„Die Degendame“ Julie d'Aubigny hat wirklich gelebt, und zwar von 1673–1705 in Frankreich. Während über das Leben dieser Abenteuerin am Hof des Sonnenkönigs zahlreiche Anekdoten überliefert sind, bleiben die Umstände ihres Todes unklar. Julie d'Aubigny – auch bekannt als Madame Maupin - war schon zu Lebzeiten eine Legende. Dieses Buch ist ein Roman; ich habe versucht, möglichst viele gesicherte Episoden aus ihrem Leben in die Geschichte einzuweben. Der Rest ist dichterische Freiheit.
Tina Berg
„En garde!“
Julie d'Aubigny gehorchte sofort. Ihr junger Körper spannte sich, und sie brachte den Degen in Position. Sie liebte diese Fechtwaffe, die sie von ihrem Vater zum fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte. Normalerweise erhielt Julie von ihm nur saftige Ohrfeigen. Aber Gaston d'Aubigny war stolz auf den Waffeninstinkt seiner Tochter. Deshalb erhielt sie in diesem Moment auch Unterricht von dem hochklassigen Maître Jean Rousseau.
Der Fechtmeister stand Julie im Staub hinter den Stallungen von Versailles gegenüber. Ein ganzes Heer von Bediensteten und Hofschranzen war in dem Märchenschloss und den Nebengebäuden um das Wohlergehen des Herrschers besorgt, der nur als Sonnenkönig bezeichnet wurde. Auch Julie lebte hier, wenngleich sie nicht ganz verstand, inwieweit sie dem König dienen sollte. Vielleicht, indem sie einfach nur gehorchte.
Aber das fiel ihr nicht leicht, trotz der zahlreichen Maulschellen ihres Vaters.
„Einfache Finte, Stoß auf den Arm!“
Julie startete einen Scheinangriff, umging mit ihrer Klinge den Degen des Meisters und bohrte die Spitze ihrer Waffe in seinen dick gepolsterten Lektionierärmel. Bei einem hochkarätigen Maître wie Rousseau fiel es ihr seltsamerweise nicht schwer, die Befehle auszuführen. Er half ihr dabei, eine noch bessere Fechterin zu werden.
Ihr Vater hingegen kommandierte sie meist nur aus purer Willkür herum. Jedenfalls hatte Julie noch nicht verstanden, weshalb sie mit den anderen Pagen keine Freundschaft schließen durfte.
„Doppelfinte, Stoß auf den Arm, mit Ausfall!“
Julies perfekt gedrillter Leib führte die Bewegungen mit Eleganz und Grazie aus. Aber ihr Kopf war immer noch mit ihrem Papa beschäftigt. Oft verstand sie ihn wirklich nicht. Einerseits bildete Gaston d'Aubigny sie gemeinsam mit den anderen Pagen des Hofstaates aus, weshalb sie auch die Fechtkunst erlernen durfte. Andererseits verbot er ihr strikt, sich mit den Jungen abzugeben.
Ob es daran lag, dass sie ein Mädchen war?
Aber daran trug sie doch keine Schuld! Weshalb bestrafte Papa sie dafür?
„Doppelcavationsfinte!“
Rousseau bewegte sich rückwärts zwischen den dampfenden Pferdekörpern und den abgestellten Karossen vor der Remise, Julie folgte ihm und stieß immer wieder auf seinen Ärmel. Durch die Fechtmaske konnte sie unmöglich seinen Gesichtsausdruck erkennen. War der Maître zufrieden? Zeigte er schon erste Anzeichen von Ungeduld? Weshalb unterrichtete er sie überhaupt? Aus Mitleid?
Nein, für solche Gefühle hatte ein Mann wie Rousseau keine Zeit. Julie wusste, dass er normalerweise nur den Söhnen des Hochadels die Fechtkunst beibrachte. Warum gab er sich jetzt mit der Tochter eines einfachen Sekretärs ab, der in der Hackordnung des Königshofes ziemlich weit unten stand? Julie mochte jung sein, aber naiv war sie deshalb noch lange nicht.
„Doppelfilofinte und Umgehung!“
Die Lösung fiel ihr ein, als sie die nächste Fechtaktion durchführte.
Rousseau musste gegen ihren Papa beim Kartenspiel verloren haben! Und er beglich seine Schulden, indem er Gaston d'Aubignys Tochter mit den Geheimnissen der Fechtkunst vertraut machte.
„Was ist so komisch, d'Aubigny?“
Der Maître redete sie mit ihrem Nachnamen an, was Julie seltsam fand.
„N-nichts, Herr.“
„Ich merke schon die ganze Zeit, dass du nicht mit dem Herzen dabei bist. Gewiss, du kennst die Fechtaktionen und tust, was man dir sagt. Aber dabei bist du mechanisch, wie eine Puppe. Ich werde deinem Vater vorschlagen, dass er den Fechtunterricht für dich absagt. Du wirst mit einem Spinnrad gewiss mehr Vergnügen haben als mit einer Degenklinge.“
„Bitte tun Sie das nicht, Herr! Ich will mich mehr anstrengen, ich werde alles tun. Aber nehmen Sie mir nicht das Fechten weg!“
Rousseau nahm die Maske ab. Julie blickte nun in ein verwittertes Altmännergesicht. Jede Falte stand für eine schlechte Erfahrung, jede Narbe für eine überstandene Schlacht, jede Runzel für eine erlittene Demütigung. Der Maître schüttelte langsam den Kopf.
„Du bist ein Naturtalent, d'Aubigny. Es wäre sündhaft, dich nicht weiterzuschulen. Aber du musst lernen, dich zu beherrschen. Das Leben wird dich manchmal hart anfassen. Wenn du dann die Kontrolle über dich und über deine Waffe verlierst, dann rennst du direkt in dein Unglück.“
Julie nickte, sie presste die Lippen aufeinander.
Zum Glück machte Rousseau seine Drohung nicht wahr. Er setzte die Lektion fort, und Julie konzentrierte sich nun ganz auf das Fechten. Jeden Gedanken an ihren Vater, die jungen Pagen oder andere Themen blendete sie aus. So ging es eine Viertelstunde lang, bevor sie erneut abgelenkt wurde.
Diesmal waren es klatschende Geräusche und lautes Wehklagen, die aus dem Dunkel der halb offenen Ställe drangen. Julie und der Maître übten inmitten von Gespannpferden und fluchenden Handwerkern, die in ihren Werkstätten defekte Karossen wieder in Ordnung brachten. Die Hintergrundgeräusche durch wiehernde Pferde und schimpfende Menschen hatten sie nicht beirren können. Aber jetzt war es anders. Denn Julie ahnte, dass ihr Vater die Ursache für den Trubel in den Stallungen war.
Gleich darauf wurde aus der Vorahnung Gewissheit.
Ein Page kam durch das Tor nach draußen gestolpert. Julie erkannte in ihm sofort den blonden Henri, obwohl sein Gesicht blutverschmiert war. Sein Blick war der eines gehetzten Tieres, das sich in Todesgefahr befindet. Gleich darauf kam ein Koloss hinter Henri hergestampft, einen Holzprügel in der mächtigen rechten Faust.
Dieser Wüterich war ihr Papa.
Gaston d'Aubigny schlug erneut zu. Offenbar hatte er Henri schon einige Zeit lang malträtiert. Diesmal wurde der Junge am linken Rippenbogen getroffen. Seine Beine knickten weg, und er landete jammernd im Staub zu Julies Füßen. Ihr Vater baute sich drohend über Henri auf.
„Wenn du es noch einmal wagst, meine Tochter so lüstern anzuglotzen, dann bist du tot!“
„J-jawohl, Herr!“, plärrte Henri mit seiner hellen Stimme. „Es wird nicht wieder vorkommen!“
Der blutende Page tat Julie leid. Dennoch wagte sie es nicht, für ihn Partei zu ergreifen. Am Ende würde ihr Papa noch denken, dass sie romantische Gefühle für ihn hegte. Und das war ganz gewiss nicht der Fall. Julie war auch nicht sicher, ob Henri sich überhaupt für sie interessierte. Er kam ihr noch recht kindlich vor. Sie fühlte sich viel erwachsener als dieser blonde Unglücksrabe, der jetzt so elend aus der Nase blutete. Wie auch immer, Gaston d'Aubigny war kein Mann, dem man ungestraft widersprach.
Jedenfalls nicht, wenn man seine Tochter war.
„Geh mir aus den Augen, du Lumpenhund!“
Julies Vater unterstrich seine an Henri gerichteten Worte, indem er dem Pagen noch einen Tritt verpasste. Henri kam stöhnend vom Boden hoch und rannte dann heulend zu seiner Unterkunft. Gaston d'Aubigny kam auf Julie zu und kniff ihr gönnerhaft in die linke Wange.
„Nun, mein Kind? Bist du auch recht fleißig?“
„Ja, Papa“, hauchte Julie. Der Atem ihres Vaters roch nach Branntwein, aber das war nichts Ungewöhnliches. Er nickte wohlgefällig und richtete seine große rote Nase auf den Maître.
„Stimmt das, Meister Rousseau? Strengt sich meine Tochter auch wirklich an?“
„Das kann man wohl sagen, d'Aubigny. Man merkt, dass Ihr Julie von Kindesbeinen an gedrillt habt.“
Gaston d'Aubigny lächelte geschmeichelt.
„Was bleibt einem armen Witwer auch anderes übrig? Seine Majestät hat mich mit dem Unterricht der Pagen betraut, also habe ich Julie einfach zu ihnen gesteckt. Es wird ihr sicher nicht schlecht bekommen, gut mit einer Waffe umgehen zu können.“
Julies Vater wandte sich nun wieder an sie. „Wenn du fechten kannst, dann musst du dir nichts gefallen lassen, mein Mädchen. Wenn dir ein ungewaschener Bastard zu nahekommen will, dann rammst du ihm einfach deine Klinge in den Leib!“
Dann lachte Gaston d'Aubigny, als ob seine Worte scherzhaft gemeint gewesen wären.
Aber Julie war sicher, dass er es todernst meinte.
*
Gaston d'Aubigny war sehr stolz darauf, dass seine Tochter sich so prächtig entwickelt hatte.
Wäre sie ein Junge gewesen, dann hätte ihr eine große Karriere bei der Armee offengestanden. Schon seit einiger Zeit zerbrach er sich seinen Kopf darüber, wie er Julie am besten und gewinnbringendsten verheiraten könnte. Sie war eine Schönheit, gewiss, aber er selbst war alles andere als ein reicher Mann. Sekretär im Hofe seiner Majestät war die höchste Stellung, die d'Aubigny erreichen konnte. Er machte sich keine Illusionen über seine eigene Zukunft. Die trüben Gedanken ertränkte er nur allzu gern im Alkohol.
Noch war seine Tochter eine Jungfrau, jedenfalls hoffte er das. Angesichts ihrer Schönheit war allein diese Tatsache eine Leistung. Vor allem hier in Versailles, wo es von brünstigen jungen Böcken und dekadenten Lustgreisen nur so wimmelte. D'Aubigny beglückwünschte sich selbst dazu, dass er Julie bisher immer wie einen Jungen gekleidet hatte. Wenn sie gemeinsam mit den Pagen lernte, musste sie genauso aussehen wie diese. In Hemd, Hose und Weste war sie auf die Entfernung von einem Jüngling kaum zu unterscheiden, zumal ihre Brüste lediglich die Größe von Äpfeln hatten. Gleichwohl, aus nächster Nähe waren die prallen Rundungen unter ihrem Leinenhemd nicht zu übersehen.
Nach dem kurzen Wortwechsel mit Julie und dem Maître kehrte d'Aubigny in den Stall zurück. Aber es war, als ob er durch seine Grübeleien das Unglück heraufbeschworen hätte. Plötzlich trat Comte d'Armagnac aus dem Schatten hervor. Und Julies Vater ahnte, dass der Großstallmeister – sein unmittelbarer Vorgesetzter - nicht wegen der Pferde gekommen war.
Der Comte d'Armagnac war ein Mann in den Sechzigern, dessen Perücke stets frisch gepudert war. Seine Kniestrümpfe wiesen die Farbe von soeben gefallenem Schnee auf, und seine Gehröcke wurden nach neuester Pariser Mode geschneidert. Er roch nach Veilchenparfüm, das konnte d'Aubigny trotz des Pferdemistgestanks im Stall wahrnehmen. Der Comte schürzte die Lippen, als wenn er sich ein Brüsseler Praliné auf der Zunge zergehen lassen würde.
D'Aubigny war vom Branntwein benebelt. Aber nicht so sehr, um das herannahende Unheil nicht zu wittern.
D'Armagnac trat neben seinen Untergebenen und deutete mit einer knappen Kinnbewegung in Julies Richtung.
„Ist das Eure werte Tochter, die dort von Meister Rousseau in der edlen Fechtkunst unterwiesen wird?“
Diese Frage ist so überflüssig wie ein Kropf, dachte Julies Vater. Er hasste es, wenn er sich verzagt und hilflos zu fühlen begann. So wie in diesem Moment.
„Jawohl, Herr“, erwiderte er gehorsam. Nein, d'Aubigny war ganz gewiss kein Feigling. Aber es gab Männer, gegen die ein Kampf sinnlos war. Selbst dann, wenn sie eine Handbreit kleiner als er selbst waren und in offener Feldschlacht keinen Schuss Pulver wert gewesen wären. Gerade solche Kerle trumpften am Ende doch immer auf. Oh, Gaston d'Aubigny wusste im Grunde ganz genau, weshalb er dem Saufteufel verfallen war.
„Ich dachte es mir.“
Der Comte leckte sich genießerisch die Lippen und streckte seinen Geierkopf weiter nach vorn, um besser sehen zu können.
„Erscheint es Euch nicht unpassend, dass Eure Tochter stets wie ein Jüngling ausstaffiert ist?“
D'Aubigny hob seine breiten Schultern. Er versuchte, sich dumm zu stellen. Julies Vater machte sich keine Illusionen darüber, dass sein Vorgesetzter ihn ohnehin für einen idiotischen und nutzlosen Trunkenbold hielt.
„Nun, es ist die passende Kleidung für einen Waffengang, würde ich meinen.“
D'Armagnac zog seine Augenbrauen zusammen, während d'Aubigny sprach. Als der Comte wieder das Wort ergriff, lag eine Spur von Ungeduld in seiner Stimme.
„Das mag ja angehen, aber wir sind hier nicht auf dem Schlachtfeld, d'Aubigny. Ich wette, dass Eurer Tochter ein neues Kleid gut zu Gesicht stehen würde. Ich werde ihr ein Geschenk machen, wenngleich ihr Namenstag schon etwas zurückliegt.“
Julies Vater deutete eine Verbeugung an, obwohl er dem Comte lieber mit seinem schweren Stiefel in den Hintern getreten hätte.
„Exzellenz sind zu gütig.“
Der Comte wedelte mit seinem spitzenbesetzten Taschentuch.
„Das ist doch nicht der Rede wert, mein Bester. Ich lasse das Kleid im Lauf des Tages von meiner Kammerzofe bringen. Allerdings würde ich dann auch gern in Augenschein nehmen, wie es Eurer werten Tochter steht. Ich erwarte das gute Kind pünktlich um acht Uhr abends in meinem Pariser Stadtpalais.“
„In Eurem Stadtpalais?“, echote d'Aubigny. Nun hörte er sich beinahe so an, als ob er aufbegehren wollte. Aber d'Armagnac bedachte Julies Vater sofort mit einem eiskalten Blick.
„Spricht etwas dagegen, d'Aubigny? Keine Sorge, ich lasse Eure Tochter durch eine Karosse abholen. Sie wird ihre Stiefeletten nicht mit dem Unrat der Pariser Gassen beschmutzen müssen. Aber mein Refugium in der Hauptstadt bietet zweifellos ein passenderes Ambiente für eine solche Begegnung als Versailles.“
Dieser parfümierte Bastard muss mich wirklich für ein hirnloses Schlachtross halten, dachte d'Aubigny grimmig. Versailles ist das erstaunlichste Bauwerk auf der ganzen Welt, so sagt man überall. Nicht nur den blöden Bauerntölpeln fallen die Augen aus dem Kopf, wenn sie den Apollobrunnen und den Marmorhof und die königliche Karosse sehen. Auch ich glaubte zu träumen, als ich erstmals zum Königsschloss abkommandiert wurde. Aber hier in Versailles könnte das alte Ekel gestört werden, wenn es meiner Tochter ihre Jungfräulichkeit rauben will. In seinem verfluchten Stadtpalais besteht diese Gefahr nicht.
Julies Vater konnte nur ergeben nicken. Ihm waren die Hände gebunden. Er hätte genauso gut dagegen rebellieren können, dass die Sonne morgens aufging und abends hinter dem Horizont versank. Männer wie d'Armagnac bekamen immer, was sie haben wollten.
Der Comte wandte sich nun zum Gehen.
„Abgemacht also, mein Guter. Die Kammerzofe wird Eurer Tochter dabei behilflich sein, das Kleid anzulegen.“
D'Aubigny schwieg, während sich seine großen Hände öffneten und schlossen. Liebend gern hätte er sie um die Kehle seines Vorgesetzten gekrallt. Aber dadurch wäre Julie im Handumdrehen zur Vollwaisen geworden.
Es war schon schlimm genug, dass sie in wenigen Stunden ihre Jungfräulichkeit verlieren würde.
Das Kleid stammte vermutlich von d'Armagnacs letzter Kokotte Fleur. Laut Schlosstratsch hatte er ihr vor Kurzem den Laufpass gegeben. Nun konnte d'Armagnac diesen teuren Stofffetzen einer neuen Bestimmung zuführen.
Warum halte ich alle Pagen von Julie fern, wenn jeder hochwohlgeborene Dreckskerl sie nehmen kann wie eine Pariser Straßenhure?, dachte d'Aubigny verzagt. Sein ganzes Leben kam ihm plötzlich sinnlos vor. Er sehnte sich nach einer Flasche Schnaps.
*
Julie saß auf dem Hocker vor dem Frisiertisch und betrachtete sich ausgiebig in dem dreiteiligen Spiegel.
Das Kleid fühlte sich auf ihrem Körper ungewohnt an.
Es war ein sogenanntes Manteau, das in der Rückseite gebauscht, mit einer Schleppe versehen und in der Taille tief ausgeschnitten war. Mehrere Unterrockschichten gehörten natürlich ebenfalls dazu, anders als bei den Kleidern der Frauen aus den unteren Ständen. Julie kam sich in dem malvenfarbenen Kleid mit den Spitzenmanschetten wie eine große Dame vor.
Lisette, die Kammerzofe des Comte d'Armagnac, hatte ihr dabei geholfen, ihr Haar in Fasson zu bringen. Julie trug es nun à la Garcette, was ihr ziemlich ungewohnt vorkam. Die Seitenpartien waren offen und zu Korkenzieherlocken geformt worden. Oben auf dem Kopf trug sie nun einen Schildpattkamm.
„Und das ist wirklich in Ordnung, was du mit meiner Frisur gemacht hast?“
Lisette schien die Frage als Vorwurf aufzufassen.
„Selbstverständlich!“, erwiderte sie naserümpfend. „Das ist die neueste Pariser Mode. Du kannst …“
Die Kammerzofe brach mitten im Satz ab. Sie atmete so tief durch, dass ihre Brüste beinahe das Mieder gesprengt hätten. Lisette bedachte Julie mit einem abschätzigen Blick, wobei sie die Nase rümpfte.
Beides entging Julie nicht, schließlich saß sie direkt vor dem Spiegel. Sie hatte es noch niemals ausstehen können, wenn jemand sie missachtete. So manchem Pagen hatte sie schon mit ihren Fäusten Respekt beigebracht. Warum sollte das bei einer Kammerjungfer nicht auch funktionieren?
Julie drehte sich halb um die eigene Achse. Sie packte Lisettes Handgelenk so fest, dass die Kammerzofe die Bürste fallen ließ.
„Au! Du tust mir weh!“
„Genau das ist meine Absicht“, sagte Julie mit zuckersüß klingender Stimme. „Du wolltest gerade noch etwas sagen, liebste Lisette.“
„I-ich wollte gar nichts sagen“, beteuerte die Bedienstete. Schweißperlen erschienen auf ihrer breiten Stirn. Sie war die Tochter einfacher Bauern aus der Dordogne. Und obwohl Lisette starke Knochen hatte, konnte sie sich ihrer Peinigerin nicht entwinden.
„Was kann ich, Lisette? Sag es mir, dann lasse ich dich los. Und ich merke, wenn du mich anlügst!“
Julie drückte immer stärker zu. Lisettes Gesicht war schon knallrot, ihre Unterlippe zitterte. Die Augen schimmerten feucht.
„Du kannst froh sein, dass eine Stallmagd wie du in diesem Kleid stecken darf!“, platzte Lisette heraus. Julie machte ihr Versprechen wahr und öffnete ihren Griff. Allerding erhob sie sich gleich darauf von ihrem Hocker und verpasste Lisette eine schallende Ohrfeige.
Ihr Gegenüber brach wimmernd zusammen. Sie landete auf dem blitzenden Parkett.
Julie raffte den Kleidersaum und stellte sich breitbeinig über sie, wobei sie die Fäuste in die Hüften stemmte.
„So spricht man nicht mit einer d'Aubigny, merk dir das! Meine Familie mag von niedrigem Stand sein, aber wir haben noch Ehre im Leib und führen eine scharfe Klinge. Außerdem bist auf dem Holzweg. Ich arbeite nicht im Stall, sondern werde als Page ausgebildet.“
„Mädchen können keine Pagen sein!“, widersprach Lisette unter Tränen. Sie hielt schützend ihre Hände vor ihr Gesicht. Aber Julie war der Meinung, dass sie ihren Standpunkt zur Genüge vertreten hätte. Sie ließ von der Kammerzofe ab und nahm wieder auf dem Hocker Platz.
Julie ließ sich nicht anmerken, wie ungewohnt und beeindruckend die Umgebung für sie war. Die Stallungen und Nebengebäude des Schlosses waren ihre Welt. Dieses Boudoir in Versailles hatte sie noch nie zuvor in ihrem jungen Leben betreten. Julie konnte sich nicht vorstellen, dass die Königin selbst von ihren Hofdamen in einem noch größeren Prunk herausgeputzt wurde. Gleichzeitig ahnte sie aber, dass es sehr viele Dinge gab, die ihr noch fremd und unbekannt waren.
„Warum ist der Comte so gut zu mir?“
Julie hatte die Frage eher an sich selbst als an Lisette gerichtet. Die Kammerzofe erhob sich stöhnend vom Boden. Julie stellte befriedigt fest, dass ihre Hand eine unübersehbare Rötung auf Lisettes linker Wange hinterlassen hatte.
„Das wirst du schon noch herausfinden!“
Lisette stieß den Satz hasserfüllt hervor, und vermutlich sollte er wie eine Drohung klingen. Aber Julie lachte sie nur aus.
„Ich weiß, dass ich hübsch bin. Jedes Mal, wenn Hochwürden mir die Beichte abnimmt, verlangt er von mir, meine Eitelkeit im Zaum zu halten. Aber wie kann ich das tun, wenn unser König selbst die Schönheit so sehr liebt? Und Frankreich wird nicht vom Papst regiert, sondern von Seiner Majestät.“
Julie war sehr stolz auf ihren Gedankengang, der ihr ungeheuer klug vorkam. Lisette erwiderte darauf nichts, sondern verließ fluchtartig das Boudoir. Julie konnte sich in dem ungewohnten Prunkkleid kaum bewegen. Sie hockte sittsam da und schaute den Zeigern einer Glassturz-Uhr zu, wie sie unaufhaltsam vorrückten.
So allmählich bekam sie doch Herzklopfen. Julie wusste nicht, was sie im Stadtpalais des Comte erwartete. Gerne hätte sie sich vor der Abreise noch von Papa verabschiedet. Aber daraus würde wohl nichts werden. Julie hatte früher am Abend gesehen, wie sich Gaston d'Aubigny mit einer Flasche Branntwein in sein Schlafgemach zurückzog. Es wäre sehr dumm von ihr gewesen, ihren Vater in diesem Zustand zu stören.
Julie platzte fast vor Stolz, als sie endlich die Karosse besteigen durfte. Die Kutsche war mit goldfarbenen Dachvasen und mit Zierbeschlägen versehen, sie trug das Wappen von d'Armagnac auf den Türen. Die Peitsche knallte, und die sechs Gespannpferde zogen an. Julie lehnte sich in den weichen Polstern zurück.
Instinktiv spürte sie, dass in dieser Nacht ein neues Kapitel im Buch ihres Lebens aufgeschlagen werden würde. Es war eine Reise ins Ungewisse - und das nicht nur, weil die Kutsche das Prachtschloss von Versailles hinter sich ließ und von der tintenschwarzen Nacht verschluckt wurde. Über holprige Wege führte der Weg durch einige Elendsdörfer, deren Vorhandensein man nur am scharfen Rauchgeruch aus den Schornsteinen der Katen schlussfolgern konnte.
In einem solchen Drecksnest war sie selbst geboren worden. Allerdings konnte sich Julie nur noch bruchstückhaft an ihre frühe Kindheit erinnern. Auch von ihrer eigenen Mutter zeichnete ihre Vorstellungskraft ein eher verschwommenes Bild. Geprägt worden waren die vergangenen Jahre durch den Degen und durch den Rohrstock. Wenn Julie nicht fleißig genug gelernt hatte, war sie ebenso gnadenlos verprügelt worden wie die übrigen Pagen. Oh, ihr Vater hatte sie nicht verzärtelt und ihr gewiss keine Sonderbehandlung zukommen lassen. Von einer Ausnahme abgesehen. Gaston d'Aubigny erkannte schon früh das Fechttalent seines einzigen Kindes. Und er hatte alles dafür getan, diese Fähigkeiten zu fördern.
Julie hatte schon die ganze Zeit lang so ein seltsames Kribbeln im Bauch, während die Kutsche sich unter Peitschenknallen und Räderächzen dem Ziel unweigerlich näherte. Es erinnerte sie an das Gefühl unmittelbar vor einem wichtigen Übungskampf. Dann, wenn sie sich auf der Fechtbahn keine Blöße geben durfte. Und doch war die Empfindung ganz anders. Vielleicht lag es daran, dass sie sich gar nicht vom Bauch aus in ihrem Körper verbreitete, sondern ihren Ursprung noch tiefer hatte.
Als die Karosse Paris erreichte, steckte Julie neugierig ihre Nase aus dem Fenster. Aber viel zu sehen gab es nicht. Die Laternenlichter der Kutsche warfen fahles Licht auf die Fassaden der Häuser, die krumm wie bucklige Greise eng aneinanderstanden. Sie kamen Julie uralt vor. Sie hatte einmal gehört, dass viele Hauptstadt-Häuser schon vor Jahrhunderten gebaut worden waren.
Julie war geprägt von Versailles̒ Glanz, auch wenn nur wenig davon auf die Gesindeunterkünfte fiel. Sie wusste nicht so recht, was sie von Paris halten sollte. Immerhin besaß der Comte hier sein Stadtpalais. Er war ihr wohlgesonnen, sonst hätte er Julie wohl kaum dieses teure Kleid geschenkt. Sie durfte d'Armagnac auf keinen Fall verärgern, denn immerhin unterstand ihr Papa seiner Befehlsgewalt.
Die Pariser Nachtluft stank nach Exkrementen, Wein und Lampenöl. Julie nahm keinen Anstoß daran. Sie war in den Stallungen aufgewachsen und an starke Gerüche gewöhnt. Umso größer war der Kontrast, als die Kutsche vor dem Hintereingang eines großen Gebäudes zum Stehen kam und ein Lakai sie ins Innere führte.
Sofort wurde Julie von Wohlgerüchen umfangen, die offenbar von den bunten Blumenbuketten herrührten. Staunend erblickte sie im Licht von Kristalllüstern elegante Bodenvasen, in denen sich üppige Arrangements aus Rosen, Astern und anderen Pflanzen befanden, die Julie noch nie zuvor gesehen hatte.
Der Diener geleitete sie durch einige Räume bis in ein Schlafgemach, dessen wichtigster Einrichtungsgegenstand ein opulentes Himmelbett war. Julie konnte sich nicht vorstellen, dass Seine Majestät selbst auf einem schöneren und eleganteren Lager nächtigte.
„Der Comte wird gleich bei dir sein.“
Mit diesen Worten machte der Lakai mit der sorgfältig gepuderten Perücke auf dem Absatz kehrt und ließ Julie allein.
Sie traute sich kaum zu atmen.
Gewiss, das Boudoir in Versailles war auch schon ein von Reichtum zeugendes Gemach gewesen. Aber das verwunderte Julie nicht, denn in dem Schloss gehörte schließlich alles dem König. Und Ludwig XIV. war nun einmal der wohlhabendste und mächtigste Mann Frankreichs und vielleicht der ganzen Welt.
Doch hier befand sie sich in den Privaträumen von Comte d'Armagnac. Julie hätte es niemals für möglich gehalten, dass auch er sich so einen Prunk leisten konnte. Voller Scham musste sie an ihre eigene bescheidene Kammer denken.
Julie zuckte zusammen, als sich eine andere Tür öffnete.
Ihr Gastgeber kam herein. Er trug einen seidenen bestickten Morgenrock, der bis zum Boden reichte. D'Armagnacs Lippen waren zu einem Grinsen verzerrt, das auf seinem schmalen Gesicht festgefroren zu sein schien. Julie hatte ihn bisher immer nur in Uniform oder in einem zivilen Justaucorps gesehen. Dennoch fühlte sie sich von seiner Kleidung nicht kompromittiert. Die Stallknechte oder Pagen arbeiteten im Sommer oftmals sogar mit freiem Oberkörper, was Julies Vater ihr selbst natürlich streng verboten hatte.
Jedenfalls machte sie einen Hofknicks, bei dem sie ihren Blick sittsam zu Boden senkte.
Aber gleichzeitig verstärkte sich das prickelnde Gefühl in ihrem Inneren. Ob es eine Vorahnung von aufregenden Ereignissen war, die geschehen würden? Julie wusste es nicht. Aber sie hatte gelernt, sich auf jede Situation einzustellen.
„Ich freue mich sehr, dass du meiner Einladung gefolgt bist, mein Kind.“
„Stets zu Diensten, Herr.“
Der Comte legte den Kopf in den Nacken. Er schien dem Klang von Julies Worten nachzulauschen. Dann kam er näher.
„Hat dir schon einmal jemand gesagt, was für eine exquisite Stimme du hast? Sie sollte ausgebildet werden, dann könntest du die ganze Welt mit deinem Gesang erfreuen.“
Julie musste sich ein Lachen verkneifen. Wenn der feine Comte die derben Gassenhauer kennen würde, mit denen sich Julie und die anderen Pagen die öden Putzarbeiten versüßten, dann würde er bestimmt anders reden. Aber er schien gar nicht zu merken, dass sie ein Kichern unterdrücken musste.
Es war ein seltsamer Glanz in seinen Augen, den Julie noch nie zuvor gesehen hatte.
Nein, das stimmte nicht ganz. Paul und Maurice und einige andere Jungs schauten auch so. Und zwar dann, wenn sie im Sommer ihr Hemd nicht ordentlich zugeknöpft hatte und sie sich so weit vorbeugte, dass man ihre nackte Haut sehen konnte.
Julie räusperte sich verlegen, aber d'Armagnac verstand das falsch.
„Du musst furchtbar durstig sein, mein Kind. Wie wäre es mit einem Glas Champagner?“
Der Comte war wirklich sehr fürsorglich. Er öffnete die Flasche höchstpersönlich, klingelte nicht nach einem Diener. Und er goss auch mit seinen eigenen Händen zwei Kelche mit der perlenden Flüssigkeit voll.
Julie hatte noch niemals zuvor Alkohol getrunken. Aber es musste etwas Besonderes damit auf sich haben, sonst hätte ihr eigener Vater wohl nicht jeden Abend dem Schnaps und Wein so leidenschaftlich zugesprochen. Sie ließ sich von ihrem Gastgeber einen Champagnerkelch reichen. Der Comte prostete ihr zu, und Julie leerte das Glas in einem Zug.
Es prickelte auf ihrer Zunge, aber eine andere Wirkung vermisste sie. Julie hatte gehört, dass Alkohol einen Rausch hervorrufen würde. Aber davon konnte sie nichts merken. D'Armagnac nahm auf der Bettkante Platz und forderte sie mit einer Geste auf, sich zu ihm zu gesellen. Er hatte die Flasche immer noch bei sich und füllte ihren Kelch erneut. Julie trank wieder, bis kein Tropfen mehr in dem Glas war.
„Du kommst ganz nach deinem Vater, was deinen Durst angeht, mein Kind. Doch äußerlich ähnelst du ihm zum Glück nicht. Verstehe mich nicht falsch, dein Papa ist zweifellos sehr tapfer und ein tadelloser Gefolgsmann seiner Majestät. Aber es hat dem lieben Gott nicht gefallen, ihn auch mit Schönheit zu versehen.“
Da konnte Julie dem Comte nicht widersprechen. Allerdings hatte sie inzwischen Mühe, seinen Worten zu folgen. Inzwischen trank sie schon das dritte Glas, und allmählich bemerkte sie doch den Unterschied zwischen Schaumwein und Brunnenwasser. In ihrem Kopf drehte sich alles. Julie war froh, dass sie inzwischen saß. Hätte sie gestanden, wäre sie glatt umgefallen.
D'Armagnac legte eine Hand auf ihr Knie. Sie kam Julie vor wie eine Vogelklaue. Die Finger des Adligen waren sehr weiß und sehr krumm. Kein Mann in den Ställen hatte solche schwächlichen Hände. Hätte der Comte einen Degen gehalten, Julie hätte ihn mit einem Battuta-Schlag ihrer eigenen Waffe kinderleicht kaltstellen können.
Dieser Gedanke erheiterte Julie so sehr, dass sie unbeherrscht losprustete.
Gleichzeitig befürchtete sie, den Comte durch ihren Heiterkeitsausbruch verärgert zu haben. Aber das geschah zum Glück nicht, denn ihm war ja der Grund für ihr Kichern nicht bekannt. Stattdessen klang seine Stimme nun so heiser, als ob er die ganze Nacht lang in einer Taverne Trinklieder gesungen hätte.
„Deine Schönheit … und die lustige Unbeschwertheit deiner Jugend … das alles übt auf einen gereiften Mann wie mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Kannst du das verstehen, mein Täubchen?“
Julie verfügte normalerweise über eine scharfe Zunge, aber in diesem Moment verschlug es ihr die Sprache.
D'Armagnacs gepudertes Gesicht hatte sich ihr so sehr genähert, dass sie jede Pore seiner Haut genau betrachten konnte. Seine Lippen waren rissig, auf der Hakennase befand sich eine große Warze. Und doch war er der reichste und mächtigste Mann, der sich bisher für sie entflammt hatte.
Genaugenommen war der Comte der einzige Mann, denn alle anderen Verehrer von Julie konnten nur als Jünglinge bezeichnet werden. Und Papa hatte jeden von ihnen zusammengeschlagen, wenn er Julie auch nur einmal zu lange angeschaut hatte. Bei dem Comte würde Papa sich das nicht trauen, denn eine solche Tat käme einem Selbstmord gleich.
Julie erkannte blitzartig, was für ungeheure neue Möglichkeiten und Chancen sich ihr auftaten.
So genau wusste sie nicht, worauf sie sich einließ. Aber der Champagner hatte ihre natürliche Tapferkeit noch weiter anwachsen lassen. Also öffnete sie ihre Lippen und warf D'Armagnac einen Blick zu, den sie für unwiderstehlich hielt.
Der Comte tat genau das, was sie von ihm erwartet hatte.
Er zog sie an sich und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Das war nicht der erste Kuss, den Julie von einem Fremden bekam. Als Kind hatte sie manchmal mit einigen Pagen Erwachsene gespielt, und obwohl sie ungern das Mädchen sein wollte, hatte sie doch öfter diese Rolle übernehmen müssen. Dann gehörte es zu ihren Aufgaben, die aus Stofflumpen gefertigte Puppe zu wiegen, worauf sie zur Belohnung von ihrem „Ehemann“ einen Kuss und einen Klaps auf den Po bekam. Dieses Spiel hatte sie damals schon blöd gefunden, sie war lieber ein gefährlicher Raubritter.
Aber jetzt hatte das Leben die Karten völlig neu gemischt.
D'Armagnac begehrte sie, das konnte Julie ganz deutlich spüren. Seine Umarmung war nicht sehr energisch. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, sich loszureißen, denn Julie verfügte trotz ihrer schlanken Gestalt über sehr viel Kraft. Diese Eigenschaft hatte sie zweifellos von ihrem Papa geerbt.
Aber sie wollte gar nicht von dem Comte wegrücken, denn seine unverhohlene Lüsternheit schmeichelte ihr ganz ungemein. Er war ein mächtiger Mann von Stand. Sie wäre eine dumme Gans gewesen, wenn sie ihn zurückgewiesen hätte. Nein, das sollte nicht geschehen. Außerdem war Julie neugierig. Natürlich wusste sie längst, was Frauen und Männer miteinander trieben. In den Stallungen konnte sie zudem oft genug beobachten, wie die Stuten von den Hengsten gedeckt wurden.
D'Armagnacs Finger machten sich an den Haken und Ösen ihres Kleides zu schaffen. Julie konnte spüren, wie seine Hände unter den Stoff glitten und über ihre nackte heiße Haut glitten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich stark, und das kribbelnde Gefühl in ihrem Unterleib wurde beinahe unerträglich.
Der Comte schälte Julie aus ihrer Garderobe wie einen Hummer aus der Schale.
Julie hatte einmal in den Küchenabfällen des Schlosses die rötlichen Reste einer Languste gefunden. Eine Küchenmagd hatte ihr erklärt, was ein Schalentier war und wie ein solches Lebewesen von den illustren Gästen verspeist wurde. Diese Erinnerung kam ihr wieder in den Sinn, denn die Trunkenheit ließ die seltsamsten Dinge durch ihren Kopf spuken. Unwohl fühlte sich Julie nicht, obwohl sie schon bald splitternackt vor ihrem Gastgeber lag.
D'Armagnac hatte sich erhoben und stand so starr wie Lots Weib in der Wüste neben dem Bett.
Sein Mund war weit aufgerissen, und der Blick seiner dunklen Augen durchbohrte Julie förmlich. Obwohl sie so benebelt war, entging es ihr nicht, dass seine Hände unaufhörlich zitterten.
„Ist euch nicht wohl, Herr?“, fragte sie besorgt. „Soll ich vielleicht das Feuer im Kamin schüren?“
„N-nein“, brachte der Comte mit heiserer Stimme hervor. „Es ist nur - deine Schönheit blendet mich, liebste Jeanne.“
„Ich heiße Julie“, berichtigte sie ihn. Aber gleich darauf sagte sie nichts mehr, denn ihr Gastgeber ließ nun seine Hose herunter und präsentierte ihr seinen Phallus.
Er kam Julie nicht besonders groß vor, aber sie hatte keine Vergleichsmöglichkeiten, wenn man von den Pferden absah. Und das waren schließlich Tiere und keine Menschen. Vielleicht war es auch gar nicht von Nachteil, wenn der Comte kein besonders mächtiges Glied vorzuweisen hatte. Von den Mägden hatte Julie gehört, dass die Frauen beim ersten Mal furchtbare Schmerzen erleiden mussten.
Trotzdem leistete sie keine Gegenwehr, als sich d'Armagnac nun auf sie legte und gleichzeitig ihre Schenkel auseinander drückte. Die Glut in ihrem Körper verstärkte sich noch, als er ihre Brustwarzen liebkoste und an einem ihrer Ohrläppchen zu knabbern begann. War das die Leidenschaft, von der hinter vorgehaltener Hand und unter großem Gekicher immer so viel geredet wurde? Julie spürte jedenfalls Dinge in ihrem Inneren, die für sie völlig neu und unbekannt waren. Es kam ihr vor, als würde sie eine Reise in ein fremdes Land antreten. Nur, dass diese Terra incognita sich innerhalb ihres eigenen Körpers befand.
Plötzlich entstand ein Druck an ihrer geheimsten Stelle.
Julie wurde von einem stechenden Schmerz durchgeschüttelt, aber sie hatte es sich schlimmer vorgestellt. D'Armagnac hatte ihre Lust geweckt wie ein Tier, das viel zu lange im Winterschlaf gelegen hat. Sie umklammerte ihn, wollte möglichst viel von seinem Körper spüren. Seine Hände glitten unaufhörlich über die empfindliche Haut ihrer Brüste, über ihr Gesicht, über ihre Arme - sie schienen überall zu sein.
Julie versuchte, sich dem Comte hinzugeben wie eine Braut ihrem Bräutigam in der Hochzeitsnacht.
Gleichzeitig war ihr trotz des vielen Champagners bewusst, dass eine hochgestellte Persönlichkeit wie d'Armagnac sie niemals heiraten würde.
Julie war jung, aber ganz gewiss nicht naiv.
D'Armagnac wachte auf und glaubte, sterben zu müssen.
So elend hatte der Comte sich schon lange nicht mehr gefühlt. Die vergangenen Monate waren anstrengend gewesen. Es war nun schon fast ein halbes Jahr her, seit er die Tochter seines braven Sekretärs d'Aubigny nach allen Regeln der Kunst verführt hatte.
Inzwischen bereute d'Armagnac diesen Schritt bereits, wenn er es sich auch nicht richtig eingestehen mochte. Nein, er war kein Kostverächter geworden, und religiöse oder moralische Skrupel waren ihm ebenfalls fremd. Warum sollte er sich nicht eine Mätresse halten, wenn alle anderen Herren von Stand es ebenfalls taten?
Aber Julie ist keine Mätresse, sondern ein unersättliches Biest!, dachte der Comte. Dann drehte er sich im Bett langsam zur Seite. Dorthin, wo dieser bildhübsche brünette Weibsteufel normalerweise sein Lager mit ihm teilte.
Aber Julie war fort, wie d'Armagnac mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nahm. Nur ein großer und nur allmählich trocknender Fleck zeugte von den Vergnügungen, zu denen Julie ihn in der vergangenen Nacht wieder genötigt hatte.
Und zwar mehr als einmal.
Es hatte den Comte schon eine große Anstrengung gekostet, nach seiner Gespielin zu sehen. Sein Herz pochte so heftig, als ob es ein Tier wäre, das sich aus dem Rippenkäfig befreien wollte. Er wartete einige Minuten, bis sein Atem wieder halbwegs normal funktionierte. Dann läutete d'Armagnac nach dem Diener.
Schon nach kurzer Zeit erschien der Lakai.
„Baptiste, wo ist Mademoiselle Julie?“
Der Bedienstete zögerte mit der Antwort. Da beantwortete der Comte seine Frage selbst.
„Nein, du musst nichts sagen. Sie ist auf der Fechtbahn, nicht wahr?“
„Jawohl, Herr. Mademoiselle Julie wollte Euch nicht wecken. Sie vertreibt sich die Zeit mit Übungen. Soll ich sie holen?“
D'Armagnac schüttelte heftig den Kopf. Julie war schöner und begehrenswerter als jemals zuvor. Sie verschaffte ihm ein Ausmaß an Lust, das er nie zuvor für möglich gehalten hatte. Aber trotz aller Leidenschaft ging dem Comte diese Affäre allmählich an die Substanz. In diesem Moment wollte er seine Mätresse ganz gewiss nicht sehen.
„Nein, Baptiste. Ich fühle mich nicht gut. Schicke nach Dr. Langlois. Er soll mich untersuchen.“
Der Diener verneigte sich und verschloss die Tür wieder von außen. D'Armagnac ließ sich ächzend in die Kissen fallen. Die kurze Unterredung mit seinem Lakaien hatte ihn schon ungeheuer viel Kraft gekostet. Er führte sich vor Augen, dass er seine Obliegenheiten in Versailles bereits in einem nicht mehr vertretbaren Maße vernachlässigt hatte.
Aber wie sollte der Großstallmeister den Verpflichtungen nachkommen, wenn er jede Nacht leer gesaugt wurde wie von einem Vampyr aus der östlichen Sagenwelt?
Der Comte fiel in einen Dämmerzustand, bis Baptiste das Erscheinen des Mediziners meldete.
Dr. Langlois war ein rundlicher Herr mit lustigen Augen, dessen äußere Statur eher an einen Mundschenk oder einen derben Hanswurst beim Volkstheater erinnerte. Aber in den besseren Kreisen von Paris gab es keinen fähigeren und gleichzeitig diskreteren Arzt als ihn. Wobei die zweite Eigenschaft nach d'Armagnacs Meinung fast genauso wichtig war wie die erste.
„Guten Morgen! Was fehlt Euch, Euer Hochwohlgeboren?“, rief der Doktor leutselig und bewegte seinen dicken Körper eilig auf das Himmelbett zu.
„Wenn ich das nur selbst sagen könnte“, brachte der Comte stöhnend hervor und reichte dem Arzt seine schlaffe rechte Hand.
Dr. Langlois begann mit der Untersuchung. Nach einer Weile kratzte er sich unter der Perücke, wobei sein Pausbackengesicht einen nachdenklichen Ausdruck annahm.
„Zunächst kann ich bei Euch nur eine allgemeine Erschöpfung diagnostizieren. Ihr solltet gewisse körperliche Betätigungen stark einschränken, sonst ist eine Besserung nicht in Sicht.“
Der Mediziner warf einen vielsagenden Blick auf den Fleck, der immer noch nicht getrocknet war. Dann zwinkerte er seinem Patienten vertraulich zu.
„Junges Blut verlangt seinen Preis, wie?“
„Weiß Gott!“, keuchte d'Armagnac. „Julie ist die schöne Tochter eines Sekretärs Seiner Majestät, der für die Pagenausbildung zuständig ist. Daher führt sie auch noch eine scharfe Klinge. Und ich schwöre Euch, dass sie sich ausschließlich für das Fechten und für das Bett interessiert!“
Dr. Langlois lachte.
„Ich weiß nicht recht, ob ich Euch zu einer solchen Mätresse wirklich gratulieren soll, verehrter Comte. Wäre sie ein Mann, so könntet Ihr sie einfach an die Front schicken, um ihren Kampfesmut abzukühlen.“
„Das weiß ich selbst! Ich habe mir die Suppe eingebrockt, also muss ich sie auch auslöffeln. Ich wollte dieses brünette Göttergeschenk unbedingt bei mir haben, um mir die einsamen Nächte zu versüßen.“
Der Arzt drohte mit dem Finger. D'Armagnac suchte im runden Gesicht des Äskulap-Jüngers nach Anzeichen von Scherzhaftigkeit. Aber das tat er vergebens.
„Und nun muss ich Euch dringend raten, von solchen Vergnügungen Abstand zu nehmen, wenn Euch Euer Leben lieb ist.“
Der Comte erschrak.
„Habe ich etwa die Syphilis?“
„Das nicht, da kann ich Euch beruhigen. Es fehlen die klassischen Symptome, beispielsweise Geschwüre im Intimbereich oder nässender Hautausschlag. Trotzdem - Ihr seid kein Jüngling mehr.“
„Glaubt Ihr, dessen wäre ich mir nicht bewusst?“, erwiderte der Comte grollend. „Ich hole mir nicht ohne Grund so ein frisches unverbrauchtes Ding in mein Bett. Julie ist … wie ein Jungbrunnen für mich. Ihre Energie und ihr Lebenshunger scheinen grenzenlos zu sein. Ich kann ihr einfach keinen Wunsch abschlagen, und sie ist sehr anspruchsvoll, wenn Ihr versteht, was ich damit andeuten will.“
Langlois zwinkerte seinem Patienten zu. Normalerweise hätte sich d'Armagnac solche plumpen Vertraulichkeiten von einer Person verbeten, die im Gesellschaftsgefüge so weit unter ihm stand wie dieser Mediziner. Doch der Comte hielt viel von Langlois̒ fachlichen Fähigkeiten. Außerdem fühlte er das dringende Bedürfnis, sich bei einem anderen Menschen seinen Kummer von der Seele zu reden. Es gab sonst niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Am allerwenigsten wäre es bei Julie möglich gewesen, die für seine Freude und sein Leid gleichermaßen verantwortlich war.
„Ich ahne, in was für einer Klemme Ihr Euch befindet, Herr. Aber Ihr seid ein Mann mit Erfahrung und Weitblick, Ihr werdet diese Schwierigkeiten aus der Welt schaffen können.“
D'Armagnac schüttelte den Kopf. Er war enttäuscht und machte daraus kein Hehl.
„Von Euch hatte ich mehr erwartet als substanzlose Schmeicheleien, von denen es bei Hof mehr als genug gibt. Um ehrlich zu sein, bin ich Julie mit Haut und Haaren verfallen. Ich träume nachts von ihr. Und wenn ich dann aufwache, liegt sie neben mir. Ich muss nur den Arm ausstrecken, um ihre Haut zu spüren, die so weich wie Samt ist und die so süß schmeckt wie gezuckertes Kirschkompott.“
Der Arzt schürzte die Lippen.
„Es bedarf zweifellos einer beinahe übermenschlichen Anstrengung, um sich gegen eine solche Verlockung zu wappnen. Und doch werdet Ihr Euch von Julies Reizen abwenden müssen. Der Liebesakt mit diesem Mädchen hat Euch in einen Zustand völliger Erschöpfung versetzt. Euer Körper braucht Schonung, sonst kann ich nicht mehr für Euer Leben garantieren.“
„So ernst steht es also um mich?“
Langlois nickte nur. Da der Doktor üblicherweise gerne und viel redete, wirkte diese schweigende Zustimmung nur noch bedrohlicher auf d'Armagnac. Er fuhr sich mit beiden Handflächen über sein faltiges Gesicht.
„Es bricht mir das Herz, aber ich werde Euren Rat befolgen müssen, Langlois. Allerdings frage ich mich, was nun aus Julie werden soll. Ich habe eine gewisse Verantwortung für das arme Kind. Ich käme mir schäbig vor, wenn ich sie wegwerfen würde wie ein zerbrochenes Spielzeug.“
„Das ist die Haltung, die einem Edelmann gebührt.“
Der Comte nickte zerstreut.
„Ja, wahrscheinlich. Mir ist schon etwas eingefallen, wie sich diese Affäre zum Wohle aller aus der Welt schaffen lässt.“
„Eure Weisheit verblüfft mich immer wieder, Herr. Nun aber werdet Ihr Euch in meine Hände begeben müssen, um Euer Leiden zu lindern. Legt bitte Euer Nachtgewand ab und dreht Euch auf den Bauch.“
D'Armagnac tat, was der Arzt von ihm verlangte. Mit gemischten Gefühlen beobachtete er, wie Langlois die Schröpfköpfe aus seiner Ledertasche hervorholte. Der Comte hasste es, geschröpft zu werden. Aber noch mehr schockierte ihn die Aussicht darauf, bald sterben zu müssen. D'Armagnac wollte alles tun, um weiter am Leben zu bleiben.
Dafür würde er sogar auf Julie verzichten.
*
Gaston d'Aubigny zerrte nervös an seinen Ärmelaufschlägen.
Normalerweise kannte Julies Vater den Zustand innerer Unruhe gar nicht. Wenn seine Seelendämonen übermächtig zu werden drohten, pflegte er sie mit einem anständigen Quantum Branntwein in Schach zu halten. Diese Methode funktionierte bei ihm sehr gut.
Doch an diesem Abend war es d'Aubigny weise erschienen, im Zustand der ungeliebten Nüchternheit zu verharren. Er war nämlich zum table d'honneur im Stadtpalais des Comte d'Armagnac eingeladen. Diese Ehre war Julies Vater noch niemals zuteilgeworden, seit er am Königshof Dienst tat. So richtig freuen konnte d'Aubigny sich allerdings nicht darüber, dass er mit hochgestellten Persönlichkeiten an der Gästetafel Platz nehmen durfte. Er fürchtete sich sehr vor einer Blamage, und genau deswegen hatte d'Aubigny auf seinen geliebten Alkohol verzichtet. Ihm war durchaus bewusst, dass der Schnaps seine Zunge löste und er dann womöglich die falschen Worte wählte.
Und es bedurfte nur eines unklugen Satzes oder Blickes, um im Kerker, am Galgen oder auf der Galeere zu landen.
Die Kutsche, mit der d'Aubigny abgeholt worden war, hielt vor dem imposanten Gebäude im Herzen von Paris. Ein Lakai riss den Wagenschlag auf. Julies Vater stieg so zögernd aus, als ob er auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung wäre. D'Aubigny trug seinen besten Justaucorps, den er eigens hatte reinigen und aufbürsten lassen. Trotzdem fühlte er sich im Vergleich zu den anderen Gästen so schäbig wie einer von den zerlumpten Krüppeln, die am Rand der Pariser Straßen kauerten und den Passanten bittend ihre schmutzigen Hände entgegenstreckten.
D'Aubignys Ohren brannten vor Verlegenheit. Sie waren so rot und heiß, als ob er sie in kochendes Wasser getaucht hätte. Zum Glück wurden sie größtenteils von seiner frisch gepuderten Perücke verdeckt. Nachdem er eingelassen worden war, schritt Julies Vater über den Marmorfußboden hinter einem Diener her Richtung Speisezimmer.
D'Aubigny musste an seine Tochter denken.
In diesem Palast lebte Julie nun also, was ihn eigentlich mit Stolz erfüllte. Zunächst hatte D'Aubigny noch mit seinem Schicksal gehadert, weil sein Vorgesetzter Julie zu seiner Mätresse gemacht hatte. Aber inzwischen waren einige Monate vergangen, und d'Aubigny hatte sich mit dem neuen Zustand allmählich abgefunden. Auch Julie schien es gut zu gehen. Er bekam nur hin und wieder eine kurze schriftliche Nachricht von ihr, in der sie beteuerte, keine Schwierigkeiten zu haben.
Aber d'Aubigny kannte seine Tochter. Er wusste von ihrem wilden Blut, das sie von ihm geerbt hatte. Wenn Julie bei d'Armagnac in Ungnade gefallen war, dann konnte er selbst ebenfalls nichts Gutes mehr von dem Comte erwarten. Ob die Einladung zum table d'honneur nur Wohlwollen vorspiegeln sollte, um Julies Vater letztlich dem Henker zu übergeben? D'Aubigny wusste nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Die Gedankengänge der hohen Herren waren für ihn immer schon ein Buch mit sieben Siegeln gewesen.
Der Senior-Diener kündigte mit wohltönender Stimme d'Aubignys Ankunft an.
Julies Vater betrat das Speisezimmer, das eher einem kleinen Saal glich. Der Raum wurde von drei Kristalllüstern erhellt. Die meisten Anwesenden nahmen d'Aubigny kaum wahr, was ihn nicht verwunderte. Sie alle standen in der Rangordnung des Königshofes über ihm. Vermutlich fragten sie sich insgeheim, weshalb der Comte diesen einfachen Sekretär überhaupt eingeladen hatte. Erwartungsgemäß wurde d'Aubigny von einem Diener am untersten Ende der Tafel platziert.
Wenig später kam der Gastgeber selbst herein.
D'Armagnac registrierte den Vater seiner Mätresse, indem er d'Aubigny kurz huldvoll zunickte.
Dann wandte er sich sofort dem Comte de Provence zu, der mit ihm gleichrangig war und somit ganz oben am Tisch saß. Julies Vater spürte für den Moment eine gewisse Erleichterung, denn d'Armagnac hatte immerhin keine offene Feindseligkeit gezeigt. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass die Gefahr noch nicht gebannt war.
Die Diener begannen nun damit, den Aperitif auszuschenken. Es handelte sich um einen Bénédictine, den d'Aubigny normalerweise keines Blickes gewürdigt hätte. Hier aber musste er das Kräutergesöff trinken, denn eine Verweigerung wäre einer groben Unhöflichkeit gleichgekommen. Also kippte Julies Vater den Likör gottergeben herunter.
Dass seine eigene Tochter nirgendwo zu erblicken war, verwunderte ihn nicht. Die Mätressen durften nur mit ihren Gönnern speisen, wenn sie von höherem Stand waren. Und das traf auf Julie nun wirklich nicht zu.
Die Aperitifgläser wurden gegen Weinkelche vertauscht, während die Vorspeisen aufgetragen wurden. Es gab Kapaun und Rebhuhn, außerdem Taube sowie normannische Fleischpasteten, über deren Inhalt sich d'Aubigny nicht weiter den Kopf zerbrach.
Er stopfte das Essen voller Inbrunst in sich hinein. Weniger, weil er wirklich hungrig gewesen wäre, sondern weil er auf diese Weise nicht reden musste. Die neben ihm sitzende Witwe eines Hofbeamten schaute ihn sowieso an, als ob sie ihn für ein Insekt auf dem weißen Tischleinen halten würde.
D'Aubigny leerte sein Weinglas mehrmals, worauf sich seine Stimmung allmählich besserte. Der nächste Gang kam: Schweine- und Rindfleisch mit gegartem Gemüse. Die Zwischengerichte bestanden aus Kalbsbries sowie Fleischhaschee mit Spargel, außerdem Pilzragout.
Julie Vater nahm das Tischgespräch wahr wie einen fernen Chorgesang, wenn er am Sonntagvormittag im Halbschlaf in der Kirche saß. Der steigende Alkoholpegel bewirkte, dass sich d'Aubigny nicht länger über den Grund für die Einladung den Kopf zerbrach. Das ging so lange gut, bis plötzlich sein Name fiel.
Nach dem Dessert aus gezuckertem Obst erhob sich plötzlich der Comte, worauf die übrigen Gäste verstummten.
„Ich will das heutige Mahl nicht beschließen, ohne eine höchst erfreuliche Nachricht zu verkünden. Sie ist auch der Grund dafür, dass ich meinen treuen Gaston d'Aubigny eingeladen habe.“
D'Armagnac deutete auf Julies Vater, worauf sich alle Blicke auf ihn richteten. Er hätte am liebsten sein Glas in einem Zug geleert, konnte sich aber gerade noch beherrschen.
Der Gastgeber fuhr fort: „Sieur de Maupin hat bei Gaston d'Aubigny um die Hand von dessen Tochter Julie angehalten. Ich kenne beide Männer als treue Diener Seiner Majestät des Königs und bin im höchsten Grad darüber entzückt, dass diese segensreiche Verbindung zustande gekommen ist.“
Im ersten Moment glaubte d'Aubigny, dass ihm der Alkohol einen Streich gespielt hätte. Aber das konnte nicht sein, denn er trank Wein wie Wasser, ohne dadurch benebelt zu werden. Julies Vater hatte noch lange nicht den Grad von Trunkenheit erreicht, der ihn seine eigenen Worte und Handlungen vergessen ließ.
D'Aubigny konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ein gewisser Maupin um Julies Hand angehalten hätte. Wer sollte das überhaupt sein?
Und dann nahm er den blassen jungen Mann wahr, der ihm gegenübersaß. Der Comte deutete auf ihn, und das Lächeln auf den schmalen Lippen des Kerls war entlarvend genug. D'Aubigny erkannte nun im Handumdrehen, was hier gespielt wurde.
D'Armagnac hatte aus irgendwelchen Gründen von Julie die Nase voll. Er schob sie nun ab, indem er sie mit einem völlig austauschbaren Stiesel verheiratete. Und es gab absolut nichts, was er, d'Aubigny, dagegen unternehmen konnte. Er zwang sich dazu, seinem zukünftigen Schwiegersohn zuzunicken, obwohl er Maupin lieber seine Faust ins Gesicht geschlagen hätte.
Allerdings musste Julies Vater innerlich einräumen, dass es schäbigere Arten gab, eine lästige Mätresse loszuwerden.
Unter dem Strich betrachtet, konnte er über Julies bevorstehende Eheschließung froh sein. Dieser Maupin würde gewiss keinen Aufstand veranstalten, weil sie keine Jungfrau mehr war. Und so, wie dieser Bleichling aussah, verzichtete er gewiss auch gern auf eine üppige Mitgift.
Trotzdem - d'Aubigny wollte sich richtig besaufen, wenn er erst wieder in seinen eigenen vier Wänden war.
*
Julie fühlte sich wie eine Prinzessin.
„Hättest du gedacht, dass ich so bald heiraten würde?“
Sie richtete diese Frage an Agnes aus Rennes. Das schwarzhaarige Dienstmädchen war während Julies Zeit in d'Armagnacs Stadtpalais zu einer Vertrauten geworden. Eigentlich war Agnes das einzige weibliche Wesen, mit dem Julie mehr als einen oder zwei Sätze sprach. Julie war es durch ihre Pagenerziehung gewohnt, mit Jungs und Männern Umgang zu pflegen. Aber Agnes gefiel ihr, was auch dem Comte nicht entgangen war. Deshalb bestimmte er, dass sie Julie bei den Hochzeitsvorbereitungen zur Hand gehen sollte.
„Ich weiß nicht …“
Agnes̒ Antwort war ausweichend, was Julie nicht verwunderte. Während sie selbst entscheidungsfreudig war, bekannte Agnes nur ungern Farbe. Das Dienstmädchen hatte sehr große Angst, es sich mit jemandem zu verderben. Julie hingegen war immer übermütiger geworden. Sie konnte tun und lassen, was ihr beliebte. Wenn ihr danach war, ging sie auf die Fechtbahn und tobte sich dort nach Belieben aus. Oder sie legte sich nach dem Frühstück sofort wieder ins Bett, wenn sie einfach
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Texte: Martin Barkawitz
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Tag der Veröffentlichung: 16.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6933-5
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