotz seines strahlenden Zahnpasta-Lächelns nicht über den Weg.
Wenn man ihm die Hand gab, empfahl es sich, hinterher die eigenen Finger nachzuzählen. Es hätte sein können, dass er einen davon klaute. Und wer ihm den Rücken zudrehte, musste damit rechnen, ein Messer zwischen die Schulterblätter gerammt zu bekommen.
Für diese Art von Kerl hielt ich Bishop. Auf meine Menschenkenntnis kann ich mich verlassen.
Weshalb ich mich dann trotzdem mit dem Hurensohn abgab, Freunde?
Weil ich mal wieder dringend ein paar knisternde Dollarscheine in der Tasche brauchte. Die Zeiten waren hart und miese kleine Privatschnüffler gab es wie Sand am Meer.
Zumindest in New York City.
Ich hätte also dankbar dafür sein können, dass sich ein reicher Protzer in mein bescheidenes Büro verirrt hatte. Bishop trug einen Maßanzug, hatte dicke Goldringe an seinen Wurstfingern.
Und seine Gattin, die auf meinem zweiten Besucherstuhl Platz genommen hatte, war die Wucht in Tüten.
Bishops Ehefrau hörte auf den liebreizenden Namen Lydia. Über ihrem flaschengrünen Kleid nach neuester Pariser Mode trug sie ein Pelzjäckchen. Lydia rauchte eine Zigarette aus einer langen schwarzen Spitze und ließ den Rauch zwischen ihren kirschroten Lippen langsam zur Zimmerdecke steigen. Sie musterte mich, als ob ich ein Insekt unter dem Mikroskop eines verrückten Wissenschaftlers wäre.
Ich zwang mich zu einem geschäftsmäßigen Lächeln.
„Was kann ich für Sie tun?“, wandte ich mich an Bishop.
„Sie sollen mich beschützen, Mr. Reilly.“
Ich kniff die Augen zusammen. Es war gut vorstellbar, dass ein Typ wie Bishop jede Menge Feinde hatte. Die Frage war nur, warum ausgerechnet ich als Kugelfang dienen sollte.
„Wenn Sie einen professionellen Revolverschwinger brauchen, bin ich wahrscheinlich der Falsche.“
So lautete meine spontane Antwort, die zweifellos nicht diplomatisch war.
Auf mein Bauchgefühl kann ich mich normalerweise verlassen, und dieser Auftrag kam mir jetzt schon nicht ganz koscher vor.
Mrs. Bishop kräuselte ihre Filmstar-Lippen.
„Sind Sie ein Feigling? Ich hatte angenommen, dass Privatdetektive aus einem härteren Holz geschnitzt wären.“
Ich zündete mir eine Lucky Strike an, bevor ich antwortete.
„Bevor ich für Ihren werten Gatten den Babysitter spiele, hätte ich einfach gern ein paar mehr Informationen. Zum Beispiel, wer genau ihm ans Leder will.“
Bishop stieß ein affektiertes Lachen aus. So als ob ich einen dummen Witz gerissen hätte. Dann wandte er sich an seine bildhübsche Ehefrau.
„Darling, ich bin sicher, dass dieser Privatdetektiv für mich arbeiten wird. ̶ r. Reilly, wie spät ist es?“
Den meisten Menschen wäre diese Frage unverfänglich erschienen. Ich hingegen konnte sie momentan nicht beantworten. Und den Grund dafür rieb Bishop seiner Mistress im nächsten Moment genüsslich unter die Nase.
„Mr. Reilly weiß nicht, wie spät es ist, weil er seine Uhr vor drei Tagen zum Pfandleiher gebracht hat. Mr. Reilly ist in einer finanziellen Notlage. Ich habe Erkundigungen über ihn eingezogen, wie es so meine Art ist. Und deshalb bin ich sicher, dass Mr. Reilly meinen Auftrag annehmen wird.“
Mr. Reilly hätte Bishop gern ein paar Zähne eingeschlagen, Freunde.
Aber ich musste mich zusammenreißen. Und ich fragte mich, weshalb dieser Bastard unbedingt mich als Leibwächter haben wollte. Es gibt in New York City genügend Gorillas, die weitaus skrupelloser sind als ich.
Ehrlich.
„Okay, Sie haben mich mit heruntergelassenen Hosen erwischt“, gab ich mich geschlagen. „Angenommen, ich würde Sie wirklich unter meine Fittiche nehmen. Worum geht es?“
Bishop steckte sich eine dicke Havanna an, bevor er antwortete. Sein Tonfall verriet, wie sehr er meine Niederlage genoss.
„Ich habe ein Haus in der Bowery gekauft.“
„Gratuliere.“
„Meine dortigen Mieter sind mir nicht wohlgesinnt.“
„So ein Pech – wo Sie doch so ein sympathischer Mensch sind.“
Diese Bemerkung hatte ich mir nicht verkneifen können. Doch mein Spott schien an Bishop abzuperlen wie Wasser von dem Fell eines Seehundes. Wahrscheinlich genoss er es immer noch in vollen Zügen, dass ich mich nun von ihm anheuern lassen würde.
Auch wenn ich noch nicht zugesagt hatte.
„Wie auch immer – Die Sache ist ganz einfach, Mr. Reilly. Sie müssen mich einfach nur in mein Haus begleiten und dafür sorgen, dass ich mir weder eine Revolverkugel noch eine Messerklinge einfange.“
Ich drückte meine Zigarette im Ascher aus.
„Wahrscheinlich sollte ich als Privatdetektiv das nicht sagen – aber ist für den Schutz der New Yorker Bürger nicht eigentlich das Police Department zuständig? Das denke ich mir zumindest.“
Mrs. Bishop rümpfte die Nase.
„Sie werden nicht fürs Denken bezahlt, sondern dafür, die Wünsche meines Mannes zu erfüllen.“
Ihr Tonfall klang so kühl, als ob sie soeben aus einem Eisbad aufgetaucht wäre.
Bishop gab sich nun gönnerhaft: „Du musst Mr. Reilly verzeihen, Darling. Er kennt einfach unsere Verhältnisse nicht. – Ich bin an äußerster Diskretion interessiert. Ein Polizeieinsatz in meinem Mietshaus ist das Letzte, das ich gebrauchen kann.“
„Vor allem, wenn Sie dabei als Leiche auf der Strecke bleiben“, fügte ich trocken hinzu.
Lydia Bishop hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen.
„Nehmen Sie nun den Auftrag an oder wollen Sie weiterhin Sprüche klopfen, bis der Gerichtsvollzieher als nächster Besucher Ihr Büro betritt?“
Diese Giftspritze hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war momentan wirklich arm wie eine Kirchenmaus.
Also schluckte ich meinen Ärger über dieses saubere Pärchen herunter.
„Wann soll ich loslegen?“, wollte ich wissen.
„Am besten sofort.“
Mit diesen Worten erhob sich Bishop und fischte lässig eine Rolle Franklins aus der Hosentasche. Die Geldscheine wurden mit einem Gummiband zusammengehalten. Der Anblick dieser Banknoten möbelte meine Laune schlagartig auf.
„Das sind tausend Dollar, Mr. Reilly. Ich nehme an, dass diese Summe mir einstweilen Ihre Dienste sichert.“
In diesem Moment wurde die Tür zum Vorzimmer aufgestoßen und meine blonde Sekretärin Lucy kam hereingeschneit. Es war, als ob sie das Geld gerochen hätte. Na ja, vielleicht war das ja wirklich so. Meine Vorzimmerperle verfügte über so manches verborgene Talent, das mich immer wieder staunen ließ.
„Wünschen die Herrschaften Kaffee?“, fragte sie. Ihre schönen Augen glänzten. Vermutlich hatte sie erkannt, dass ich und somit auch sie selbst soeben dem finanziellen Abgrund für eine Weile entronnen waren.
Bishop hieb seine Zähne in die sündhaft teure Havanna und schickte eine Wolke edlen Tabakdufts Richtung Zimmerdecke.
„Nein, danke, Miss. Ihr Chef wird uns jetzt zur Bowery begleiten, um sich sein Honorar zu verdienen.“
Meine Sekretärin warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich wiegelte ab. Vermutlich würde sie mir ein Loch in den Bauch fragen, sobald ich wieder im Büro eintrudelte. Wann das sein würde, konnte ich natürlich nicht sagen.
Bishop schlenderte hinaus – die Hände in den Hosentaschen, als ob ihm die Welt gehören würde. Seine Gattin rauschte mit hoch erhobenem Haupt hinterher, und ich bildete den Schluss der seltsamen kleinen Prozession.
Ich zog zwei Geldscheine aus der Rolle und drückte sie Lucy im Vorbeigehen in die Hand.
„Hier, ich bin dir noch einen Wochenlohn schuldig.“
Sie lächelte dankbar, obwohl sie und ich wussten, dass ich meine Sekretärin schon seit zwei Wochen nicht mehr bezahlt hatte. Aber ich musste den Rest des Geldes unter meinen übrigen Gläubigern verteilen. Einige von ihnen waren dazu fähig, mir den Scheitel mit einem Baseballschläger nachzuziehen.
Wenigstens in dieser Hinsicht hatte ich von Lucy nichts zu befürchten.
Wir verließen das Geschäftshaus im Herzen Manhattans, in dem außer mir noch diverse andere Freiberufler Büroräume gemietet haben, vom Russisch-Übersetzer bis zum Wahrsager.
Vielleicht hätte ich Letzteren an diesem Vormittag konsultieren sollen. Ich wollte zu gern wissen, was hinter meinem aktuellen Auftrag steckte.
Ich glaubte nämlich keine Sekunde, dass es Bishop wirklich nur um den Schutz vor rabiaten Mietern ging.
Es musste mehr dahinterstecken, Freunde.
An der Bordsteinkante vor dem Haus parkte ein schwarzer Cadillac V-8 Town Sedan. Wenn man den Zeitungsschmierern glauben durfte, dann fuhr der Chicagoer Gangsterboss Al Capone genau so eine Karre, allerdings in Grün.
Ob das ein schlechtes Omen war?
Daran verschwendete ich jetzt keinen Gedanken mehr, denn nun ging ich ganz in meiner neuen Rolle als Bishops Leibwächter auf.
Meine Wumme hatte ich natürlich im Schulterholster. Ich ließ meine Blicke über die Gesichter der Passanten schweifen und achtete auf alle Fenster innerhalb einer Gewehrschussdistanz.
Doch in der Nähe wurde nirgends eine Waffe auf eine Fensterbank gelegt, um Bishop ins Jenseits zu befördern.
Er spielte den treusorgenden Ehemann und hielt seiner eleganten Gattin die hintere Wagentür auf. Nachdem sie auf der Rückbank Platz genommen und ihre langen Beine übereinandergeschlagen hatte, stiegen wir ebenfalls ein.
„Gibt es etwas Besonderes an dem Haus in der Bowery?“, forschte ich. „Ich schätze, dass es für einen Käufer mit dem nötigen Kleingeld in New York City lohnendere Investitionen gibt.“
Bishop warf mir grinsend einen Seitenblick zu.
„Ich habe Sie als Bodyguard engagiert, Mr. Reilly. Auf die Konversation mit Ihnen kann ich verzichten.“
Yeah, mein neuer Boss war ein echter Widerling.
Immerhin hatte er meine Frage indirekt beantwortet. Es gab ein Geheimnis. Doch Bishop wollte es unbedingt für sich behalten. Jedenfalls hatte er nicht vor, es mit mir zu teilen.
Er kutschierte seine schwarze Luxuskarre souverän durch den dichten Manhattan-Straßenverkehr. Ich beneidete die Cops nicht, die auf belebten Straßenkreuzungen die Fahrzeugströme regeln mussten.
Die Bowery befindet sich im Süden von Manhattan. Sie ist das Einfallstor zur Lower East Side. Die Straße wurde von Spelunken gesäumt, die im Zuge der Alkohol-Prohibition geschlossen worden waren. Die Bewohner dieser Gegend soffen trotzdem wie die Löcher, nur jetzt eben in geheimen Flüsterkneipen.
Ansonsten wurde die Bowery von billigen Tingeltangel-Bühnen und Schlafsälen für Wanderarbeiter und Einwanderer geprägt. Läuse-Lounge war der gängige Ausdruck für diese Art von Unterkünften.
„Da vorn ist es.“
Bishop deutete auf ein typisches New Yorker Brownstone-Haus mit schmaler Fassade. Es war mit den üblichen eisernen Feuertreppen versehen, die seit den großen Bränden des vorigen Jahrhunderts Vorschrift waren.
Für Bowery-Verhältnisse sah die Mietskaserne ganz manierlich aus. Vielleicht spekulierte Bishop ja darauf, dass die Grundstückspreise in der Lower East Side eines Tages steigen würden.
Ich wusste es nicht.
Die Gedankengänge der Reichen waren mir fremd, andernfalls wäre ich wohl nicht ständig pleite gewesen.
Wir parkten direkt vor Bishops Mietshaus.
Diesmal war ich es, der für die Gattin meines Auftraggebers die Wagentür aufhielt.
Ein schriller Pfiff ertönte.
Allerdings wusste ich nicht, ob sich das Geräusch auf Lydia Bishops Figur bezog oder jemand vor der Ankunft des Hausbesitzers warnen wollte. Ich konnte nicht genau sagen, aus welcher Richtung der Pfiff gekommen war.
Menschenmassen schoben sich über den Bürgersteig, denn in der Lower East Side besaßen die wenigsten Leute ein eigenes Auto.
In dem Haus hatten einige Mieter ihre Fenster offen, obwohl es ein kühler Herbsttag war. Vermutlich wollten sie den Mief abziehen lassen.
Doch zumindest einer von ihnen führte etwas anderes im Schild.
Ich sah einen Revolverlauf, der aus einem Fenster im ersten Stockwerk geschoben wurde.
„Runter!“, rief ich Bishop zu und riss ihn von den Beinen.
Da war der Schuss schon abgefeuert worden.
Ich hatte nicht verhindern können, dass die Kugel Bishop traf. Er schrie, also war er zumindest nicht tot. Sein Blut floss, es schien ihn an der Flanke erwischt zu haben.
Im Handumdrehen herrschte Chaos. Die Passanten schrien und liefen um ihr Leben, Mütter hoben ihre Kleinkinder auf den Arm und nahmen die Beine in die Hand, Sandwichmänner ließen ihre Reklametafel fallen und gaben Fersengeld.
Ich zog meinen Revolver.
„Kümmern Sie sich um Ihren Mann!“, rief ich Lydia Bishop zu, die wie angewurzelt neben dem Auto stehengeblieben war und ihre flache Hand vor den Mund geschlagen hatte.
Der Heckenschütze sollte auf keinen Fall entkommen.
Wenn ich schon den Anschlag nicht hatte verhindern können, wollte ich mir den Dreckskerl wenigstens vorknöpfen.
Also stürmte ich ins Haus.
Wie die meisten Brownstone-Gebäude hatte es eine kleine dreistufige Vortreppe aus Granit. Die eigentliche Haustür war nicht abgeschlossen. Ich trat sie auf und gelangte ins Innere, wobei ich mich flach gegen die Wand presste.
Und das war auch gut so.
Mein Widersacher hatte sich nämlich inzwischen ins Treppenhaus begeben und nahm nun mich ins Visier.
Ein Geschoss jagte knapp an mir vorbei und hackte in den Boden.
Oder hatte ich es mit mehreren Gegnern zu tun?
Dafür sprach zunächst nichts. Das zweite Schussgeräusch ähnelte dem ersten sehr. Beide Kugeln waren vermutlich aus derselben Waffe abgefeuert worden.
Nun hörte ich schnelle Schritte auf den knarrenden Treppenstufen.
Das Geräusch entfernte sich von mir.
Der Kerl wollte über das Dach entkommen!
Ich löste mich von der Wand und raste nun ebenfalls die Treppe hoch, wobei ich immer zwei Stufen auf einmal nahm. Natürlich bestand die Gefahr, dass ich dabei buchstäblich ins offene Messer lief.
Ganz zu schweigen davon, dass ein Treppenhaus praktisch keine Deckung bietet.
Diesen Gedanken musste mein Gegner auch gehabt haben. Jedenfalls feuerte er erneut.
Die Kugel verfehlte mich.
Ich schaute hoch und ballerte zurück.
Von dem Kerl bekam ich nicht mehr zu sehen als eine dunkle Hose und schwere Stiefel. Ich traf ebenfalls nicht, jedenfalls setzte er seine Flucht fort. Das Haus hatte sechs Stockwerke.
Die Türen der Bewohner blieben verschlossen, was mich nicht wunderte. Wenn in der Lower East Side die Luft bleihaltig wird, dann kriechen die Menschen unter ihre Betten und warten darauf, dass der Spuk endet.
So haben sie es von Kindesbeinen an gelernt.
Der Heckenschütze hatte die Dachluke aufgestemmt.
Eine Windbö schlug mir entgegen, als ich ebenfalls nach draußen kletterte. Ich rechnete damit, wieder beschossen zu werden. Aber das geschah nicht.
Der Mann war verschwunden.
Der Abstand zu den benachbarten Gebäuden links und rechts war in etwa gleich. Er war offenbar hinübergesprungen, doch in welche Richtung?
Der Halunke hatte mich abgehängt, das musste ich mir eingestehen.
Inzwischen konnte er schon wieder die Straße erreicht haben und in der Menschenmasse verschwunden sein.
Ich war sauer, doch dann bemerkte ich ein Stück dunklen Stoff an einem rostigen Nagel.
Der Kerl musste sich die Hose zerrissen haben, als er hier entlanggelaufen war. Eine kleine Spur, aber immer noch besser als gar nichts.
Ich steckte das Stück Stoff ein.
Dann führte mein Weg mich zurück ins erste Stockwerk. Dort hatte der Mann vom Apartment an der linken Seite aus gefeuert. Mir fiel auf, dass die Tür nur angelehnt war. Ich drückte sie mit der Schuhspitze ganz auf. Mit dem Revolver im Anschlag betrat ich die Behausung.
Für Lower-East-Side-Verhältnisse war sie geradezu luxuriös. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer mit einer Küchenecke, außerdem einer kleinen Schlafstube. Das Klo war draußen auf dem Treppenabsatz.
Das eine Wohnzimmerfenster stand noch offen. Von dort aus war der Schuss gefallen.
Der Schütze musste sein Handwerk verstehen, wenn er auf die Distanz mit einem Revolver getroffen hatte. Wenn ich mich nicht täuschte, dann war seine Waffe ein Navy Colt mit langem Lauf.
Doch momentan galt meine Aufmerksamkeit ganz dem Schlafzimmer. Dort lag eine Frau auf dem Bett, nur mit einem Unterrock bekleidet. Im ersten Moment dachte ich, dass sie schlafen würde. Doch im Näherkommen bemerkte ich die Platzwunde an ihrer Stirn.
Ob der Revolverschwinger sie ausgeknockt hatte?
Dafür sprach einiges.
Ich berührte sie sanft an der Schulter.
„Soll ich einen Doc für Sie holen, Miss?“
Sie schlug die Augen auf.
Nach meiner Einschätzung musste sie Mitte zwanzig sein. Ihr langes Haar hatte sie hochgesteckt, wodurch sie provinziell wirkte. Die moderne New Yorkerin des Jahres 1928 war ein Flapper mit Kurzhaarfrisur und Röcken, die nur bis zum Knie reichten.
Auch die mustergültige Ordnung, mit der sie ihre wenigen Habseligkeiten arrangiert hatte, passten nicht zu dieser Gegend. Die Lower East Side stand für Chaos, sowohl in den Köpfen als auch in den Behausungen.
Diese Gegend war wie ein verkaterter Morgen, der niemals aufhören wollte.
„Mir ist so schwindlig“, hauchte die Frau.
Sie zuckte zusammen, als ihr Blick auf meinen Revolver fiel. Ich steckte die Bleispritze weg. Von dieser Unterrock-Lady schien aktuell keine Gefahr auszugehen.
„Wie heißt der Mann, der vom Wohnzimmerfenster aus geschossen hat?“, fragte ich. Dabei machte ich eine Kopfbewegung in Richtung des anderen Raums.
Ihr Gesichtsausdruck zeigte nun völliges Unverständnis.
„Was für ein Mann? Und – wie kommen Sie in mein Apartment?“
Sie hielt nun ihre Hände vor ihre Brüste, denn ihr einziges Kleidungsstück war ziemlich durchsichtig.
Ich spielte den Gentleman und reichte ihr einen Morgenmantel, der an einem Kleiderhaken in der Ecke hing.
„Hier, bitte. – Mein Name ist Jack Reilly. Ich bin Privatdetektiv – zuständig für den Schutz von Mr. Bishop, der von Ihrem Wohnzimmerfenster aus niedergeschossen wurde. Ihre Wohnungstür war nur angelehnt, daher bin ich einfach hereingekommen. Ich nehme an, der Name Bishop sagt Ihnen etwas?“
Während ich sprach, wurde mir bewusst, dass ich auf der ganzen Linie versagt hatte. Vor noch nicht mal einer Stunde hatte Bishop mir tausend Dollar gegeben, damit ich auf ihn aufpasste. Und nun lag er in seinem Blut.
Das wurmte mich ganz gewaltig.
Die Frau erhob sich langsam aus dem Bett, wobei sie in den Morgenrock schlüpfte und ein sauberes Taschentuch auf ihre Stirnwunde presste. Sie schien erst jetzt bemerkt zu haben, dass sie verletzt war. Ich schob das auf die Nachwirkungen der Bewusstlosigkeit.
„B-Bishop? Ja, das ist unser neuer Vermieter. Ist er tot?“
Sie hörte sich verwirrt an. Verständlich, denn die Frau musste einen gewaltigen Schlag auf den Kopf bekommen haben.
„Das weiß ich noch nicht. Wie heißen Sie?“
„Mein Name ist Charlene Carruthers. Ich komme aus Minnesota und lebe erst seit zwei Monaten in New York City, weil ich hier eine Anstellung als Stenotypistin gefunden habe. – Oh, ich komme zu spät zur Arbeit!“
Voller Panik schaute sie auf ihren großen Wecker, der zehn Uhr morgens anzeigte. Bishop und seine Gattin waren in meinem Office aufgekreuzt, als Lucy und ich gerade erst geöffnet hatten. Normalerweise ließen sich zu so einer unchristlichen Zeit keine Klienten sehen.
„Wie heißt der Mann, der geschossen hat?“, wiederholte ich meine Frage.
Charlene schüttelte den Kopf.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Reilly. Ich war gestern Abend sehr müde und bin aufs Bett gefallen, ohne mein Nachthemd anzuziehen. Das ist sonst nicht meine Art, das können Sie mir glauben.“
Ich erwiderte nichts, sondern kehrte ins Wohnzimmer zurück, um mir die Wohnungstür genauer anzuschauen.
Sie war aufgebrochen worden, wahrscheinlich mit einem Stemmeisen.
Ich ging zu Charlene und gab ihr eine meiner Visitenkarten.
„Sie sollten einen Doc aufsuchen, bevor Sie ins Büro gehen, Miss Carruthers. Mit Kopfverletzungen ist nicht zu spaßen. Sie können mich jederzeit anrufen, falls Ihnen noch etwas einfällt. Und lassen Sie Ihre Apartmenttür reparieren, sie wurde aufgebrochen.“
Verlag: Elaria
Texte: Martin Barkawitz
Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Lektorat: Christel Baumgart, www.lektorat-mauspfad.de
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2018
ISBN: 978-3-96465-033-7
Alle Rechte vorbehalten