Nina Cordes wachte auf. Die junge Frau spürte instinktiv, dass sie nicht mehr allein in ihrer Wohnung war. Oder litt sie an den Nachwirkungen eines Traums, aus dem sie soeben erwacht war? Hatte Nina sich noch nicht wieder in die Wirklichkeit gefunden? Ein Wunder wäre das nicht. Schließlich zeigten die rot leuchtenden Digitalziffern ihres Weckers 3.25 Uhr morgens an.
Da – wieder ein Geräusch!
Ninas Herz begann zu rasen. Der kalte Schweiß brach ihr aus. Die Töne drangen aus ihrem Wohnzimmer zu ihr ins Schlafzimmer herüber. Wer immer auch in ihre Wohnung eingedrungen war, verhielt sich sehr leise. Aber es ist eben für einen Menschen unmöglich, sich völlig lautlos zu bewegen. Jedenfalls in einer Wohnung mit spiegelglattem Parkettfußboden, wie die junge Frau sie bewohnte.
Plötzlich fiel Nina siedend heiß ein, dass sie im Wohnzimmer das Fenster nicht geschlossen hatte! In diesem sehr warmen Sommer ließ sie auch nachts ein Wohnzimmerfenster in Kippstellung. Damit es morgens in dem Raum nicht so stickig war. Doch sie wohnte im zweiten Stock. Außerdem war unter den Wohnzimmerfenstern keine Straße, sondern nur das Wasser des Isebek-Kanals. Daher glaubte Nina, nachts das Fenster in Kippstellung lassen zu können. Ein verhängnisvoller Irrtum, wie sie nun einsehen musste.
Der Eindringling machte noch einen Schritt. Er hatte vermutlich Gummisohlen unter seinen Schuhen, sonst wäre das Geräusch viel lauter gewesen. Nina hätte am liebsten laut um Hilfe geschrien. Ihre Nachbarin arbeitete schließlich bei der Polizei. Aber das war keine gute Idee, wie die junge Frau sofort erkannte. Das Haus war nämlich alt und hatte sehr dicke Wände. Heike Stein lag in der Wohnung nebenan vermutlich im Tiefschlaf. Oder sie war gar nicht da, weil sie einen Einsatz hatte.
Doch Polizei war schon das richtige Stichwort. Nina beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie nachts ihr Telefon immer mit ins Schlafzimmer nahm. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Mobilteil und tippte die Notrufnummer 110 ein.
Im nächsten Moment öffnete sich ihre Schlafzimmertür mit einem leichten Knarren. Gleichzeitig ertönte im Telefon das Freizeichen. Dann erklang eine männliche Stimme.
»Polizei.«
»Einbrecher in meiner Wohnung!«, schrie Nina. Nun war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Sie rief noch ihre Adresse mit Hausnummer in den Apparat.
Dann packte der Mann in Schwarz das Telefon und pfefferte es gegen die Wand. Das Mobilteil zerbrach. Der Eindringling musste große Kräfte besitzen. Das bekam Nina Cordes nun zu spüren, als er seine behandschuhten Hände um ihre Kehle legte. Unerbittlich drückte er zu. Die junge Frau mit den kurzen blonden Haaren wehrte sich verzweifelt. Aber sie kam gegen die unbändige Stärke des Maskierten nicht an.
Der Mörder ließ die Frau auf ihr Bett sinken, als kein Leben mehr in ihr war. Draußen gellte die Sirene eines Polizeifahrzeugs, das in Hamburg Peterwagen genannt wird. Der Verbrecher grinste zynisch. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und kletterte an der Fassade hinab. So wie er gekommen war.
Als die Streifenwagenbesatzung schließlich die Wohnungstür von Nina Cordes aufbrach, war der Killer bereits in Sicherheit.
Kriminalhauptkommissarin Heike Stein hatte das Gefühl, ein Drillbohrer würde direkt durch ihre Stirn getrieben. Sie brauchte einige Sekunden, um aus dem Tiefschlaf zu erwachen. Dann erkannte sie, dass der Drillbohrer in Wahrheit ihre Türschelle war.
Jemand klingelte bei ihr Sturm!
Jetzt hämmerte dieser Jemand auch noch mit der Faust gegen die Tür, und zudem ertönte eine laute Männerstimme.
»Hauptmeister Drewers hier! Sind Sie zu Hause, Frau Stein?«
Heike knipste ihre Nachttischleuchte an und schwang ihre langen Beine aus dem Bett. Bei dieser Junihitze schlief sie nur mit einem Slip und einem dünnen Nighty bekleidet. Daher streifte sie erst einmal ihren bodenlangen Morgenrock aus rotem Samt über, bevor sie zur Wohnungstür ging.
Obwohl die Kriminalistin so verschlafen war, hatte sie die Stimme sofort erkannt. Sonst hätte sie wohl auch kaum mitten in der Nacht einem Mann die Tür geöffnet. Hauptmeister Drewers war ein alter Hase bei der Schutzpolizei. Er arbeitete im Eppendorfer Polizeirevier. Heike wohnte nicht nur in diesem Stadtteil im Hamburger Norden, sie hatte auch schon oft genug dienstlich mit dem Hauptmeister zu tun gehabt.
Heike öffnete die Wohnungstür. Drewers hatte noch einen jungen Streifenbeamten bei sich, der kein Wort herausbrachte. Der zweite Polizist war ziemlich käsig um die Nase herum und schien mit einem Brechreiz zu kämpfen. Drewers wandte sich an den jungen Mann.
»Lars, geh’ doch schon mal runter und nimm’ die Kripo-Kollegen in Empfang. – Die Hauptkommissarin hier arbeitet zwar auch bei der Sonderkommission Mord, aber sie ist momentan gewiss nicht im Dienst. Wir müssen sie aber als Zeugin befragen.«
Der junge Polizist namens Lars starrte Heike an, als würde er einen Geist sehen. Dann rückte er die Mütze auf seinem Kopf gerade und ging hinunter, wie der Hauptmeister es ihm aufgetragen hatte.
»Armer Kerl«, brummte Drewers, als Lars außer Hörweite war. »Die erste Einsatznacht nach der Polizeischule – und schon gibt es eine Leiche zu sehen.«
Heike verlor spätestens in diesem Moment alle Reste ihrer Schlafmüdigkeit. Natürlich entging ihr nicht, dass die Wohnungstür ihrer Nachbarin sperrangelweit offen stand.
»Also ist jemand gleich nebenan getötet worden?!«
Drewers nickte.
»Du willst bestimmt einen Blick auf die Leiche werfen, Heike.«
»Darauf kannst du wetten!«
Unwillkürlich waren die Kriminalhauptkommissarin und ihr uniformierter Kollege zum vertrauten Du übergegangen, wie es bei der Hamburger Polizei üblich war. Heike siezte eigentlich nur ihren Vorgesetzten und andere Beamte, die in der Hierarchie über ihr standen.
Heike folgte dem Polizeikollegen in die Wohnung von Nina Cordes. Diese war gemütlich eingerichtet, genau wie Heikes eigenes Zuhause. Die Wohnungen waren ohnehin gleich zugeschnitten. Beide besaßen Küche und Bad, einen kleinen Flur mit Abstellkammer, ein großes Wohnzimmer mit Balkon sowie ein Schlafzimmer. Ein absoluter Traum in einer Stadt wie Hamburg, die unter chronischer Wohnraumnot leidet.
Aber Nina Cordes würde sich nie mehr an ihren idyllischen vier Wänden erfreuen können. Heikes Nachbarin lag tot quer über ihrem Bett. Ihre geöffneten Augen starrten zur stuckverzierten Zimmerdecke. Die Leiche war nicht nackt. Nina Cordes hatte vor ihrem Tod einen Seiden-Pyjama mit kurzen Hosen getragen. Sie war ganz offensichtlich von ihrem Mörder im Schlaf überrascht worden.
»Sexualdelikt?«, fragte Heike mit rauer Stimme.
Drewers schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, jedenfalls nicht vollendet. – Kennst du die Tote, Heike?«
»Ja, es ist meine Nachbarin Nina Cordes. Ich bin hundertprozentig sicher. – Was meinst du mit nicht vollendet, Paul? Wurde der Täter gestört?«
»Gewissermaßen. Das Opfer hat es noch geschafft, vor der Tat die 110 anzurufen. Aber in der Alarmzentrale nannte sie nur ihre Adresse, nicht ihren Namen. Außerdem rief sie ins Telefon, dass Einbrecher in ihrer Wohnung seien. Natürlich sind wir sofort losgebraust. Aber da wir den Namen des Opfers nicht kannten, haben wir wertvolle Minuten verloren.«
»Wie seid ihr überhaupt ins Haus hineingekommen? Oder war die Haustür unten mal wieder sperrangelweit auf?«
»Nein, das nicht. Wir haben uns die Klingelschilder angesehen. An Frauennamen standen nur deiner und der von deiner Nachbarin neben den Klingelknöpfen. Wir haben einfach überall geschellt. Ein gewisser Herr Ulmer hat dann auf den Summer gedrückt.«
»Ja, Matthias Ulmer. Der wohnt unter mir. Arbeitet als Computerprogrammierer und hängt oft nächtelang vor seiner Kiste. Glück für euch, dass er wohl wach war. – Aber leider kamt ihr trotzdem zu spät.«
Drewers seufzte.
»Ja, Heike. Der Mörder muss fünf bis acht Minuten Zeit für den Mord gehabt haben. Als wir endlich die Tür aufgebrochen hatten, war der Vogel schon ausgeflogen. Er ist ganz offensichtlich durch das Wohnzimmerfenster getürmt. Jedenfalls war die Wohnungstür von innen abgeschlossen.«
»Dazu kommen wir später«, sagte Heike. Sie war gedanklich bereits mit der Aufklärung des Falls beschäftigt, obwohl sie bisher ja nur die Zeugin spielen durfte.
»Woher wusstet ihr denn, dass der Hilferuf von Nina kam? Ich hätte doch genauso gut dem Kerl zum Opfer fallen können.«
»Wir haben es nicht gewusst, sondern vermutet«, gab der uniformierte Polizist zurück. »Ich dachte mir, dass eine Polizeibeamtin sich bei einem Hilferuf zumindest mit Namen und Dienstgrad melden würde.«
»Da könntest du Recht haben«, murmelte Heike geistesabwesend. Sie konnte ihren Blick nicht von der Toten abwenden. Ob der Mord wohl lautlos über die Bühne gegangen war? Oder ob Nina verzweifelt um Hilfe gerufen hatte, während sie, Heike, nur wenige Meter entfernt von der Tat an der Matratze gehorcht hatte?
Drewers hielt ihr seine Zigarettenschachtel hin. Heike schüttelte den Kopf. Sie rauchte nicht. Aber sie konnte verstehen, wenn ein Raucher in diesem Moment Lust auf einen Glimmstängel bekam.
Heike fühlte sich jedenfalls hundsmiserabel. Jeder Mord war in ihren Augen ein Mord zu viel. Aber diese Tat ging ihr besonders an die Nieren. Und zwar deshalb, weil sie zu verhindern gewesen wäre. Wenn Heike nicht so fest geschlafen hätte …
»Mein Schlafzimmer ist direkt nebenan«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich habe selig gepennt, während Nina erwürgt wurde – sie wurde doch erwürgt, oder?«
»Die Würgemale an ihrem Hals sind jedenfalls nicht zu übersehen«, meinte der Streifenbeamte. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und nahm einen tiefen Lungenzug. »Alles Weitere werden die Schlaumeier von der Gerichtsmedizin schon rauskriegen. – Aber Heike, mach’ dich bloß nicht selbst verrückt. Falls du glaubst, du hättest eine Mitverantwortung – vergiss’ es!«
»Ich bin Kung-Fu-Kämpferin«, murmelte die Hauptkommissarin. »Ich brauche noch nicht mal eine Waffe, um meinen Gegner innerhalb von dreißig Sekunden auszuschalten.«
»Wie war das?«, hakte Drewers nach, der ihre Bemerkung akustisch nicht verstanden hatte.
»Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht. Wahrscheinlich hast du Recht, Paul. Aber es ist trotzdem … alles so seltsam diesmal.«
Heike konnte sich nicht erinnern, jemals als Zeugin bei einer Morduntersuchung gewesen zu sein. Als Ermittler erschien zunächst ihr Kollege Kriminaloberkommissar Bernd Engel auf der Bildfläche, der in dieser Nacht Tatortdienst hatte. Er staunte nicht schlecht, als er die Hauptkommissarin erblickte.
»Heike! Was machst du denn hier?«
»Ich wohne hier, Bernd. Also, in der Wohnung direkt neben dem Mordopfer.«
»Das ist ja ein Ding.« Der Mann von der Sonderkommission Mord zückte sein Notizbuch. »Ich wusste bisher nur, dass du in Eppendorf wohnst. Aber nun ausgerechnet in diesem Haus … wann hast du denn das Opfer zuletzt lebend gesehen?«
»Hm, das ist schon einige Tage her. Nina ist … war ja berufstätig, genau wie ich. Sie arbeitete bei einer Bank. Wir haben uns höchstens mal morgens oder abends kurz im Treppenhaus getroffen und gegrüßt. Einen näheren Kontakt hatte ich nicht zu ihr. Jede von uns lebte ihr eigenes Leben.«
Heike fühlte sich etwas merkwürdig in der Zeugenrolle. Aber momentan führte nun einmal ihr Kollege Bernd Engel die Untersuchung.
»Dann weißt du auch nicht, ob Frau Cordes vielleicht bedroht wurde?«
»Nein, sie hat nichts dergleichen jemals gesagt. Immerhin wusste sie, dass ich bei der Polizei arbeite. Also würde sie sich mir wohl anvertraut haben.«
Wieso eigentlich?, hakte Heike in Gedanken nach. Sie wusste so wenig über ihre ermordete Nachbarin. Wie konnte sie da sagen, wie Nina Cordes bei einer Bedrohung reagiert hätte? Heike ärgerte sich über sich selbst.
Der Kriminaloberkommissar machte sich einige Notizen. Dann sagte er: »Ich habe eine Großfahndung nach dem flüchtigen Mörder veranlasst. Allerdings haben wir überhaupt keine Täterbeschreibung. Wir können nur schlussfolgern, dass der Verbrecher irgendwie sportlich gekleidet sein muss. Sonst hätte er es nicht geschafft, in den zweiten Stock hochzuklettern und durch das Fenster einzusteigen.«
Bernd Engel deutete auf das geöffnete Fenster, das selbstverständlich bisher niemand geschlossen hatte. Möglicherweise gab es Spuren, die man nicht verwischen durfte.
»Sie hatte das Fenster wohl in Kippstellung«, dachte Heike laut nach. »Dann war es natürlich kein Problem für den Einbrecher, durch den Spalt zu greifen und sich Einlass zu verschaffen. Er benötigte noch nicht einmal Werkzeug. Ich habe mein Schlafzimmerfenster übrigens bei dieser Hitze auch immer gekippt.«
»Das solltest du besser geschlossen halten, Heike.«
»Bei dieser Hitze? Ich habe auf der Polizeischule gelernt, dass Einbrecher normalerweise höchstens bis zum ersten Stockwerk durch Fenster in Wohnungen eindringen. Aber dieser Fall ist wohl nicht normal. Allein schon, weil ich diesmal Zeugin bin. Und keine brauchbare Aussage machen kann!«
Ihr Kollege grinste.
»Es ist ja nicht deine Schuld, dass du so wenig Kontakt zu deiner Nachbarin hattest. – Ah, jetzt wird es allmählich voll hier!«
Der letzte Satz des Oberkommissars bezog sich auf die Männer, die nun eintraten. Es war Paul Sommer mit seinem Spurensicherungsteam von der Technischen Abteilung. Außerdem Dr. Lehmann, der Dienst habende Gerichtsmediziner. Er warf Heike einen überraschten Blick zu.
»Guten Morgen, Frau Stein. Das ist aber ein originelles Kleid, was sie da anhaben.«
»Das ist kein Kleid, sondern ein Morgenrock«, gab Heike zurück. »Ich wohne nämlich direkt nebenan und hatte noch keine Gelegenheit, mich anzuziehen.«
»Aha, ich verstehe.« Der Gerichtsmediziner schnitt ein Gesicht, als ob er sich soeben Heike im Nachthemd vorstellen würde. Dr. Lehmann war bekannt dafür, eine Vorliebe für gut aussehende junge Frauen zu haben. Aber dann wandte er sich sogleich der Toten zu. Er öffnete seine Arzttasche.
»Ich spendiere eine Runde frischgekochten Kaffee«, kündigte Heike an. Ihr Vorschlag stieß allerseits auf Begeisterung.
Die Kriminalistin kehrte in ihre eigene Wohnung zurück und schloss die Tür hinter sich. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume, während sie schnell in frische Unterwäsche, eine orangefarbene Caprihose und ein weißes T-Shirt schlüpfte. Heike füllte ihre Kaffeemaschine bis zum Anschlag mit Wasser und Kaffeepulver. Es kam selten genug vor, dass die alleinlebende Heike solche Mengen von der heißen aromatischen Flüssigkeit brauen wollte.
Heike hielt sich innerlich noch einmal die Tatsachen vor Augen. Ihre Nachbarin war ermordet worden, während sie selbst im Tiefschlaf gelegen hatte. Der Täter war durch ein Fenster in die Wohnung gekommen und auf demselben Weg auch wieder getürmt. Er hatte keine Zeit gehabt, sich an seinem Opfer sexuell zu vergehen. Oder eine solche Tat war von vornherein nicht geplant gewesen.
Lag vielleicht ein Raubmord vor? Das würden die Kollegen von der Spurensicherung schon herausfinden. Als der Kaffee fertig war, lud Heike die Kanne nebst Zucker und Milch sowie jede Menge Tassen auf ein Tablett. Sie ging damit zum Tatort hinüber. Einen Moment lang dachte sie, ob es nicht pietätlos wäre, direkt neben der Leiche ein fröhliches Kaffeetrinken zu veranstalten.
Aber ihre Kollegen machten dort nur ihren Job. Und den nahmen sie verflixt ernst. Heike hatte schließlich selbst bei der Sonderkommission Mord ständig mit dem Tod zu tun. Man musste sich als Polizistin einfach so viel Normalität bewahren wie möglich. Sonst konnte man diesen Beruf vergessen.
Heike wusste, wie ein Polizistenleben aussah. Sie selbst war zwar noch jung, aber sie hatte von Kindesbeinen an miterlebt, wie ihr Vater von seinem Beruf vereinnahmt wurde. Sönke Stein war bis zu seiner Pensionierung Revierleiter der legendären Davidwache auf St. Pauli gewesen. Nun lebten Heikes Papa und Mama als Pensionäre auf Mallorca, wo sie sich von den Ersparnissen eine Eigentumswohnung gekauft hatten.
Heike betrat die Nachbarwohnung. An der geöffneten Tür stand der junge Streifenbeamte namens Lars herum. Seine Gesichtsfarbe erinnerte immer noch an einen Kuchenteig.
»Du scheinst mir auch einen Kaffee vertragen zu können«, sagte Heike und streckte ihm lächelnd das Tablett entgegen.
»Danke.« Der Polizeikollege goss sich mit zitternden Händen eine Tasse halb voll und trank gierig von der belebenden Flüssigkeit. »Ich komme mir so dumm vor, weil mir schlecht geworden ist. Gewöhnt man sich mit der Zeit daran?«
Heike schüttelte den Kopf.
»Ich bin nun schon ein paar Jahre bei der Sonderkommission Mord. Aber ich werde mich nie daran gewöhnen, dass Menschen einfach so getötet werden, aus was für Gründen auch immer. Ich will es auch nicht.«
Die anderen Beamten nahmen den Kaffee ebenfalls begeistert entgegen. Dr. Lehmann hatte die erste grobe Untersuchung des Leichnams beendet. Er telefonierte gerade per Handy nach einem Metallsarg, um die Tote in die Pathologie schaffen zu lassen.
Heike hätte ihn gerne nach den Ergebnissen befragt. Aber sie musste sich auf die Zunge beißen. Schließlich führte Bernd Engel die Untersuchung. Und die Kriminalistin hätte es auch nicht gerne gesehen, wenn ihr selbst ein Kollege ins Handwerk pfuschen würde.
Aber der Gerichtsmediziner wandte sich nun gleichermaßen an den Oberkommissar und an Heike. Dagegen konnte sie natürlich nichts machen.
»Also, Frau Stein und Herr Engel. Ich kann Ihnen den Todeszeitpunkt ziemlich genau sagen. Die Leiche war ja noch warm, als ich hier eintraf. Exitus zwischen 3.35 und 3.40 Uhr. Todesursache ist eindeutig Sauerstoffmangel im Gehirn, verursacht durch Erwürgen. – Hier, sehen Sie selbst.«
Dr. Lehmann deutete mit seiner Hand, die von einem Untersuchungshandschuh bedeckt war, auf Nina Cordes’ Hals. Selbst für einen Laien waren die Würgemale deutlich zu bemerken, wie Heike fand.
»Es hat auch einen Kampf gegeben«, fuhr der Gerichtsmediziner fort. »Ich hoffe, unter den Fingernägeln der Toten Hautpartikel des Mörders zu finden. Dann wird es kein Problem sein, einem Verdächtigen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: Photoarenaa, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2016
ISBN: 978-3-7396-7577-0
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